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Frank Kodiak

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Beschreibung

Er tötet aus Wut. Er überlässt dem Zufall die Wahl seiner Opfer. Er könnte jeder sein – auch dein Sitznachbar im Bus … Der Garant für Mega-Spannung - der neue Thriller von Bestsellerautor Andreas Winkelmann alias Frank Kodiak! Kommissar Olav Thorn ahnt nichts Gutes, als er zu einem bizarren Fund an den Bremer Busbahnhof gerufen wird: Im Gepäckraum eines Reisebusses aus Dortmund ist ein Koffer zurückgeblieben - mit grauenvollem Inhalt, sowie einem Zettel mit der Botschaft: »Ich packe meinen Koffer, und auf die Reise geht ...?« Noch bevor die Ermittlungen in Bremen richtig in Gang kommen, erreicht den Kommissar eine Nachricht aus Berlin: Auch am dortigen Busbahnhof ist ein Koffer mit Leichenteilen aufgetaucht. Wieder ist dieselbe Botschaft beigelegt. Thorn und seine Berliner Kollegin Leonie Grün tragen fieberhaft Puzzlestück für Puzzlestück zusammen, doch der Killer ist ihnen immer einen Schritt voraus. Und er ist noch lange nicht am Ende seiner Reise angelangt. Ein harter Serienkiller-Thriller um einen Psychopathen, der sich seine Opfer auf Reisen mit dem Fernbus sucht – perfekter Nervenkitzel für Fans der Thriller von Sebastian Fitzek oder Andreas Winkelmann: »Frank Kodiak« ist das Pseudonym des Bestseller-Autors Andreas Winkelmann. Unter dem Pseudonym »Frank Kodiak« sind außerdem die Thriller »Nummer 25« und "Stirb zuerst" erschienen.

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Seitenzahl: 431

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Frank Kodiak

Das Fundstück

Thriller

Knaur e-books

Über dieses Buch

Er tötet aus Wut.

Er überlässt dem Zufall die Wahl seiner Opfer.

Er könnte jeder sein – auch dein Sitznachbar im Bus …

Der Garant für Megaspannung – der neue Thriller von Bestsellerautor Andreas Winkelmann alias Frank Kodiak!

Kommissar Olav Thorn ahnt nichts Gutes, als er zu einem bizarren Fund an den Bremer Busbahnhof gerufen wird: Im Gepäckraum eines Reisebusses aus Dortmund ist ein Koffer zurückgeblieben – mit grauenvollem Inhalt sowie einem Zettel mit der Botschaft: »Ich packe meinen Koffer, und auf die Reise geht …?«

Noch bevor die Ermittlungen in Bremen richtig in Gang kommen, erreicht den Kommissar eine Nachricht aus Berlin: Auch am dortigen Busbahnhof ist ein Koffer mit Leichenteilen aufgetaucht. Wieder ist dieselbe Botschaft beigelegt.

Thorn und seine Berliner Kollegin Leonie Grün tragen fieberhaft Puzzlestück für Puzzlestück zusammen, doch der Killer ist ihnen immer einen Schritt voraus. Und er ist noch lange nicht am Ende seiner Reise angelangt.

Inhaltsübersicht

WidmungDas Fundstück1. Haltestelle1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel2. Haltestelle1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel3. Haltestelle1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel4. Haltestelle1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. KapitelEndstation1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. KapitelHeiligabendDanksagungLeseprobe »Amissa. Die Verlorenen«
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Für Andreas Winkelmann

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Das Fundstück

Er lauerte in der Schwärze unter der Durchfahrt, die in den Hinterhof führte. Dort erreichte ihn das Licht der Straßenlaternen nicht, und solange er sich nicht bewegte, blieb er nahezu unsichtbar. Ein perfekter Platz, um die Umgebung zu beobachten. Seit zehn Minuten ließ er den Blick von links nach rechts und wieder zurück gleiten auf der Suche nach Auffälligkeiten. Es ging auf zweiundzwanzig Uhr zu, und wie immer um diese Zeit trieben sich Typen herum, die wie er das Licht scheuten. Drogendealer und Kleinkriminelle, wie man sie in diesem Stadtteil häufig sah. Die interessierten ihn nicht, und er hoffte, umgekehrt wäre es genauso.

Was ihn dagegen wirklich interessierte, lag im zweiten Obergeschoss des Hauses gegenüber. Ein einziges Fenster der Wohnung ging nach vorn zur Straße hinaus, die anderen beiden nach hinten. Die blickdichte Gardine war vorgezogen, die kleine Lampe auf der Fensterbank brannte.

Ein gutes Zeichen!

Ein sicheres Zeichen!

Dennoch würde er nichts überstürzen und sich Zeit nehmen. Grundsätzlich sollte man nichts übereilen, wenn man einen Menschen aus seinem Leben reißen wollte. Er hatte alles doppelt und dreifach überdacht, wochenlang, und heute war der Tag gekommen, um zu handeln. Einem Vulkan gleich, den nur noch wenige Zentimeter Erdkruste vom Ausbruch trennten, brodelte es tief in seinem Inneren, und er fühlte sich auf eine Art lebendig, die ihn an sein erstes Mal denken ließ.

Was für ein Gefühl!

Er brauchte es, um seinen Mut zu füttern. Obgleich sein Entschluss feststand, hatte er noch am Vormittag nicht gewusst, ob er es durchziehen konnte, ob er wirklich dazu imstande war.

Jetzt, wenige Minuten vor dem Point of no Return, musste er all seine Courage zusammennehmen, um die Sache nicht doch noch abzubrechen.

Seine Finger tasteten nach dem Gegenstand in seiner Jackentasche. Er wusste, dass er da war, musste es aber unbedingt noch einmal überprüfen. Ihn zu fühlen setzte einen Energieschub frei.

Ein Ruck ging durch seinen Körper, und er trat einen Schritt nach vorn. Seine Fußspitzen berührten beinahe die Linie, an der Licht und Dunkelheit sich trafen, jene Grenze, die zu übertreten bedeutete, sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen. Ihm fiel der Spruch ein, dass es kein Zurück mehr gab, wenn man einmal getötet hatte, und genauso fühlte er sich in diesem Moment.

Er trat vor, blickte noch einmal zu den Seiten, vergewisserte sich, dass niemand ihn beobachtete, zog die Kapuze über den Kopf und überquerte rasch die Straße. Zehn Schritte, dann stand er vor der schäbigen Haustür, die sich durch nichts von all den anderen in diesem Viertel unterschied. Sie war nicht abgeschlossen, aber das war sie so gut wie nie.

Im Treppenhaus roch es abgestanden. Hässliche gelbe Fliesen und zerbeulte graue Briefkästen verstärkten das heruntergekommene Ambiente.

Lauschend verharrte er einen Moment. Wenn irgendwo eine Tür ging, könnte er jetzt noch abhauen. Befand er sich erst einmal auf der Treppe, ging das nicht mehr. Also senkte er das Haupt, machte sich kleiner, verbarg das Gesicht und stieg die Stufen hinauf.

Im zweiten Obergeschoss angekommen, trat er vor die Tür der Wohnung und lauschte abermals. Von drinnen drangen keine Geräusche heraus. Vorsichtig schob er den Schlüssel ins Schloss, den er erst vor zwei Wochen hatte nachmachen lassen. Er hakte ein wenig, funktionierte aber. Rasch huschte er in die Wohnung und schloss die Tür hinter sich.

Sofort nahm er ihren Geruch wahr! Süß, blumig, ein wenig erdig. Wie er diesen Geruch liebte! Bevor er sich auf die Suche nach ihr machte, tastete er noch einmal nach dem Gegenstand in seiner Jackentasche. Er war wichtig, denn damit würde er sie aus ihrem Leben reißen.

Aus der spaltbreit offen stehenden Wohnzimmertür drang Licht in den Flur. Es stammte, wie er wusste, von der Lampe auf der Fensterbank, die er von draußen gesehen hatte. Ihre Signallampe. Ihr Leuchtturm in der Dunkelheit.

Auf dem Weg Richtung Schlafzimmer, wo er sie schlafend vermutete, erledigt von den Anstrengungen des Tages, nahm er plötzlich den anderen Geruch wahr.

Wonach roch es hier?

Tabak?

War das möglich?

