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Dieter Richter

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Beschreibung

Dieter Richters Untersuchung befasst sich mit Kindheitsbildern und ihren historischen Veränderungen, also mit den Vorstellungen, die sich eine bestimmte Gesellschaft vom Kinde und von der Kindheit gemacht hat. Dargestellt wird die allmähliche Entstehung jener literarischen, sozialen und pädagogischen ›Erfindungen‹ und ›Entwürfe‹, die das neuzeitliche Kindheitsverständnis bestimmen und die für die Literatur-, Kultur- und Geistesgeschichte der Moderne so eminent folgenreich waren. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Dieter Richter

Das fremde Kind

Zur Entstehung der Kindheitsbilder des bürgerlichen Zeitalters

FISCHER E-Books

Inhalt

»Da ich ein Kind [...]VorwortEinführungEin Kinderkult in der Toskana: die Heilige Fina von San GimignanoKinderkult. Ein GrundmusterDer Bruch zwischen Erwachsenen und KindernMignon und ihr MörderErster Teil Unglückskinder Kinderunglücks-Geschichten und das Ende des NothelfersA. Fritz der Näscher und seine Gesellen. Moralische Exempel aus der Literatur des aufgeklärten ZeitaltersFriz der NäscherVon Heim und Herd: synthetische Umwelten. Die Warngeschichte als LustgeschichteGebranntes Kind scheut das Feuer. Wandel der Strafen, neue GewaltBlaubart als Erzieher. Von den Gefahren des AlleinseinsSüßwaren-Welt. Die Kinder des neuen ZeitaltersB. Das Ende des Nothelfers. Formwandlungen der Kinderunglücks-GeschichteKinderwunder in der mittelalterlichen HeiligenlegendeEx Voto. Kinderunfälle in Mirakelbüchern und auf Votivtafeln»Der Tod ist wie ein Vogelfänger.« Todesdrohung und Glücksversprechen in der moralischen Erzählung»Daß die Kinder sich für etwas ganz anderem, als für Gespenstern zu fürchten haben.« Vom Wandel des SchreckensDie neue Sprache der BilderDie Botschaft des neuen Heiligen. Verschwinden des SchutzengelsErzähltypologie und Authentizitätsbeteuerung: die Unglücksgeschichte als ›wahre‹ GeschichteDie Gefahr geht von den Menschen aus. Kindheit als RisikoWarnendes Schreckensbild. Die Didaktisierung des eigenen ElendsLiterarische Erzählsituation, Intimisierung des Erzählens, zunehmende »Verniedlichung«. Zur weiteren Geschichte der GattungStürzende Kinder (Bilderfolge)QuellentexteAnmerkungenZweiter Teil Die kleinen Wilden Der ethnologische Blick auf die KindheitDas Eskimomädchen aus der ChampagneWolfskind und Starker Hans. Wilde Kinder in vorbürgerlichen Traditionen»Meine Beute war mir allzu kostbar.« Wilde Kinder als VersuchskinderWildes Kind und Wunderkind»Das Kind der feinsten Hauptstadt ist ein geborner Otaheiter.« Der Mythos vom Wilden und die fremde Kultur im eigenen LandDie unerzogenen Wilden. Freitag und sein RobinsonWild-FangDritter Teil Reiz des Fremden: das Volk, die Kinder, die Märchen Entwicklung eines historischen MustersA. Wandlungen des europäischen Märchens1. Volk? Kinder? Märchen? Zur Soziogenese des Populären2. »Geschichten, wie die alten Frauen sie zur Unterhaltung der Kleinen erzählen.« Basiles ›Pentamerone‹ und die höfische Inszenierung des Populären im Barock3. »Eine sehr sinnreiche Moral …« Perrault und die Feenmärchen des Absolutismus4. »Wie eine ausgeflogene Taube die Heimat wieder sucht.« Das Haus als Märchen-Ort der Brüder GrimmB. Der romantische Blick1. Suche nach dem verlorenen Paradies2. »Im Kind ist Freiheit allein.« Kindheit als Utopie3. Das Märchen der neuen Kindheit: E.T.A. Hoffmanns ›Das fremde Kind‹4. Kleiner Muck. Vom Kind, das nicht groß wirdVierter Teil Erinnertes Kind Jean Pauls Fragment einer ›Selberlebensbeschreibung‹ und das Freuden-Gedächtnis der KindheitKindheit: die andere Zeit»Noch erinnert er sich.«Kindheits-Kanaan. Glück hinter MauernAnhangLiteraturNachweis der Abbildungen

»Da ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und war klug wie ein Kind und hatte kindische Anschläge.«

1. Korinther 13,11

»Man kennt die Kindheit durchaus nicht.«

Rousseau, Émile

»Von Kindheit haben wir keine Begriffe.«

Hölderlin, Hyperion

Vorwort

Das vorliegende Buch ist in mehreren, immer wieder unterbrochenen Arbeitsphasen entstanden. Die Beschäftigung mit dem Thema begann um das Jahr 1975. Sie war bestimmt nicht nur von der damals neu einsetzenden Debatte über die Geschichte der Kindheit und der literarischen Sozialisation, sondern auch von dem Verlangen, historisch über Erfahrungen nachzudenken, die wir in jenen Jahren und den Jahren zuvor mit den »fremden Kindern« um und in uns gemacht haben. Die Arbeit dann voranzubringen und in dieser Form abzuschließen, half mir ein Akademie-Stipendium der Stiftung Volkswagenwerk, der ich dafür auch an dieser Stelle danken möchte. Die vier Teile des Buches sind als weitgehend in sich abgeschlossene Studien angelegt. In jedem Fall sollten sich Texte und Theorien wechselseitig ergänzen, sollten Erzählen und Deuten zueinanderfinden – nicht zuletzt in der Hoffnung, daß sich die Sprache der Texte in den Köpfen der Leser zu immer wieder neuen Zeichen und Bildern fügt.

 

D.R.

Einführung

Ein Kinderkult in der Toskana: die Heilige Fina von San Gimignano

Am 12. März des Jahres 1253 läuteten in der kleinen toskanischen Bergstadt San Gimignano die Kirchenglocken, ohne daß Menschenhand sie berührt hätte. Kein Zweifel, Wunderbares mußte sich ereignet haben. Ein Kind war gestorben.

Das Kind, Fina dei Ciardi[1], stammte aus verarmter adeliger Familie. Für kindliche Spiele und Vergnügungen hatte es bei Lebzeiten nichts übrig gehabt. Obgleich schön von Gestalt, mied es die Gesellschaft der Menschen. Am liebsten blieb es im Haus, und wenn es über die Straße gehen mußte, hielt es den Blick gesenkt. Eines Tages hatte es damit begonnen, sich in eine rauhe Ziegenhaardecke zu kleiden und seinen Körper mit Fastenübungen zu kasteien. Dann, vielleicht im Alter von zehn Jahren, verfiel das Mädchen in eine merkwürdige Krankheit, eine Starre, die alle Glieder lähmte. Nur den Kopf konnte es noch bewegen. Die kleine Fina ließ sich auf ein blankes Holzbrett legen, gestattete nicht, daß man sie umbettete oder auch nur ihre Lage veränderte. So lag das Kind fünf Jahre. Der Körper ging, wo er auflag, allmählich in Fäulnis über, wurde von Würmern heimgesucht; die Mäuse machten sich an dem verfallenden Leib zu schaffen. Doch die kleine Fina blieb bei alledem fröhlich und geduldig. Acht Tage vor ihrem Tod kündigte ihr der Heilige Gregorius die Aufnahme in den Himmel an. An dem Tag, an dem sie starb, wuchsen aus ihrem Leidenslager duftende Veilchen.

Schon am Leichnam des Mädchens sollen sich Wunderzeichen ereignet haben, und bereits kurz nach seinem Tod werden durch seine Fürbitte Kranke wieder gesund. Ein verunglücktes Knäblein wird durch das Eingreifen Finas wieder zum Leben erweckt. In kurzer Zeit wird Finas Grab Ziel von Wallfahrten; Spenden und Opfergaben werden niedergelegt, weitere Wunder geschehen.[2] Fina wird eine Heilige.

Besonders wichtig für die Verehrung des Mädchens wird eine neue kommunale Einrichtung der Stadt: In den Jahren nach 1255, der Blütezeit der freien Stadtrepublik San Gimignano, beschließen die Bürger die Gründung eines städtischen Krankenhauses.[3] Es soll die kranken und armen Bürger der Stadt versorgen. Und es will Heilung bringen – anders als das ältere Leprosorium steht es nicht allein den Todgeweihten offen. Wer hier eingeliefert wird, darf hoffen, den Schreckensort lebendig, gesund wieder zu verlassen. Der Kranke wird jetzt zum Patienten, und patientia, Geduld, zur Tugend des Kranken: eben jene laeta patientia[4], die »fröhliche Geduld«, deren exemplum die kleine Fina war.

Santa Fina wird zur Patronin des neuen städtischen Hospitals in San Gimignano. Die hölzerne Tafel der Legende, die ihr fünf Jahre lang als Krankenlager gedient hatte, taucht als Reliquie im Krankenhaus auf (sie ist noch heute dort zu sehen). Auch die älteste Fassung der Fina-Legende, von einem ortsansässigen Dominikaner um 1310 niedergeschrieben, entsteht auf Bitten und Veranlassung des rector hospitalis S. Finae: eine Auftragsarbeit des Vorstehers des Krankenhauses.[5] Das Patronat der wundertätigen kleinen Heiligen hat dem Hospital in der Folgezeit nicht nur Ruhm und Ansehen, sondern auch – durch Spenden, Schenkungen und testamentarische Nachlässe – Wohlstand und zahlreiche Besitzungen eingebracht.

