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Frank Kodiak

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Beschreibung

Ein tödliches Katz-und-Maus-Spiel zwischen einem psychopathischen Mörder und seinen verzweifelten Opfern - für Leser von Sebastian Fitzek, Steve Mosby und Stephen King Die 38-jährige Kommissarin Nora Jacobi wird mit einem Fall konfrontiert, der sie an ihre Grenzen führt. Ein als Pfarrer verkleideter Täter nimmt Paare gefangen, deren Ehe auf der Kippe steht, fesselt sie in getrennten Räumen auf eine Bahre und zwingt sie zu einer tödlichen Entscheidung. Nur wer den anderen per Handy-Anruf verrät, überlebt. Sonst sterben beide. Verzweifelt versucht Nora, die Identität des Killers zu lüften. Und bemerkt nicht, dass sie sich mehr und mehr in das Netz verstrickt, das der Psychopath ausgelegt hat ...

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Frank Kodiak

Stirb zuerst

Thriller

Knaur e-books

Über dieses Buch

Ein tödliches Katz-und-Maus-Spiel zwischen einem psychopathischen Mörder und seinen verzweifelten Opfern - für Leser von Sebastian Fitzek, Steve Mosby und Stephen King.

 

Die 38-jährige Kommissarin Nora Jacobi wird mit einem Fall konfrontiert, der sie an ihre Grenzen führt. Ein als Pfarrer verkleideter Täter nimmt Paare gefangen, deren Ehe auf der Kippe steht, fesselt sie in getrennten Räumen auf eine Bahre und zwingt sie zu einer tödlichen Entscheidung. Nur wer den anderen per Handy-Anruf verrät, überlebt. Sonst sterben beide.

Verzweifelt versucht Nora, die Identität des Killers zu lüften. Und bemerkt nicht, dass sie sich mehr und mehr in das Netz verstrickt, das der Psychopath ausgelegt hat …

Inhaltsübersicht

Sonntag1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. KapitelMontag1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. KapitelDienstag1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. KapitelMittwoch1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. KapitelDonnerstag1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. KapitelFreitag1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. KapitelSamstag1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. KapitelSonntag1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. KapitelLeseprobe »Amissa. Die Verlorenen«
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Kapitel 1

Sonntag

1

Für einen Augenblick tanzten die dunkelroten Rosenblätter scheinbar schwerelos in der Luft, sackten dann jedoch ab, und sobald sie den Boden aus abgetretenem Sandstein berührten, verflüssigten sie sich und wurden zu Blut. Durch Rillen und Furchen suchte dieses Blut sich einen Weg, um schließlich in den breiten Fugen zu versickern. Von irgendwoher ertönte ein Chor: hohe Stimmen aus Engelskehlen, melodisch und schön. Zwischen den gekalkten Wänden der Kirche hallten sie wider, und ihre Tonlage veränderte sich, wurde dunkler, bedrohlicher, so als spreche Gott höchstpersönlich: »Was ich zusammenführe, soll der Mensch nicht scheiden.«

In diesem Moment verstand Olivia Kubat ansatzweise ihre Lage. Noch nicht vollumfänglich, dafür war sie zu lange bewusstlos gewesen, aber so wie das Rosenblut in dem Traum suchten sich nun ihre Gedanken durch die Rillen und Furchen der Dunkelheit einen Weg ans Licht.

Wo bin ich …

Blinzelnd öffnete Olivia die Augen. Über sich sah sie eine graue Stahlbetondecke, vier, fünf Meter hoch. Spinnennetze in den Winkeln fingen Staub, an vielen Stellen platzte der Beton ab, rostige Stahlbewehrung lugte hervor wie Knochen aus aufgerissenem Fleisch.

Olivia wusste, hier war sie nie zuvor gewesen. Diese Erkenntnis allein löste Angst aus, hinzu kam noch, dass sie ihren rechten Arm nicht bewegen konnte. Zwar gehorchte er den Befehlen ihres Gehirns, doch ein Hindernis blockierte die Ausführung. Olivia wandte den Kopf und entdeckte eine Schnalle aus Leder an ihrem Handgelenk.

Sie machte eine Faust, drehte den Unterarm hin und her, spürte, wie das raue Leder über ihre Haut scheuerte. Sie spreizte die Finger und betrachtete den abgenutzten goldenen Ehering an ihrem Ringfinger. Seit der Hochzeit vor siebzehn Jahren hatte sie zehn Kilo zugenommen, entsprechend quetschte der Ring das Fleisch zusammen. Ohne ihr regelmäßiges Lauftraining sähe sie längst aus wie Miss Piggy.

Ich bin gefesselt.

Es kam ihr so vor, als spräche sie die Worte laut aus, aber diese Feststellung wurde still formuliert, in ihrem Kopf. Nichtsdestotrotz entfaltete sie maximale Wirkung. Von einer Sekunde auf die nächste gab es für Olivia Kubat nichts Wichtigeres, als ihren Fesseln zu entkommen. Sie riss an der Lederschnalle, verdrehte Arm, Schulter und Hals, bis es in der Wirbelsäule knackte, an ihrer Situation änderte das jedoch nichts. Erschöpft brach sie die vergeblichen Versuche ab.

Bisher waren ihre Beobachtungen merkwürdig ungeordnet gewesen, so als sei alles zusammen zu viel für sie, doch jetzt machte sie sich an eine komplette Bestandsaufnahme.

Sie hatte noch ihre Laufkleidung an. Die erst wenige Wochen alten Nikes in grellgelber Farbe mit der besten gedämpften Sohle, auf der sie je gelaufen war. Seitdem sie diese Schuhe trug, hatten ihre Fußschmerzen deutlich nachgelassen. Dazu die lange schwarze Lycrahose mit den Leuchtstreifen an den Seiten, in der ihr Hintern eigentlich zu dick aussah, aber sie war unglaublich bequem und warm, und das ging vor. Des Weiteren die winddichte grün-gelbe Jacke mit dem Werbeaufdruck ihres Sportvereins auf dem Rücken, bei dem sie ein Mal die Woche Federball spielte und am Jahresanfang die Kohltour organisierte. Fuß- und Handgelenke waren gefesselt, und auch um ihre Körpermitte, in Höhe der Hüftknochen, lag ein straff gespanntes Lederband. Zudem spürte sie an der Stelle irgendetwas hart in ihren unteren Rücken drücken.

»Was soll das?«

Diesmal sprach Olivia ihre Gedanken laut aus. Ihre Stimme klang klar und kräftig, geschult durch mehr als zehn Jahre Kirchenchor und ein Berufsleben als Grundschullehrerin. Rolf sagte, sie neige zum Schreien, aber das sah sie anders. Eine deutliche Ausdrucksweise und eine selbstbewusst klingende Stimme waren das A und O erfolgreicher Kommunikation. Manche Konflikte wurden durch Waffen gelöst, doch die allermeisten entschied nach wie vor das Wort – Gott sei Dank! Wer nicht verstand, wie wichtig es fürs Leben war, die Sprache zu beherrschen, der kam nicht weit. Davon war Olivia überzeugt, und das brachte sie schon ihren Kleinsten bei.

»Was soll das?«, wiederholte sie mit der Betonung, die Rolf oberlehrerhaft nannte und bei der er immer die Augen verdrehte.

»Was Gott zusammenführt, darf der Mensch nicht scheiden.«

Olivia erinnerte sich, diesen Satz vorhin im Dämmerzustand schon einmal vernommen zu haben. Sie hatte ihm nur keine Bedeutung beigemessen, da er zu dem merkwürdigen Traum gehörte, in dem sich Rosenblätter in Blut verwandelten. Waren bei ihrer Hochzeit Rosenblätter gestreut worden? Die süßen kleinen Mädchen ihrer Schwester hatten Blüten auf den Weg gestreut, als sie nach der Trauung die Kirche verließen, aber Olivia glaubte, sich an eine bunte Mischung zu erinnern. Irgendwas Sommerliches.

Sie war jetzt hellwach und jede Täuschung somit ausgeschlossen: Die Stimme war real, kein übrig gebliebener Bestandteil des Traumes. Weiterhin behielt sie ihren göttlichen Klang bei und schien von überallher zu kommen. Nach dem Hall und der Höhe der Decke zu urteilen, befand Olivia sich in einem großen leeren Gebäude, einer Industriebrache eventuell. Hierhergebracht und an einen Tisch gefesselt worden zu sein, das konnte nur eines bedeuten: Sie war einem Triebtäter in die Hände gefallen! Wahrscheinlich hatte er sie beim Joggen am Uni-See beobachtet. Zwielichtige Typen gab es dort mehr als genug, Männer, die absichtlich langsam hinter Frauen herliefen, um ihnen auf den Arsch zu glotzen, oder die den ganzen Tag nichts anderes taten, als auf den Parkbänken herumzulungern. Olivia erinnerte sich, wie sie an ihrem Auto angekommen war und mit den obligatorischen Stretchingübungen begonnen hatte. Dabei war ihr niemand aufgefallen. Das musste nichts heißen. Der Parkplatz am Uni-See war von dichten Büschen umgeben – ein Kinderspiel, sich dort zu verstecken.

