Nummer 25 - Frank Kodiak - E-Book
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Nummer 25 E-Book

Frank Kodiak

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Beschreibung

Psychopath gegen Psychopath: ein nervenzerrender Thriller, ein unerbittliches Duell auf Leben und Tod. Der Schriftsteller Andreas Zordan ist Dauergast auf den Bestsellerlisten. Die riesige Fangemeinde kann nicht genug kriegen von seinen Thrillern. Nichts bereitet Zordan mehr Freude als das detailgenaue Beschreiben ausgefallener Tötungsmethoden. Das gelingt dem Einzelgänger nur, weil er sich selbst für einen Psychopathen hält. Er ist kontaktscheu, meidet andere Menschen und lebt einsam in einem ehemaligen Forsthaus im Wald. Er weiß: Würde er nicht in seinen Büchern töten, müsste er auf die Realität ausweichen. Als er eines Morgens im Garten die übel zugerichtete Leiche eines Mädchens im Teenageralter findet, meldet er es nicht der Polizei, sondern lässt sich auf ein Psychoduell mit einem Mörder ein, der ihn offenbar herausfordert. Und muss erkennen, dass er selbst weit entfernt ist von dessen kaltblütiger Grausamkeit.

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Frank Kodiak

Nummer 25

Thriller

Knaur e-books

Über dieses Buch

Der Schriftsteller Andreas Zordan ist Dauergast auf den Bestsellerlisten. Die riesige Fangemeinde kann nicht genug kriegen von seinen Thrillern. Nichts bereitet Zordan mehr Freude als das detailgenaue Beschreiben ausgefallener Tötungsmethoden. Das gelingt dem Einzelgänger nur, weil er sich selbst für einen Psychopathen hält. Er ist kontaktscheu, meidet andere Menschen und lebt einsam in einem ehemaligen Forsthaus im Wald. Er weiß: Würde er nicht in seinen Büchern töten, müsste er auf die Realität ausweichen.

Als er eines Morgens im Garten die übel zugerichtete Leiche eines Mädchens im Teenageralter findet, meldet er es nicht der Polizei, sondern lässt sich auf ein Psychoduell mit einem Mörder ein, der ihn offenbar herausfordert. Und muss erkennen, dass er selbst weit entfernt ist von dessen kaltblütiger Grausamkeit.

Inhaltsübersicht

Motto1234567891011121314151617181920212223242526272829303132333435363738394041424344454647484950515253545556575859606162636465666768697071727374Leseprobe »Amissa. Die Verlorenen«
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Jeder kann wütend werden, das ist einfach.

Aber wütend auf den Richtigen zu sein, im richtigen Maß, zur richtigen Zeit, zum richtigen Zweck und auf die richtige Art, das ist schwer.

Aristoteles, Nikomachische Ethik

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Dass er sterben würde, hatte Hans längst begriffen. Und zwar nicht irgendwann, sondern gleich. In ein paar Minuten, vielleicht Stunden, jedenfalls innerhalb kurzer Zeit. Keine Krankheit, kein Unfall, auch keine Altersschwäche wäre schuld daran, sondern er selbst.

Aber, halt! Das stimmte nicht. Das Internet war schuld, das verdammte Internet mit seinen tausendfachen Versuchungen. Wie sollte ein Mann standhalten, wenn die jungen Frauen schon im ersten Chat prahlten, sie hätten den besten Blowjob der Welt drauf. Ach, verdammt … niemals hätte er sich dieses kleine Kabuff unterm Dach einrichten dürfen. Diesen kleinen stickigen, abgeschiedenen Raum, in dem ihn weder seine Frau noch seine zwei Söhne störten. Sein Reich, in das er sich nach dem Abendessen zurückzog mit der Behauptung, Grand Theft zu spielen. Sandra hatte das nie hinterfragt, und wenn sie tatsächlich einmal zu ihm hochgekommen war, hatte er vom Knarzen der ersten Treppenstufe an noch zwanzig Sekunden Zeit gehabt, das Spiel wirklich aufzurufen. Sandra bemerkte doch gar nicht, dass er immer im selben Level steckte.