Im späten Mittelalter ist der Fina-Kult dann schon zum festen Bestandteil des öffentlichen Lebens in San Gimignano geworden. Im 14. Jahrhundert erscheint das Bild der Heiligen mehrfach in der lokalen Freskomalerei.[6] Ein um 1402 entstandenes Altarbild zeigt, daß das wundertätige Kind längst nicht mehr nur als Krankheits-Heilige verehrt wird: Die dargestellten Wundertaten beziehen sich jetzt sehr viel allgemeiner auf Handel und Wandel in der Stadt und die hier drohenden Gefahren – die Heilige Fina hilft bei einem Brand, sie rettet einen während der Arbeit abgestürzten Dachdecker und sie befreit ein Kauffahrteischiff aus Seenot.[7]

Auch das Stadtregiment erweist der kleinen Heiligen inzwischen seine Reverenz. 1374 richtet der Magistrat ein jährliches Hochamt und ein Wachsopfer am Fina-Grab im Dom ein.[8] Um 1400 erscheint Fina bereits als Patrona urbis: In der Rolle der Stadtheiligen hat sie jetzt den alten Namenspatron der Stadt, den wenig populären Heiligen Gimignano, aus dem Feld geschlagen. Ein zeitgenössisches Tafelbild zeigt sie, wie sie mit schützender Gebärde die Stadt in den Falten ihres Gewandes birgt.[9] In den sechziger und siebziger Jahren des 15. Jahrhunderts – die Stadt hatte seit über 100 Jahren ihre politische Selbständigkeit an Florenz verloren – findet die lokale Fina-Verehrung dann ihren künstlerischen Höhepunkt. Benedetto da Maiano und Domenico Ghirlandaio schaffen mit der Ausgestaltung der neuen Fina-Kapelle im Dom ein vielbewundertes Hauptwerk der toskanischen Renaissance. Längst ist Fina nicht mehr nur Geduldsheilige: decus, exemplum, praesidium (Zier, Beispiel, Schirm) – so bezeichnet sie die Inschrift auf dem prächtigen Sarkophag. Die Karriere des Kindes hat ihren Gipfel erreicht.

Abb. 1. Die Heilige Fina von San Gimignano. Fresko von Domenico Ghirlandaio (1475)

Auch in den Jahrhunderten der Neuzeit bleibt der Fina-Kult in San Gimignano lebendig. Als 1630/31 die Pest im Land grassiert, wird Fina als Nothelferin angerufen, und sie bringt die Epidemie zum Stillstand.[10] Bis heute wird das Fest der »Heiligen der Veilchen« jährlich in San Gimignano gefeiert, als religiöse Zeremonie und als Volksfest. »Und alle Jahre erneuert sich das Wunder der Veilchenbüschel Santa Finas auf den Türmen von San Gimignano.«[11] Außerhalb des Ortes ist die Heilige so gut wie unbekannt.

Kinderkult. Ein Grundmuster

Ich habe die Geschichte der Heiligen Fina von San Gimignano hier vorgestellt, weil ihr, trotz allen lokal-, frömmigkeits- und kulturhistorischen Besonderheiten, ein variables Grundmuster der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte eigen ist: die Verehrung von Kindern, ihre Stilisierung zum Exempel.

Die Verallgemeinerung erscheint vielleicht überraschend. Seit der Veröffentlichung und mehr noch seit der vehementen »Popularisierung« des Buches von Philippe Ariès hat sich die Auffassung verbreitet, ein Bewußtsein für Kindheit habe es im Mittelalter nicht gegeben oder, vergröbert gesagt, Kindheit sei eine Erfindung der Neuzeit.[12] Auch die psychohistorischen Untersuchungen von Lloyd de Mause – in ihrem progressistischen Ansatz dem von Ariès durchaus entgegengesetzt – nehmen ihren Ausgang von der Theorie einer unterentwickelten oder gar fehlenden Sensibilität gegenüber Kindern in früheren Jahrhunderten.[13] Kritik an Ariès’ Auffassung wurde – eher im engeren Kreis von Fachdisziplinen – vor allem von »mikrohistorisch« orientierten Forschern vorgebracht, die sich sehr genau auf einen fest umschriebenen Zusammenhang der mittelalterlichen Kulturgeschichte bezogen. Emmanuel Le Roy Ladurie beispielsweise, der aus dem umfangreichen Material der Inquisitionsprotokolle das dörfliche Leben einer kleinen südfranzösischen Ortschaft bis in die Details des Alltags hinein rekonstruiert hat, fand dort auch zahlreiche Zeugnisse einer hohen individuellen Zuneigung zu Kindern. Und er polemisiert: »Aus alledem ergibt sich, daß die namentlich von Philippe Ariès, aber auch von anderen gemachte Behauptung, derzufolge Kinderliebe eine vergleichsweise neue Erfindung der bürgerlichen Kultur wäre, wenigstens nicht in dem simplistischen Verstande wahr ist, den viele Leser dieser Schriftsteller davon haben.«[14] Was Le Roy Ladurie 1975 exemplarisch für die Sozialgeschichte beschreibt, registriert der französische Kulturhistoriker Jean-Claude Schmitt 1979 in einem anderen Bereich: dem der historischen Volkskultur. In seiner Analyse eines mittelalterlichen Kinder-Nothelferkultes weist er darauf hin, daß die historische Popularkultur (Volksfrömmigkeit, Kult, Legende, Volkserzählung) auch in vor- oder außerbürgerlichem Milieu ein ausgesprochen »nahes« Verhältnis zum Kind gehabt habe: »In Texten über folkloristische Kultur [taucht] plötzlich das Kind auf: es weint, strampelt, wird geschaukelt, gepflegt, gestillt und geliebt, mit einem Wort – es wird anerkannt.«[15] Schließlich hat – ebenfalls in Auseinandersetzung mit Ariès – der Mittelalterhistoriker Klaus Arnold 1980 eine Fülle von Zeugnissen aus mittelalterlichen Quellen zusammengetragen, die die soziale und kulturelle Wirklichkeit des Kindes in dieser Epoche höchst differenziert erscheinen lassen.[16]

Das Bild, das Ariès von der Geschichte der Kindheit gezeichnet hat, scheint also in manchem Punkt korrektur- und ergänzungsbedürftig zu sein. Trotzdem wird man Ariès, was die generelle Linie seiner Untersuchungsführung betrifft (wachsende Bedeutung des sozialen und kulturellen Status Kindheit im historischen Prozeß der Neuzeit), nach wie vor beipflichten müssen. Vor allem aber bleibt sein methodischer Ansatz – die Frage nach der Geschichtlichkeit der Kategorie Kindheit – bedeutsam.

In die Diskussion hat sich bisweilen eine Begriffsverwirrung eingeschlichen, an deren Zustandekommen Ariès selber nicht ganz schuldlos ist: das Verständnis von Kindheit als Kinderleben und von Kindheit als Kindheitsbild. »Kinderleben« meint die gesellschaftliche Wirklichkeit von Kindern, ihr Leben und Treiben in einer bestimmten Epoche und an einem bestimmten Ort; »Kindheitsbild« meint die Entwürfe und Vorstellungen, die sich eine Epoche, eine soziale Gruppe oder auch ein Einzelner von Kindern macht (und die individuell und gesellschaftlich außerordentlich wirksam sein und das Verhalten gegenüber ›wirklichen‹ Kindern durchaus beeinflussen können).[17] Wie jeder historisch forschende Wissenschaftler ist auch der an Kindheit interessierte auf Quellen angewiesen: Geschichten, Bilder, Urkunden, Grabsteine, Museumsbestände etc., sie alle reden von Kindern, sie stehen der Wirklichkeit, von der sie berichten, ferner oder näher; niemals sind sie freilich mit ihr identisch. Dieser hermeneutisch an und für sich selbstverständliche Sachverhalt scheint, wo es um Kinder geht, besonders leicht vergessen zu werden. Ein Sujet wie das der Kinderdarstellungen (in historischen ebenso wie in zeitgenössischen Zeugnissen) verleitet offenbar in ganz besonderer Weise zur vorschnellen Identifikation des Dargestellten mit der »Realität«: Projektion im Freudschen Sinne scheint dabei im Spiel zu sein.

Ich will den Unterschied an einem Beispiel illustrieren: Im Jahre 1488 hat der elsässische Prediger Geiler von Kaisersberg einen Predigtzyklus ›Von der artt der kind‹ gehalten, in dem er 15 »Eigenschaften der Kinder« aufzählt und geistlich deutet.[18] Dürfen wir Geilers Charakterisierungen der »artt der kind« für einen Beitrag zur Zustandsbeschreibung elsässischen Kinderlebens am Ende des Mittelalters nehmen? Nur mit Einschränkungen. Der Prediger bietet ein bestimmtes Bild von Kindheit an, und wir können nicht ausschließen, daß es Züge eines Wunschbildes trägt. (Auch hier sind die Kinder Vorbilder, immerhin ist der Predigttext das bekannte »So ihr nicht werdet wie die Kinder …«) Ganz sicher aber ist Geilers Predigtzyklus – ähnlich wie seine ›Kinderspiele‹-Serie – ein Indiz dafür, daß die detaillierte Darstellung des Kinderlebens kanzelwürdig, predigtfähig geworden ist. Die Kinderwelt drängt in die geistliche Rede, die Welt des Populären mischt sich mit der Hochkultur. Darin bekundet sich zweifellos eine geschärfte Aufmerksamkeit des Predigers und der Zeit für »die Kindheit«, ob auch für die lebendigen Kinder selber sei dahingestellt.

Auch in der vorliegenden Arbeit geht es um Kindheitsbilder, im engeren Sinn um bürgerliche Kindheitsbilder der Zeit um 1800. Ich suche sie aus literatur- und kulturhistorischer Interpretation zu gewinnen, wobei die Genese dieser Kindheitsbilder durch charakteristische Verwandlung älterer, vorbürgerlicher Muster den historischen Faden der Untersuchung bildet.

Ariès ist durchaus zuzustimmen, wenn er von der geringeren Ausprägung des sozialen Status Kindheit in der Zeit vor dem 17./18. Jahrhundert spricht. Dennoch ist die abendländische Kultur seit der Spätantike geprägt von den Bildern von Kindern. Sie mögen uns wenig »kindlich« (in modernem Verständnis) erscheinen, und sie werden dies tatsächlich erst zunehmend im Spätmittelalter und in der Renaissance. Gleichwohl sind es Bilder von Kindern. Die Verehrung dieser Kinder, ihre Stilisierung zum Vorbild, zum Exempel, zum Heiligen ist ein charakteristisches Muster, obschon es ursprünglich nicht das (wiederum im modernen Sinne) spezifisch »Kindliche« dieser Kinder war, was Gegenstand der Verehrung wurde.