Noch in dem Gedanken gefangen, fiel ihm die angelehnte Tür zum Schlafzimmer auf. Mit zwei Fingern öffnete er sie ganz. Im Zimmer war es dunkel, und er konnte gerade so ihre Umrisse im Bett erahnen. Die Decke hochgezogen bis zum Hals, den Kopf im Kissen vergraben, lag sie da.

Er schlich aufs Bett zu und fuhr mit der Hand in die Innentasche seiner Jacke, um den Gegenstand hervorzuholen.

Plötzlich flog die Decke beiseite, und was auch immer sich darunter verborgen gehalten hatte, fiel mit einem Schrei über ihn her wie eine wild gewordene Bestie.

Ehe er verstand, was geschah, ging er in dem schmalen Streifen zwischen Wand und Bett zu Boden und spürte das Gewicht eines Menschen auf dem Brustkorb. Atemluft wurde ihm aus der Lunge gepresst, neue fand keinen Weg hinein. Er schlug um sich, traf auch, erreichte aber nichts, krallte die Hände in das Haar der Gestalt, die über ihm war, riss mit der Kraft der Verzweiflung daran, bekam selbst einen furchtbaren Hieb ins Gesicht, der seine Gegenwehr in Sekundenschnelle erlahmen ließ.

Über ihm grunzte und schnaufte es. Fremdartige Laute waren das, die sich in seiner benommenen Wahrnehmung zu einem grauenerregenden Crescendo steigerten und ihn an ein Tier glauben ließen.

Er bekam einen weiteren harten Schlag gegen den Kopf, und ihm wurde schwarz vor Augen. Zwar verlor er nicht das Bewusstsein, doch sein Körper fühlte sich leblos an, und er war nicht mehr in der Lage, sich zu bewegen. Eingezwängt zwischen Bett und Wand, war er dem Monster hilflos ausgeliefert. Seine Empfindungen zogen sich ins Innere seines Körpers zurück, suchten dort einen Schutzraum und weckten die kindlichen Erinnerungen an die Prügel, die er so oft von seinem Vater bezogen hatte.

Jemand packte ihn an den Beinen, zog ihn aus dem Schlafzimmer heraus in den Flur und von dort in das kleine, blau gekachelte Badezimmer. Dort wurde er achtlos auf dem flauschigen Vorleger liegen gelassen, und für einen Moment glaubte er sich allein.

Steh auf! Wehr dich! Mach was! Du bist nicht hierhergekommen, um zu verlieren!

Plötzlich ein schmerzhafter Einstich im linken Unterarm, und etwas anderes übernahm die Oberhand in seinem Körper. Er spürte es durch seine Blutbahnen fließen, eine feurige Flüssigkeit, die seine Muskulatur in Pudding verwandelte und Gedanken und Empfindungen von seinem Ich trennte.

Ihm wurde die Jacke ausgezogen.

Dann die Winterstiefel.

In dem engen Bad wurde er bäuchlings auf den Rand der Badewanne gewuchtet. Rippen brachen, stachen ihm ins Zwerchfell. Mit einer Bewegung, die er nicht selbst steuerte, für die er sich nicht einmal bewusst entschied, bekam er den Duschvorhang zu fassen und riss ihn aus der Halterung. Plastikringe brachen, flogen im Raum umher und fielen klackernd zu Boden.

Er war schwer, und das Tier hatte Schwierigkeiten, ihn in die Wanne zu bekommen. Mit grober Gewalt stopfte es ihn geradezu hinein, dabei schlug er mit der Stirn gegen die Armatur, und als er schließlich bäuchlings in der Wanne lag, sah er sein Blut an der weißen Emaille hinablaufen.

Über ihm grunzte das Tier und stöhnte vor Anstrengung.

Er mühte sich ab, seine mäandernden Gedanken unter Kontrolle zu bringen, aber weder ließen sie sich kanalisieren noch zu einer klaren Handlungsanweisung zwingen. Irgendwo reagierte eine einzelne, nicht betäubte Synapse, schrie ein »Beweg dich!« ins vernebelte Schlachtfeld, doch ihre Stimme verhallte ungehört.

Jemand machte sich an seinen Händen zu schaffen, die eingequetscht zwischen seinem Körper und dem Wannenrand lagen. Sie wurden befreit und die Ärmel des Pullovers nach oben geschoben.

Dann zog die Person ihm die Socken aus und schob die Hosen auf die Schienbeine hoch.

Er bekam das alles mit, auch das Klappern irgendwelcher metallischer Gegenstände im Waschbecken sowie das leise Sirren eines Drahtes, und er fragte sich, was das sollte.

Schließlich beugte sich das Tier über ihn.

Nahm sein linkes Bein hoch und begann daran zu ruckeln. Zuerst vorsichtig und langsam, dann immer heftiger.

Warme Flüssigkeit lief an seinem Fuß hinab. Das war schön.

Der Schmerz jedoch war infernalisch.

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1. Haltestelle

 

 

 

 

 

 

 

1.

Dienstag, 17. Dezember 2019 Bremen

Gleich wird sie zerquetscht, schoss es Holger Lühring durch den Kopf.

Beide Hände fest an das große Lenkrad geklammert, erwartete der Busfahrer den Aufprall. Dabei erfasste sein Blick die Augen der jungen Frau in dem Kleinwagen, der auf die Front seines Busses zuraste. Panik verzerrte ihr Gesicht, mit wilden, hilflosen Bewegungen kurbelte sie am Lenkrad.

Holger Lühring schloss die Augen. Er wollte sich die letzte Sekunde ersparen, wollte nicht sehen, wie der in den ohne Knautschzone ausgestatteten Kleinwagen eindringende Motorblock der jungen Frau den Oberkörper von der Hüfte riss. In all den Jahren als Busfahrer war ihm dergleichen erspart geblieben, und er wusste nicht, ob er sich nach einer solchen Katastrophe je wieder hinters Steuer setzen könnte.

Doch der Aufprall blieb aus.

Holger Lühring riss die Augen auf und sah den gelben Wagen an seiner linken Flanke vorbeischießen. Nur um wenige Zentimeter hatte er die Stoßstange des Busses verfehlt. Im Rückspiegel beobachtete Holger, wie das pummelige Heck des Wagens einen wilden Tanz aufführte, bevor die Fahrerin auf dem trockenen Straßenabschnitt endlich die Kontrolle wiedererlangte.

Gleich nach der scharfen Kurve war sie auf dem vereisten Straßenabschnitt ins Rutschen geraten. Obwohl jeder halbwegs intelligente Fahrer bei diesem Wetter vorsichtig unterwegs sein sollte, war sie um die Kurve gebrettert, als ginge der Winter sie nichts an. Holger hätte weder ausweichen noch durch ein Bremsmanöver den Zusammenprall verhindern können, denn mit zweiundvierzig Fahrgästen an Bord, von denen sich die Hälfte sicher wieder nicht angeschnallt hatte, obwohl er vor jeder Fahrt darauf hinwies, legte man nicht einfach eine Vollbremsung hin.

Mit einem Blick in den Innenspiegel überprüfte Holger, ob von den Fahrgästen jemand den Beinaheunfall mitbekommen hatte. Das schien nicht der Fall zu sein. Es war dunkel im Fahrgastraum, nur zwei Leseleuchten waren eingeschaltet, ein paar Gesichter von Handydisplays geisterhaft angestrahlt. Die meisten schliefen oder hielten zumindest die Augen geschlossen. Nur einer erwiderte seinen Blick. Dieser finster dreinschauende Typ mit den stechenden Augen, der seine angespannte Haltung die ganze Fahrt über nicht geändert hatte.

Wahrscheinlich war er sauer wegen der Verspätung. Die Fahrt von Dortmund bis hierher vor die Tore der Hansestadt Bremen hatte ewig gedauert. Schuld daran war nicht Holger, sondern der Schneefall und die stellenweise glatten Straßen, nur hatte dafür nicht jeder Verständnis.

Holger Lühring fragte sich immer häufiger, wie lange er dem Druck noch gewachsen sein würde. Nicht nur dem der Straße, sondern auch und vor allem dem eines gnadenlos um Kostenminimierung bemühten Unternehmens wie Youbus, ein Start-up, das Flixbus den Kampf angesagt hatte und für das Holger seit einem Jahr fuhr. Kein Zuckerschlecken das alles, aber was blieb ihm übrig? Mit fünfundfünfzig und einem kaputten Rücken bekam er woanders keinen Job mehr. Und diesen würde er nur behalten, wenn er weiterhin seine Gesundheit ruinierte.