Diese Chats … diese versauten Gespräche … Von Beginn an war klar gewesen, dass er sie treffen würde. Natürlich stand sie auf Fotografen, das taten sie alle. Zwei Monate war sie unnahbar geblieben, die platinblonde Iris mit den unglaublich weißen Zähnen. Zwei Monate lang hatte sie ihm Fotos von sich geschickt. Fotos, die keinen Spielraum für Interpretationen ließen. Fotos, die den männlichen Verstand in die Steinzeit zurückschossen.

Iris, die Gärtnerin, die so perfekt mit der Rosenschere umgehen konnte.

An seiner linken Hand hatte sie ihm demonstriert, wie perfekt. Ohne große Eile und mit konzentriertem Gesichtsausdruck hatte sie nacheinander, beginnend mit dem kleinen, alle Finger abgekniffen − außer dem Daumen. Wie lange das zurücklag, wusste er nicht. Die irren Schmerzen hatten ihn ins Nirwana geschickt, und dort wäre er gern geblieben, doch Iris kannte sich damit aus, wie man Schmerzen linderte und Leute bei Bewusstsein hielt. Vielleicht war sie wirklich Krankenschwester, wie sie es im Chat behauptet hatte. Der Infusionsständer neben der metallenen Liege, daran der transparente Plastikschlauch, aus dem eine milchige Flüssigkeit in seinen linken Arm tropfte, sprachen jedenfalls dafür.

Bekam er Morphium?

Fühlte er sich deshalb so abgehoben und merkwürdig gleichgültig? Konnte er deshalb seine verstümmelte Hand anschauen, ohne wahnsinnig zu werden?

Er hatte Fotos von ihr machen wollen, hatte ihr versprochen, sie groß herauszubringen. Es war so verdammt einfach heutzutage, sich die nötigen Details und den Sprachduktus eines professionellen Fotografen anzueignen – wieder war das Internet schuld. Jeder konnte das sein, was er sein wollte. In der Realität war er nur ein Privatkundenberater bei der Bank, nichts weiter. Sie war voll darauf hereingefallen und hatte schon von der großen Karriere geträumt − zumindest hatte sie ihn das denken lassen.

Beinahe hätte er gelacht. Das Geräusch des Schlüssels im Türschloss hielt ihn davon ab.

Sie kam zurück. Seine Iris. Die Gärtnerin.

Natürlich sah sie in keiner Weise so aus wie auf den Fotos im Chat. Keine Modelfigur, keine Löwenmähne, keine Zahnpastawerbezähne. Stattdessen war sie klein, hatte äußerst stämmige Beine, kräftige Arme, und in ihrem Nacken wölbte sich eine pralle Speckrolle, aus der eine Warze emporstieß. Dieses Bündel langer grauer Haare, das aus der Warze wucherte, war eklig und abstoßend, hatte aber dennoch seinen Blick angezogen, als sie sich über seine Hand gebeugt hatte – freilich nur, bis die Klingen der Rosenschere sich zum ersten Mal geschlossen hatten. Langsam und quälend, mehr quetschend als schneidend, über den Knochen rutschend …

»Geht es dir gut, mein Fotograf?«, fragte Iris in ihrem gebrochenen Deutsch, blieb vor ihm stehen und funkelte ihn aus diesen einzigartigen Augen an. Okay, ihre Augen waren schön. Zum Niederknien schön, das wollte er gern zugeben. Und sie bekamen einen besonders intensiven, beinahe schon melancholischen Ausdruck, sobald sie ihn quälte.

»Möchte nach Hause«, versuchte er sein Glück und nahm seine Zunge als kraftloses Etwas wahr, längst vorausgeeilt in den Tod.

»Aber, aber, wer wird denn weinen.«

Mit ihrem prallen Handrücken wischte Iris ihm die Tränen von den Wangen.

»Es ist doch bald vorbei.«

Sie kontrollierte den Infusionsbeutel, schnippte mit dem Finger dagegen, nickte zufrieden und wandte sich der schwarzen Tasche aus Lederimitat auf dem runden Glastisch in der Ecke zu. Es war eine dieser großen Vertretertaschen, die sich weit öffnen ließen. Am Griff baumelte an einem weißen Bändchen der Registrierungscode einer Fluggesellschaft. Gezielt zog sie etwas aus der Tasche hervor. Einen Gegenstand, den er nie zuvor gesehen hatte. Vielleicht ein Werkzeug?

Sie sah ihm wohl an, dass er es nicht kannte.