Die Verehrung des Kindes hat alte religionsgeschichtliche Wurzeln. Im Hellenismus, einer Epoche, die über ausgeprägte Kindheitsbilder verfügte[19], verdichten sie sich in der Vorstellung von der Erneuerung der Welt und der Menschheit durch Erscheinen des »göttlichen Kindes«.[20] Vergils 4. Ekloge prophezeit die Wiederkehr des Goldenen Zeitalters mit der Ankunft des parvus puer; die interpretatio christiana dieser Ekloge und ihre Verbindung mit der alttestamentarischen Ankündigung des Messiaskindes (Jesaja9,5) transponieren die Vorstellung in christlicher Form ins Mittelalter.[21]

Kult des Kindes ist das Christentum wie keine andere Religion. Neben dem Bild des toten Mannes am Kreuz steht das der Geburt des Knaben im Mittelpunkt der Verehrung. Ikonographisch ist die Geburtsszene Familienszene, wobei das weibliche, das mütterliche Element (Maria) dominiert. Im Motiv der Anbetung der Hirten und der Könige wird in den Darstellungen seit dem späten Mittelalter die Devotion nochmals hervorgehoben – auch die Alten und die Mächtigen der Erde beugen ihre Knie vor dem Kind. In der »Flucht nach Ägypten« wird dem Kind wunderbare Rettung zuteil. Gleichzeitig fallen die »unschuldigen Kindlein« dem Herodianischen Blutbad zum Opfer. Ihr Gedenktag gibt im Mittelalter alljährlich Anlaß zu einer Reihe von Festen, in denen Kinder und junge Leute im Mittelpunkt stehen, die Ordnung der Welt auf den Kopf stellen und damit wieder ins Gleichgewicht bringen.[22]

Ab etwa 1200 unterliegen die »Kinderszenen« der christlichen Tradition einem auffallenden Prozeß der »Individualisierung« und »Emotionalisierung«. Charakteristisch dafür ist der Bericht von der Feier des Weihnachtsfestes in Greccio durch Franz von Assisi – eine Szene, die auch in die bildende Kunst eingeht und für die Volksfrömmigkeit (Krippenfest, Kindelwiegen) folgenreich wird.[23] Die »Verpersönlichung« der Devotion zieht sich als Leitmotiv durch die religiösen und mystischen Bewegungen des späten Mittelalters. Im nervösen spirituellen Klima der geistlichen Frauengemeinschaften entwickelt sich neben der Passionsmystik auch eine »Weihnachtsmystik«: die Verzückung vor dem Kind durch die innige Versenkung in das Ereignis.[24] Christkind- und Marienpuppen tauchen als Objekte der Devotion in den Klöstern auf.[25] Um Christkind-Puppen entwickeln sich eigentümliche Kulte, so der bis heute existierende des Santo Bambino in der Kirche Aracoeli auf dem Kapitol in Rom.[26] Seit dem Barock werden wundertätige Jesuskind-Figuren vielerorts Ziel lokaler Wallfahrten und Nothelferkulte (Salzburger Loretokindl, Sarner Jesuskind, Prager Jesuskind).[27] In der Literatur nehmen die »Kindheit-Jesu«-Darstellungen seit dem späten Mittelalter stärker »alltags-realistische« Züge an.[28] Die »Geburts«-Darstellungen der Tafel- und Fresko-Malerei werden detaillierter und drücken unverkennbar die Verinnerlichung der Devotion aus. Ähnliches gilt bekanntlich für die Darstellungen der »Mutter mit dem Kind«[29], wobei in der mystischen Ekstase auch hier das Kind »lebendig« werden kann.[30]

Verehrungswürdige Kinder gibt es nicht zuletzt unter den christlichen Heiligen. Schon eine ganze Reihe der »alten«, d.h. aus frühchristlicher Zeit herrührenden Heiligen waren Kinder oder junge Heranwachsende (Agnes, Susanna, Vitus, Sebastian u.a.). Aber bezeichnenderweise spielt ihr »biologischer Status« in ihrer Verehrung so gut wie keine Rolle: als »Kinder« werden sie nicht dargestellt; die Ikonographie hat für sie die Pose der Virgo oder des Martyr. Auch hier bringt die Zeit ab 1200 einen Wandel. Bis ins Barockzeitalter hinein entstehen vielerorts – meist lokal eng begrenzte – Kulte heiliger Kinder, die mehr und mehr als »Kinder« (im modernen Sinne) wahrgenommen werden. Zu diesen Kinderheiligen gehören beispielsweise in der Toskana außer der Heiligen Fina in San Gimignano auch die dreijährige Orsina in Siena[31], im Alpenraum der zweijährige Simon von Trient (1475), die vierjährige Ursula in Lienz (1442), der zweijährige Andreas in Rinn bei Hall (1462)[32], am Niederrhein der Heilige Werner von Oberwesel (1287).[33] Der Kult der vier Letztgenannten entstand im Zusammenhang mit Judenpogromen (es geht um angebliche Kindsmorde durch Juden) – offensichtlich ließ sich die verstärkte »affektive Besetzung« von Kindern jetzt trefflich auch für soziale Auseinandersetzungen instrumentalisieren.[34]

Auch das Kinderleben (erwachsener) Heiliger findet in den Jahrhunderten des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit vermehrt Beachtung. Das gilt für die Darstellungen des Marienlebens und das Johannes des Täufers ebenso wie für die Viten »kleinerer« Heiliger. Biographien »vorbildlicher Kinder« spielen bis auf unsere Tage in der Schul- und Kinderlektüre eine Rolle – sind es in der religiösen Erziehung vornehmlich die Heiligenlegenden, so in der weltlichen die Viten »tüchtiger« Kinder.[35]

Zu den »Kinderszenen« der Legende zählt eine Episode, die seit dem 12. Jahrhundert belegt ist und die zeigt, daß selbst das törichte Verhalten des Kindes – ein anderes vorbürgerliches »Kindheitsmuster«[36] – zum Gegenstand der Devotion werden kann: die Geschichte von Augustinus und dem Knäblein.[37] Sie erzählt, wie der über das Wunder der Dreifaltigkeit nachgrübelnde Heilige von einem am Meer spielenden Kind[38] darüber belehrt wird, daß man eher das Meer mit einem Löffelchen ausschöpfen als das Wunder der Dreieinigkeit ergründen könne. Die Szene erlebt seit dem späten Mittelalter zahlreiche literarische und künstlerische Bearbeitungen und erfreut sich bis ins 19. Jahrhundert großer Beliebtheit in Volkserzählungen und Volksliedern.

Abb. 2. Der Santo Bambino in der Kirche Aracoeli auf dem Kapitol in Rom.

»Kinderkult« als ein Grundmuster der abendländischen Tradition – wie ist dieser Sachverhalt für vor- und außerbürgerliche Gesellschaften zu erklären, in denen es bekanntlich einen entwickelten sozialen Status Kindheit noch nicht gab und in denen die Sensibilität für das Eigenleben des Kindes relativ schwach ausgebildet war? Ich denke, daß wir auch im Hinblick auf die vorbürgerliche Epoche bereits von einer Erfahrung der Distanz des Erwachsenen gegenüber dem Kind sprechen müssen, einer Haltung, die im Kind das andere, das fremde Wesen erblickt. In der voraufgeklärten Gesellschaft figuriert dieses fremde Wesen, wie alles Fremde, noch in einem sehr religiösen Sinne als Faszinosum. In einer Studie zur Moralliteratur des Mittelalters handelt Jean Batany von der »moralischen Ambiguität der jugendlichen Unvollkommenheit«:

»Trotz der bekannten Darstellung des Kindes als kleiner Erwachsener hat das Mittelalter in dem noch nicht entwickelten menschlichen Wesen eine bestimmte Besonderheit wahrgenommen, die es nicht gut zu fassen wußte und die ihm ein tiefes Unbehagen bereitet hat. Man mißtraut dem Kind: in seinem Alter kann eine scheinbare Vollkommenheit kaum etwas anderes als Täuschung sein. […] Indessen hat die Unbestimmtheit des Kindes eine widersprüchliche Funktion: wie alles, was die Harmonie stört, was die Gewohnheiten durcheinanderbringt, kann sie als Einmischung des Übernatürlichen erscheinen. Die ›andersartige‹ Aufführung des Kindes kann das Einfallstor des Teufels in die Welt sein (vor allem für die zweite Kindheit), möglicherweise aber auch das Einfallstor Gottes (vor allem für die erste Kindheit): durch Wunder oder etwas, was ihnen sehr nahe kommt.«[39]

Die Erfahrung des Kindes als eines fremden Wesens, im Prozeß der Zivilisation verstärkt und im Verlauf der Säkularisation gesellschaftlich verallgemeinert, wird zum entscheidenden Konstitutionsmerkmal der Kindheitsbilder der bürgerlichen Epoche.

Der Bruch zwischen Erwachsenen und Kindern

Die zunehmende Beachtung, die Kindern und dem Status Kindheit während der Jahrhunderte der Neuzeit geschenkt wird, ist – so die These – nicht wachsender Nähe, sondern wachsender Distanz zwischen Erwachsenen und Kindern geschuldet. Durch den Prozeß der Zivilisation und im Kontext neuer, durch die bürgerliche Produktions- und Lebensweise bestimmter Vergesellschaftungsformen kommt es zu einer sich verstärkenden Desintegration von Kindern und Erwachsenen; es entsteht das für die industriellen Gesellschaften typische »Erwachsenen-Kind-Verhältnis«.[40] In der Entwicklung dieses Verhältnisses wiederholt sich der Vorgang sozialer Distinktion, der seit der Renaissance das Verhältnis der Oberschichten zum Volk bestimmt. So wie im Prozeß der Zivilisation, das heißt mit der Ausbildung »kunstreicher« Verhaltensstandards, mit der erhöhten Affektregulierung, der wachsenden Rolle der Intellektualität, der zunehmenden Entfernung von der Natur, die Oberschichten mit Abgrenzung auf die Triebnatur und die Verhaltensmuster der Unterschichten reagieren[41], so die Erwachsenen auf jene der Kinder. Die Geschichte der Kindheit und der Prozeß der Zivilisation verlaufen parallel. In vielen Punkten damit parallel verläuft auch der Prozeß der »europäisch-überseeischen Begegnung«. Ähnlich wie die Ethnologie sich konstituiert als Reflex der Erfahrung fremder, außereuropäischer Kulturen, der »Wildheit« und »Unzivilisiertheit« der Eingeborenen, so entstehen die Kindheitsbilder der bürgerlichen Gesellschaft im Gefolge einer »ethnologischen Erfahrung im eigenen Land«. Gemessen an den Verhaltensstandards der (»gebildeten«) Erwachsenen erscheinen Kinder zunehmend als unzivilisiert, als kleine Wilde, und dies in der doppelten Bedeutung des Wortes.