Eine halbe Stunde nach dem Vorfall lenkte er den Bus auf die zweispurige Straße, die ihn zum Zentralen Omnibusbahnhof in Bremen bringen würde. Noch immer zitterten seine Hände.

In den letzten fünf Minuten der Fahrt rührten sich seine Fahrgäste, und der Geräuschpegel stieg an. Husten, Knistern von Tüten und Taschen, Getuschel, das Übliche eben. Als Holger auf den Busbahnhof zurollte, sah er dort kleine Gruppen von Menschen herumstehen, und seine Laune sackte in den Keller. Da warteten sie bereits wieder, diese rotzfrechen rumänischen Kofferdiebe! Wenn er gleich nicht schnell und umsichtig agierte, würde der eine oder andere Koffer aus dem riesigen Laderaum des Busses verschwinden, und er müsste sich zuerst das Gemeckere der bestohlenen Fahrgäste und später das seines Chefs anhören, dem der Hals anschwoll, weil sie dieses Problem nicht in den Griff bekamen. Aber was sollte er tun? Er war schließlich allein. Sobald er die Laderäume aufsperrte, bedienten sich die Fahrgäste, holten selbstständig ihre Koffer heraus, weil sie keine Lust hatten zu warten. Holger war das ehrlich gesagt auch ganz recht, ersparte es ihm doch, seinen Rücken über die Maßen zu belasten. Leider bekam er aber dadurch nicht mit, wenn sich einer dieser rumänischen Jungs einen Koffer aneignete, der ihm nicht gehörte. Immer wieder kam das vor, jetzt vor den Feiertagen sogar häufiger als sonst. Die Konkurrenz hatte längst reagiert und an den Bahnhöfen Mitarbeiter abgestellt, die den Fahrer beim Be- und Entladen unterstützten. Youbus natürlich nicht. Zusätzliche Mitarbeiter kosteten zusätzliches Geld. Die Geschäftsführung nahm lieber in Kauf, dass dem einen oder anderen Fahrgast seine Habseligkeiten abhandenkamen. Der musste dem Unternehmen dann erst einmal grobe Fahrlässigkeit nachweisen, um entschädigt zu werden, und nur die wenigsten wagten diesen Klageweg.

Holger lenkte den Bus an das freie Terminal. Bevor er die Türen öffnete und selbst ausstieg, ermahnte er seine Fahrgäste noch einmal, auf ihr Gepäck aufzupassen. Auch wenn kaum jemand von ihm Notiz nahm, war es zumindest gut für sein Gewissen.

Draußen brach Hektik aus. Wie konnten erwachsene Menschen so ungeduldig sein? Seine Fahrgäste wuselten kopflos umher, jemand verlangte, er solle endlich die Kofferraumklappen öffnen, ein anderer rief, er würde auch noch den Anschlusszug verpassen, dazwischen trieben sich diese Typen mit tief ins Gesicht gezogenen Kapuzen herum, und natürlich war von der Polizei wieder einmal weit und breit nichts zu sehen. Holger kam ins Schwitzen. Bei einem besonders schweren Koffer spürte er einen scharfen Schmerz in die Lenden schießen.

Nach einigen wilden, unübersichtlichen Minuten war es dann plötzlich vorbei.

Zweiundvierzig Fahrgäste waren in die eiskalte Winternacht verschwunden, ohne dass sich ein einziger über einen fehlenden Koffer beschwert hatte.

Das war toll, allerdings …

Ein Koffer befand sich noch im Laderaum.

Merkwürdig!

Holger sah sich um, stieg dann in den Bus, weil er befürchtete, ein Fahrgast sei eingeschlafen oder, Gott bewahre, während der Fahrt verschieden, aber der Bus war leer.

Holger kehrte in die eiskalte Winternacht zurück.

Der mittelgroße, schwarze Koffer in der Mitte des Laderaums bot einen traurigen Anblick.

Holger krabbelte durch die Luke, verzog dabei vor Schmerzen das Gesicht, packte den oberen Griff des Koffers und zog ihn rückwärtskriechend mit sich. Besonders schwer war er nicht. Eigentlich sogar sehr leicht, so als befinde sich kaum etwas darin.

Im orangefarbenen Licht der Bogenlampe betrachtete Holger den Koffer. Es waren keine Namensschilder angebracht, nicht einmal die Banderole von Youbus mit der Gepäcknummer daran. Der Koffer war also nicht zwangsläufig von einem zahlenden Gast aufgegeben worden. Ohne Banderole hätte Holger ihn gar nicht erst einladen dürfen. Wie hatte ihm dieser Fehler unterlaufen können? Oder hatte der Fahrgast den Koffer selbst im Laderaum verstaut? Auch das kam immer wieder vor. Holger versuchte, sich zu erinnern, ob und von wem er den Koffer entgegengenommen hatte, aber da die meisten Koffer schwarz waren, gelang es ihm nicht, ein Bild heraufzubeschwören.

Zum allerersten Mal blieb ein Gepäckstück zurück, und Holger wusste nicht so recht, was er tun sollte. Viel Zeit, sich mit dem Problem zu beschäftigen, hatte er nicht. In spätestens einer halben Stunde musste er seine Fahrt fortsetzen.

Durfte er in den Koffer hineinschauen?

Nun, warum nicht?

Wie sollte er sonst herausfinden, wem er gehörte?

Also legte er ihn auf die Seite und zog den umlaufenen Reißverschluss auf. Der funktionierte nur schwergängig und verhakte sich mehrfach. Schließlich konnte Holger das Oberteil zurückklappen.

In dem schummrigen Licht bestätigte sich der Verdacht, dass sich so gut wie nichts darin befand. Keine Kleidung, keine Schuhe, lediglich zwei ausgebeulte Pakete aus durchsichtigem Plastik, die aussahen wie große Gefrierbeutel.

Erst auf den zweiten Blick erkannte Holger, worum es sich dabei handelte.

Er stieß einen grellen Schrei aus, stolperte zurück, fiel hin, rappelte sich auf und lief, so schnell er konnte, wollte nur noch weg von diesem grauenhaften Fundstück.

2.

Dienstag, 17. Dezember 2019 Bremen

Sylvia Hartge hatte sich zügig aus der Menschenansammlung vor dem Youbus am Bremer Omnibusbahnhof befreit und zog mit ihrem Reisekoffer durch eine verwaiste Nebenstraße in Richtung ihrer Wohnung.

Bremen war ihr noch immer fremd, und Sylvia Hartge konnte sich nicht vorstellen, dass sich das jemals ändern würde. Einsamkeit und große Verlorenheit schufen den Nährboden für ein schmerzhaftes Heimweh. Ihre Kehle wurde eng. Sie wollte zurück nach Dortmund, zu Florian, der Liebe ihres Lebens, doch das ging nicht. Wieder schossen ihr die Tränen in die Augen, als sie an die Verabschiedung am Abend zuvor dachte. Drei Monate Afghanistan, und das auch noch über die Feiertage. Drei Monate Angst, ob sie ihn überhaupt wiedersehen würde.

Sylvia wusste nicht, wie sie das aushalten sollte.

Den Kragen des Mantels hochgeschlagen, den Kopf gesenkt, schief gegen den Wind gelehnt, lief sie Richtung Steintorviertel, wo sie eine kleine Wohnung für die Zeit ihres Studiums angemietet hatte. Für ein Taxi fehlte ihr schlicht das Geld, außerdem hatte sie viel zu lange gesessen, ihr Hintern verlangte geradezu nach einem ordentlichen Marsch. Zum Glück trug sie warme Stiefel mit profilierter Gummisohle, die den größtenteils nicht geräumten Bürgersteigen gewachsen waren.

Nachdem sie zehn Minuten marschiert war, spürte sie es zum ersten Mal: ein Bauchgefühl, das sie vor einer Gefahr warnte.

Sie traute dem Gefühl nicht, weil es ebenso gut vom Hunger herrühren konnte, denn seit sie in Dortmund in den Bus gestiegen war, hatte sie nichts mehr zu sich genommen.

Sylvia ging weiter, konzentrierte sich auf ihr Gehör und glaubte bald, hinter sich leise Schritte zu hören. Es klang, als hielten diese Schritte genau ihre Geschwindigkeit und einen gleichmäßigen Abstand. Weder kamen sie näher heran, noch entfernten sie sich.

