Das Erbe des Kuriers - Peter V. Brett - E-Book

Das Erbe des Kuriers E-Book

Peter V. Brett

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Beschreibung

»Das Erbe des Kuriers« knüpft an die Ereignisse aus »Das Lied der Dunkelheit« an

Angst beherrscht die Welt, denn immer nachts machen Dämonen Jagd auf alles, was lebt. Nur die Kuriere wagen sich noch auf die lebensgefährlichen mehrtägigen Reisen von Dorf zu Dorf und Stadt zu Stadt. Als der alte Ragen, der seine Kurierrouten an den jungen Arlen Bales abgetreten hat, jedoch erfährt, dass der Sohn seines Jugendfreundes verschwunden ist, macht er sich auf seine letzte, beschwerliche Reise. Hinaus in die Wildnis, wo die Dämonen warten …

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Seitenzahl: 192

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Von Peter V. Brett sind imWILHELM HEYNE VERLAGerschienen:

DIE ROMANE

Das Lied der Dunkelheit

Das Flüstern der Nacht

Die Flammen der Dämmerung

Das Leuchten der Magie

Die Stimmen des Abgrunds

Der Prinz der Wüste

DIE NOVELLEN

Der Thron der Finsternis

Der große Basar

Das Erbe des Kuriers

Selias Geheimnis

Das Feuer der Dämonen

PETER V. BRETT

Eine Erzählung aus der Welt desFantasy-Bestsellers»Das Lied der Dunkelheit«

Deutsche Erstausgabe

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

MESSENGER’S LEGACY

Nach der Kurzgeschichte »Mudboy«, die zum ersten Mal in Shawn Speakmans Anthologie »Unfettered« 2013 veröffentlicht wurde.Deutsche Übersetzung von Ingrid Herrmann-Nytko

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Deutsche Erstausgabe 05/2015

Copyright © 2014 by Peter V. Brett

Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Charlotte Lungstrass

Illustrationen & Karte: Andreas Hancock

Siegelzeichen: Lauren Cannon

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München

Satz: Schaber Datentechnik, Wels

ISBN: 978-3-641-16817-9V003

www.heyne.de

Inhalt

Einführung

1  Ein Feuer, das brennt lichterloh

2  Dornbusch

3  Ragen

4  Modderjunge

5  Eine letzte Tour

6  Horcies

Grimoire der Siegel

Krasianisches Lexikon

Für Myke und Joshua,

die sämtliche Versionen gelesen haben

Einführung

Wie die anderen Novellen »Der große Basar« und »Bryans Gold« erwuchs auch diese Geschichte aus den Romanen der Dämonensaga, ein verkümmerter Zweig, der schnell Wurzeln schlug und gedieh, nachdem man ihn angepflanzt hatte. Das erste Kapitel von »Das Erbe des Kuriers« wurde ursprünglich als Anfangskapitel für meinen dritten Roman, »Die Flammen der Dämmerung«, geschrieben. Es stellte sich bald heraus, dass die gesamte Geschichte von Dorn Damaj viel mehr Raum einnehmen würde, als ich einer Serie zugestehen konnte, in der die Zahl der handelnden Personen ständig zunimmt. Folglich wurde das Kapitel herausgenommen, aber mir war von Anfang an klar, dass ich es zum richtigen Zeitpunkt wieder aufgreifen würde.

Später erschien dieses Kapitel unter dem Titel »Mudboy« in Shawn Speakmans Benefiz-Anthologie »Unfettered«. Trotzdem war es nach wie vor lediglich ein Teil von Dorn Damajs Geschichte, und ich danke Subterranean Press dafür, dass man mir nun die Gelegenheit gibt, die vollständige Geschichte zu erzählen.

Im vierten Band der Dämonensaga, »Der Thron der Finsternis«, werden wir Dorn Damaj wieder begegnen.

Peter V. Brett

Juli 2014

1

Ein Feuer‚ das brennt lichterloh

Sommer 324 NR

Das laute Geschepper riss Dorn aus dem Schlaf.