»Wild« meint: ungebildet und roh. Das Kind, vom Erwachsenen (der Mittel- und Oberschichten) durch den Prozeß der Zivilisation mehr und mehr getrennt, erscheint als noch nicht fertiger Mensch. Mit der »Erfindung der Erziehung« (Katharina Rutschky) versucht die Gesellschaft, den stärker fühlbar werdenden Bruch zwischen Erwachsenen und Kindern zu heilen, normativ zu überbrücken. Das Kinderbild der pädagogischen Bewegung des 18. und 19. Jahrhunderts trägt also Züge einer gigantischen Projektion: Alles, was die Menschheit an gesellschaftlichem Fortschritt erzielt hat und noch erreichen soll, wird an den Kindern exerziert. Sie scheinen unbegrenzt lernfähig, Wachs in des Schöpfers Hand. An ihnen wird täglich aufs neue die Natur in Zivilisation gemodelt. Das, was den Erzieher an diesen Kindern interessiert, ist nicht ihr Eigen-Sinn, ihr Eigen-Leben, sondern die Tatsache, daß dieses Leben verwandelt, geläutert, veredelt werden kann. Im Zirkel der entstehenden bürgerlichen Öffentlichkeit der schreibenden Zunft werden diese Kinderbilder ausgestellt: zum Exempel statuiert, zum exemplum eruditionis. Das Wunder der Erziehung tritt an die Stelle des Wunders der Gnade. Gegenstand der Verehrung bleiben auch diese Kinder: Sie demonstrieren den Triumph der Zivilisation über die Natur. Und noch dort, wo dieses Kinderleben tödlich endet – in den Geschichten vom Unglückskind –, werden Kinder zum exemplum stilisiert: Sie sterben, wie die Kinderheiligen vergangener Zeiten, einen Vorbildtod.

Dabei gibt – und das ist historisch neu – gerade das »Kindliche« dieser Kinder für ihren Status als kleine Heilige des bürgerlichen Zeitalters den Ausschlag. Kinderkult verwandelt sich in Kindheitskult.[42] Das »Tugendsystem«, das etwa die Heilige Fina in ihrer Person verkörpert und mit ihrem Tod bestätigt hatte, war das einer Gesellschaft, die zwischen Erwachsenen und Kindern noch wenig trennte. Das Kind konnte hier für die Tugend der Geduld stehen – eine ganz und gar »unkindliche« Eigenschaft. Denn die heiligen Kinder der religiösen Tradition repräsentierten Tugenden, die von allen, »kindlichen« und »erwachsenen«, Mitgliedern der Gemeinschaft verlangt wurden. Anders im bürgerlichen Zeitalter – daß es Wundertaten der Lernfähigkeit vollbringt, ist an den »kindlichen«, den »rohen« und »unzivilisierten« Status des Kindes gebunden; allenfalls Bauern oder Eingeborene würden sich als Erwachsene ähnlich auszeichnen können.

Das Faszinosum der Kindheit hat in der bürgerlichen Gesellschaft aber auch eine komplementäre Seite. Gerade der (scheinbar) natürliche, »wilde« Status des Kindes prädestinierte es zur romantischen Projektion des Ursprünglichen, des Reinen und Heilen. »Wild« meinte hier nicht ungebildet, sondern unverbildet. Ist das Kind in der pädagogischen Bewegung Chiffre des Noch-nicht-Menschen, so im romantischen Verständnis Chiffre des besseren Menschen. Auch dieses Schicksal teilt das Kind mit dem Volk und den »Eingeborenen« (»edler Wilder«). Während das Volk einerseits als ungeschlacht diffamiert wird, wird es andererseits als Gegen-Welt zum herrschenden kulturellen System entdeckt – zusammen mit den Kindern und »ihrer« Poesie (Volkskultur).

Das romantische Kinderbild der bürgerlichen Gesellschaft trägt also ebenfalls Züge eines Wunschbildes. Eigen-Sinn und Eigen-Leben der Kinder interessieren auch hier nicht für sich. Die Erwachsenen weben aus ihnen ihre Traumbilder vom besseren Leben. »Wo Kinder sind, da ist ein goldnes Zeitalter« (Novalis)[43] – in säkularisierter Form bindet sich erneut messianische Endzeit-Hoffnung an das Kind. Auch das romantische Kindheitsbild stilisiert das Kind zum Exemplum. Verweltlicht kehrt die alte religiöse Figur wieder: Das Kind wird zum kleinen Heiligen. Immer wieder muß es die Menschheit erlösen und die Welt retten, von Brentanos Fanferlieschen bis zu Michael Endes Momo.

Man sollte dabei nicht einfach von purer Idealisierung sprechen. Das Bild vom Kind als alternativer Entwurf zur herrschenden Ordnung enthält ja immer auch die Kritik an dieser Ordnung, das Leiden an ihren Zwängen und, manchmal jedenfalls, das Signal, sich ihnen zu widersetzen. Die »Entdeckung« der Kindheit als der »einzig unverstümmelte[n] Natur« (Schiller)[44] verweist zugleich auf die Verstümmelung der Erwachsenen in der Gesellschaft. Wo dieser Zusammenhang kritisch reflektiert wird, da kann das alte »So ihr nicht werdet wie die Kinder …« Moment gesellschaftlicher Utopie werden. Für Novalis ist das Kind Zeichen der Synthese von Intellekt und Phantasie, in Schlegels Lucinde erscheint es als Aufhebung des Gegensatzes männlich/weiblich und Inbegriff einer libertären Sittlichkeit, bei Jean Paul artikuliert sich an ihm Skepsis gegenüber dem System Pädagogik, bei Hölderlin erinnert es an die uneingelösten Versprechungen der bürgerlichen Revolution.

»Aufgeklärtes« und »romantisches« Kindheitsbild sind also genetisch zwei Seiten ein und derselben Medaille. Beide Male geht es um den Wunsch, die stärker spürbar gewordene Distanz zwischen Kindern und Erwachsenen zu überbrücken. Doch die »Bewegungsrichtung« ist unterschiedlich. Stellt sich im einen Fall die Lebenslinie als wachsende Entfernung von der Kindheit dar, so im andern Fall als Versuch der Verschmelzung mit dem Verlorenen, als Rückkehr in die Kindheit.

Die Reise in die eigene Kindheit ist im bürgerlichen Zeitalter vielfältiges Thema der Literatur (und Praxis des »gelebten Lebens«). In Eichendorffs Roman Ahnung und Gegenwart steht eine solche Kindheitsreise im Mittelpunkt: Dem jungen Grafen Friedrich, der sich anschickt, nach Abschluß seiner Studien den Schritt ins Leben zu tun, mißlingt an einem bestimmten Punkt der Erzählung die Erinnerung der eigenen Kindheit; ein »blinder Fleck« trübt die Wahrnehmung der persönlichen Vergangenheit. Die Reise des Helden entwickelt sich zur »Lebensreise« in die Kindheit, führt zur Wiederentdeckung des Verdrängten. Erst nachdem er den Weg in die eigene Kindheit noch einmal gegangen ist, kann der Held, an der Schwelle zum Erwachsenenalter, seinen Lebensweg fortsetzen. Die Nähe zur Psychoanalyse ist evident; in der Tat beginnt hier, in der Zeit um 1800, deren Frühgeschichte.

Überhaupt wird die Erinnerung an die eigene Kindheit eine Art »Erkenntnismuster« des bürgerlichen Zeitalters, wird Kindheit eines der zentralen Themen der Literatur seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In der Autobiographie ist seit der Renaissance die Aufmerksamkeit für die Phase der Kindheit gewachsen – im anfangenden Leben werden die Bedingungen des künftigen gesucht. Hatte der wissenschaftliche Blick der Renaissance diese Bedingungen in der Konstellation der Planeten zum Zeitpunkt der Geburt zu finden gemeint, so setzt das 18. Jahrhundert eher auf Prägung durch Herkunft und Umstände. Daß aber in der Kindheit »die Keime dessen, was uns begegnen wird« (Goethe, Wilhelm Meister)[45] schon gelegt seien, macht Kindheit zum lebensgeschichtlich bedeutsamen Terrain forschender Neugier. Erinnerungsarbeit wird zur notwendigen Voraussetzung gelingenden Lebens, zum wichtigen Faktor der Ausbildung der bürgerlichen Persönlichkeit: Erinnerte Kindheit wird ein Konstitutionsmoment von Identität. Anamnesis, die Wieder-Erinnerung des Gewesenen, kann dabei entweder den qualvollen Versuch bezeichnen, in der eigenen Kindheit die Wurzeln künftiger Leiden freizulegen, oder die Lust, hier die ersten Anlagen künftiger reicher Entfaltung aufzudecken. In der Form des Bildungsromans findet die Anstrengung, das eigene Leben aus der Kindheit zu verstehen, seine klassische Gestalt. »Daß die Kindheit schon ein Vorspiel des ganzen Lebens ist und bis zu ihrem Abschlusse schon die Hauptzüge der menschlichen Zerwürfnisse im kleinen abspiegele, so daß später nur wenige Erlebnisse vorkommen mögen, deren Umriß nicht wie ein Traum schon in unserem Wissen vorhanden« – diese Erkenntnis des Grünen Heinrich rechtfertigt, wie er bekennt, daß »ich mich […] so weitläufig mit den kleinen Dingen jener Zeit beschäftige«.[46]

Mignon und ihr Mörder

In keiner literarischen Kinderfigur der Zeit um 1800 kommt die Ambivalenz in der Einstellung gegenüber Kindheit besser zum Ausdruck als in Goethes Mignon.