Sollte sie sich umdrehen und damit zeigen, dass sie den Verfolger sehr wohl bemerkt und keine Angst vor ihm hatte? Oder einfach weitergehen in der Hoffnung, ihn abschütteln zu können?

Als es in ihrem Nacken kribbelte, hielt Sylvia es nicht mehr aus und fuhr herum.

Die schmale Straße verlief kerzengerade und war in gleichmäßigen Abständen von Laternen erhellt. Der Wind peitschte feine Schneeflocken durch das Streulicht, dicht an dicht parkten Autos zu beiden Seiten, auf den Dächern und Motorhauben sammelte sich der Schnee. Die meisten Fenster in den Häuserfassaden waren erleuchtet, und in einiger Entfernung sah Sylvia ein Pärchen eng umschlungen in schnellem Schritt die Straßenseite wechseln. Am Ende der Straße fuhr mit orangefarbenem Warnlicht ein Streufahrzeug vorbei.

Aber sonst?

Niemand …

Dabei war sie sich so sicher gewesen!

Sylvia verharrte einen Moment. Ihr Herz pochte dumpf in ihrer Brust. Florian hatte ihr einige Tricks aus dem Nahkampf beigebracht. Im Falle eines Falles würde sie klaren Kopf bewahren und sich wehren.

Doch da war niemand, gegen den sie sich hätte wehren müssen. Vielleicht war die Person einen Augenblick vorher in einen der Hauseingänge verschwunden. Nicht, um sich zu verstecken, sondern weil sie dort wohnte.

Sylvia entschied sich für einen Trick.

Sie ging weiter, allerdings rückwärts, und zog dabei den Koffer hinter sich her, dessen billige Hartplastikrollen ordentlich Lärm machten.

Kaum sechs Schritte weit war sie gekommen, da tauchte zwischen den geparkten Autos ein Kopf mit einer Kapuze darüber auf. Als die Person merkte, dass sie einer Täuschung auf den Leim gegangen war, zog sie sich rasch wieder zwischen die Autos zurück.

»Hey!«, rief Sylvia und blieb stehen. Jetzt wegzulaufen wäre falsch. Besser, sie zeigte dem Typen, mit wem er es zu tun bekam.

»Lass mich in Ruhe, oder ich reiße dir die Eier ab!«, rief sie.

Ihre eigenen Worte machten ihr Mut, und sie ging zu der Stelle, wo sie den Kopf gesehen hatte. In der Manteltasche schloss sich ihre Hand um die kleine Dose Pfefferspray, die Florian ihr schon vor Monaten besorgt hatte. Nicht vorbereitet zu sein ist dumm, hatte er gesagt, egal, ob man Angst hat oder nicht. Mit den Fingern erfühlte sie die Auslassdüse und brachte sie in die richtige Position, damit sie sich nicht versehentlich selbst ins Gesicht sprühte.

Als sie die Stelle erreicht hatte, riss sie die Dose aus der Manteltasche hervor, bereit, ihrem Verfolger eine Dosis Pfefferspray mitten ins Gesicht zu sprühen.

Doch da war niemand.

Zwischen den geparkten Autos hatte sich ein wenig Schnee gesammelt, darin waren deutlich Fußabdrücke zu erkennen, die Person, die sie hinterlassen hatte, war jedoch verschwunden.

Trotz der eisigen Kälte steckte Sylvia die Hand mit der Pfefferspraydose nicht zurück in die Tasche. Denn eines war jetzt klar: Das war kein Zufall gewesen, jemand war ihr gefolgt!

In diesen Minuten lernte Sylvia, wie schnell ein rationaler Verstand den Urängsten erlag. Sie fühlte Panik in sich aufsteigen und war plötzlich nur noch darauf fokussiert, ihre sichere Wohnung zu erreichen. Jeden anderen vernünftigen Gedanken, auch den, die Polizei zu rufen, schob sie beiseite. Sie beschleunigte ihren Schritt und lief, so schnell es mit dem Koffer eben ging. Sie kannte nur noch ein Ziel: ihre Wohnung.

Trotz der Kälte verschwitzt und völlig außer Atem, erreichte sie das viergeschossige Gebäude im Steintorviertel nach weiteren zehn Minuten. Die Schritte hatte sie nicht mehr gehört und, obwohl sie sich ein ums andere Mal herumgedreht hatte, den Verfolger nicht mehr gesehen.

Sylvia rammte den Schlüssel ins Schloss der Haustür und drückte sie mit der Schulter auf.

Ein letzter Blick zurück auf die Straße.

Weit und breit niemand zu sehen.

3.

Dienstag, 17. Dezember 2019 Bremen

»Stille Nacht, heilige Nacht, alles schläft, einsam wacht …«

Da ihn seine Textkenntnisse hier bereits verließen, pfiff Olav Thorn das Lied weiter mit, das zu seiner Weihnachtsplaylist gehörte, die er über Handy im Wagen abspielte. Er sang und pfiff gern beim Fahren, irgendwie klang seine Stimme in diesem rollenden Resonanzraum richtig gut. Fand er zumindest.

»Alles schläft, einsam wacht.«

Das passte zu dieser Nacht kurz vor Weihnachten. Er hatte Dienst, und die Menschen in Bremen verließen sich auf ihn und seine Kollegen. Ein gutes Gefühl. Auch wenn er wusste, dass er der Person, deretwegen er zu diesem Einsatz gerufen worden war, nicht mehr helfen konnte. Was er am Telefon gehört hatte, klang nicht gut.

Sollte er sich deswegen seine gute Laune verderben lassen?

Nein, auf keinen Fall!

Es war Dezember, Heiligabend stand vor der Tür, und es schneite. Das war selten, und Olav Thorn freute sich über die mittlerweile geschlossene Schneedecke. Ein schöneres Geschenk gab es nicht für ihn. Er war an einem sechsten Dezember geboren und hielt sich schon allein deshalb für einen Schneemenschen.

Herrlich, diese Flocken, einfach herrlich!

Er parkte den Dienstwagen, stieg aus, formte einen Schneeball und warf ihn gegen die Plakatwand für Zigarettenwerbung, die sowieso verboten gehörte.

Das tat gut.

Hatte er viel zu lange nicht mehr gemacht.

Dann ging er hinüber zum Zentralen Omnibusbahnhof und ließ das Bild auf sich wirken.

Ein einsam im Schneefall stehender Reisebus mit dem übergroßen Schriftzug Youbus auf der Flanke, in dessen silberfarbener Lackierung sich das Licht der Straßenlaternen brach. Aus dem O in dem Schriftzug ragte eine Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger heraus, der auf jeden zeigte, der die Hand betrachtete. Das erinnerte an die Onkel-Sam-Figur, diesen bekannten Rekrutierer der amerikanischen Armee. An der windabgewandten Seite haftete Schnee an den dunklen Scheiben und machte sie blind. Die unterhalb der Scheiben liegenden Klappen des Laderaums waren weit geöffnet, was dem Gefährt ein waidwundes Aussehen verlieh, so als habe man seine Innereien herausgerissen. Vor dem Bus liefen uniformierte Polizisten auf und ab, verzweifelt darum bemüht, sich warm zu halten, während ihnen der schneidende Ostwind die scharfen Schneekristalle ins Gesicht trieb.

Die daunengefütterte Outdoorjacke hielt Olav Thorn die Kälte vom Oberkörper fern, aber durch die Jeans drang sie mühelos, und auch seine einfachen Lederstiefel waren dem ordentlich aufdrehenden Winter nicht gewachsen.

Ein Beamter der Bahnhofspolizei kam auf ihn zu. Grimmiges Gesicht, schleppender Gang, negative Ausstrahlung.

»Kommissar Thorn?«, fragte er.

Olav stellte sich vor und begrüßte den durchgefrorenen Kollegen.

»Was für eine wunderbare Nacht, um draußen zu sein, nicht wahr?«, sagte er und fing sich einen bösen Blick ein.

»Es ist scheißkalt, ich spüre die Füße nicht mehr, außerdem bekomme ich das Bild nicht aus dem Kopf. Also nein, es ist keine wunderbare Nacht, um draußen zu sein«, schimpfte der Kollege.

»Wer im Schlechten nicht das Gute sieht, am Ende vor der Welt nur flieht«, sagte Olav.