Mit der Metallkelle hämmerte seine Mutter gegen den Topf mit Hafergrütze, und der Lärm hallte durchs ganze Haus. »Raus aus den Betten, ihr Faulpelze!«, rief sie. »Das erste Horn wurde schon vor einer Viertelstunde geblasen, und das Frühstück ist heiß! Jeder, der nicht bis Sonnenaufgang am Tisch sitzt, hat bis zum Mittagsmahl einen leeren Magen!«

Jemand schlug Dorn ein Kissen gegen den Kopf. »Öffne die Fensterläden, Dornbusch«, murmelte Hardey.

»Warum muss ich das immer machen?«, meuterte Dorn.

Ein zweites Kissen knallte gegen Dorns andere Kopfseite. »Ganz einfach, wenn draußen ein Dämon ist, können Hardey und ich weglaufen, während er dich frisst!«, schnappte Hale. »Und jetzt mach schon!«

Die Zwillinge piesackten ihn immer gemeinsam … Nicht dass das etwas ausgemacht hätte. Sie zählten zwölf Sommer, und jeder von ihnen überragte ihn wie ein Baumdämon.

Dorn wälzte sich aus dem Bett und rieb sich die Augen, während er sich zum Fenster vortastete und die Läden öffnete. Der Himmel hatte eine rötlich-violette Färbung, und es war gerade hell genug, dass Dorn die schemenhaften Umrisse der im Hof lauernden Dämonen erkennen konnte. Seine Mutter nannte sie Horcies, aber Vater bezeichnete sie als alagai.

Während die Zwillinge sich noch im Bett räkelten und darauf warteten, dass ihre Augen sich an das Licht gewöhnten, hetzte Dorn aus dem Zimmer, weil er als Erster auf dem Abtritt hinter dem Vorhang sein wollte. Um ein Haar hätte er es sogar geschafft, aber wie immer drängten seine Schwestern ihn in letzter Sekunde zur Seite.

»Die Mädchen zuerst, Dornbusch!«, sagte Sky. Mit ihren dreizehn Sommern war sie noch bedrohlicher als die Zwillinge, aber selbst Sunny, die erst zehn war, konnte den armen Dorn leicht herumschubsen.

Er entschied, er könne sich das Pinkeln bis nach dem Frühstück verkneifen, und erreichte als Erster den Tisch. Heute war Sechsttag. Dann aß Relan immer Schinkenspeck, und jedes Kind bekam eine Scheibe ab. Dorn sog tief den Duft ein, während er zuhörte, wie der Speck in der Pfanne brutzelte. Seine Mutter schlug Eier auf und sang dabei vor sich hin. Dawn war eine mollige Frau mit drallen, kraftstrotzenden Armen, die fünf Kinder gleichzeitig bändigen oder sie allesamt kräftig an ihre Brust drücken konnte. Ihr Haar war mit einem grünen Tuch zusammengebunden.

Dawn warf Dorn einen Blick zu und lächelte. »In der Wohnstube ist es ein bisschen frisch heute Morgen, Dorn. Sei ein guter Junge und mach bitte im Kamin ein Feuer.«

Dorn nickte, lief in die Wohnstube ihres kleinen Häuschens und kniete vor dem Kamin nieder. Er schob den Arm in den Abzugsschacht und suchte nach der gezahnten Metallstange des Schiebers, mit dem man den Rauchfang verschließen und öffnen konnte. Nachdem er sie gefunden hatte, zog er daran, um den Abzug zu öffnen, und begann mit dem Feuermachen. Aus der Küche hörte er seine Mutter singen.

»Was kommt zuerst, wenn ein Feuer du machst?

Öffne den Rauchfang, sonst Qualm du entfachst!

Streu Laub und Stroh und Anzündholz aus,

Schichte kreuzweise Soden aus Torf darauf.

Blas Luft in die Funken, bis die Flamme schlägt hoch,

Und wärm dich am Feuer, das brennt lichterloh.«

Im Nu prasselte im Kamin ein Feuer, aber als Dorn an den Tisch zurückkam, saßen seine Brüder und Schwestern schon dort und machten ihm keinen Platz, während sie Eier und geschmorte Tomaten mit Zwiebeln auf ihre Teller häuften. Auf dem Tisch stand ein Korb mit dampfenden Keksen, und Dawn schnitt die gerösteten Speckscheiben ab. Bei diesen Gerüchen fing Dorns Magen an zu knurren. Schon streckte er die Hand aus, um sich einen Keks zu ergattern, aber Sunny schlug seine Hand beiseite.