Mignon, »das wunderbare Kind«[47], ist das Kind aus der Fremde. In der Gesellschaft der fahrenden »Seiltänzer, Springer und Gaukler«[48] ist es zugleich das Kind aus dem Volk. Schon die erste Begegnung mit Wilhelm macht deutlich, daß alles, was ihn, den werdenden bürgerlichen Charakter, auszeichnet, diesem Kind fremd ist. Anders als Wilhelm kann Mignon ihre Lebensgeschichte nicht erzählen, kennt ihre Herkunft nicht – kaum, daß sie ihren Namen anzugeben weiß.[49] Überhaupt wird es von ihr heißen: »Mit Worten konnte sie sich nicht recht ausdrücken«[50] – der stärkste Gegensatz zu dem beredten Helden des Romans. Mignons Ausdrucksmittel ist ihr Körper; im Tanz findet sie ihre Sprache, und Wilhelm ist »verwundert, wie in diesem Tanze sich ihr Charakter vorzüglich entwickelte«.[51] Auch im gesungenen Lied vermag sie sich mitzuteilen, ihre geheimnisvolle Herkunft wenigstens anzudeuten. Mignons Körperkünste und szenischen Darstellungen kommen, zusammen mit den Darbietungen der Schauspielertruppe, aus einer anderen Welt als der Wilhelms. Während Wilhelm davon träumt, »das Gute, Edle, Große durch das Schauspiel zu versinnlichen«[52], sind die niederen Künste Unterhaltung und elementare Darstellungsformen eines noch »ungebildeten« Lebens.

Der Bildungsprozeß, den Wilhelm Meister durchläuft, ist eine Auseinandersetzung des werdenden Bürgers mit der Welt des Populären. Diese Welt schreckt ihn ab – in ihren männlich-rohen Komponenten (der Impresario der Seiltänzergesellschaft!); und sie fasziniert ihn in ihren weiblich-kindlichen Anteilen. »Ihre bräunliche Gesichtsfarbe konnte man durch die Schminke kaum erkennen. Diese Gestalt prägte sich Wilhelmen sehr tief ein; er sah sie noch immer an, schwieg und vergaß der Gegenwärtigen über seinen Betrachtungen. Philine weckte ihn aus seinem Halbtraume.«[53]

Bereits hier, im Augenblick der ersten Begegnung mit Mignon, wird deutlich, wohin das geheimnisvolle Wesen Wilhelm locken wird: in den »Halbtraum«, in die Grenzbereiche der Realität, in die Schächte des Selbst und der eigenen Vergangenheit. Von Mignon, von dem Kind, geht die »Lockung aus, das Ich zu verlieren« (Horkheimer/Adorno)[54] – und es wird, auch für Wilhelm, der Anstrengung bedürfen, es »zusammenzuhalten«. Denn die Natur, die mit Mignon auf ihn einstürmt, bedroht Wilhelm. Wenn er bei einem ihrer Anfälle fürchtet, »sie werde in seinen Armen zerschmelzen, und er nichts von ihr übrigbehalten«[55], dann spiegelt diese Furcht auch die Angst, sich selbst zu verlieren.

Mitgefühl veranlaßt Wilhelm, »das interessante Kind«[56] der Seiltänzertruppe abzukaufen; so wird es dem Vagantenmilieu entzogen und kommt ins Haus. Dort führt es sich zunächst noch ganz als wildes Wesen auf: »In alle seinem Tun und Lassen hatte das Kind etwas Sonderbares. Es ging die Treppe weder auf noch ab, sondern sprang; es stieg auf den Geländern der Gänge weg, und eh’ man sich’s versah, saß es oben auf dem Schranke und blieb eine Weile ruhig.«[57]

Mit der Beschreibung eines solchen Verhaltens könnte in der zeitgenössischen Literatur die Zeichnung eines Kindes beginnen, das es zu bilden, zu zivilisieren gilt. In der Tat ist Mignons Leben mit Wilhelm auch der Prozeß ihrer Domestizierung, schließlich Familiarisierung. Wilhelm, zunächst des Kindes Herr, figuriert mehr und mehr als ihr Vater[58], gemeinsam mit Friedrich und dem Harfner bilden sie bald eine »wunderbare Familie«.[59]

Dies ist freilich nur die eine Seite der Mignon-Geschichte. Schon von Beginn an gerät der »Vaterwunsch« Wilhelms (und der daran anknüpfende »Familiarisierungwunsch« Mignons) in Widerspruch mit jener anderen Anziehung, die dieses. Kind in seiner Fremdheit und Andersartigkeit auf Wilhelm ausübt. In die Vaterrolle mischt sich sein erotisches Begehren. In der Welt, aus der Mignon kommt, ist das Ineinander beider Beziehungsstrukturen (der »familialen« und der »erotischen«) ganz und gar nicht unvereinbar – und entsprechend ist das Verhalten des Kindes Wilhelm gegenüber. In Wilhelms Welt hingegen gibt es das Inzest- und das Päderastie-Tabu, das strengste Mittel der Scheidung von Erwachsenen und Kindern. So wird in der Nacht nach der Hamlet-Aufführung die von Mignon eingeleitete Begegnung für Wilhelm eine phantasmagorierte Liebesnacht. Wirklich verbracht hat er sie unwissentlich mit Philine, doch Mignon war heimlich gegenwärtig, und daß sie es auch für ihn war, zeigt seine spätere Reaktion, es sei »um’s Himmels willen doch nicht Mignon« gewesen.[60]

Abb. 3. Der Hl. Augustinus wird von einem spielenden Kind am Meer über das Geheimnis der Dreieinigkeit belehrt. (Sandro Botticelli, Barnabas-Altar, Ausschnitt)

Mit dieser Nacht verändert sich Mignon, und es »klären« sich die bislang »chaotischen« libidinösen Verhältnisse. Am Morgen ist Mignon kein Kind mehr, »mit einem hohen edlen Anstand« tritt sie vor Wilhelm hin, nennt ihn jetzt »Meister«[61]; erotische Zärtlichkeit ihm gegenüber beweist sie nicht mehr. Auch zu ihrer »Geschlechtsrolle« hat sie gefunden. War sie vorher in Kleidung und Verhalten ein Mischwesen, geprägt von männlichen und weiblichen Komponenten, so geht sie jetzt in Frauenkleidern. Wilhelm trennt sich von ihr, bricht den einmal geschlossenen Bund fürs Leben. Bei Therese soll sich Mignons Bildung vervollständigen. Gleichzeitig findet Wilhelm seine neue Familie (den Knaben Felix und die mütterliche Natalie) – und dieses »geordnete« Beziehungsgefüge löst die alte »wunderbare Familie« mit Mignon und dem Harfner ab.

Aber an dem, was Wilhelm gelingt, zerbricht Mignon. Den ihr zugemuteten Weg der »Frauenbildung«, des »Töchterlebens« wird sie nicht gehen. Ihre eingeschnürte Natur richtet sich jetzt gegen sich selber. Wilhelms Schrei »Lassen sie mich das Kind sehen, das ich getötet habe«[62] verrät, über den unmittelbaren Anlaß hinaus, Schuld und Einsicht. Mignon, das Kind, ist ein Opfer am Weg von Wilhelms Bildungsprozeß. Die Trennung von ihr ist die Abtrennung der präzivilisierten Bestandteile seiner eigenen Person.

Auch Mignon wird eine Heilige. Im »Saal der Vergangenheit« werden ihre Exequien zelebriert. Was sie wirklich war, bleibt noch immer fremd: »Von dem Kinde, das wir hier bestatten, wissen wir wenig zu sagen.«[63] Ihre äußere Erscheinung, »das Wunder der Kunst und Sorgfalt«, ist dem Gewohnten nachempfunden. »Seht die mächtigen Flügel doch an! seht das leichte reine Gewand! wie blinkt die goldene Binde vom Haupt! seht die schöne, die würdige Ruh’!«[64] Natalie hat Mignon jetzt endgültig als den Engel präpariert, den sie schon zu Lebzeiten einmal spielen mußte.[65] Im Stande der Unschuld, als das heilige Kind, darf das fremde Kind überleben. Und die versammelte Trauergesellschaft darf sich trösten: »Auf! kehren wir ins Leben zurück. Gebe der Tag uns Arbeit und Lust, bis der Abend uns Ruhe bringt, und der nächtliche Schlaf uns erquickt.«[66]Arbeit und Lust waren und sind hart erkauft: »Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt.«[67]

Erster Teil Unglückskinder Kinderunglücks-Geschichten und das Ende des Nothelfers

A. Fritz der Näscher und seine Gesellen. Moralische Exempel aus der Literatur des aufgeklärten Zeitalters

»Du mußt nicht über die Felsen hinunterfallen,der Öhi hat’s verboten.«

 

Johanna Spyri, Heidi

Friz der Näscher

»Friz war ein herzenguter Junge,

Und Lernen war ihm nur ein Spiel;

Doch auf den Wohlschmak seiner Zunge

Hielt leider! Frizchen gar zu viel.

Ihm that’s im Erd- und Himbeersuchen

Von allen Jungen keiner nach,

Und traun! er wär’ um ein Stük Kuchen

Geklettert auf das Rathhausdach.

Mit Diebstahl hätt’ er sein Gewissen

Um alle Welt zwar nicht beschwert,

Allein im Punkt der Lekkerbissen

War’s doch nicht so ganz unversehrt.

Selbst ein Paar Kirschen oder Pflaumen

Zu stehlen hielt er für erlaubt;

Denn ach! ihm hatte schon sein Gaumen

Die Herschaft über sich geraubt.

Die Speisekammer zu bemausen

Stieg er ins Fenster einst hinein.

Da, dacht’ er, gibt es was zu schmausen:

Da wird gewiß noch Torte sein!

Doch dismahl fand der gute Schlukker

Sich sehr betrogen. Wie er sah,

Stand nichts, als nur ein wenig Zukker

In einem irdnen Näpfchen da.

Mit seinem nassen Finger düpfte

Der Lekkermund das Näpfchen aus,

Und aus dem ofnen Fenster schlüpfte

Der Dieb gleich einer Kaz hinaus.

Doch bald fing er sich an zu krümmen,

Gleich einem Wurm, und ächzt’ und schrie;

Denn solch ein Brennen, solch ein Grimmen

In den Gedärmen fühlt’ er nie.

Vergebens war’s, um Hülfe flehen;

Sein Naschen bracht ihn mördrisch um.