Die Stretchingübungen … ein Fuß auf dem Kotflügel, die Fahrertür geöffnet wegen der Vierzehn-Uhr-Nachrichten … den Oberkörper tief nach unten gebeugt, um den Rücken zu dehnen. Im Radio die Meldung von einem Verrückten, der erst seine Großmutter getötet und dann zwei Polizisten überfahren hatte … Und dann …

Und dann?

Nichts. Keine Erinnerung.

Ein Loch, dessen Umfang sie nicht abschätzen konnte, da sie keinen Anhaltspunkt dafür hatte, wie spät es jetzt war.

Musik setzte ein. Leise Chormusik wie in einer Kirche.

Ein Schauer lief über Olivias Körper, und sie spürte, wie sich ihre Blase schmerzhaft zusammenzog. Beim Stretching hatte sie eine halbe Flasche Mineralwasser ohne Kohlensäure getrunken, das drängte jetzt hinaus. Sie biss die Zähne zusammen und drehte den Kopf auf der Suche nach dem Sprecher.

Vier Meter entfernt stand ein kleiner orangefarbener Baustrahler auf einem schwarzen Stativ, der Lichtstrahl zu Boden gerichtet, sodass der größte Teil der Halle in tiefer, undurchdringlicher Dunkelheit lag. Olivia bildete sich ein, Blicke spüren zu können. Gierige, abschätzende Blicke …

»Ist da jemand?«, fragte sie. Einfach still zu sein und abzuwarten war nicht ihr Ding, und wenn sie Angst bekam, so wie jetzt, redete sie noch mehr als ohnehin schon.

»Was soll das alles? Können Sie mir helfen? Ich muss dringend auf die Toilette.«

Der Blödsinn dieser Kombination wurde Olivia erst klar, nachdem sie gesprochen hatte. Wer auch immer sie aus dem Dunkel heraus anstarrte, hatte sie entführt und hierhergebracht und sicher kein Interesse daran, ihr zu helfen. Aber las man nicht überall, man solle in solchen Situationen den Täter in Gespräche verwickeln? Ihm zeigen, dass man eine menschliche Person mit Emotionen war und kein Stück Fleisch, mit dem er machen konnte, was er wollte?

Plötzlich wünschte Olivia sich Rolf an ihre Seite. Obwohl das natürlich albern war. Rolf war nicht der Typ Ehemann, der sich schützend vor seine Frau stellte oder gar den Kampf suchte.

Und dennoch … Sie sehnte sich nach ihm wie schon lange nicht mehr.

»Hallo?«, fragte sie.

Keine Antwort. Die Musik lief weiterhin. Kirchengesänge, ohne Frage. Den hohen Stimmen nach zu urteilen, ein Kinderchor, aber Olivia kannte nicht eines der Lieder, obwohl sie bewandert war in christlicher Musik. In der neueren jedenfalls, die man den Leuten zumuten konnte. Diese klang jedoch historisch, stammte sehr wahrscheinlich aus dem finstersten Mittelalter und passte zu einem kitschigen Hollywoodstreifen. Eigentlich war sie wenig empfänglich für so etwas, aber jetzt machte ihr die Musik Angst.

Sie glaubte, Schritte zu hören.

Leises Schaben von Ledersohlen auf Beton.

Ihr Kopf ruckte von rechts nach links und verharrte erst, als sie eine Bewegung wahrnahm.

Da schälte sich etwas Schwarzes aus der Dunkelheit. Zunächst hielt Olivia es für eine Täuschung, dann für einen Schatten, schließlich für einen Geist, aber Letzteres lag sicher an der unheimlichen Atmosphäre, die durch die düstere Musik noch an Intensität gewann.

Es war nichts von alledem.

Es war … ein Pfarrer.

Der kirchlichen Ordnung entsprechend trug er einen weiten schwarzen Talar und ein lutherisches Beffchen. Der Saum des Talars schleifte über den Boden und wirbelte Staub auf. Als der Pfarrer durch den Lichtschein des Baustrahlers schritt, verwandelten sich Tausende Schmutzpartikel in kurzzeitig hell leuchtende Sterne, die tanzend um die schwarze Gestalt wirbelten und ihr einen mystischen Glanz verliehen.

Olivias Hang zu sprunghafter Betrachtung filterte aus dem Gesamtbild dieser Erscheinung die Schuhe heraus, die bei jedem der bedächtigen Schritte für einen Moment unter dem Talar hervorlugten.

Schwarze Lederschuhe, modisch geschnitten, Typ Brogue, mit dem üblichen Lochmuster bei der Schaftkante und der Vorderkappe. Abgewetzt waren diese Schuhe und nicht besonders sauber. Man sah ihnen an, dass ihr Besitzer sie oft trug. Auf den Enden der schwarzen Senkel saßen metallene Pinken, was selten war. Sie schimmerten silbrig und warfen Lichtreflexe, eine der Pinken, die am rechten Schuh, war defekt, sodass der Senkel ausfranste.

Irgendwo hatte sie die schon mal gesehen.

Ganz und gar nicht zum traditionellen Talar gehörte die schwarze Maske vor dem Gesicht des Pfarrers. Es handelte sich dabei um eine Art Chirurgenmaske, die Olivia bisher nur in weißer Ausführung gesehen hatte. Eine Kopfbedeckung trug er nicht, aber das lange schwarze Haar war definitiv eine Perücke. Nur die oberen Bögen der Ohrläppchen schauten daraus hervor und leuchteten rötlich im Licht des Strahlers.

Anderthalb Meter vor Olivia blieb der Pfarrer stehen.

Stocksteif zunächst. Seine Augen ruhten auf ihr. Olivia rätselte über die Farbe, die in dem Licht nur schlecht zu erkennen war. Vielleicht braun, könnte aber auch grau sein. Jedenfalls hatte er für einen Mann auffällig lange Wimpern.

»Machen Sie mich los!«, forderte Olivia ihn unmissverständlich auf. Sie nahm sich vor, keine Angst zu zeigen, auch wenn es ihr schwerfiel. Sie durfte sich nicht in die Opferrolle drängen lassen. Das wollten solche Typen doch nur, Männer, die zu Hause nichts zu sagen hatten und glaubten, sich durch Gewalt in eine Machtposition hieven zu können. Aber nicht bei ihr!

»Sofort!« Ihre scharfe Stimme schnitt durch die Stille.

Er reagierte nicht. Und es war dieses zur Schau gestellte Selbstbewusstsein, das Olivia noch stärker einschüchterte. Als er die rechte Hand hob, zuckte sie zusammen. Sie rechnete damit, geschlagen zu werden, doch zwischen seinen ausgestreckten Fingern befand sich ein profaner Gegenstand.

Ein Smartphone.

Der große Touchscreen war dunkel, laut Markenzeichen stammte es von Samsung. Olivia hatte ein ähnliches vom selben Hersteller, wie Millionen andere Menschen auch.

»Olivia«, begann der Pfarrer mit dunkler Stimme zu sprechen, »fürchte dich nicht. Dein Untergang kann zugleich deine Rettung sein. Es liegt allein bei dir. Du hast dich dazu entschieden, das Tor zur Hölle aufzustoßen. Neugierde ist eine vom Teufel gesäte Saat, die wie Unkraut wuchert und alle Zeiten überdauert. Deine Neugierde hat dich hierhergebracht. Weißt du, warum du hier bist?«

Olivia starrte den Pfarrer an. Das alles durfte doch nicht wahr sein! War sie in einer neuen Realityshow gelandet, die sie nicht kannte? Übertrugen in diesem Moment Kameras ihre Reaktionen in die Wohnzimmer des Landes, damit das perverse, voyeuristische Fernsehvolk neues Futter bekam? Nein, das konnte nicht sein, schließlich war sie nicht freiwillig hier, und kein Fernsehsender würde sich für Einschaltquoten der Freiheitsberaubung schuldig machen. Oder?

Oder?

»Ich … Nein … Was soll das … Ich weiß nicht, warum ich hier bin.«

Der Pfarrer senkte das Smartphone und zugleich sein Haupt. Das wirkte salbungsvoll und gnädig, nahm Olivia aber nicht ihre Angst.

»Doch. Du weißt es, und das wird dir auch bald klar sein. Aber zunächst benötigst du einige Informationen. Was du nun siehst und hörst, entscheidet darüber, ob du leben oder sterben wirst, also konzentrier dich und hör genau zu, denn ich werde alles nur einmal sagen.«

»Ich verstehe nicht …«

»Schweig still«, schnitt der Pfarrer ihr das Wort ab, dann bediente er den Touchscreen und hielt ihr das Handy hin.

Ein Video startete.

In ruckelnden Bewegungen näherte sich in dem Film die Kamera durch einen diffus beleuchteten, riesigen Kellerraum einer Person, die genau wie Olivia selbst rücklings auf einem Holztisch gefesselt lag. Zunächst erkannte Olivia nur, dass es sich dabei um einen großen, kräftigen Mann in einem dunklen Anzug handelte, doch als die Kamera nah genug heran war, schrie sie auf.

Da lag Rolf, ihr Ehemann.