»Klempner benutzen so etwas, um Kupferrohre zu schneiden«, erklärte sie und demonstrierte die Funktion an ihrem Finger. »Siehst du, man stellt das Schneiderad auf die Stärke des zu schneidenden Rohres ein, und dann lässt man es darum kreisen, bis es durch ist. Am besten geht das bei hartem Material. Aber ich habe das Schneiderad ein bisschen nachgeschärft, und jetzt wollen wir mal sehen, ob wir trotz allem dein Material hart bekommen.«

Ihr Lächeln in diesem Moment war Gold wert. Gleichzeitig lieb, aufreizend und sardonisch. In Gottes Schöpfung konnte so ein Lächeln nicht vorgesehen gewesen sein. Iris musste es sich anderweitig antrainiert haben.

»Bitte … tu das nicht«, stammelte er und heulte schon wieder.

»Führ dich nicht so auf«, sagte sie und griff zu. Ihre Hand war warm, ihre dicken Finger weich, und sie wusste, wie man einem Mann zu voller Größe verhalf. Irgendwie war es ihm peinlich, selbst in dieser abstrusen Situation zu einer Erektion fähig zu sein, und er verfluchte seinen Körper, der tat, was er nicht wollte.

»Na also, Chef, wer sagt’s denn. Da ist er ja, der große Junge, der so gern in fremden Gefilden wildert. Böser, böser Junge …«

In gespielter Empörung schüttelte sie den Kopf und schnippte mit dem Finger gegen den großen bösen Jungen, wie sie es zuvor beim Infusionsbeutel getan hatte.

»Bitte … ich flehe dich an … nicht …«

Ihr Blick war von einer so tiefen Bosheit, dass es ihn schauderte. Diese Augen … kein Leben darin, keine Emotionen, ein vergifteter, tiefschwarzer Brunnen, dabei waren sie doch eben noch so schön gewesen. Wie konnte das sein?

»Drei Arten von Männern gibt es: die Schmarotzer, die sich an eine Frau kletten, sie leer saugen und dabei selbst immer fetter werden. Die Könige, für die Frauen unterjocht und versklavt gehören. Und die Fleißigen, die Kinder zeugen, ein Nest bauen, Sicherheit bieten. Zu welcher Art gehörst du?«

»Ein Fleißiger«, sagte er schnell, ohne darüber nachzudenken. »Ich bin ein Fleißiger, ganz sicher.«

Das halbe Lächeln hatte kaum die Kraft, ihre Mundwinkel nach oben zu schieben.

»Die Fleißigen sind mit Abstand die langweiligsten Männer. Keine Frau will so einen, jedenfalls nicht in der Tiefe ihrer verruchten Seele.«

»Dann bin ich eine Mischung aus König und fleißig … ja, genau, ich vereine das Beste von beiden.«

»Mein Lieber, wir wissen beide, dass das nicht stimmt. Du hast eine wunderbare Familie, für die du verantwortlich bist, und was tust du? Betrügst sie. Während deine Frau unten in der Küche das Abendessen zubereitet, sitzt du vor dem Computer, deine Hand in der Hose, und chattest mit mir.«

»Aber du wolltest das doch!« Seine Stimme klang schrill. Ihre Hand bearbeitete ihn weiterhin.

»Ja, und jetzt weißt du auch, warum. Und wenn ich fertig bin mit dir, dann suche ich mir den nächsten Lügner mit Internetzugang. Der sitzt dann nächste Woche auf diesem Stuhl hier und bettelt mich an, ihn zu verschonen. So, ich denke, er ist hart genug.«

Iris legte das Werkzeug an. Stellte das Schneiderädchen auf die passende Größe ein. Packte ihn fest mit der Linken und begann zu drehen.

»Rechts herum, immer schön rechts herum.«

Gegen diese Schmerzen war selbst das Morphium machtlos.

[home]

Das Ziehen spürte Andreas Zordan bis tief in den Unterleib. Es kam realem Schmerz sehr nahe. Er verzog das Gesicht, stieß sich vom Schreibtisch ab und riss die Hände vom Laptop, als hätte er sich an der Tastatur die Finger verbrannt.