»Warte, bis du an der Reihe bist, Dornbusch!«

»Du musst dreist sein«, sagte eine Stimme hinter ihm. Dorn drehte sich um und sah seinen Vater. »Als ich im Sharaj war, kriegten die ängstlichen Jungen nichts zu essen.«

Sein Vater Relan asu Relan am’Damaj am’Kaji war früher einmal ein Sharum-Krieger gewesen, aber er hatte sich in einem Kurierwagen aus dem Wüstenspeer, wie die Krasianer ihre Stadt nannten, herausgeschmuggelt. Nun arbeitete er als Müllsammler, doch sein Speer und sein Schild hingen immer noch an der Wand. Seine Kinder kamen allesamt nach ihm, dunkelhäutig und schlank.

»Sie sind alle größer als ich«, wandte Dorn ein.

Relan nickte. »Stimmt, aber Körpergröße und Kraft sind nicht das Einzige, was zählt, mein Sohn.« Sein Blick wanderte zur Vordertür. »Bald geht die Sonne auf. Komm mit mir und lass uns den Sonnenaufgang anschauen.«

Dorn zögerte. Die Aufmerksamkeit seines Vaters schien sich immer auf die älteren Brüder zu richten, und es war herrlich, dass er nun von ihm Notiz nahm, aber er dachte an die Dämonen, die er auf dem Hof gesehen hatte. Auf einen Ausruf seiner Mutter hin drehten sich beide zu ihr um.

»Wage es nicht, ihn mit nach draußen zu nehmen, Relan! Er ist erst sechs. Dorn, komm wieder an den Tisch zurück!«

Dorn wollte gehorchen, aber sein Vater legte ihm eine Hand auf die Schulter und hielt ihn fest. »Sechs ist alt genug, um von den alagai geschnappt zu werden, wenn man falsche Entscheidungen trifft, meine Liebe. Wenn man wegrennt, anstatt stillzuhalten«, sagte Relan. »Oder wenn man stillhält, anstatt wegzulaufen. Wir tun unseren Kindern keinen Gefallen, wenn wir sie verhätscheln.« Er führte Dorn auf die Veranda und schloss die Tür, ehe Dawn etwas erwidern konnte.

Mittlerweile überzog ein helles Indigoblau den Himmel. Bis zur Morgendämmerung waren es nur noch wenige Minuten. Relan zündete seine Pfeife an, und das süße, vertraute Aroma erfüllte die Veranda. Dorn atmete tief ein. Der Rauch, der aus der Pfeife seines Vaters stieg, vermittelte ihm ein stärkeres Gefühl der Sicherheit als die Schutzsiegel.

Staunend blickte Dorn sich um. Die Veranda war ein altgewohnter, alltäglicher Ort. Wie der gesamte Hausrat bestand auch ihre Einrichtung aus zusammengewürfelten Möbelstücken, die Relan von der Müllkippe des Dorfes geborgen und sorgfältig repariert hatte.

Aber in dem trügerischen Licht vor der Morgendämmerung sah alles anders aus – trostlos und unheimlich. Unterdessen waren die meisten Dämonen vor der aufgehenden Sonne geflüchtet, einer hingegen hatte sich umgewandt, als die Verandatür knarrte und ein Lichtschein und Geräusche aus dem Haus drangen. Sowie er Dorn und seinen Vater entdeckte, rannte er auf sie zu.

»Bleib hinter den Siegeln«, warnte Relan und deutete mit dem Pfeifenstiel auf die Linie aus Abwehrsymbolen, die mit Farbe auf die Bretter gemalt waren. »Selbst der mutigste Krieger verlässt nicht leichtfertig die Deckung.«

Der Baumdämon fauchte sie an. Dorn kannte ihn – er kroch jede Nacht bei dem alten Goldholzbaum, auf den Dorn gern hinaufkletterte, aus dem Boden an die Oberfläche. Die Augen des Dämons fixierten Relan, der seelenruhig zurückstarrte. Plötzlich griff der Dämon an und schlug mit seinen gewaltigen, astähnlichen Armen gegen die Siegel. Wie ein silbern gleißendes Spinnennetz breitete sich Magie in der Luft aus. Dorn stieß einen schrillen Schrei aus und wollte ins Haus stürzen.