In seinem Mund steckt ein Knebel, einer von der Art, wie er in Sexläden verkauft wird, mit einem Ball zwischen zwei Gummibändern. Der rote Ball zwang die Lippen weit auseinander und glänzte vom Speichel. Rolfs Augen huschten hin und her, sein Gesicht war ein einziger Ausdruck von Panik. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, der Schatten eines Drei-Tage-Bartes lag auf seinen Wangen. Den Bart hatte er nicht gehabt, als er vorgestern zu einer Geschäftsreise aufgebrochen war, und da es zu Rolfs Gewohnheiten gehörte, sich täglich gründlich zu rasieren, schlussfolgerte Olivia, dass sich ihr Mann bereits längere Zeit in der Gewalt des Pfarrers befand.

Warum hatte das niemand aus der Firma bemerkt? Rolf war im Außendienst eines Herstellers für Schrauben und Werkzeug tätig und nahm jeden Tag einige Kundentermine wahr. Diese Kunden würden sich doch beschweren, wenn er nicht auftauchte.

Seitdem Rolf aufgebrochen war, hatten sie nicht miteinander telefoniert. Es gab ja auch nicht mehr viel zu besprechen. Nach siebzehn Jahren Ehe waren ihnen die Worte ausgegangen. Was Olivia anfangs traurig gestimmt hatte, war akzeptierter Alltag geworden, an den sie sich beide gewöhnt hatten. Heutzutage störte es sie schon, wenn Rolf abends vor dem Fernseher redete und sie deshalb nicht mitbekam, was irgendein Trottel in irgendeiner Soap von sich gab.

»Rolf«, stieß sie aus.

Der Pfarrer nickte.

»Dein dir von Gott anvertrauter Mann, Olivia. Es geht ihm gut, genau wie dir, sorge dich nicht. Aber du musst eine Entscheidung treffen, denn wir wissen beide, um eure Ehe steht es nicht gut und ihr seid bereit, euer vor Gottes Antlitz gegebenes Versprechen zu brechen. Doch das werde ich nicht zulassen.«

»Aber ich bin unschuldig …«

»Niemand ist unschuldig, auch du nicht. Der Wert einer Einschätzung liegt in beiden Seiten der Münze verborgen.«

Olivia beobachtete, wie auf dem Handydisplay die Kamera sich von ihrem Mann entfernte, sodass sein kompletter Körper das Bild füllte. Die abgeschabten Sohlen seiner Businessschuhe strahlten hell, das störte Olivia. Rolf hätte sich längst neue kaufen sollen!

»Dieses mobile Telefon ist voll funktionstüchtig, es kann geortet werden, und du darfst damit anrufen, wen du willst. Sobald du aber befreit wirst, stirbt dein Ehemann. Sollte er befreit werden, stirbst du. Solltest du nach Ablauf von acht Stunden keine Entscheidung getroffen haben, töte ich zuerst dich und dann ihn.«

Olivia starrte den Pfarrer an. Sie hatte seine Worte vernommen, verstand aber nicht, was sie bedeuteten.

Der Pfarrer legte das Handy auf ihrem Bauch ab und entfernte die Lederschnalle an ihrem rechten Handgelenk. Dafür bückte er sich und fummelte unter dem Holztisch herum, auf dem sie lag.

»Du sollst eine Entscheidung treffen, Olivia, ist dir das klar?«

»Ich … ich … Aber …«, stotterte sie.

»Eine Entscheidung, die euch beide zurückbringt auf den rechten Weg. Zurück zu dem Versprechen, das ihr vor Gott abgelegt habt.«

Er drückte ihr das Smartphone in die Hand.

»Doch egal, wie du dich entscheidest, Olivia, der Tod wird euch scheiden. So, wie ihr es versprochen habt.«

»Sind Sie noch ganz dicht?«

Wohlüberlegt waren diese Worte nicht, aber das kannte Olivia von sich. Wenn man sie reizte, rutschte ihr schnell mal etwas heraus, was tiefe Narben hinterließ.

Der Pfarrer tat etwas Merkwürdiges. Wie ein Hund legte er den Kopf schief und sah sie auffordernd an. Wollte er, dass sie weitersprach?

»Das können Sie doch nicht machen! Für so etwas landet man im Gefängnis, ist Ihnen das klar.«

»Nur die Hölle schreckt mich wirklich.«

»Jaja, meinetwegen, aber so ein Knast kann schnell zur Hölle werden. Lassen Sie uns reden, ja! Wir finden sicher eine Lösung. Eine, die auch Ihrer Gottesfürchtigkeit entspricht.«

»Was weißt du von meiner Gottesfürchtigkeit, Olivia?«

»Nun … ich …«

»Du bist unwissend, so wie alle anderen. Unwissend und blind. Von Zeit zu Zeit ist die Menschheit darauf angewiesen, den Spiegel vorgehalten zu bekommen, damit ihr Blick auf das Wesentliche gerichtet wird. Diese Zeit ist jetzt.«

»Ach, und das ist Ihre Aufgabe? Hat Gott sie dazu auserkoren?«

In den letzten beiden Fragen schwang eine ordentliche Portion Sarkasmus mit, und das entging dem Pfarrer nicht.

Er kam noch einmal an den Tisch zurück, beugte sich vor und nahm Olivias freie rechte Hand.

»Triff eine Entscheidung, Olivia.«

Er drückte ihre Hand beinahe liebevoll.

»Oder stirb zuerst.«

Dann wandte er sich ab und verschwand nach wenigen Schritten in der Dunkelheit. Olivia starrte ihm nach, beobachtete die Stelle, an der er sich quasi aufgelöst hatte, und hoffte, dass er zurückkäme. Sie erwartete es geradezu, denn was er gesagt hatte, konnte kaum sein Ernst sein. Er würde zurückkehren, sie losmachen und auslachen und zugeben, dass Rolf hinter dieser dämlichen Aktion steckte. Weil ihr Ehemann annahm, auf diese Art ihre Ehe retten zu können, hatte er einen Kumpel überredet, dieses Schauspiel abzuziehen. Beide ergötzten sich an ihrer eingebildeten Genialität und schlugen dabei dermaßen über die Stränge, wie es nur Männer konnten, die nie erwachsen geworden waren.

Die Musik verstummte, der Pfarrer blieb fort.

Mehrere Minuten lang wartete Olivia. Dann rief sie. Zuerst zaghaft, schließlich lauter und lauter, wobei sie sich unflätiger Worte bediente, die sonst nicht zu ihrem Repertoire gehörten.

»Komm zurück, du dämlicher Bastard, oder ich schwöre dir, ich reiße dir die Eier ab und sorge dafür, dass ihr beiden Idioten im Knast landet.«

Nach einer Salve ähnlicher Sätze schwand ihre Kraft, und sie verstummte. Es hatte ohnehin keinen Sinn, der Pfarrer war weg. Ihre Gedanken begannen zu rasen.

Vielleicht täuschte sie sich, und es steckte doch nicht ihr Mann dahinter.

Aber meinte der Pfarrer das ernst? Verlangte er tatsächlich, dass sie sich für ihren eigenen oder Rolfs Tod entscheiden sollte? Damit ihr Eheversprechen eingehalten wurde?

Nein, nein, nein, das konnte nur ein schlechter Scherz sein. Sie weigerte sich, etwas anderes in Betracht zu ziehen.

Olivia nahm das Handy und schaute sich das Video an, viermal hintereinander. Dabei erkannte sie, dass die Panik in Rolfs Antlitz nicht gespielt sein konnte. Nein, ihr Mann hatte wirklich Angst. Todesangst. Sie waren beide in die Hände eines Verrückten geraten, der ein perverses Spiel mit ihnen spielte.

Olivia fragte sich, ob Rolf in diesem Moment ebenfalls ein Smartphone in der Hand hielt und darüber nachdachte, den Notruf zu wählen. Sie zu opfern. Würde er das tun? In den letzten Monaten waren sie nicht gerade respektvoll miteinander umgegangen, und Olivia hatte häufig ihre verbale Dominanz ausgenutzt, unter der Rolf litt. Aber daran war er selbst schuld. Bis heute glaubte sie ihm nicht, wenn er behauptete, sie nie betrogen zu haben. Irgendwas war da gelaufen oder lief sogar noch immer. Männer wollten ja nicht wahrhaben, dass Frauen so etwas spürten, aber Olivia hatte die winzigen Veränderungen in seinem Verhalten bemerkt. Die unbegründete Euphorie an manchen Tagen, dann wieder schlechte Laune. Anzüge, die er selbst in die Reinigung brachte, was er früher nie getan hatte. Ein innen gründlich gereinigter Dienstwagen, ein frisches Duftbäumchen darin. Außerdem kaufte er ständig neue Boxershorts, die sie selbst nur zu Gesicht bekam, wenn er morgens verschlafen und unansehnlich an ihr vorbei ins Bad wankte. Schnitt und Muster dieser Shorts waren viel zu jugendlich. Und dann hatten sie seit vier Jahren nicht mehr miteinander geschlafen, obwohl Rolf früher die Konstitution eines Ochsen gehabt hatte, zumindest in dieser Disziplin. Er holte sich den Sex woanders, da war sich Olivia sicher.

Würde er die Situation nutzen und den Weg frei machen für eine andere? Oder zielte diese ganze Sache sowieso nur darauf ab, und Rolf steckte doch dahinter?