Was er für Zukker angesehen,

War größtentheils Arsenikum.«

Die Geschichte von Fritz dem Näscher steht in Joachim Heinrich Campes Kleiner Kinderbibliothek, einem zwischen 1779 und 1830 in zahlreichen Auflagen erschienenen Lesebuch.[68] Mit Gedichten, Erzählungen, Fabeln und Dialogszenen verschiedener Autoren war dieses Werk als ein nach Altersstufen gegliederter Lektürekursus für Kinder bis 12 Jahren[69] gedacht, dem sich – für ältere Kinder und Jugendliche – eine Seelenlehre, ein Sittenbüchlein, Campes Robinson-Bearbeitung[70], Die Entdekkung von Amerika, ein Geschichtliches Bilderbüchlein, Klugheitslehren für Jünglinge, 19 Bände Merkwürdiger Reisebeschreibungen sowie zwei Rathgeber (jeweils einer für Mädchen und Knaben) anschlossen – insgesamt 37 Bände und das erste literarisch-pädagogische Monumentalprojekt der damals neu entstehenden Kinder- und Jugendliteratur.

In dieser Literatur spielen Stoffe wie jener vom Näscherknaben eine große Rolle.[71] Als moralische Geschichten bilden sie von den Anfängen in der zweiten Hälfte des 18. bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine ihrer am weitesten verbreiteten Gattungen. Getreu der Maxime »Das Exempel wirkt mehr als alle Ermahnungen«[72] erzählen die kleinen Geschichten von den guten oder bösen Folgen kindlichen Verhaltens, und als »kindgemäß« hat diese Geschichten, jenseits aller Lehrhaftigkeit, wohl vor allem eines empfohlen: Sie sind die erste literarische Gattung, deren Held ein Kind ist.

Nicht selten wird dieser Held, kaum daß er den Schauplatz der Literatur betreten hat, vom Unglück oder gar vom Tod ereilt. Das wird, in unterschiedlicher Weise, auch künftig das Schicksal vieler literarischer Kinderfiguren sein: Kinderleben mit tödlichem Ausgang.

Obgleich ehemals verbreiteter Lesestoff, sind Geschichtenbücher mit moralischen Erzählungen – ähnlich wie der größte Teil der Gebrauchsliteratur für Kinder – heute so gut wie unbekannt. Dennoch mögen uns die alten Kinderunglücks-Geschichten merkwürdig bekannt erscheinen – sei es, weil ihre Spur in die eigene Kindheit führt, sei es, weil sich in der den Geschichten eigenen Struktur ein immer noch vertrautes Bild von Kindheit ausdrückt. Denn Fritz der Näscher hat viele Brüder und Schwestern. Seine Leidensgefährten säumen, auf der Strecke gebliebene Opfer, die Karawanenstraße in die schöne neue Welt des aufgeklärten Zeitalters:

Der verwegene Roland, ein ziemlich artiger Knabe, jedoch so unbändig und unbesonnen, daß er immer und überall herumklettert, lehnt sich allzuweit aus dem Fenster hinaus, stürzt hinunter und zerschmettert sich den Kopf.[73]

Der kleine Jacob, der immer ›Warum?‹ fragen muß und sich nicht warnen läßt, wagt sich aufs dünne Eis, bricht ein und ertrinkt.[74] Luzie steigt nach dem Essen mit der Gabel in der Hand auf einen Stuhl, tut einen Fehltritt und stürzt mit dem Auge in die Gabel.[75]

Die wilde Emma läßt sich, vom Spiel erhitzt, kaltes Wasser über den Kopf pumpen und stirbt drei Wochen später am Nervenfieber.[76]

Der achtjährige Sohn des Gastwirts zu R*** streichelt einen fremden Hund, der fällt ihn an und beißt ihm die linke Backe ab.[77]

Bertha hat dem Dienstmädchen die Unart abgeschaut, beim Ankleiden Stecknadeln in den Mund zu nehmen; eines Tages stößt eine Windbö das Fenster auf, das Kind schreit, verschluckt dabei eine Nadel und stirbt daran.[78]

Franz hat auf dem Jahrmarkt einen Affenführer getroffen, schneidet mit dem Tier um die Wette Fratzen und behält bis ins Alter eine alberne Miene.[79]

Fritz, der jede Angewohnheit nachahmt, bald durch die Nase schnaubt, bald mit der Schulter zuckt, bald ein Bein nachzieht, sieht einen Schielenden, gewöhnt sich das Schielen an und verliert die Herrschaft über seine Augen.[80]

Jakobine, die sich angewöhnt hatte, die Gießkanne und das Holz nur mit einer Hand zu tragen, statt, der Mutter folgend, mit rechts und links abzuwechseln, wird verkrüppelt und bleibt lebenslang unansehnlich.[81]

In solchen Geschichten, in denen es um die Verstümmelung und Zerstörung kindlicher Körper geht, scheinen sadistische Phantasien ihre literarische Gestalt gefunden zu haben. Allerdings, die Bücher, in denen solche Geschichten stehen, tragen schmeichelnde Titel wie Kinderfreund, Mädchenfreund, Das allerliebste Buch für gute kleine Kinder oder auch Bitte! Bitte! liebe Mutter! lieber Vater! guter Onkel! beste Tante! schenke mir dies allerliebste Buch mit den schönen ausgemalten Kupfern und den vielen hübschen Erzählungen.[82] Überhaupt sind es durchweg »Menschenfreunde«, die hier fabulieren. Die Geschichten entstehen in unmittelbarem Zusammenhang mit einer gesellschaftlichen und einer pädagogischen Fortschrittsbewegung, die sich die Entfaltung aller Kräfte und Fähigkeiten des Menschen auf ihre Fahnen geschrieben hat. Und in den pädagogischen Deklarationen – wir würden heute sagen: in den Lernziel-Katalogen – kann man es immer wieder nachlesen, daß Erziehung dazu verhelfen solle, »den Kindern das wichtig [zu machen], was die Summe ihrer Glückseligkeit vermehrt und die Qualität derselben erhöht«.[83]

Um Glück und Unglück geht es, in der Tat, in den kleinen Geschichten, also um einen der ältesten Erzählstoffe der Menschheit überhaupt. Aber um Glück zu stiften, wird hier vom Unglück erzählt – dieser Widerspruch zwischen dem pädagogischen Programm und den literarischen Bildern konstituiert die moralischen Geschichten, und er ist, genau besehen, sämtlichen Projekten literarischer Sozialisation im bürgerlichen Zeitalter eigen. Bevor ich im zweiten Kapitel die formgeschichtlichen Wandlungen der Kinderunglücks-Geschichte und ihr neues Verständnis von Unglück darstelle, möchte ich, ausgehend vom Beispiel der Näschergeschichte, die Struktur dieses Typus und ihr Bild vom Kind untersuchen.

Abb. 4.

Fritz der Näscher, der böse Musterknabe aus Campes Kinderbibliothek – das Stück stammt nach Campe von Leopold Friedrich Goeckingk und taucht auch in Jakob Glatz’ Kleinem Sittenbüchlein (1809) und Friedrich Ludwig Wagners Lehren der Weisheit und Tugend (15. Aufl., 1831)[84] auf –, repräsentiert durchaus kein tragisches Einzelschicksal in der moralischen Geschichtenwelt des 18. und 19. Jahrhunderts. Albert V … in Cöln zum Beispiel hat in der Speisekammer Mäusegift für Zucker gegessen und ist daran gestorben.[85] Ähnlich ist es andernorts drei naschhaften Studenten ergangen: »Ihre Hausfrau hatte in einem offenen Schächtelchen Mausegift auf dem Kasten stehen; einer davon hielt es für Zucker, und weil er eine Pomeranze aufgeschnitten hatte, so fand er ihn ganz gelegen, bestreute dieselbe, so stark er konnte, damit, und theilte jedem seiner Stubenkameraden davon mit.«[86] Die sozialgeschichtliche Erklärung, daß die Warnung der Kinder vor dem zuckergleichen Arsenik, auch »Mäusebutter« genannt, in einer Zeit notwendig war, in der infolge solcher Verwechslung auch die leichtgläubigen Opfer prominenter Giftmörderinnen verschieden[87], trifft nur die halbe Wahrheit. Schon der Autor der Unglücksgeschichte von den drei Studenten weiß es besser:

»Gesetzt nun auch, es wäre Zucker gewesen, was er auf seine Pomeranze streute, so wäre er für diesesmal mit seinen Kameraden für seine Nascherei freilich nicht so hart gestraft worden; aber über kurz oder lang würde es doch ein ganz übles Ende mit ihm genommen haben: denn ein Mensch, der, wenn er seine gesunde Kost hat, morgens und Abends mit dergleichen Süßigkeiten noch obendrein seinen Magen überhäuft, mit seinem Geld auf keine andere Weise zu Wirthschaften lernt, und lieber mit zerlumpten Schuhen und Strümpfen herumgeht, als seine Begierde unerfüllt läßt, verderbt nicht nur seine Gesundheit; denn man hat Beispiele, daß solchen Leuten der Magen und die Eingeweide im lebendigen Leibe verfaulet sind …«[88]

Mit anderen Worten: Es ist nicht das Arsenik, vor dem gewarnt wird, sondern das Naschen. Der »naschhafte Heinrich« in Regensburg, der auf Biskuits, Makronen und Konfekt erpicht ist, wird vom Zuckerschlecken krank und muß 8 Tage lang das Bett hüten; schließlich stirbt er, weil er Tinte für Wein trinkt.[89] Der Appetit auf süßes Biskuit zwingt auch den kleinen »Alexander« aufs Krankenlager.[90] Der »heißhungrige Fritz« findet den Tod, weil er zu viel gebackenes Obst gegessen hat.[91] Das »naschhafte Röschen« wird, ebenso wie »Karolinchen« und »Mienchen«, für ihre Unart von Bienen zerstochen[92], »Ernst der Näscher« muß erbrechen[93], und ein Kind, das sich täglich von seinem Taschengelde Rosinen, Mandeln und Zuckerwerk kauft, bestiehlt schließlich, älter geworden, seinen Herrn und muß auf einem Schiff nach Ostindien fliehen.[94] Wie die Geschichten versichern, sei das Naschen auch moralisch häufig der Anfang vom Ende:

»Es war einmal ein Dieb, der sollte gehangen werden. Da er schon unter dem Galgen war, sah er seine Mutter, die erbärmlich weinte. Da sagte er zu dem Scharfrichter, er möchte ihm doch erlauben, erst noch ein Wort mit seiner Mutter zu sprechen; und der Scharfrichter sagte, das könnte er thun. Da ging er hin zu seiner Mutter, und that, als wenn er ihr etwas ins Ohr sagen wollte, und da biß er sie auf einmal so gewaltig ins Ohr, daß die alte Frau laut zu schreyen anfing. Da sagten alle Leute, die zugegen waren: Das muß doch wohl ein rechter Bösewicht seyn, der kurz vor seinem Tode seine Mutter ins Ohr beißen kann. Aber der Dieb antwortete: Ihr lieben Leute, wundert euch nicht darüber. Wisset, daß diese meine Mutter die Ursache meiner Schande und meines Todes ist. Da ich noch ein Kind war, gewöhnte ich mir das Naschen an, und meine Mutter strafte mich nicht darüber.«[95]

Der Biß ins mütterliche Ohr – der letzte Leckerbissen einer süßen Kindheit.