»Goethe?«

»Nein, Thorn. War außer dem Fahrer noch jemand am Bus oder am Gepäckstück?«

»Nicht, seitdem wir hier sind. Zuvor aber schon. Mehr oder weniger alle Fahrgäste, nehme ich an.«

»Von denen ist niemand mehr hier?«

Der Kollege schüttelte den Kopf. »Die waren schon fort, als der Fahrer das Fundstück bemerkte.«

»Wo ist der Mann?«

»Sitzt in der Dienststelle im Bahnhof. Ist ziemlich fertig mit den Nerven, aber gefasst genug für eine Befragung.«

»Na, das ist doch wunderbar! Dann schau ich mir das Fundstück an und spreche danach mit dem Fahrer. Unsere Spurensicherung und die Verstärkung müssten jeden Moment eintreffen. Tauschen Sie mit den Kollegen, damit Sie ins Warme kommen!«

Der Uniformierte ließ ein dankbares Lächeln sehen und blieb zurück, während Olav Thorn auf den Bus zuging.

Youbus, so viel wusste er, war ein junges Start-up, das im Zuge der Liberalisierung des Fernbusmarktes 2013 entstanden war und seit zwei Jahren versuchte, dem Branchenriesen Flixbus Paroli zu bieten. Mit Firmensitz in München beschäftigte das Unternehmen mehr als dreihundert Mitarbeiter. Wie viele Busse dazugehörten, wusste Olav nicht.

»Ich habe den Deckel des Koffers geschlossen, damit kein Schnee hineinfällt«, sagte ein Kollege, der Olav gefolgt war.

Der schwarze Reisekoffer lag auf der ihm zugewandten Seite des Laderaums. Die offene stehende Klappe schützte ihn einigermaßen, doch der Wind trieb immer wieder Schnee darunter.

»Sehr gut! Ich danke Ihnen! Sie hatten Handschuhe?«

»Natürlich.«

»Haben Sie den Inhalt berührt?«

»Natürlich nicht.«

»Ihre Professionalität begeistert mich.«

Wieder fing sich Olav Thorn einen merkwürdigen Blick ein. Er war daran gewöhnt und dachte sich nichts dabei. So waren die Menschen eben. Ehrliche Komplimente fanden immer seltener wohlgeneigte Abnehmer.

»Noch mehr begeistern können Sie mich, wenn Sie mir bis morgen alle Aufnahmen der Videokameras besorgen, die Blick auf diesen Platz haben«, sagte Olav und deutete mit dem Finger auf die drei Kameras, die er sehen konnte. Wahrscheinlich gab es noch mehr.

»Wird gemacht.«

Olav zog seine eigenen Latexhandschuhe über, setzte sich neben den Koffer unter die schützende Klappe, bereitete sich noch einmal auf den Anblick vor und schlug schließlich den Deckel zurück.

Der Koffer war leer.

Bis auf die beiden gefüllten, durchsichtigen Beutel.

Jemand hatte sie mit dem zum Koffer gehörenden Zurrband an der Rückseite befestigt.

In einem Beutel befand sich ein knapp über dem Sprunggelenk abgetrennter menschlicher Fuß.

In zweiten Beutel befand sich eine knapp über der Handwurzel abgetrennte menschliche Hand.

Olav Thorn saß da und betrachtete beides eine Weile. Abgetrennte Gliedmaßen, auch andere Körperteile, hatte er zuvor schon gesehen, jedoch nie in einem solchen Arrangement. Vor zwei Jahren hatte ein Mörder die verschiedenen Teile seiner Gattin im ganzen Stadtgebiet verteilt. Der Kopf steckte in einem Glascontainer, durch dessen Einwurfloch er gerade so hindurchgepasst hatte. Die Auffindeorte waren allesamt schmutzig gewesen, die Gliedmaßen in üblem Zustand, hier aber wirkte alles sauber und aufgeräumt.

Unglücklicherweise erhöhte das noch die Grausamkeit des Anblicks, und Olav Thorn spürte, wie seine gute Laune in den Keller seines Körpers sackte. Es würde wohl eine Weile dauern, sie wiederzubeleben.

Seine Augen suchten den Koffer ab, Zentimeter für Zentimeter. Jedes Detail prägte er sich ein. Der Koffer war nicht neu, es gab Gebrauchsspuren. Der umlaufende Reißverschluss wies Macken auf, die kleinen Metallanhängsel waren zum Teil verbogen und verschrammt, an der Unterseite, wo die Rollen befestigt waren, klaffte ein drei Zentimeter langer Riss im Gewebe. Die Rollen sahen so aus, als hätten sie einige Kilometer auf dem Buckel. Auch im Inneren entdeckte Olav Spuren. Krümel auf dem Boden. Ein Riss im Innenstoff. Ein dunkler Fleck. Es gab einen innen liegenden Beutel, wahrscheinlich für Schmutzwäsche gedacht, der durch ein perforiertes Meshgewebe vom restlichen Packfach getrennt war. Durch dieses Gewebe hindurch sah Olav Thorn etwas Weißes.

Ein Blatt Papier!

Interessant.

Olav öffnete den Reißverschluss des Extrafachs und zog den einzelnen Bogen Papier vorsichtig daraus hervor. Er war äußerst akkurat in der Mitte gefaltet, die Ränder lagen exakt übereinander. Über den Falz hatte jemand mehrfach gestrichen, dadurch ergab sich eine scharfe Kante, und das Blatt faltete sich nicht von allein auf.

Olav Thorn übernahm diese Aufgabe.

Der kurze Text auf der Innenseite war von Hand geschrieben und so klein, dass Olav dankbar war für seine Lesebrille. Er hatte sie erst seit einer Woche, daher waren die Bewegungen, mit denen er das Etui aus der Innentasche seiner Jacke und die Brille selbst aus dem Etui nahm, ungewohnt und umständlich.

Schließlich schob er sich das Gestell auf den Nasenrücken, nahm das Blatt Papier wieder zur Hand und las.

 

Ich packe meinen Koffer, und auf die Reise geht …?

4.

Dienstag, 17. Dezember 2019 Bremen

In der Dienststelle der Bremer Bahnhofspolizei hockte ein riesiges Häufchen Elend auf einem viel zu kleinen Stuhl vor einer Tasse Kaffee. Der Busfahrer Holger Lühring war an die zwei Meter groß, stark übergewichtig, die Wangen teigig, der Kopf beinahe kahl, an den Seiten wucherten blumenkohlartige Ohren.

Olav Thorn musste nicht zweimal hinschauen, um zu erkennen, dass der Mann unter Schock stand. Allein die Art, wie er sich an der Tasse festklammerte, die in seinen großen Händen verschwand, sprach Bände. Ein profaner, bekannter Gegenstand, seine Verbindung zur Realität, die einen heftigen Knacks abbekommen hatte. Eine Tasse Kaffee versprach in jeder Lebenslage Sicherheit und Heimeligkeit, jeder noch so fremde Ort wurde ein wenig zur Heimat, und auch die abstruseste Situation ließ sich ertragen mit einer Tasse Kaffee.

Aber die großen Hände zitterten, sobald der Fahrer sie ein wenig von der Tasse löste. Und unter dem Tisch zuckte das linke Bein in einem beständigen, schnellen Rhythmus auf und nieder.

Ein Arzt müsste ihn sich ansehen, dachte Olav Thorn, doch das musste bis nach der Vernehmung warten. So ein großer, kräftiger Mann würde die paar Fragen wohl noch aushalten – und aushalten müssen. Denn sie waren wichtig. Wer, wenn nicht der Busfahrer, könnte Hinweise dazu liefern, wie der Koffer mit den Leichenteilen in den Bus gelangt war.

In der warmen Amtsstube hatte der Fahrer sich seiner Jacke entledigt, sie hing über der Stuhllehne. Das karierte Polyesterhemd umspannte einen dicken Bauch und kräftige Schultern. Im Nacken über dem Hemdkragen, der mit einem Werbeschriftzug von Youbus geschmückt war, wölbten sich zwei Speckrollen.

Olav stellte sich dem Mann vor und bot einen weiteren Kaffee an. Zwei Minuten später ließ er sich mit zwei dampfenden Bechern an dem weißen Resopaltisch nieder. Da er das Papier einiger leerer Zuckertütchen gesehen hatte, brachte Olav dem Fahrer vier davon mit, die dieser allesamt aufriss und in seine Tasse schüttete. Olav trank seinen Kaffee schwarz.

Nun, da er dem Busfahrer gegenübersaß, kam Olav sich wie ein Zwerg vor, dabei maß er selbst eins zweiundachtzig und wog fünfundachtzig Kilo, aber dieser Fleischberg von einem Mann stellte seinen Körper mühelos in den Schatten.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte Olav.