Nein! Die Angst in seinem Gesicht war echt. Ein so guter Schauspieler war ihr Mann nicht, dass er solches Grauen vorspielen konnte. Wenn dies aber kein Spiel war, sondern lebensbedrohlicher Ernst, wie sollte sie sich verhalten? Den Notruf zu wählen, das war doch genau das, was der Pfarrer wollte.

Gab es eine Möglichkeit, seine Spielregeln zu unterwandern?

Olivia verließ das Video, öffnete den Startbildschirm des Handys – und beinahe wäre es ihr vor Schreck aus der Hand gefallen. Sie kannte das Hintergrundbild! Dabei handelte es sich um die Porträtaufnahme ihrer Tochter an dem Tag, als sie den Führerschein bestanden hatte. Das lag vier Jahre zurück, Marie war jetzt zweiundzwanzig, aber ein schöneres Foto von ihr war in dieser Zeit nicht entstanden. Olivia liebte die Aufnahme genauso wie Rolf.

Es war sein Handy, das sie in der Hand hielt. Der Pfarrer hatte es ihm abgenommen. Ein weiterer Beweis dafür, dass es sich hierbei nicht um ein Spiel handelte.

Olivia öffnete WhatsApp.

Dutzende Gespräche waren darin aufgelistet, die meisten mit Arbeitskollegen und Kunden, einige mit Marie, nur wenige mit ihr. Olivia öffnete das letzte Gespräch, das sie mit Rolf via WhatsApp geführt hatte. Darin ging es um den defekten Warmwasserbehälter der zwanzig Jahre alten Heizung ihres Hauses und um einen passenden Termin für den Handwerker. Kein Ich liebe dich, kein Küsschen, kein Emoji, lediglich Pragmatismus. In einer älteren Unterhaltung, die Olivia öffnete, stritten sie um einen Termin bei ihrem Paartherapeuten. Rolf war von Anfang an gegen eine Therapie gewesen, hatte nur widerwillig zugestimmt, in der Folge aber alles getan, um zu den Terminen nicht erscheinen zu müssen, und es natürlich auf die Arbeit geschoben.

Es machte sie traurig, diese Gespräche zu lesen.

Sie, die immer daran geglaubt hatte, durch Kommunikation alle Probleme lösen zu können, war nicht mehr in der Lage, mit ihrem Mann zu sprechen. Das war die bittere Wahrheit.

Olivia legte das Handy auf ihrem Brustkorb ab und lauschte. Minutenlang. Die Zeit dehnte sich ins Endlose. Immer wieder hörte Olivia Geräusche, leises Scharren und das Getrappel emsiger kleiner Füße. Ratten oder Mäuse, vermutete sie.

Sie wollte WhatsApp verlassen, da entdeckte sie weiter unten ein ihr unbekanntes Kürzel, das nur ein einziges Mal auftauchte. FH. Wer war FH?

Neugierde ist eine vom Teufel gesäte Saat, die wie Unkraut wuchert und alle Zeiten überdauert. Deine Neugierde hat dich hierhergebracht.

Die Worte des Pfarrers hallten noch durch ihren Kopf, hielten sie aber nicht davon ab, das Gespräch zwischen ihrem Mann und FH zu öffnen.

 

Was machst du gerade?

 

Ich liege in der Badewanne und wünschte, du wärst bei mir.

 

Schickst du mir ein Bild?

 

Es folgte ein Foto von nackten Brüsten, die teilweise mit Schaum bedeckt waren.

Da war der Beweis, nach dem Olivia lange gesucht hatte. Ihr Rolf trieb es mit einer Frau, die mit Vornamen Frauke hieß.

 

Wann hast du wieder Zeit?

 

Übermorgen. Da hat meine Frau Elternabend, und ich kann bis neun bei dir bleiben.

 

Ich werde jede Minute genießen, mein Großer!

 

Olivia erinnerte sich an den Elternabend, von dem sie erst gegen dreiundzwanzig Uhr zurückgekehrt war. Rolf war bereits im Bett gewesen und hatte laut geschnarcht.

 

Willst du ein Bild von dem Großen?

 

Unbedingt!

 

Und Frauke bekam ein Bild.

Angewidert ließ Olivia das Handy sinken.

Zuerst spürte sie Wut, dann eine große Leere und schließlich tiefe Traurigkeit. Tränen liefen ihr aus den Augen, und in ihr baute sich ein Schrei auf, den sie nicht zurückhalten konnte. Sie schrie und zerrte gleichzeitig an ihren Fesseln, ohne sich auch nur einen Millimeter mehr Spielraum erkämpfen zu können.

Schwer atmend ließ Olivia sich zurücksinken Sie schwitzte und zitterte und brauchte ein paar Minuten, um sich zu sammeln.

Dann tippte sie 110 ins Handy ein.

Ihr Daumen schwebte über dem grünen Hörersymbol.

Wenn sie anrief, würde Rolf sterben!

Sie fällte damit sein Todesurteil.

Durfte sie das tun?

Trotz allem spürte Olivia noch immer ein letztes bisschen Liebe zwischen ihnen – auch wenn es nur ein Bruchteil dessen war, was sie am Beginn ihrer Beziehung füreinander empfunden hatten. In diesem Moment erinnerte sie sich daran, wie aufopferungsvoll Rolf sich damals um sie gekümmert hatte, als sie in den ersten Schwangerschaftswochen so sehr gelitten hatte. Unzählige Tassen Tee hatte er gekocht, sie von vorn bis hinten bedient und ihre schlechte Laune klaglos ertragen. Tief in seinem Inneren war er ein guter Mensch, daran glaubte sie noch immer. Es war etwas kaputtgegangen in den vergangenen Jahren, vielleicht war die Liebe aber auch einfach ein flüchtiges Gefühl, nicht geschaffen für die Ewigkeit und schon gar nicht unter dem harten Dauerbeschuss des Alltags.

Was tat Rolf in diesem Moment, fragte sie sich.

Hatte der Pfarrer ihm die gleiche Chance eingeräumt, den Notruf zu wählen?

Würde Rolf sie opfern, um selbst zu überleben? Um ein neues Leben mit dieser Frauke zu beginnen, die so gern Fotos von ihren nackten Brüsten verschickte?

Olivia neigte schon immer zur Eifersucht, und in diesem Moment gaukelte ihre Fantasie ihr ein hundsgemeines Bild vor. Sie sah Rolf an ihrem eigenen Grab, Hand in Hand mit Frauke H. Fiese kleine Stiche malträtierten Olivias Seele.

Ihr Daumen senkte sich auf das grüne Hörersymbol des Handys.

Triff eine Entscheidung.

Oder stirb zuerst.

»Hier ist der Notruf, was kann ich für Sie tun?«

2

Nora Jacobi betrachtete ihren neuen Dienstausweis. Er hatte das Format einer Scheckkarte und bestand aus Vollplastik, oben rechts war der Polizeistern der Stadt Bremen zu sehen, ihr Name stand neben dem schwarz-weißen Lichtbild.

An den neuen Ausweis hatte sie sich gewöhnt, an ihr Aussehen noch nicht. Dabei trug sie ihr schwarzes Haar seit über einem Monat so kurz. Aber auf diesem Foto, das sich unauffällig in jede Verbrecherkartei eingliedern ließe, ragten ihre Ohren weit aus dem Haar hervor und wirkten viel zu groß! Na ja, dafür war die Frisur praktisch, so schnell war sie morgens im Bad vorher nie fertig gewesen, außerdem verstopften die Abflüsse von Dusche und Waschbecken nicht mehr so häufig. Seit sie denken konnte, hatte sie langes Haar gehabt und immer geglaubt, es sei ein Inbegriff ihrer Weiblichkeit. Jetzt, mit kurzem Haar, fühlte sie sich weiblicher als jemals zuvor, aber auch verletzlicher. Es war, als hätte sie einen Schutzhelm abgesetzt.

Seufzend steckte sie den Ausweis zurück, erhob sich von ihrem Schreibtischstuhl und trat auf den Gang hinaus.

Stille.

Nur der Getränke- und Süßigkeitenautomat summte leise vor sich hin.

Nach ihrem Urlaub hatte sie freiwillig mit der Wochenendschicht gestartet, die am Freitagnachmittag begann und Montag in der Früh um sechs Uhr endete. Viel war bisher nicht los gewesen, kein einziger Todesfall, nur ein Mordverdacht, der sich jedoch als üble Nachrede herausgestellt hatte – das vermeintliche Opfer befand sich auf den Malediven und erfreute sich bester Gesundheit. Jetzt, am Sonntagabend, war der Höhepunkt der Langeweile erreicht. Damit hatte Nora gerechnet und es sich insgeheim auch so gewünscht. Nach sechs Wochen Urlaub bekam ihr ein ruhiger Einstieg besser. Sie brauchte ein wenig Zeit, um sich wieder einzuleben.

Alle Formalitäten waren mittlerweile erledigt, ihr Büro vom Staub befreit, der Benjamini, den während ihrer Abwesenheit niemand gegossen und der alle Blätter verloren hatte, entsorgt. Mit den wenigen Kollegen und Kolleginnen, die ebenfalls am Wochenende Dienst schoben, hatte sie den üblichen Small Talk gehalten. Die Männer lobten sie für ihre neue Frisur, die Frauen betonten eher, wie mutig sie es fanden, sich das Haar so kurz schneiden zu lassen. Dabei klang immer auch ein versteckter Vorwurf mit, so als habe sie ein ungeschriebenes Gesetz gebrochen.