Von Heim und Herd: synthetische Umwelten. Die Warngeschichte als Lustgeschichte

Wie krude, konstruiert oder »kinderfeindlich« solche Unglücksgeschichten heutigen Lesern auch erscheinen mögen, sie sind gleichwohl, widersprüchlich genug, Ausdruck jener historisch neuen, »vertraulichen« Zuwendung zum Kind, wie sie sich im Gefolge der neuen Vergesellschaftung von Kindern in der Bürgerfamilie des 18. und 19. Jahrhunderts ausbildet.[96]Kinderliteratur als Form suggeriert ja bereits besondere Nähe zum Kind und seinen Bedürfnissen; die kindlichen Protagonisten dieser Literatur bieten sich als Identifikationsfiguren an, und schon ihre Namen sind oft bedeutsam. Denn mit der Verwendung von Kurzformen (Fritz, Hans) oder Diminutiven (Julchen, Malchen etc.) drückt sich in einer Zeit, in der traditionellerweise die Kinder feiner Herrschaften mit dem zeremoniellen »Sie« oder »Monsieur« angeredet wurden, das neue Verhältnis zum Kind aus, das mehr Vertraulichkeit im gegenseitigen Umgang verspricht, dabei die Kinder jedoch gerade auf ihre vermeintliche Kindlichkeit fixiert und damit die Kluft zwischen Erwachsenen und Kindern verbreitert. In seiner ›Nöthigen Erinnerung, daß die Kinder Kinder sind und als solche behandelt werden sollten‹, kritisiert Campe: »Man läßt die Kinder zu frühzeitig die äußerlichen Zeichen der Kindheit ablegen, indem man sie wie Erwachsene kleidet, wie Erwachsene der Mode nach frisiert und putzt, sie bei Tisch und in Gesellschaften unter Erwachsenen sitzen und über alles mitreden und urteilen läßt.«[97] Und er kritisiert im gleichen Zusammenhang, daß man Kinder wie Erwachsene anredet. Die neue pädagogische Kinderliteratur hingegen enthält oft schon in der Namengebung die Geste des »Sich-Herablassens« zum Kind; nicht zufällig ist »Fritz« (»Fritzchen«) der Modename der Kinderliteratur des ausgehenden 18. Jahrhunderts.[98] Im übrigen ist Fritz gegen Friedrich, wie andere entsprechende Kurzformen (Kunz gegen Konrad, Hans gegen Johannes etc.), aus einem ehemaligen Knechtsnamen zum Kinderkosenamen geworden[99], auch dies nicht zufällig. Denn Bauern und Kinder erscheinen ja im Prozeß der neuzeitlichen Zivilisationsentwicklung zunehmend als verwandt, gemessen am Affektstandard des Erwachsenen aus den Oberschichten. In der »Bauernaufklärung«[100] spielen Exempelgeschichten eine ebenso wichtige Rolle wie bei der Kindererziehung, und in diesen Geschichten teilen übrigens die Kinder mit den Angehörigen der Unterschichten den Appetit auf Süßigkeiten (und andere »Unarten«).[101]

Was in Campe/Goeckingks Fritz-der-Näscher-Exempel der Name andeutet, bestätigt dann das Szenario: Es geht um eine Geschichte aus vertrautem Milieu. Ihr Schauplatz ist die zeitgenössische Stadt und darin das Bürgerhaus. Vom »Rathausdach« bis zum »irdnen Näpfchen« fügen sich die Details zum Genrebild bürgerlichen Kinderalltags. Das gilt grundsätzlich für die moralischen Exempelgeschichten der frühen Kinderliteratur. Wie monströs auch immer ihr Ausgang erscheinen mag, in der Milieuschilderung sind es durchaus »realistische« Geschichten. Ihr Schauplatz ist die zeitgenössische Umwelt des Bürgerkindes: das Haus mit der Speisekammer, den Treppen, Böden und Kellern, die Obstgärten mit den Bäumen, der gefrorene Fluß, Wald und Wiesen in der Umgebung der Stadt.

Aufgeklärte Erziehung setzt auf den »Realismus« der »Umweltgeschichte«. Die Allgemeine Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens, jene von einer reformpädagogischen Erzieherrunde unter Joachim Heinrich Campes Leitung abgefaßte pädagogische Summa des neuen Zeitalters[102], befaßt sich in einem Abschnitt auch mit der »Nothwendigkeit, Kinder frühzeitig zu anschauender und lebendiger Erkenntniß zu verhelfen«.[103] Unter »anschauender Erkenntniß« wird dabei verstanden: »daß man nur in so fern etwas anschauend erkenne, als die Vorstellung davon sich auf eigene Empfindung gründet«.[104] Formuliert ist damit eine subjektive Erkenntnistheorie, das Recht und die Pflicht, sich der eigenen Sinne ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Gegen die spekulative Wahrheitsfindung des religiösen Zeitalters, die »leere Worterkenntniß«[105], meint »anschauende Erkenntniß« als sinnliche Wahrnehmung: »eine freie angestrengte Aufmerksamkeit und ein ausschließliches Heften der sinnlichen Werkzeuge auf die Gegenstände unserer Vorstellung«.[106]

Solche anschauende Erkenntnis nun – so die Allgemeine Revision weiter – sei, sofern es um die »geistige Natur des Menschen« gehe, Kindern am besten über Erzählungen zu vermitteln: »Man kann Kindern nicht immer die nöthigen und zweckmäßigen Gesellschaften verschaffen, man kann sie nicht immer in Thätigkeit versetzen, und ihnen für das unmittelbare Anschauen Stoff und zwar solchen Stoff, der ihnen dienlich ist, geben – sie verlangen und bedürfen Unterhaltung durch Rede und Gespräch. Aus sehr begreiflichen Gründen aber ist unter allen mündlichen und wörtlichen Unterhaltungen keine für sie anziehender und lehrreicher als die Erzählung.«[107] Hier kommt die neue »mediale« Sozialisationsform des bürgerlichen Zeitalters in den Blick: An die Stelle von »Gesellschaft«, »Thätigkeit« und »unmittelbarer Anschauung« tritt jetzt zunehmend Lernen durch Rede, Gespräch und pädagogisch aufbereitete Erzählung. Dabei solle man »wirkliche Geschichten von Personen, die dem Kinde bekannt sind, den Erdichtungen und Erzählungen von unbekannten Personen vorziehen«; das »Wunderbare, Außerordentliche und eben dadurch Interessierende« solle dem Platz machen, was »aus dem Kreise der […] nahe gelegenen Wirklichkeit und Erfahrung«[108] genommen sei. Soweit das »Programm«.

Die literarische Struktur der moralischen Beispielerzählungen offenbart allerdings die Widersprüche eines solchen Programms. Die Kinder, die in ihnen auftreten, bewegen sich nur scheinbar im Ambiente des bürgerlichen Alltags; in Wahrheit ist ihre Umwelt eine durch und durch künstliche. »Fritz« ist allein, keine Freunde, keine Eltern sind um ihn, vergebens fleht er sogar um Hilfe, als er das Arsenik bereits im Leib spürt – die pädagogisch-literarische Versuchsanordnung isoliert ihn, erst dadurch wird er zum Exempel.

Zu dieser Versuchsanordnung gehört auch, daß die Kinderfiguren der Exempelgeschichten, so sehr sie »aus dem Kreise der nahe gelegenen Wirklichkeit und Erfahrung« geschöpft scheinen, im Grunde auf eine einzige Eigenschaft konzentriert, reduziert sind. Fritz ist genäschig, Bertha nimmt Nadeln in den Mund, Jakobine trägt nur mit einer Hand. Oft genug machen das schon die Überschriften der kleinen Geschichten (›Das neugierige Kind‹ etc.) deutlich. Eine eindimensionale lineare Handlungsführung, der es allein um diese eine Eigenschaft geht, treibt die Kinder einem unvermeidlichen Ende mit Schrecken entgegen. In ihrer Fragmentarisierung der Körperorgane und Verhaltensweisen sind die moralischen Geschichten Teil jener »pädagogischen Synthetisierung des Menschen« (K. Rutschky)[109], die zunächst den Körper zerlegt, um dann ein umfassendes Trainingsprogramm für die einzelnen Teile zu entwickeln. Die große aufklärerische Utopie von der Entfaltung aller Kräfte und Sinne des Menschen verkehrt sich im pädagogischen Programmentwurf zur Drohung: Was hülfe es dem Menschen, wenn er fast alle seine Fähigkeiten entwickelt hätte und nähme doch Schaden an einem einzigen kleinen Laster? Der Fritz der Näschergeschichte ist, wie viele seiner literarischen Gesellen, beinahe ein vollkommenes Kind – ein einziges kleines Organ, seine Zunge, wird ihm zum Verhängnis.