Die massigen Schultern machten eine Bewegung nach oben, fielen aber sofort wieder hinab.

»Mir ist schlecht … Ich sehe immer wieder diese … Ich will ja gar nicht, aber ich kann nicht anders … Ist das, sind die … echt?«

»Der Gerichtsmediziner schaut sich die Fundstücke gerade an, aber ja, es sieht so aus, als handele es sich dabei um menschliche Gliedmaßen.«

Holger Lühring stieß ein unartikuliertes Geräusch aus, und das Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, als müsse er sich übergeben. Wenn Olav eines hasste, dann war es Kotzen! Vor allem bei sich selbst, aber auch bei anderen. Er konnte den Geruch nicht ertragen.

»Möchten Sie auf die Toilette?«, fragte er und versuchte, sich seinen Widerwillen nicht anmerken zu lassen.

Holger Lühring schüttelte den Kopf, hob die Hand vor den Mund und stieß auf. Saure Atemluft schlug Olav entgegen. Er senkte den Kopf, stellte die eigene Atmung ein und sah vor seinem geistigen Auge Bakterien und Viren auf sich zuschießen, eifrig darum bemüht, Zugang zu ihrem neuen Wirt zu bekommen.

Erst als er sicher sein konnte, dass der Angriff vorbei war, atmete Olav wieder und sprach weiter.

»Herr Lühring, ich weiß, es ist für Sie eine Zumutung, jetzt Fragen beantworten zu müssen. Ich möchte Sie aber dennoch bitten, mir ein paar Minuten zur Verfügung zu stehen. Das würde mir meine Arbeit erleichtern, und wir wollen doch beide, dass diese Sache so schnell wie möglich aufgeklärt wird, nicht wahr?«

Der Busfahrer starrte Olav aus tränenfeuchten Augen an und nickte.

»Ja … ja, natürlich … Ich meine … Herrgott … Leichenteile in meinem Bus … Das ist ja entsetzlich! Was ist nur los mit unserer Welt!«

»Im Großen und Ganzen ist unsere Welt ganz okay, würde ich sagen, aber es gibt natürlich Ausnahmen. Dies ist eine. So etwas passiert höchst selten, und ich würde meine Hand darauf verwetten, dass Sie, Herr Lühring, kein zweites Mal Derartiges sehen müssen.«

Mit Verzögerung wurde Olav der kleine Fauxpas mit der verwetteten Hand bewusst.

Der Busfahrer starrte Olav verständnislos an. Seine Mundwinkel kannten nur eine Richtung: nach unten.

»Ich steige nie wieder in einen Bus«, sagte er schwach.

»Aber natürlich tun Sie das! Das ist doch ein toller Beruf! Man lernt jeden Tag nette Menschen kennen, kommt viel herum.«

Lühring starrte ihn an. »Man kommt viel herum? So kann man es auch nennen. Ausgebeutet wird man bei Youbus, bis aufs letzte Hemd, oder was glauben Sie, warum ich zweihundertfünfzig Stunden im Monat arbeite? Diese billigen Tickets kommen nicht von ungefähr. Und jetzt auch noch das … Nein, ich hör auf damit.«

Obwohl Olav den Frust des Mannes in Anbetracht der Umstände verstehen konnte, fand er die Kritik an seinem Arbeitgeber in diesem Moment unangebracht.

»Darüber denken Sie besser noch mal nach. Man sollte solche Entscheidungen nicht unter Schock treffen. Sagen Sie, Herr Lühring, erinnern Sie sich an Ihre heutigen Fahrgäste? Ist Ihnen jemand besonders aufgefallen?«

Der Busfahrer brauchte einen Moment, um dem thematischen Schwenk folgen zu können.

»Ich, äh … Nee, ganz normale Fahrgäste halt. Es sind immer welche dabei, die nerven, gerade vor den Feiertagen, aber mir ist niemand besonders … Obwohl, wenn ich jetzt darüber nachdenke …«

Olav Thorn spitzte die Ohren. »Erzählen Sie bitte!«

»Dieser eine Mann … Ich weiß nicht, der hatte so einen Blick. Sie kennen das bestimmt! So jemanden möchte man nicht ansprechen oder von ihm angesprochen werden. Er saß allein und hatte auch keinen Kontakt zu anderen Fahrgästen, jedenfalls nicht, dass ich wüsste.«

»Wegen seines Blickes ist er Ihnen aufgefallen?«

»Nee, ich meine, ja, auch, aber hauptsächlich, weil er beim Einsteigen gesagt hat, er verlange Pünktlichkeit.«

»Wie hat er das formuliert? Können Sie es wiedergeben?«

»Ich verlange Pünktlichkeit für mein Geld«, sagte der Busfahrer und scheiterte kläglich bei dem Versuch, jemand anderen zu imitieren. »Für diese spottbilligen Tickets auch noch Forderungen stellen, so sind die Fahrgäste. Die sind nicht alle nett, das kann ich Ihnen sagen.«

Olav Thorn sah den Mann wortlos an, während er Gedanken sortierte und speicherte. Notizen machte er sich keine. Sein Gedächtnis funktionierte gut.

»Wer von der Liste der Fahrgäste das war, wissen Sie aber nicht?«

»Nee.«

»Okay, vielen Dank. Kommen wir zur nächsten Frage. Sind alle Fahrgäste in Dortmund in den Bus gestiegen, oder haben Sie zwischendurch noch jemanden aufgenommen?«

»Die waren alle die ganze Zeit an Bord. Ich bin durchgefahren … bis auf eine kleine Toilettenpause, weil die Fahrt bei den schlechten Straßenverhältnissen länger als geplant gedauert hat und einige ältere Herrschaften an Bord waren. Da drängt es dann schon mal raus, wenn Sie verstehen …«

»Diese Pause geschah außerplanmäßig?«

»Ja.«

»Kann sich während der Pause jemand am Kofferraum des Busses zu schaffen gemacht haben?«

»Nee, die Klappen waren verschlossen.«

»Haben Sie überprüft, ob nach der Pipipause alle Fahrgäste wieder an Bord waren?«

Holger Lühring wollte spontan antworten, hielt aber inne.

»Nee, hab ich nicht. Ist auch nicht meine Aufgabe.«

»Könnte jemand gefehlt haben?«

»Ja, schon … Aber dann hätten die anderen Fahrgäste mich doch darauf aufmerksam gemacht. Und da fällt mir gerade ein, dieser Mann, der Pünktlichkeit einforderte, hat mich nach der Pause erneut gefragt, ob wir Bremen pünktlich erreichen.«

»Und hier in Bremen, als Sie unpünktlich ankamen, was hat er da gemacht?«

Wiederum wollte Lühring sofort antworten, ging aber noch einmal in sich und dachte nach.

»Ehrlich gesagt weiß ich das nicht. Ich habe nur auf diese rumänischen Jungs geachtet, damit mir kein Koffer abhandenkommt.«

»Rumänische Jungs?«

»Oder ungarische, was weiß denn ich. Jedenfalls mit schwarzem Haar und dunklen Augen. Die lungern an allen größeren Haltestellen herum und klauen Koffer. Ein unbeobachteter Moment reicht, schon greifen die zu, und der Koffer ist weg. Kommt immer wieder vor. Dass ein Koffer zurückbleibt, erlebe ich heute aber zum ersten Mal … Hätte ich gern drauf verzichtet.«

»War das gerade eine Pauschalverurteilung einer bestimmten Staatsangehörigkeit aufgrund der Haar- und Augenfarbe?«

»Häh?«

»Viele Drogendealer tragen heutzutage eine Glatze. Dealen Sie, Herr Lühring?«

»Wie bitte?«

»Sie haben eine Glatze. Dealen Sie? Oder nehmen Sie eventuell sogar selbst Drogen? Muss ich einen Bluttest anordnen?«

Von einer Sekunde auf die andere stieg ungesunde Röte ins feiste Gesicht des Busfahrers.

»Was fällt Ihnen ein!«

»Ich habe gesehen, dass der Bus über eine Toilette verfügt. Warum mussten Sie für eine Pinkelpause halten?«

»Das … Weil … weil die Toilette nicht funktioniert.«

»Wo waren Sie selbst während dieser Pause?«

»Natürlich im Bus!«

»Denken Sie bitte daran, ich werde Ihre Aussage mit denen der Fahrgäste abgleichen. Sollte ich Diskrepanzen feststellen, wirft das kein gutes Licht auf Sie.«

»Ich … ich hab nur schnell Zigaretten geholt«, verteidigte sich der Fahrer.