Sein Vater packte ihn beim Handgelenk und riss ihn mit einem schmerzhaften Ruck zurück. »Wenn man wegrennt, macht man sie auf sich aufmerksam.« Er zog Dorn herum, und der Junge sah, dass der Blick des Dämons sich tatsächlich auf ihn richtete. Als er ein tiefes Knurren von sich gab, tröpfelte ein dünner Speichelfaden wie gelber Pflanzensaft aus einem Winkel seines Mauls.

Relan ging in die Hocke, fasste Dorn bei den Schultern und sah ihm in die Augen. »Du musst die alagai immer respektieren, mein Sohn, aber du darfst dich niemals von deiner Furcht vor ihnen überwältigen lassen.«

Sachte schob er den Jungen wieder auf die Siegel zu. Keine zehn Fuß von ihnen entfernt strolchte der Dämon immer noch über den Hof. Er kreischte Dorn an, riss das Maul weit auf und entblößte Reihen von gelben Zähnen und eine raue, braune Zunge.

Dorns Bein begann zu zucken, und er stemmte den Fuß fest auf den Boden, um das Zappeln zu unterdrücken. Er hatte das Gefühl, seine Blase würde jeden Moment platzen. Er biss sich auf die Lippe. Seine Brüder und Schwestern würden nie aufhören ihn zu hänseln, wenn er mit einem nassen Hosenbein ins Haus zurückkam.

»Tief durchatmen, mein Sohn«, sagte Relan. »Umarme deine Angst und setze Vertrauen in die Siegel. Lerne die Dämonen kennen, und inevera, du wirst nicht durch alagai-Krallen sterben.«

Dorn wusste, dass er seinem Vater vertrauen konnte, der lediglich mit seinem Schild und Speer bewaffnet draußen in der ungeschützten Nacht gestanden hatte. Aber durch seine Worte verging ihm weder das flaue Gefühl im Magen noch der Druck auf der Blase. Er überkreuzte die Beine, um sich möglichst nicht zu bepinkeln, und hoffte, sein Vater würde es nicht bemerken. Sein Blick wanderte zum Horizont, aber dort glühte der Himmel immer noch orangerot, ohne eine Spur von Gelb.

In Gedanken sah er bereits, wie seine Brüder sich vor Lachen am Boden wälzten, während seine Schwestern sangen: »Hosenpisser! Hosenpisser! Der Dornbusch steht im Wasser!«

»Schau mir zu, ich zeige dir jetzt einen Trick der Anlocker«, sagte Relan und gestattete dem Jungen, einen Schritt zurückzuweichen. Sein Vater hingegen trat vor die Siegel, starrte dem Baumdämon in die Augen und erwiderte sein Knurren.

Relan beugte sich nach links, und der Dämon ahmte ihn nach. Er richtete sich wieder auf, lehnte sich nach rechts, und der Baumdämon tat dasselbe. Er fing an, sich langsam von einer Seite auf die andere zu wiegen, und wie ein Spiegelbild im Wasser folgte der Dämon seinen Bewegungen, selbst dann noch, als Relan einen Schritt nach links machte, danach seine frühere Stellung wieder einnahm und anschließend einen Schritt nach rechts tat. Beim nächsten Mal machte er zwei Schritte in beide Richtungen. Dann drei. Jedes Mal ging der Dämon mit.

Sein Vater vollführte vier übertrieben große Schritte nach links, blieb abrupt stehen und neigte seinen Körper wieder nach rechts. Instinktiv begann der Dämon, nach rechts zu laufen, und folgte dem Muster auch dann noch, als Relan es unterbrach und sich erneut nach links wandte. Er erreichte den hinteren Teil der Veranda, bevor der Dämon ihn einholte, einen grässlichen Schrei ausstieß und ihn ansprang. Abermals flammten die Siegel auf, und die Kreatur wurde zurückgeschmettert.

Relan widmete sich wieder seinem Sohn. Er ließ sich auf ein Knie sinken und blickte dem Jungen in die Augen.