Noch klarer erscheint dieses Verlaufsschema in der Geschichte von dem kleinen Albert:

»Er war der liebenswürdigste Knabe, und gerade in euerem Alter. Sein Lehrer liebte ihn ungemein, denn er war der beste in seiner Schule, und wenn einer auf eine Frage nicht antworten konnte, so rief er nur ihn, und er wußte es gewiß. Die seinem Verstand angemessenen lateinischen Klassiker erklärte er mit der reinsten Genauigkeit, übersezte schöne Stellen daraus, und wo er sonst was schönes sah oder hörte, so schrieb er es auf, und zeigte es seinen Eltern oder Lehrmeistern. Überdieß war er sehr still und bescheiden, und so ein gutherziger Knabe, daß er alles, was er einem nur in den Augen angesehen hätte, gethan haben würde: wenn er einem Armen nichts geben konnte, so traten ihm die Thränen in die Augen, und er eilte davon, daß er nicht von ihm bemerkt werden sollte: ja keinen Wurm, der ihm unter die Füße kam, that er muthwillig was zu Leide. Seine Kameraden liebten ihn recht herzlich, und wo er war, wollten auch sie sein, und jeder wollte näher bei ihm sein. Mit einem Worte, wer ihn nur ansah, liebte ihn: denn er war eben so gut gewachsen als schöne Eigenschaften er hatte, und jeder sagte bei sich selbst: Albert wird noch ein großer Mann werden.«

Besser kann man wohl nicht sein als dieser Junge, aber der Autor singt die Tugendlitanei des Musterknaben nur deshalb so ausführlich, weil so die Drohung noch wirksamer in Szene gesetzt werden kann: Auch dieser Albert kam zu Fall, auch er war nicht vollkommen. Der Warnung seiner Lehrer nicht eingedenk, trinkt er eines Tages, vom Ballspiel erhitzt, kaltes Wasser aus dem Brunnen und stirbt an Lungenentzündung.[110]

Zur pädagogisch-literarischen Versuchsanordnung der aufgeklärten Kinderunglücks-Geschichte gehört auch der Erzähler. Er nimmt vor allem die Rolle des Warners oder Kommentators wahr. In ›Friz der Näscher‹ begleitet er mit moralischen Emphasen (»leider!« »ach!«) eine Handlung, auf deren Fortgang er ohne Einfluß ist; in anderen Geschichten versteckt er sich in den Warnworten der Eltern (»Sei aber nicht so wild, wie gewöhnlich!, sagte Konrads Mutter, als sie ihm erlaubte, mit seinen Kameraden in den Wald zu gehen …«[111]); in Struwwelpeter-Hoffmanns Geschichte von ›Paulinchen mit dem Feuerzeug‹ spricht er mit der Stimme der beiden Katzen. Der warnende oder kommentierende Erzähler hat insbesondere die Funktion, Eindeutigkeit in der Bewertung der Verhaltensweise des Unglückskindes herzustellen – weil er dem kindlichen Leser der Geschichte mißtrauen muß. Und dazu hat er allen Grund. Wie soll ein Kind auch wissen, daß einer, der auf den »Wohlgeschmack seiner Zunge« hält oder der im Wald »wild« ist oder der gern »mit Feuer spielt«, verloren ist? Denn die Geschichten schmeicheln sich bei ihren kleinen Hörern oder Lesern auch dadurch ein, daß sie das Verbotene, das Gefährliche, das Tödliche, kurz, daß sie die Genüsse des Kinderlebens zunächst einmal ausbreiten, zumindest andeuten, jedenfalls benennen müssen, um jene Aufmerksamkeit erregen zu können, die für die Warnung erforderlich ist – ein Widerspruch, der bei den gegen das Onanieren und die sexuellen Genüsse gerichteten Exempelgeschichten besonders gravierend ist.[112] Auch die Geschichte von ›Friz dem Näscher‹ muß dem Leser »Erdbeer«-, »Himbeer«-, »Kirschen«-, »Pflaumen«-, »Kuchen«- und »Torten«-Geschmack auf die Zunge zaubern, bevor sie am Ende den kleinen Fritz auf der Suche nach solchen süßen Genüssen lehrreich sterben lassen kann. Von den Erziehern als Warngeschichten gemeint, mußten diese Erzählungen immer auch Lustgeschichten sein, mußten sie jene Wünsche, die schließlich als unbotmäßige verdammt werden sollten, gleichsam gegen den Willen ihrer Autoren auch inszenieren. Damit eröffneten sie der kindlichen Phantasie allerdings einen Spielraum, der die Schranken der intendierten Botschaft zu sprengen drohte, und vieles spricht dafür, daß die Kinder derlei Unglücksgeschichten mit ihrer fatalen Mischung aus Lust und Angst bisweilen gegen den pädagogischen Strich gelesen haben.[113]

Gerade hier setzt die Funktion des von der moralischen Meta-Ebene aus argumentierenden Erzählers an: Gegen die identifikatorischen Lüste des lesenden Kindes verbündet er sich mit dessen Über-Ich. Daß es böse enden wird, haben beide, Erzähler und Über-Ich, schon immer gewußt. Es endet freilich nur deshalb böse, weil die literarische Erzählform hermetisch abgeriegelt ist gegenüber einer Realität, aus der dem Kind Hilfe kommen könnte.

Gebranntes Kind scheut das Feuer. Wandel der Strafen, neue Gewalt

Die Unglücksgeschichten sind auf ein Ende mit Schrecken hin erzählt. Dieses Ende erscheint jedoch immer als gleichsam natürliche Folge des kindlichen (Fehl-)Verhaltens. Wer, wie Fritz der Näscher, Arsen ißt, muß sterben oder jedenfalls Schmerzen leiden. Hier kommt ein neuer Begriff von Strafe zum Vorschein, wie er aufgeklärte Erziehung bis heute bestimmt. Rousseau hat ihn als Erziehungsmaxime folgendermaßen formuliert: »Erhaltet die Kinder bloß in der Abhängigkeit von den Dingen, so werdet ihr die Ordnung der Natur im Fortschreiten mit seiner Erziehung befolgt haben. Setzet seinen unartigen Begehrungen nur physische Hindernisse entgegen oder Strafen, die aus der Handlung des Kindes selbst entspringen und die ihm bei Gelegenheit wieder einfallen müssen.«[114] Die Unglücksgeschichten der aufgeklärten Kinderliteratur sind also gerade nicht »autoritär« oder »repressiv« (wie sie heutigen Lesern vielleicht erscheinen mögen), im Gegenteil. Am bösen Schicksal ihrer Kinderfiguren wollen sie die Einsicht in die »Ordnung der Natur« wecken, die der Strafe ihre neue Legitimität gibt. Sie wird dem Opfer auf den Leib geschrieben, wie in Kafkas Geschichte ›In der Strafkolonie‹, wo über der Einsicht »Jetzt geschieht Gerechtigkeit« ein »Ausdruck der Verklärung von dem gemarterten Gesicht« leuchtet und wo unter den Zuschauern an der Strafmaschine »vor allem die Kinder berücksichtigt werden sollten«.[115] Der aufgeklärte Erzieher weiß sich mit der Natur im Bunde: Die »natürliche Strafe« tritt an die Stelle der autoritären Bestrafung.[116] Das gilt sogar für einen Geschichtentypus wie ›Wilhelm der Selbstverderber‹, der uns heute besonders »repressiv« vorkommt; gerade die Anti-Onanie-Didaktik beruft sich in ihrer Argumentation immer wieder auf die zeitgenössische Medizin und ihre »moderne« naturwissenschaftliche Grundlage: die Körpersäfte-Lehre.[117]

Selbstverständlich ist auch das Walten der Natur in den moralischen Exempla keineswegs so »natürlich«, wie es erscheinen soll. Das Ende der Unglücksgeschichte ergibt sich mit Folgerichtigkeit ja nur in der künstlichen Wirklichkeit des literarischen Arrangements. Daß man, wenn man Arsen gegessen hat, stirbt, ist wohl ›natürlich‹. Daß ein erwachsener Dummkopf in einem Haushalt mit kleinen Kindern Arsen mit Zucker vermischt in die Speisekammer stellt, ist jedoch keineswegs ›natürlich‹. Aber das ist eben nicht Gegenstand der Geschichte. Hier zeigt sich an den literarischen Bildern, daß die Theorie aufgeklärter Pädagogik nicht aufgeht; das, was ihr als Natur erscheint, ist allemal inszenierte Natur. Gelegentlich kommt dieses Wissen in pädagogischen Reflexionen der Zeit zum Vorschein, so beispielsweise in der Rede des Pfarrers an den neuen Schullehrer in Salzmanns ›Conrad Kiefer‹: »Lieber Herr Kantor! Der Mensch hat eine natürliche Abneigung gegen alle Befehle und Vorschriften. Da aber doch die Ordnung erfordert, daß er Befehle annehmen muß, so muß Er die Befehle und Vorschriften immer so einrichten, daß der, dem sie gegeben werden, erst von ihrer Güte überzeugt wird und glaubt, daß er sie freiwillig befolge.«[118]

Im Wandel der Strafen, wie sie die Kinderunglücks-Geschichten mit der Inszenierung der »Strafinstanz Natur« vorführen, bekundet sich ein sich wandelndes Gewaltverhältnis der Gesellschaft gegenüber den Heranwachsenden. In der alten, der vorbürgerlichen Gesellschaft wurde die Verletzung der herrschenden Normen durch unmittelbaren Gebrauch von Körpergewalt (Schläge, Stäupen, Verstümmelung, Hinrichtung) geahndet und öffentlich bestraft.[119] Diese Gewalt richtete sich praktisch in den gleichen Formen gegen Heranwachsende wie gegen Erwachsene. Daß auch »Kinder« und »Jugendliche« (im heutigen Altersverständnis) das Opfer solcher Härte wurden, belegen die verschiedensten sozialgeschichtlichen Quellen. So notiert etwa das Tagebuch des Nürnberger Scharfrichters 1594 die Hinrichtung von zwei 16jährigen, des Diebstahls bezichtigten Jungen[120]; die Solothurnischen Hexenprozeßakten berichten 1713 von der Auspeitschung und anschließenden Landesverweisung eines 6jährigen Knaben wegen Schadenzaubers (Mäuse und Graswürmer machen)[121]; Musäus’ Moralische Kinderklapper (eine Sammlung moralischer Beispielgeschichten) erzählt 1788 von der Hinrichtung des 13jährigen Dieterle, Mitglied einer im Württembergischen ausgehobenen Räuberbande.[122] Das »Schont ihn, er ist noch ein Kind!« ist ein in traditionellen Gesellschaften wenig gekannter und kaum beherzigter Grundsatz.