Nora blieb vor dem Süßigkeitenautomaten stehen.

Sie hatte ihn am Nachmittag bereits zweimal mit Geld gefüttert und sich selbst mit Milka Tender, obwohl sie sich vorgenommen hatte, weniger zu naschen.

Sie wühlte in der vorderen Tasche ihrer Jeans und holte genug Kleingeld für einen weiteren Riegel hervor.

Sollte sie?

Immerhin hatte sie im Urlaub wieder mit dem Schwimmtraining begonnen und damit ihren Kalorienumsatz deutlich gesteigert!

Ihr Handy vibrierte und nahm ihr die Entscheidung ab.

Es war Tessa aus der Notrufzentrale. Sie war eigentlich die Ruhe in Person, klang jetzt aber aufgeregt und forderte Nora auf, sich mit einer Anruferin zu unterhalten, die eine merkwürdige Geschichte zu erzählen hatte.

»Entweder verarscht die uns«, sagte Tessa, »oder das wird der schrägste Fall, den ich je erlebt habe.«

Dann verband sie Nora mit einer Frau namens Olivia Kubat.

»Hauptkommissarin Nora Jacobi«, meldete sie sich.

»Sie müssen mir versprechen, dass Sie mich nicht retten«, legte die Frau sofort los und klang dabei zugleich nachdrücklich und flehend.

»Vor wem oder was nicht retten?«

»Vor dem Pfarrer! Sonst tötet er meinen Mann.«

Nach diesen ersten Worten war Nora davon überzeugt, es mit einer geistig verwirrten, alkoholisierten oder unter Drogen stehenden Person zu tun zu haben – vielleicht auch alles zugleich. Solche angeblichen Notrufe waren nicht selten, und selbst wenn es nervte und Zeitverschwendung war, mussten sie bearbeitet und zumindest überprüft werden.

»Können Sie mir sagen, wo Sie sich aufhalten, Olivia?«, fragte Nora.

Es half, wenn man verwirrte Personen mit dem Vornamen ansprach und so eine vertrauliche Atmosphäre herstellte. Sobald Nora den Aufenthaltsort der Frau herausgefunden hatte, würde sie eine Streife hinschicken, die sich einen ersten Eindruck verschaffte.

»Ich weiß es nicht, es sieht nach einer leer stehenden Lagerhalle aus. Aber der Pfarrer hat gesagt, dieses Handy könne von der Polizei geortet werden.«

Nora horchte auf. Diese Sätze klangen nicht mehr wie die einer verwirrten oder betrunkenen Person.

»Können Sie mir die Nummer des Handys nennen, mit dem sie telefonieren?«, fragte sie.

»Ja, es ist das Handy meines Mannes. Aber Sie müssen mir versprechen, mich nicht zu retten. Bitte, versprechen Sie es mir!«

»Olivia, ich werde alles tun, um Ihnen und Ihrem Mann zu helfen«, sagte Nora. »Aber dafür müssen Sie sich beruhigen und mir genau erzählen, was vorgefallen ist.«

»Ich bin ruhig«, versetzte Olivia.

Und dann erzählte sie eine unglaubliche Geschichte, wie Nora sie noch nie gehört hatte. Doch die Details und Olivias halbwegs gefasste Art zu sprechen ließen jeden Zweifel daran verfliegen.

Nora wusste, die ruhige Nachtschicht war vorbei!

3

Acht Stunden hatte der Pfarrer ihnen als Limit gesetzt. Olivia hatte ihr nicht sagen können, wann genau das Limit begonnen hatte, schätzte aber, dass eine Dreiviertelstunde vergangen war, bevor sie den Notruf gewählt hatte. Dadurch hatten sie viel Zeit verloren, aber Nora verstand, warum Olivia nicht sofort angerufen hatte. Die Entscheidung, die der Pfarrer ihr aufgezwungen hatte, war an Perversion nicht zu übertreffen.

Sie oder ihr Mann!

Selbst in dieser zunehmend verrückten Welt war das eine neue Kategorie des Wahnsinns.

Olivias Anruf war um einundzwanzig Uhr drei in der Notrufzentrale eingegangen, das Limit hatte damit ungefähr um zwanzig Uhr begonnen und würde am frühen Montagmorgen um vier Uhr enden. Jetzt war es zweiundzwanzig Uhr.

Nora öffnete die Timerfunktion ihres Handys, stellte für die noch verbleibende Zeit sechs Stunden ein und startete den Timer, der von nun an rückwärts zählte.

06:00:00

Sechs Stunden Zeit, um ein Problem zu lösen, das ihr immer noch wie ein schlechter Scherz erschien.

Paul Diekhoff trat vor sie hin. Er war Einsatzleiter des SEK. Ein mittelgroßer, schmächtiger, aber zäher Mann mit braunen Augen und kurzem braunem Haar. Sobald Paul lachte, strahlten kleine Fältchen in seinen Augenwinkeln, und man sah ihm den Schalk an, der ihm im Nacken saß. Nora war mit ihm und seiner Frau Anke befreundet, hin und wieder trafen sie sich privat, hatten sich aber während Noras sechswöchigem Urlaub nicht gesehen.

»Kaum wieder im Dienst, und schon ist die Kacke am Dampfen«, begrüßte Paul sie. Er hatte eine tiefe, angenehme Stimme, der sie gern lauschte. »Und das auch noch am Tag des Herrn!«, fügte er hinzu.

»So etwas schon mal gehört?«, fragte sie und ließ ihr Handy in der hinteren Hosentasche der Jeans verschwinden.

Paul zuckte mit den Schultern. Die steife Schutzkleidung ließ ihm kaum Bewegungsspielraum.

»Vor zwei Wochen hat ein zugedröhnter Junkie seine Freundin beinahe aufgegessen. Zehn Beamte waren notwendig, um den Typen von dem Mädchen runterzukriegen. Zu spät leider, ihr Hals lag schon in Fetzen.«

Nora nickte und unterdrückte ihre Fantasie, die ihr farbige Bilder zu Pauls Schilderung liefern wollte. Sie hatte von dem Fall gehört und war froh, vor zwei Wochen noch im Urlaub gewesen zu sein.

»Du warst dabei?«, fragte sie.

Wieder zuckte er mit den Schultern. Das wirkte gleichgültig, und Außenstehende, die den Mann nicht so gut kannten wie Nora, würden ihn als empathielos einstufen. Nora wusste es besser. In diesem Job erschuf sich jeder seine ganz persönlichen Schutzfunktionen. Pauls zur Schau gestellte Gleichgültigkeit gehörte dazu.

»Ohne Schutzanzug hätte er mir ins Genick gebissen«, sagte er. »Wie in dieser verdammten Zombie-Serie.«

»Okay.« Nora winkte ab. »Ich will das gar nicht wissen. Kümmern wir uns um Frau Kubat.«

Paul nickte. Zusammen gingen sie auf einen schwarzen VW-Transporter ohne Aufschrift und Einsatzleuchten zu, der schräg am Straßenrand parkte. Eine Peitschenlampe tauchte ihn in orangefarbenes Licht.

»Was sagt der Chef? Zugriff oder warten?«

»Das überlässt er mir.«

Nora hatte ihren Chef, Kriminalrat Zerhusen, informiert und um eine Einschätzung gebeten.

»Ist ja mal was Neues.«

Paul bemühte sich erst gar nicht, seine Ironie zu unterdrücken. Zerhusen war bekannt dafür, heikle Entscheidungen auf Untergebene abzuwälzen.

»Ich brauche Zerhusen nicht für eine Entscheidung«, sagte Nora.

»Bist du sicher, dass das alles kein schlechter Scherz ist?«

Nora schüttelte den Kopf.

»Da wir ihren Ehemann nicht erreichen können, nehme ich die Sache ernst. Der Täter hätte sich nicht die Mühe gemacht, sein Opfer hierherzuschleppen, wenn er keinen konkreten Plan verfolgen würde.«

Mit »hierher« meinte Nora Jacobi das schäbigste Industriegebiet der Stadt. Es lag an der westlichen Peripherie und gerade noch im Bremer Stadtgebiet. Hundert Meter weiter, und die Kollegen aus Niedersachsen säßen mit im Boot. Sie hatten nicht einmal eine Stunde gebraucht, um Olivia Kubat zu finden. Der Täter schien es darauf angelegt zu haben, dass sie gefunden wurde – auch dies ein Indiz dafür, wie ernst er sein abstruses Ultimatum nahm.

Die Hallen und Gebäude waren durchweg alt und sanierungsbedürftig, viele standen leer. So wie die, vor dem das Aufgebot der Polizei Stellung bezogen hatte. Die Halle war circa fünfzig Meter lang und in der Spitze des Giebels zehn Meter hoch. Fenster gab es keine, außer vorn in dem backsteinernen Anbau, in dem früher die Büros untergebracht waren. Der zwei Meter hohe Metallzaun war intakt und konnte nicht so ohne Weiteres überklettert werden, schon gar nicht, wenn man jemanden tragen musste.