»Die alagai sind größer als du, mein Sohn. Und sie sind stärker. Aber«, mit dem Finger tippte er an Dorns Stirn, »sie sind nicht klüger. Nies Diener haben Gehirne, die so winzig sind wie geschälte Erbsen, sie sind schwer von Begriff und leicht zu täuschen. Wenn du draußen einem begegnest, umarme deine Furcht und wiege dich hin und her, wie ich es dir gezeigt habe. Wenn der alagai einen Schritt in die falsche Richtung macht, begibst du dich – ohne zu rennen – an den nächsten Ort, der dir eine sichere Zuflucht bietet. Selbst der schlauste Dämon macht mindestens sechs Schritte in die verkehrte Richtung, ehe er den Trick durchschaut.«

»Aber dann fängt man an zu rennen«, mutmaßte Dorn.

Relan schmunzelte und schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Du gehst im selben mäßigen Tempo weiter, während du dreimal tief durchatmest. So lange dauert es, bis der Dämon die Orientierung wiedergefunden hat.« Er schlug Dorn auf den Schenkel, sodass der Junge zusammenzuckte und sich in den Schritt fasste, um sich nicht zu bepinkeln. »Dann rennst du los. So schnell, als ob das Haus in Flammen stünde.«

Dorn nickte und zog eine Grimasse.

»Drei Atemzüge«, wiederholte Relan. »Ich mach’s dir vor.« Er sog tief den Atem ein und bedeutete Dorn, seinem Beispiel zu folgen. Dorn füllte seine Lungen mit Luft und blies sie gleichzeitig mit seinem Vater wieder aus. Dann atmete Relan wieder ein, und Dorn tat es ihm gleich.

Er wusste, dass diese Übung ihn beruhigen sollte, aber das tiefe Durchatmen schien den Druck auf der Blase nur zu verschlimmern. Bestimmt musste sein Vater es ihm anmerken, aber Relan gab durch nichts zu erkennen, dass er sah, in welchen Nöten sein Sohn steckte. »Weißt du, warum deine Mutter und ich dir den Namen Dorn gaben?«

Dorn schüttelte den Kopf und spürte, wie sein Gesicht vor Anstrengung ganz heiß wurde.

»In Krasia lebte einmal ein Junge, der von seinen Eltern verstoßen wurde, weil er schwach und kränklich war«, erzählte Relan. »Er konnte nicht mit den Viehherden Schritt halten, denen die Familie folgte, um zu überleben, und sein Vater, der bereits viele Söhne hatte, jagte ihn fort.«

Tränen strömten Dorns Wangen hinunter. Würde sein Vater ihn ebenfalls fortjagen, wenn er sich vor Angst in die Hose pinkelte?

»Ein Rudel Nachtwölfe, das der Herde gefolgt war, fürchtete sich vor den Speeren der Familie, aber als die Bestien die Witterung des einsamen, schutzlosen Jungen aufnahmen, pirschten sie ihm hinterher«, fuhr Relan fort. »Doch der Junge lockte sie in einen Dornbusch, ein Dickicht ineinander verschlungener Ranken, und als einer der Wölfe ihn bis in das Gestrüpp hinein verfolgte, verfing er sich in den scharfen Stacheln. Der Junge wartete, bis der Wolf feststeckte, dann zertrümmerte er ihm mit einem Stein den Schädel. Als er mit dem Wolfspelz um die Schultern zu seinem Vater zurückkehrte, fiel dieser auf die Knie und bat Everam um Vergebung, weil er an seinem Sohn gezweifelt hatte.«

Wieder drückte Relan Dorns Schultern. »Deine Brüder und Schwestern mögen dich ja wegen deines Namens hänseln, aber du sollst ihn voller Stolz tragen. Dornbüsche gedeihen an Stellen, an denen andere Pflanzen nicht überleben können, und sogar die alagai fürchten ihre Stacheln.«

Der Druck auf der Blase ließ nicht nach, aber auf einmal empfand Dorn seine Notdurft nicht mehr als quälend. Er richtete sich gerade auf und stand an der Seite seines Vaters, während sie zusahen, wie sich der Himmel mit Farben füllte. Auch die letzten Dämonen verflüchtigten sich nun zu einem Nebel und sanken in den Boden, ehe der Rand der Sonne sich über den Horizont schob. Relan legte den Arm um Dorn, und gemeinsam beobachteten sie den Sonnenaufgang, der sich schimmernd auf dem Wasser des Sees spiegelte. Dorn schmiegte sich an seinen Vater und genoß den seltenen Moment, in dem er mit ihm allein war, ohne von seinen Geschwistern herumgeschubst zu werden.