»Der Bus war während dieser Zeit unbeaufsichtigt?«

»Nee, ich hatte ihn von drinnen im Blick!«

»Die Laderäume waren auch ganz gewiss und ohne jeden Zweifel abgeschlossen?«

Wieder zögerte Holger Lühring, bevor er antwortete. Er schwitzte jetzt stark, und seine Gesichtsfarbe war alles andere als gesund.

»Die Scheißschlösser frieren bei dem Wetter immer wieder ein, deshalb schließe ich sie nicht mehr ab. Ich kann meinen Fahrplan nicht einhalten, wenn ich bei jedem Stopp die Schlösser auftauen muss!«

»Also war Ihr Bus für eine Zeitspanne von circa fünf Minuten auf welcher Raststätte unbeaufsichtigt?«

Zerknirscht nannte der Busfahrer die Raststätte.

Olav Thorn erhob sich.

»Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe und dieses angenehme Gespräch. Sie werden noch einmal von uns hören.«

»Und was ist mit meinem Bus?«

»Ihrem? Gehört der nicht Youbus?«

»Quatsch. Das ist meiner. Ich bin Subunternehmer. So läuft das in der Branche. Youbus besitzt selbst keinen einzigen Bus.«

»Aha! Na ja, Sie bis auf Weiteres auch nicht. Der Bus ist konfisziert.«

»Das geht nicht! Ich muss arbeiten, sonst verdiene ich kein Geld!«

»Sagten Sie nicht gerade, Sie wollen sowieso nie wieder einen Bus fahren?« Olav stand auf. »Wollen Sie einen Rat? Ziehen Sie die Feiertage einfach vor und machen Sie eine Pause.«

Er ließ den sprachlosen Busfahrer sitzen und verließ die Polizeiwache. Auf dem Bahnhofsvorplatz winkte er einen der Beamten heran.

»Bringen Sie den Busfahrer in ein Hotel und sorgen Sie dafür, dass er die Stadt nicht verlässt. Wahrscheinlich brauchen wir ihn noch. Fragen Sie ihn, ob er zu einem Arzt will, wenn ja, fahren Sie ihn bitte hin.«

»Wird gemacht.«

Olav bedankte sich, ging zum Busbahnhof hinüber und betrachtete die Szenerie.

Holger Lühring schien ein Mensch mit Hang zu negativer Sichtweise zu sein, der die Schuld für Leid und Unglück immer bei anderen suchte. Solche Menschen nervten Olav. Andererseits machten sie auch den Reiz seines Berufes aus. Anders als in normalen Berufen, in denen man tagtäglich denselben Menschen begegnete, variierten seine sozialen Kontakte immer wieder, oft sogar in kurzen Abständen. Das war interessant, nicht selten allerdings auch anstrengend und manchmal nervig. Entweder legte man sich ein dickes Fell zu oder wurde zynisch, oft beides zugleich.

Zynismus war in Olavs Augen allerdings Ausdruck dessen, dass man von der eigenen Rolle nicht überzeugt und an den Überzeugungen seiner Mitmenschen nicht interessiert war. Und so wollte er nicht sein.

Lieber übte Olav sich in der Kunst des positiven Denkens, auch wenn das nicht immer einfach war.

Da stand der Bus. Silbern glänzend und dank seiner Fracht irgendwie bedrohlich. Im Bahnhof saß dessen erbarmungswürdiger Fahrer.

Aber hier draußen fielen die Schneeflocken durch die Lichtkegel der Lampen, bedeckten den Schmutz der Stadt und den Lärm der Welt.

Wunderschön!

5.

Dienstag, 17. Dezember 2019 Bremen

Ein wenig Licht fiel auch nachts durch das kleine Fenster rechts neben ihrem Bett, sodass das Schlafzimmer nie völlig dunkel war. Sylvia Hartge hätte dies durch einen Vorhang ändern können, sich aber dagegen entschieden. Sie fühlte sich in lichtlosen Räumen nicht wohl, ein Überbleibsel ihrer Kindheit, in der ihr Stiefvater sie regelmäßig in der finsteren, fensterlosen Dachkammer eingesperrt hatte, wenn ihre Mutter an der Tankstelle arbeitete.

Sylvia hatte schon geschlafen, nicht tief, aber der erste Traum hatte bereits seine Fänge nach ihr ausgestreckt, als sie plötzlich aufgeschreckt war. Verwirrt und benommen lag sie da, betrachtete den silbernen Lichtschimmer an der Wand gegenüber und fragte sich, was sie geweckt hatte.

Ihre erste Empfindung signalisierte: Da ist jemand in der Wohnung!

Aber das konnte nicht sein. Die Tür war verschlossen. Okay, das Schloss war so alt wie die Wohnung und das Gebäude selbst wohl nicht wirklich einbruchssicher, aber wer um Himmels willen sollte sich Zutritt zu einer Einundvierzig-Quadratmeter-Studentenbude verschaffen, die sich in einer Art Maisonettewohnung über den dritten und vierten Stock erstreckte? Zwei kleine Räume, verbunden durch eine alte, knarrende Treppe, in denen es keinerlei Luxus gab, nicht einmal einen Fernseher.

Aber das Gefühl, nicht länger allein in ihrer Wohnung zu sein, war sehr stark.

Hatte also ein Geräusch sie geweckt?

Sylvia erinnerte sich an den Weg vom Busbahnhof zu ihrer Wohnung. Ohne jeden Zweifel war ihr jemand gefolgt.

Eine beinahe schon schmerzhafte Gänsehaut überzog ihren gesamten Körper, und sie spürte den Wunsch, sich die Decke über den Kopf zu ziehen.

Was passierte hier? Sie war doch sonst kein ängstlicher Mensch. Ganz im Gegenteil lachte sie oft über Freundinnen oder Kommilitoninnen, die sich über dunkle Gassen, verwinkelte Parkhäuser oder fehlende Straßenbeleuchtung beklagten. Diese Ängste hatten mit der Dunkelheit zu tun, das wusste Sylvia, sie selbst war da ja ein gebranntes Kind, aber man musste seine Ängste vergessen oder sie bekämpfen, sonst geriet das Leben zu einem niemals endenden Martyrium.

Und sie wusste selbst am besten, in der Dunkelheit gab es keine Monster. Nein, die lebten im Hellen, unerkannt und gut getarnt, und wenn sie ihr wahres Gesicht zeigten, war es zu spät.

Sie zuckte zusammen, als sie ohne jeden Zweifel ein Geräusch hörte.

Knarrendes Holz!

Die Treppe, die vom unteren Zimmer, das sie als Wohn-, Büro- und Küchenbereich nutzte, zum Schlafzimmer hinaufführte, bestand aus zwölf Stufen, von denen jede einzelne entsetzlich knarrte. Ein Umstand, dessentwegen sie sich bei der Besichtigung in die Wohnung verliebt hatte. Das Geräusch hatte einen heimeligen Wohlfühlcharakter.

Gehabt!

Jetzt machte es ihr Angst.

Jemand hatte einen Fuß auf die unterste Stufe gesetzt.

Jemand war in die Wohnung eingedrungen und auf dem Weg zu ihr.

Sie hatte keine Chance zu entkommen. Das Schlafzimmer verfügte nur über dieses eine kleine Fenster, durch das sie zwar hindurchpassen würde, doch darunter fiel die glatte Fassade des Gebäudes vier Stockwerke in die Tiefe. Noch vor dem Einzug hatte Sylvia sich deshalb eine ausrollbare Feuerleiter, eine Art Strickleiter, gekauft, die sich im Fensterrahmen einhängen ließ. Sie reichte zwar nicht ganz bis zum Boden, es fehlten ungefähr fünf Meter, aber lieber brach sie sich beim Absprung beide Beine, als in ihrer Wohnung zu verbrennen. Natürlich war die Gefahr gering, Sylvia wollte aber dennoch darauf vorbereitet sein.

Doch die Leiter war unter dem Bett, weil sie keinen anderen Platz dafür gefunden hatte, und sie hätte erst Matratze und Lattenrost anheben müssen, um heranzukommen. Leider war es ihr nicht möglich, sich zu bewegen. Verkrampft und flach atmend lag Sylvia unter ihrer Decke und wünschte sich, sich das Geräusch nur eingebildet zu haben. Beinahe hätte sie das auch geglaubt, doch da erklang es erneut und machte jede Hoffnung zunichte.