»Wie sieht es hinten aus?«, fragte Nora. »Irgendwie muss er aufs Gelände gekommen sein.«

»Die Kollegen sind dort mit Hunden unterwegs. Ein bepflanzter Wall trennt das Grundstück von der Autobahn, aber ein Trampelpfad führt zu einem Parkplatz.«

»Ideale Fluchtmöglichkeit.«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass er von dort gekommen ist. Aber wie will er die Frau töten, wenn er nicht hier ist?«

»Ist das überprüft?«

»In der gesamten Halle haben wir mittels Wärmebildkamera und Richtfunk nur eine Person geortet: die Frau. Da ist sonst niemand. Nicht einmal Ratten.«

»Umso besser. Dann können wir uns darauf konzentrieren, den Ehemann zu finden. Möglicherweise ist das sowieso sein primäres Opfer, und er hat nur großen Spaß an effektvollen Inszenierungen.«

Sie erreichten den Transporter. Die Beifahrertür stand offen, auf dem Sitz saß recht entspannt Frau Dr. Grimm. Nora hatte die Polizeipsychologin gebeten, sich um Olivia zu kümmern, solange sie mit der Einsatzleitung beschäftigt war. Selbst in dem schlechten Licht der Armaturen verloren Alke Grimms klare blaue Augen nichts von ihrem Reiz. Unter diesem Blick fühlte Nora sich jedes Mal bloßgelegt bis auf die Knochen. Der Flurfunk meldete, Alke Grimm sei lesbisch, und nicht lange nachdem die Psychologin vor anderthalb Jahren im Präsidium angefangen hatte, hatte Nora das Gefühl gehabt, von ihr angebaggert zu werden. Nora hatte die Avancen nicht erwidert, und Alke Grimms Interesse war schnell erloschen.

Die Psychologin nickte ihr zu, ihr Gesicht blieb ausdruckslos. Offenbar sprach am anderen Ende der Leitung gerade Frau Kubat.

»Olivia«, unterbrach die Psychologin sie mit ihrer angenehm sanften Stimme, »Kommissarin Nora Jacobi ist jetzt wieder hier. Ich reiche dich weiter, okay.«

Nora nahm das Handy und legte die Hand übers Mikro, damit Frau Kubat sie nicht hören konnte.

»Wie geht es ihr?«

»Sie ist im Moment ruhig und klar. Beschwichtigungen sind nicht notwendig. Sie weiß ihre Situation gut einzuschätzen.«

»Okay, danke.«

Nora wandte sich ab, trat auf den Metallzaun zu, von wo aus sie die Lagerhalle sehen konnte, presste sich das Handy ans Ohr und sagte: »Olivia, hier spricht Nora. Wie geht es dir.«

Sie duzte die ihr vollkommen fremde Frau zum ersten Mal, weil auch Alke Grimm das getan hatte.

»Tja, mittlerweile hab ich mir in die Hosen gemacht, das mal vorweg.«

»Welche Größe trägst du?«

»Wie bitte?«

»Deine Konfektionsgröße?«

»Äh … vierzig, warum?«

»Ich besorge dir eine frische Hose.«

»Das ist … sehr aufmerksam.«

»Kein Problem. Olivia, bevor wir weiterreden, wie sieht es mit dem Akku des Handys aus?«

»Der war vollgeladen, als der Pfarrer es mir gab, jetzt bin ich bei zweiundachtzig Prozent.«

»Okay. Wir wissen nicht, wie lange es dauern wird, deinen Mann zu finden, daher …«

»Ich soll aufhören zu telefonieren, oder?«

Nora hörte den Anflug von Panik in Olivias Stimme.

»Es geht nicht anders.«

»Ja … ja, ich weiß.«

»Olivia, wir sind uns absolut sicher, dass außer dir niemand in der Halle ist, und wir lassen auch niemanden hinein. Der Pfarrer ist weg, er kann dir nichts antun.«

»Ich habe trotzdem Angst.«

»Das kann ich gut verstehen. Aber stell dir folgendes Bild vor: Die gesamte Lagerhalle ist von bewaffneten Polizeikräften umstellt, und alle sind hier, um dich zu beschützen. Wir sind nur durch eine Tür von dir getrennt, die wir binnen Sekunden öffnen können. Wir tun das nur noch nicht, weil wir nicht wissen, wo sich dein Mann befindet. Wir wollen auch ihn in Sicherheit bringen.«

»Ihr habt Rolf noch nicht gefunden?«

»Nein, aber das werden wir.«

Nora konnte der Frau schlecht sagen, dass sie nicht einmal ahnten, wo sie nach Rolf Kubat suchen sollten. Kollegen hatten Kubats Chef aus dem Schlaf geklingelt und mit ihm gesprochen. Rolf Kubat hatte in dieser Woche keine geschäftlichen Termine, sondern baute Überstunden ab. Da seine Frau davon nichts wusste, hatte er sie belogen, und den Grund dafür konnte Nora sich leicht vorstellen. Darüber würde sie später mit den beiden reden müssen, aber nicht jetzt.

»Olivia, kannst du mir sagen, wann und wo der Täter dich entführt hat?«, fragte sie und lenkte auf ein Thema um, das im Moment wichtiger war.

»Samstagvormittag war ich Joggen wie immer. Ich erinnere mich noch, wie ich an meinem Wagen auf dem Parkplatz des Uni-Sees Dehnübungen gemacht habe. Ich habe dabei Nachrichten gehört, und dann … Ich weiß nicht, was passiert ist.«

Nora fand es erstaunlich, mit welch ruhiger Stimme Olivia sprach, immerhin befand sie sich in Lebensgefahr. Sie musste eine wirklich starke Frau sein.

»Okay. Siehst du in unmittelbarer Nähe etwas, das dir gefährlich werden könnte.«

»Nein, hier ist nichts. Ich sehe nur einen Baustrahler auf einem Stativ.«

»Ist Brandbeschleuniger auf dem Boden?«

»Brandbeschleuniger?«

»Benzin, Terpentin, Alkohol, so was in der Art.«

»Das würde ich riechen … Nein, hier ist nichts.«

»Was siehst du über dir?«

»Nur die Betondecke der Halle.«

»Hängt daran irgendetwas, was herunterfallen kann?«

»Nein.«

»Okay, das ist gut. Sind irgendwo Kameras, durch die er dich beobachtet?«

»Kameras … Nein, ich kann keine entdecken. Aber ich kann auch nur den kleinen beleuchteten Bereich einsehen.«

Nora machte sich Gedanken darüber, warum der Pfarrer diesen Baustrahler aufgebaut und eingeschaltet gelassen hatte, nachdem er gegangen war. Ein Grund dafür könnten Kameras sein, schließlich musste er kontrollieren, ob Olivia sich befreien ließ. Obwohl die Halle leer stand, war die Stromversorgung nicht abgestellt, das hatten Noras Leute überprüft. Nora fragte sich, ob der Pfarrer die Halle deshalb ausgewählt hatte.

»Olivia, ich brauche jetzt ein paar Namen. Personen, die wir nach deinem Mann befragen können.«

»Ich verstehe nicht …«

»Wer könnte wissen, wo er sich aufhält?«

»Seine Firma, er hat dort eine Sekretärin, die seine Termine macht. Elke Schlichting. Ihre Büronummer ist in seinem Handy eingespeichert, das ich hier habe.«

»Wir haben schon Kontakt zu der Firma deines Mannes aufgenommen. Leider hilft uns das im Moment nicht weiter.«

»War er nicht bei seinen Terminen?«

»Er hat sich zwei Tage Urlaub genommen.«

Olivia schwieg einen Moment, bevor sie antwortete.

»Ich … Davon hatte ich keine Ahnung. Er wollte am Samstagnachmittag zurück sein.«

»Olivia, mach dir bitte darüber keine Gedanken. Habt ihr kirchlich geheiratet?«

»Natürlich.«

»Kannst du dich an den Namen des Pfarrers erinnern, der euch getraut hat?«

»Du denkst …?«

»Es liegt nahe, und wir müssen alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.«

»Den Namen … Nein, aber es war in der St.-Cosmae-Kirche in Dörverden, dort lebten wir damals, als mein Mann noch bei der Bundeswehr war.«

»Könnte der Mann, der bei dir war, der Pfarrer sein, der euch damals getraut hat?«

»Ich weiß nicht, das ist siebzehn Jahre her. Ich habe den Mann nur dieses eine Mal in der Kirche getroffen und danach nie wieder. Wir sind dann bald weggezogen …«

»Okay. Olivia, wir müssen das Gespräch jetzt beenden, um den Akku zu schonen. Es ist wichtig, dass zum Ablauf des Ultimatums noch ausreichend Ladung da ist. Ruf mich aber bitte sofort an, wenn sich in der Halle etwas tut oder dir zum Aufenthaltsort deines Mannes etwas einfällt. Die Nummer hast du!«

»Nora …?«

»Ja?«

»Bitte … hol mich hier raus. Und Rolf auch!«

»Das werde ich.«

Nora gab Alke Grimm ihr Handy zurück, zog ihr eigenes hervor und warf einen Blick auf den Timer.