Ich wünschte, ich hätte keine Brüder und Schwestern, dachte er.

In diesem Augenblick fiel das Sonnenlicht auf ihn.

Die anderen stapelten bereits ihr benutztes Geschirr aufeinander, aber Dawn hatte Teller für Dorn und Relan aufbewahrt. Dorn saß allein mit seinem Vater am Tisch und kam sich sehr wichtig vor.

Relan biss in die erste Speckscheibe, schloss die Augen und kaute genussvoll. »Die dama drohten mir immer, dass Schweinefresser in den Feuern von Nies Abgrund brennen würden, aber beim Bart des Schöpfers, ich schwöre, es lohnt sich, diese Strafe auf sich zu nehmen.«

Dorn biss einen Happen von seiner Speckscheibe ab und genoss wie sein Vater mit geschlossenen Augen den Geschmack von Fett und Salz.

»Wie kommt es, dass Dornbusch noch nach Sonnenaufgang was zu essen kriegt?«, wollte Sky wissen.

»Ja, genau!«, schrien die Zwillinge im Chor. Wenn es darum ging, Dorn zu tyrannisieren, waren sie mit Sky immer einer Meinung.

Das Lächeln auf Relans Gesicht erlosch. »Weil er mit mir gemeinsam isst.« Sein Tonfall stellte klar, dass weitere Fragen mit dem Riemen beantwortet würden. Der alte Lederstreifen hing neben dem Kamin, eine Warnung, die alle Damaj-Kinder sehr ernst nahmen. Mit dem Riemen peitschte Relan sein Maultier, wenn es sich weigerte, eine schwere Last zu ziehen, aber er hatte auch ohne zu zögern Hardeys Rücken damit gegerbt, als der eine Katze in den See geworfen hatte, um herauszufinden, ob sie schwimmen konnte. Alle erinnerten sich noch gut an das Geheul ihres Bruders und lebten in ständiger Furcht vor diesem Riemen.

Relan schenkte seinen anderen Kindern keine Beachtung mehr, sondern spießte eine zweite Speckscheibe auf seine Gabel und legte sie auf Dorns Teller.

»Jungs, füttert die Tiere und spannt den Müllkarren an«, befahl Dawn, und die gespannte Atmosphäre verflog. »Mädels, ihr weicht die Wäsche ein.« Die Kinder verneigten sich, suchten hastig das Weite und ließen Dorn allein bei seinem Vater zurück.

»Wenn in Krasia ein Junge zum ersten Mal einem alagaigegenübersteht, gibt man ihm den nächsten Tag frei, damit er ihn im Gebet verbringen kann«, sagte Relan. Er lachte. »Obwohl ich zugebe, dass ich mich schon bald langweilte, als ich es versuchte. Trotzdem ist es klug, über diese Erfahrung nachzudenken. Nach den Gebeten darfst du den Rest des Tages damit verbringen, im Sonnenlicht spazieren zu gehen.«

Ein Tag, an dem er unternehmen durfte, was immer sein Herz begehrte. Dorn wusste, was er zu sagen hatte, obwohl die Worte ihm auf einmal unzureichend erschienen. »Ja, Vater. Danke, Vater.«

Die Familie Damaj pilgerte im Gänsemarsch zum Heiligen Haus. Relan führte die Reihe an, gefolgt von Dawn. Als Nächster kam Hale, der eine Viertelstunde älter war als Hardey. Sky war ein Jahr älter als die beiden, aber sie war ein Mädchen und musste hinter ihnen gehen, gefolgt von Sunny. Wenn Dorn neun Jahre alt wurde, würde er vor seinen Schwestern gehen, aber bis dahin waren es noch ein paar Jahre. Er ging immer als Letzter und musste sich sputen, um mit dem rücksichtslosen Tempo mitzuhalten, das Relan anschlug.