Eine Gewichtsverlagerung auf die zweite Stufe, vorsichtig, langsam, Kilogramm für Kilogramm, die Belastbarkeit der Treppe und deren Lautstärke austestend.

Sylvia wusste nicht, was sie tun sollte. Ihr Handy lag unten, es war an der Steckdose neben der Spüle angeschlossen. Ihr Blick hetzte umher auf der Suche nach einem Gegenstand, mit dem sie sich verteidigen konnte, doch es gab hier oben nur Bücher und Kleidung. Zudem konnte sie sich immer noch nicht bewegen. Tatsächlich fühlten sich ihre Muskeln an, als wären sie eingefroren.

Du musst etwas tun! Mach irgendwas, befahl sie sich, doch ihr Körper reagierte nicht. All ihre Sinne fokussierten sich auf die Treppe und das nächste Geräusch.

Und das kam.

Diesmal war der Eindringling nicht mehr so vorsichtig, er hatte wohl verstanden, dass bei dieser Treppe jede Stufe unweigerlich ihr hölzernes Lied sang.

Die dritte, die vierte, die fünfte Stufe …

Mit jeder Stufe rutschte Sylvia weiter in die hintere Ecke des Bettes, zog die Knie an, raffte die Bettdecke um sich und starrte hinüber zum Treppenaufgang.

O Gott, bitte nicht, bitte nicht, lass das alles nur einen Albtraum sein!

Doch Gott gewährte in dieser Nacht keine Wünsche.

Schon schob sich ein Kopf in Sylvias Sichtfeld. Dort hinter dem Bogen der Treppe war es dunkel, sie sah nicht mehr als einen Schemen vor der weiß getünchten Wand, doch allein diese Bewegung, die Materialisierung der Geräusche zu einer Person, einer fleischlichen Bedrohung, setzte ihr dermaßen zu, dass sie es nicht verhindern konnte, einen gequälten, jämmerlichen Laut von sich zu geben.

Größer und größer wuchs der Eindringling mit jeder Stufe heran, bis er schließlich in ihrem Schlafzimmer stand.

Das Monster aus dem Schrank, von unter dem Bett oder hinter der Tür, das Monster, an das Sylvia Hartge nie geglaubt hatte, war hier. Es hatte sie gefunden.

Sie sah dessen Augen nicht, denn die lagen tief in dunklen Höhlen, spürte seinen Blick aber. Er schien an ihrem rechten Fuß hängen zu bleiben, der noch unter der Decke hervorschaute.

Rasch zog Sylvia ihn unter die Decke.

Denn alles, was herausschaute, würde abgehackt werden!

6.

Mittwoch, 18. Dezember 2019 Bremen

Feiertagsurlaub, Feiertagskrankheit, chronischer Personalmangel, andere wichtige Fälle: Mehr als fünf Ermittler und sechs Streifenbeamte hatte Olav Thorn in der kurzen Zeit nicht für die Sonderermittlungsgruppe Fundstück aktivieren können. Am frühen Mittwochmorgen saßen sie in Konferenzraum 4. Lustlose Augen in müden Gesichtern starrten Olav entgegen. Er selbst hatte nur drei Stunden geschlafen, bevor er wieder aufgebrochen war, fühlte sich aber gut. Noch war von der Müdigkeit, die sich zweifellos einstellen würde, nichts zu merken. Dafür war dieser neue Fall viel zu spannend. Außerdem lagen draußen vier Zentimeter Neuschnee, herrlich weiß und unberührt. Ein fantastischer Anblick, der ihm das Herz öffnete. In wenigen Stunden, wenn die Temperatur angestiegen, das Salz gestreut und unzählige Füße darübergelaufen waren, würde sich alles in eine braune Masse verwandelt haben.

Olav Thorn hatte die Fahrt ins Präsidium genossen, erneut seine weihnachtliche Playlist abgespielt und aus voller Brust »White Christmas« mitgesungen. Mit ein bisschen Glück würde es dieses Jahr klappen! Zwar bestand noch immer die Gefahr, dass ein atlantischer Tiefausläufer dem aus Osten herandrängenden Winter den Garaus machte, aber Olav war Optimist und glaubte so lange an eine weiße Weihnacht, bis sie wieder einmal grün oder braun verstrichen war.

Sei’s drum. Auf den Tischen vor den Kolleginnen und Kollegen standen weiße Teller mit kleinen, auf der Rückseite mit Schokolade überzogenen Mandelspekulatius in Form von Nikoläusen. Olav hatte sie mitgebracht und auf roten Servietten drapiert. Er liebte dieses Gebäck, es machte ihm gute Laune, und er sah keinen Grund, warum er das eine wie das andere nicht mit seinen Leuten teilen sollte. Mitunter brauchte es nicht viel, um die Stimmung zu heben.

»Einen wunderschönen guten Morgen, meine Damen und Herren. Greifen Sie ruhig zu, es ist genug da. Ich weiß, wir sind alle nicht ausgeschlafen, bald ist Wochenende, und draußen tobt die Vorfreude aufs Fest, aber ein noch Unbekannter, bitte nicht mit dem Weihnachtsmann verwandter, hat uns heut Nacht ein Geschenk beschert, das unserer Aufmerksamkeit begehrt. Genau genommen sind es sogar zwei Geschenke.«

Olav freute sich als Einziger über sein kleines Gedicht, was ihm nichts ausmachte, aber er bemerkte auch seinen leichten Zynismus, und der störte ihn schon. Immer mal wieder schlich der sich doch ein, wie sehr er sich auch vornahm, das zu verhindern.

Möglicherweise hatte das mit Fiona zu tun. Seit sie ihn betrogen hatte, war einiges durcheinandergekommen.

Über seinen vorbereiteten Laptop, der an einen Beamer angeschlossen war, warf Olav ein Bild an die weiße Wand. Es zeigte den aufgeklappten schwarzen Reisekoffer mit den beiden Gefrierbeuteln darin. Auf dieser aus größerer Entfernung gemachten Aufnahme war der Inhalt der Beutel nicht zu erkennen.

Hinter ihm begannen seine Leute, lautstark die Kekse zu essen.

»Im Laderaum eines Fernbusses des Unternehmens Youbus, der gestern Abend von Dortmund kommend in Bremen eintraf, blieb ein Gepäckstück zurück. Darin befand sich nichts weiter als diese beiden Gefrierbeutel mit folgendem Inhalt …«

Olav zauberte das nächste Bild an die Wand. Der abgetrennte Fuß und die abgetrennte Hand waren gut zu erkennen, und auf die elf anwesenden Beamten wirkte es wie ein Muntermacher. Stuhlbeine scharrten, und Kleidung raschelte unter plötzlichen Bewegungen, erschrockene Laute erklangen, jemand sagte leise: »Frohe Weihnacht.«

Olav wandte sich dem Auditorium zu.

Niemand kaute mehr. Ein erfahrener Ermittler, mit dem Olav häufig zusammenarbeitete, schob den Teller mit den Keksen weit von sich und warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Gleich im Anschluss fahre ich in die Gerichtsmedizin in der Hoffnung, dass die Gliedmaßen schon untersucht wurden. Zurzeit kann ich nur davon ausgehen, dass sie zu einer männlichen Person gehören. Ich schließe das aus der starken Behaarung auf Hand- und Fußrücken. Außerdem sind die Nägel nicht sonderlich gepflegt.«

Eine junge Kollegin lachte auf, aber es war ein Lachen, dessen Nähe zur Hysterie kaum zu leugnen war.

»Natürlich habe ich in der Nacht die Beutel nicht geöffnet, konnte aber erkennen, dass die Gliedmaßen sauber abgetrennt sind und keine Blutreste aufweisen. Außer den Gliedmaßen fand ich noch etwas anderes, höchst Interessantes in dem Wäschefach des Koffers.«

Das dritte Bild erhellte die Wand und hoffentlich die Köpfe der Beamten. Es zeigte das Schriftstück.

»Ich packe meinen Koffer, und auf die Reise geht …?«, las Olav laut vor.

»Was für ein Scherzkeks«, rief ein Beamter aus der ersten Reihe. Er saß breitbeinig, mit vor der Brust verschränkten Armen, Kaugummi kauend und den Coolen markierend da.