05:28:04

In diesem Moment dachte sie zum ersten Mal in ihrem Leben darüber nach, wie unerbittlich der Ablauf der Zeit war. Solche Gedanken störten die Konzentration und brachten sie in diesem Fall nicht weiter, deshalb wollte sie sie beiseiteschieben, konnte sich aber nicht davon freimachen, wie bedrückend es war, die Zeit gegen sich zu haben. Sie war ein Feind, gegen den niemand gewinnen konnte.

Doch hinter diesem perfiden Spiel steckte ein Mensch, und gegen den konnte und würde sie gewinnen.

Nora winkte Paul heran.

»Wenn der Pfarrer nicht in der Halle ist und nicht mehr hineinkommen kann, wie will er die Frau dann töten?«

»Wie du schon sagtest, ist möglicherweise der Mann sein primäres Ziel«, antwortete er.

»Ja, aber was, wenn nicht?«

Diekhoff zuckte mit den Schultern.

»Sprengstoff mit Fernzünder«, sagte er.

»Gibt es irgendwelche Hinweise darauf?«

Er schüttelte den Kopf.

»Um ganz sicherzugehen, müssen wir zu der Frau hinein.«

Nora schüttelte den Kopf.

»Das Risiko ist mir noch zu hoch. Erst will ich alles daransetzen, Olivias Mann zu finden. Ich schicke ein Team zum Parkplatz des Uni-Sees, die sollen nachsehen, ob ihr Wagen dort noch steht, wenn nicht, fahnden wir danach. Und dann will ich mit dem Pfarrer sprechen, der die beiden getraut hat.«

4

03:32:02

Mehrere Bodenstrahler beleuchteten die Backsteinkirche in der Ortsmitte der kleinen Gemeinde Dörverden südlich von Bremen. Hinter den hohen Buntglasfenstern war es aber dunkel.

Von der leer stehenden Lagerhalle, in der Olivia Kubat gefangen gehalten wurde, bis hierher hatte die Fahrt über die Autobahn nicht einmal fünfundvierzig Minuten gedauert. Zuvor hatten Mitarbeiter versucht, den Pastor der Kirchengemeinde, Herrn Görling, ans Telefon zu bekommen. Erfolglos. Es nahm niemand ab. Nora hätte ein Team herschicken und selbst bei der Halle bleiben können, doch dort konnte sie nichts ausrichten, wäre zur Untätigkeit verdammt, und die Anspannung hätte sie in den Wahnsinn getrieben. Trotz zehn Jahren Diensterfahrung hatte sie noch nicht herausgefunden, wie man in solchen Momenten cool blieb. Peter Richter, ein Kollege, mit dem sie kurze Zeit zusammen gewesen war, hatte ihr mal geraten, die Situationen realistisch zu betrachten. Ganz egal, wie ein Fall ausging, ob man einen Mörder fasste oder nicht, ein Menschenleben rettete oder nicht, am Abend kroch der Polizist in sein kuscheliges Bettchen, las vielleicht noch ein paar Seiten in einem Krimi und schlief dann ein, weil das alles sein eigenes Leben nicht betraf.

Aber das war keine realistische Betrachtung, sondern eine zynische, wie Nora fand, und weil Peter sich als durch und durch zynisch herausgestellt hatte, war ihre Beziehung nur von kurzer Dauer gewesen.

»Also, ich finde Kirchen unheimlich«, sagte neben ihr Paul Diekhoff.

Ihn hatte sie als Einzigen mitgenommen. Ein großer Aufmarsch am Pfarrhaus erschien ihr überzogen, und falls sie hier an der richtigen Adresse sein sollten, würde Paul mit jeder Situation fertigwerden.

»Es wundert mich, dass du überhaupt etwas unheimlich findest.«

»Ich weiß, wie man gegen Menschen vorgeht, aber gegen Gott und den Teufel bin ich machtlos.«

»Du hast also Angst vor den beiden.«

»Erzähl’s nicht weiter.«

»Poste ich noch heute auf Facebook.«

»Herzlichen Dank. Wie ist der Plan?«

»Wir klingeln, und wird uns nicht aufgetan, so finden wir in Gottes Haus dennoch stets eine offene Tür.«

»Dafür kommen wir in die Hölle.«

»Werden wir sehen!«

Nora ging voran, Paul folgte ihr. Sie hatte keinen wirklichen Plan und glaubte auch nicht daran, Rolf Kubat hier zu finden. Denn sollte Pfarrer Görling der Täter sein, wäre es dumm von ihm, sein Opfer an diesem Ort gefangen zu halten. Klar gab es dumme Täter, sie waren sogar in der Überzahl, aber bei dem Aufwand an Planung und Logistik, den der Pfarrer bisher betrieben hatte, ging Nora von einem überdurchschnittlich intelligenten Mann aus. Das machte die Sache nicht leichter. Aber selbst wenn sie hier keinen Hinweis auf den Verbleib von Rolf Kubat fanden, wäre es fahrlässig, dieser Spur nicht zu folgen. So war das eben am Anfang einer Ermittlung; man lief in verschiedene Richtungen los, und manche erwiesen sich als Sackgasse.

Nora probierte es an der Haupteingangstür und der Nebentür der Kirche, fand jedoch beide verschlossen vor. Also liefen sie zu dem Pfarramt hinüber, das gleichzeitig auch die gemeldete Wohnadresse von Pfarrer Görling war. Hinter allen Fenstern war es dunkel, die Vorhänge zur Straße hin waren geschlossen, das große Backsteinhaus mit dem tief heruntergezogenen Dach machte einen abweisenden Eindruck. Im Vorgarten verrottete ein Sandkasten, ein Schaukelgestell versank im tiefen Gras. Über der Tür schaltete ein Bewegungsmelder eine Lampe ein. Es gab zwei Klingeln. Auf der einen stand Pfarramt, auf der anderen R.T. Görling, Richard Theodor, wie Nora aus dem Melderegister wusste.

Sie drückte nacheinander auf beide Klingelknöpfe.

Paul positionierte sich halb rechts hinter ihr, seine Hand lag auf der Schusswaffe am Gürtel. Sein Blick war ruhig und aufmerksam wie bei jemandem, der im Café saß und die Leute beobachtete. Wo ließ der Mann bloß seinen Stress?

Zu Noras Überraschung öffnete ihnen jemand die Tür. Die Person war weiblich, über sechzig, korpulent und trug einen rosafarbenen Bademantel. Ihr kurzes Kraushaar stand wild von ihrem runden Kopf ab. Aus verschlafenen Augen sah sie sie fragend an.

Nora stellte sich und Paul vor, zeigte ihren Dienstausweis und fragte, mit wem sie es zu tun habe.

»Ich bin die Küsterin, Marlies Fechtmann. Ich wohne zusammen mit Pfarrer Görling hier und führe seinen Haushalt. Was ist denn passiert?«

»Ist der Pfarrer zu sprechen?«

»Nein, tut mir leid. Er ist auf einem seiner regelmäßigen Angelausflüge.«

»Er angelt? Um diese Zeit?«

»Spätabends beißen die Fische am besten, sagt er. Er campiert draußen am Flussufer und kommt erst morgen in aller Herrgottsfrühe wieder rein.«

»Aha. Wissen Sie, wo er angelt?«

»Nein, das hat er mir nie verraten. Er will dort ungestört sein, wissen Sie. Als Gemeindepfarrer hat man sonst nie seine Ruhe, und das hält kein Mensch lang aus. Nicht bei all dem Leid, das man hier erfährt. Worum geht es denn? Kann ich Ihnen helfen?«

Nora dachte kurz daran, es auch einmal mit dem Angeln zu probieren.

»Wir führen eine Routineuntersuchung durch und müssen dazu Herrn Görling befragen.«

»Eine Routineuntersuchung um Mitternacht?«

»Manche Dinge dulden keinen Aufschub.«

»Die Wahrheit aber auch nicht.« Die Küsterin sah Nora auffordernd an. Diese Frau war es gewohnt, ihren Kopf durchzusetzen.

»Die ist aber in diesem Fall nicht für jeden bestimmt«, wich Nora aus. »Machen Sie sich bitte keine Sorgen.«

»Na, Sie haben Nerven. Die Polizei klingelt mich mitten in der Nacht aus dem Bett, und ich soll mir keine Sorgen machen?«

Nora quittierte den Vorwurf mit einem Lächeln.

»Wir haben vorher versucht anzurufen, sogar mehrfach.«

»Tatsächlich?« Die sorgsam gezupften Augenbrauen der Küsterin rutschten in die Höhe. »Ich habe nichts gehört, aber ich schlafe auch sehr fest.«

Aber die Haustürklingel hast du gehört, ja?, dachte Nora, behielt das aber für sich.

»Wir lange ist Herr Görling bereits fort?«

»Ich kann es nicht genau sagen, ich hab nicht auf die Uhr geschaut, außerdem war gestern Rommé-Nachmittag bei Gertrud, da wird es immer sehr spät, deshalb kann ich nicht sagen, wann der Herr Pastor aufgebrochen ist. Irgendwann am Nachmittag. Vormittags hat er ja noch die Messe gehalten.«

»Können Sie ihn erreichen?«

»Er hat schon ein Handy dabei, schaltet es aber nur ein, wenn er jemanden erreichen will. Sonst hat er ja keine Ruhe.«

Nora fragte sich, ob so ein Verhalten für einen Pfarrer normal war. Andererseits, warum sollten Geistliche kein Recht auf Urlaub und Privatsphäre haben?