Heute marschierten sie doppelt so schnell, weil sie so spät aufgebrochen waren. Dorn erkannte an den Blicken seiner Geschwister, dass sie ihn dafür büßen lassen würden, und auch dafür, dass er von den häuslichen Pflichten befreit war.

Doch trotz der Verspätung überquerten die Damajes den Dorfplatz bereits, als viele Leute erst dabei waren, die Fensterläden zu öffnen, um den Morgen zu begrüßen. Das Heilige Haus war nahezu leer.

»Abscheulich«, erklärte Relan, als er die leeren Sitzbänke sah. Eine Handvoll Dorfbewohner, zumeist Älteste, waren zum Gebet gekommen, aber selbst am Siebenttag suchte nur ein verschwindend geringer Teil der Dörfler das Heilige Haus auf, wobei noch längst nicht jeder es für nötig hielt, in Erscheinung zu treten.

Dorn wusste, was sein Vater sagen würde, noch ehe er die Worte aussprach. Um seiner Kinder willen wurde Relan nie müde, auf diesem Thema herumzuhacken.

»Es heißt, Everam zu verspotten, wenn Seine Kinder nur einmal in der Woche beten.« Normalerweise spuckte Relan aus, wenn er den Leuten vorwarf, den Schöpfer zu schmähen, aber das tat er niemals im Heiligen Haus. »In Krasia würden die dama den Leuten den alagai-Schwanz zu schmecken geben. Beim nächsten Tagesanbruch wäre der Tempel dann wieder voll.«

Aric Moorländer, einer der Graubärte vom Dorfplatz, drehte sich um und funkelte sie wütend an. »Wenn wir dir so zuwider sind, Modderhaut, warum gehst du dann nicht zurück in die Wüste?«

Relans Miene verdüsterte sich, und die Muskeln an seinen Schultern spannten sich an. Er behauptete, in Krasia kein großer Krieger gewesen zu sein, aber in Moorweiler wurde er von allen gefürchtet, und er hatte schon Männer zusammengeschlagen, wenn sie ihn mit diesem Schimpfwort belegten. Keiner hatte mehr gewagt, ihn wegen seiner Abstammung anzupöbeln, seit Masen Strohballen und seine drei Brüder ihn am Fest der Wintersonnenwende als Ratte beschimpften. Relan war nicht mal ein bisschen außer Puste, als alle Männer am Boden lagen und unterwürfig winselten.

Aber jetzt befanden sie sich im Heiligen Haus, und Aric war ein Ältester. Die Ehre gebot Relan, ihn mit Respekt und Rücksicht zu behandeln.

Relan schloss die Augen und umarmte den in ihm hochbrodelnden Zorn. Seine Schultern lockerten sich wieder. Er deutete eine Verbeugung an. »Du bist mir nicht zuwider, Aric Moorländer. Du zeigst Demut vor Everam. Jeden Morgen sehe ich dich hier, wie du Ihm Ehre erweist.«

Die Worte sollten die Situation entschärfen, aber sie schienen das genaue Gegenteil zu bewirken. Aric knallte seinen Gehstock auf den Boden und sprang auf die Füße.

»Ich zeige Demut vor dem Schöpfer, Relan Damaj.« Aric umklammerte seinen Stock und reckte ihn drohend in die Höhe. »Ich spucke auf deinen Everam.«

Er zog seinen Rotz hoch, und Relan verlor die Geduld. Im Nu war er bei dem Ältesten und entwand ihm mit der linken Hand mühelos den Stock, während seine Rechte flink wie ein Kolibri vorschoss und dem Graubart einen Schlag gegen die Kehle verpasste.

Aric hustete, als er sich an dem Schleim verschluckte, und taumelte einen Schritt nach hinten, ehe er gegen die Sitzbänke prallte. Verletzt schien er nicht zu sein, aber sein Gesicht lief hochrot an, während er trocken hustete und nach Luft japste.

»Ich suche keinen Streit mit dir, Aric, Sohn des Aric vom Stamm der Moorländer von Moorweiler«, versicherte Relan, »aber ich lasse es nicht zu, dass du im Haus des Schöpfers auf den Boden spuckst.«

Aric sah aus, als wolle er ihn angreifen, aber Relan zielte mit dem Gehstock auf ihn und hielt ihn in Schach.