»Frau Fechtmann, ich habe eine Bitte. Mein Handyakku ist leer. Dürfte ich wohl einmal das Haustelefon benutzen?«

»Aber selbstverständlich.«

Nora gab Paul mit einer Kopfbewegung zu verstehen, ihr zu folgen. Die Küsterin führte sie durch einen halbdunklen Korridor, an dessen Wänden zahlreiche Landschaftsfotografien hingen, bis in ein Büro auf der rechten Seite. Durch ein großes Fenster fiel der Blick auf die beleuchtete Westseite der Kirchenfassade.

Nora hatte die Küsterin angelogen, der Akku ihres Telefons war nicht leer, eine kleine Notlüge, um ins Haus zu kommen. Ohne einen Blick hineingeworfen zu haben, wollte sie nicht gehen. Da keine Gefahr im Verzug war und sie keinen Durchsuchungsbeschluss hatten, blieb ihr nichts anderes übrig. Sie wusste, während sie telefonierte, würde Paul sich so diskret wie möglich umschauen.

Die Küsterin wies auf ein modernes Telefon auf einem wuchtigen Schreibtisch aus Nussbaumholz.

»Hier bitte.«

»Vielen Dank. Ich fasse mich kurz.«

»Ach was, darauf kommt es nun wirklich nicht an. Aber Sie dürfen nichts durcheinanderbringen, hier arbeitet der Herr Pastor, und er hat seine ganz eigene … na ja, sagen wir mal, Ordnung.«

Wie Nora gehofft hatte, drehte sich die Küsterin aus Gründen der Diskretion zwar weg, blieb aber im Raum. Selbst eine Polizistin würde sie niemals im Allerheiligsten ihres Pfarrers allein lassen.

Nora klemmte sich den Hörer zwischen Ohr und Schulter und tat so, als spräche sie mit jemandem. In den langen Pausen sagte sie immer wieder: »Ja, okay … Ich verstehe«, und zum Abschluss: »Rufen Sie mich bitte umgehend unter dieser Nummer zurück.«

Dann legte sie auf, gab der Küsterin zu verstehen, dass sie auf den Rückruf wartete, und rief versteckt über ihr Handy den Anschluss an. Das Telefon klingelte sehr laut. Kaum zu glauben, dass die Küsterin es nicht gehört haben wollte.

Nora nahm ab, bestätigte eine Information, die sie nicht bekam, und legte auf.

»Wo haben Sie Ihren Schlafraum?«, fragte sie.

Die Küsterin deutete auf die Zimmerdecke.

»Im Obergeschoss.«

Nora ließ das unkommentiert.

»Danke für Ihre Hilfe.«

»Ist doch selbstverständlich.« Frau Fechtmann sah sie aus großen Augen ängstlich an. »Seien Sie bitte ehrlich. Muss ich mir wirklich keine Sorgen machen? Oder ist dem Herrn Pfarrer doch etwas zugestoßen?«

»Ich habe nur ein paar Fragen an ihn. Reine Routine. Sie müssen sich keine Sorgen machen. Wenn es notwendig wird, komme ich morgen noch einmal wieder. Sie können Herrn Görling gern darauf vorbereiten.«

Sie verabschiedeten sich, verließen das Haus und liefen durch den Pfarrgarten auf die Kirche zu. Gerade als sie diese erreichten, ging die Außenbeleuchtung aus, und es wurde schlagartig dunkel.

Nora erschrak.

»Sag ich doch, Kirchen bei Nacht sind unheimlich«, meinte Paul. »Jeden Moment wühlt sich hier irgendwas aus dem Boden und greift uns an.«

»Zu viele Horrorfilme gesehen, was?«

»Unzählige.«

»Im Haus irgendetwas entdeckt?«

»Nichts«, sagte Paul. »Und bei dir?«

»Na ja, hinter dem Schreibtisch an der Wand hängen Aufnahmen von Pfarrer Görling. Er scheint ein ausgesprochener Naturfan zu sein. Kanu fahren, Berge besteigen, reiten, angeln. Alles dabei.«

»Tja, er sucht seinen Gott in der Natur. Macht ihn das verdächtig?«

»Nein, aber es zeigt mir, dass er fit genug ist, um eine solche Aktion durchzuziehen. Ist ja auch nicht selbstverständlich in diesem Gewerbe.«

Sie kamen gerade am Wagen an, da klingelte Noras Handy.

Olivia Kubat rief an.

»Olivia? Alles in Ordnung?«

Die Stimme der Frau klang tränenerstickt.

»Ich … ich hätte dir das gleich sagen sollen, aber es … es ist mir so peinlich.«

»Sag es mir jetzt, Olivia, das ist schon in Ordnung. Niemand wird dir Vorwürfe machen.«

»Mein Mann, Rolf … Ich hege schon lange den Verdacht, dass er mich betrügt. Ich konnte ihm nie etwas beweisen, habe ihm aber ganz schön zugesetzt und sogar mit dem Gedanken gespielt, sein Handy zu orten, um herauszufinden, wo er sich aufhält. Das ist ohne seine Einwilligung aber illegal, deswegen habe ich es gelassen. Eines Tages, nachdem ich ihn mal wieder genervt hatte, schlug er von sich aus vor, ein Programm von Google, Latitude heißt das, auf unsere Handys zu laden. Das zeigt mir immer an, wo er sich aufhält. Er wollte mir damit wohl beweisen, dass ich ihm vertrauen kann. Da bin ich erst recht misstrauisch geworden und habe herausgefunden, dass er noch ein anderes Handy besitzt. Das habe ich dann ohne sein Wissen zur Ortung freischalten lassen, indem ich an seiner Stelle die Zustimmung gegeben habe. Ich weiß, das hätte ich nicht tun dürfen, aber … ich war so wütend und … und … es könnte ja sein, dass Rolf dieses Handy bei sich hat.«

Nora schluckte den Kloß hinunter, der plötzlich in ihrem Hals steckte – er schmeckte bitter, und ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Hätte sie sich im Spiegel betrachten können, sie hätte wohl gesehen, dass ihr jede Farbe aus dem Gesicht gewichen war. Olivia hatte ihren Mann über dessen Handy ausgekundschaftet! War das ein Zufall? Es musste einfach so sein! Eine besonders sarkastische Wendung des Schicksals, um Nora ihr eigenes Fehlverhalten noch einmal vor Augen zu führen.

»Wie ist die Nummer?«, brachte sie mühsam hervor.

»Ich … ich weiß es nicht, ich hab den Anschluss ja nie angerufen. Aber sie ist in meinem Handy gespeichert.«

»Olivia, wo ist dein Handy?«, fragte Nora, und erst jetzt fiel ihr ein, dass sie das längst hätte fragen sollen.

»Wenn ich laufe, verstecke ich es immer im Handschuhfach meines Wagens … unter dem alten Straßenatlas.«

5

Olivia Kubat ließ die Hand, mit der sie das Smartphone hielt, auf ihren Bauch sinken.

Plötzlich fühlte sie sich körperlich und mental vollkommen ausgelaugt. Die Angst vor dem Pfarrer war in den Hintergrund getreten, während sie hin und her überlegt hatte, ob sie der Polizistin, die so nett und gleichzeitig kompetent klang und die sogar an eine frische Hose gedacht hatte, von ihren Nachstellungen erzählen sollte. Schlussendlich hatte Olivia sich dazu durchgerungen, weil sie hoffte, Rolf damit helfen zu können. Er konnte ein Idiot und Ignorant sein, und er betrog sie, aber das rechtfertigte nicht, ein Todesurteil über ihn zu fällen – genau das hatte sie mit dem Anruf bei der Polizei aber getan. Olivia wusste, sie hatte keine andere Wahl gehabt, doch je länger die Rettung auf sich warten ließ, desto schwerer lastete diese Entscheidung auf ihrer Seele. Sie setzte all ihre Hoffnung auf Nora Jacobi. Die Kommissarin würde sie und Rolf befreien, ganz bestimmt! Danach könnte sie ihrem Mann so richtig den Kopf waschen, und vielleicht führte dieser Schock dazu, dass sie wieder zueinanderfanden. Wer konnte das schon wissen?

Olivia wünschte es sich, trotz allem.

Sie riss das Handy hoch, drückte den Start-Button und warf einen Blick auf die Ladeanzeige des Akkus. Obwohl sie wusste, sie sollte das besser unterlassen, tat sie es alle paar Minuten. Sie konnte nicht anders. Noch war genug Ladung vorhanden, aber die Kommissarin musste sich beeilen.

Zum ersten Mal schämte Olivia sich dafür, was sie getan hatte. Die ganze Zeit über, als sie Rolf nachstellte, hatte sie ihr Verhalten damit gerechtfertigt, dass die alleinige Schuld bei ihm lag. Schließlich betrog er sie und nicht umgekehrt. Gerade eben jedoch, während des Telefonats, hatte es sich ganz anders angefühlt. Nämlich so, als sei sie die Böse in diesem Spiel. Die gemeine, hinterhältige Ehefrau, die ihren Mann zu dem trieb, was er tat.

Tränen liefen Olivia über die Wangen.