Zur Hölle noch mal! Wenn das nicht eine bisher nie da gewesene Tötungsmethode war, dann würde er wieder in die Kirche eintreten. Unique, hatte seine Lektorin beim Verlag verlangt, wir müssen unique sein. Er hatte entgegengehalten, wenn man »einzigartig« meinte, sollte man auch das Wort benutzen, das der deutsche Sprachschatz hergab, und nicht irgendeinen Modescheiß, der sich auf einer halbseidenen Intellektuellenparty gut anhörte. Klar, sie war beleidigt gewesen, war sie eigentlich immer, wenn er ihr nicht zustimmte, aber was spielte das schon für eine Rolle. Mit diesem Rohrschneider waren sie auf jeden Fall unique.

Siebzehn Thriller hatte Andreas Zordan bisher geschrieben, und bei den letzten fünf war es ihm verdammt schwergefallen, eine Tötungsmethode zu finden, die nicht schon da gewesen war. Das war deprimierend, denn leider konnte er nicht einfach mal schnell ins Herz-Schmerz-Genre wechseln. Er hatte es versucht. In einem Anfall geistiger Verwirrtheit, die ansonsten klaren Gedanken mit einer Flasche Rotwein betäubt, hatte er es versucht, war aber nach zehn Seiten kläglich gescheitert. Es interessierte ihn einfach nicht, was die Leute taten, wenn sie verliebt waren. Und wenn ihn ein Thema nicht interessierte, dann konnte er nicht darüber schreiben. Wäre ja auch noch schöner, immerhin hatte er Bestseller verfasst, keine Betriebsanleitungen.

Siebzehn Thriller, und beim achtzehnten fiel ihm einfach so dieser harmlos wirkende Rohrschneider ein, mit dem sich wunderbar und quälend langsam in rotierenden Bewegungen ein Penis quasi abschleifen ließ. Sicherlich hatte das mit dem Klempner zu tun, der letzte Woche einen neuen Heizkörper im Anbau installierte. Andreas hatte ihn bei der Arbeit beobachtet und sich die Funktionsweise des Rohrschneiders erklären lassen.

Notiz, dachte Andreas, wie er es immer machte, wenn er sich etwas merken wollte. Klempner im Abspann erwähnen.

Ihm selbst war es zwar nicht wichtig, sich bei irgendjemandem zu bedanken, aber die Leute mochten es, wenn Autoren das taten. Andreas hatte keine Ahnung, warum. Wie auch immer, er brach sich damit keinen Zacken aus der Krone, und wenn es die Verkaufszahlen steigerte, bitte schön.

Natürlich gebührte der Dank nicht wirklich dem Klempner, denn der hatte nicht mehr getan als die Arbeit, für die er bezahlt wurde. Nein, es war seine eigene Phantasie, die diese Verbindung hergestellt hatte. Vermutlich würde sein Verleger auf die Barrikaden steigen, wenn er das in den Abspann schrieb. Egal, er war zufrieden mit sich. Ein Gefühl, das sich nicht mehr so häufig wie früher einstellte, dafür aber umso befriedigender war.

In den Chor der Begeisterten, der ihn jauchzend hochleben ließ, schlich sich jedoch eine Stimme anderer Tonalität. Die kannte er schon. Sie tauchte immer mal wieder auf, in der letzten Zeit sogar häufiger. Es war die Stimme eines achtjährigen Jungen. Andreas konnte ihn sehen. Groß, schlaksig, kurzes rotes Haar, ein verschmitztes Lächeln und Augen voller Hunger auf Leben.

Ist das nicht abartig?, fragte der Junge. Übertrittst du nicht eine Grenze damit?

Andreas Zordan erhob sich, schlurfte in die Küche hinüber und öffnete den Kühlschrank. Er nahm die angebrochene Flasche Wein heraus, roch kurz daran, goss ein Glas randvoll und trank die Hälfte in einem Zug. Schüttete den Traubensaft hinunter, als wolle er die kritische Stimme ersäufen. Gerade diese Stimme durfte sich keine Kritik an ihm erlauben. Diese nicht!

Abartig? Grenzwertig?

Quatsch!

Die Leserinnen und Leser lechzten nach grausamen Geschichten. Den meisten konnte es gar nicht blutig genug zugehen. Wie oft hatte er sich auf Lesungen anhören müssen, in diesem oder jenem Buch hätte es ruhig ordentlicher zur Sache gehen können. Und immer waren es Frauen, denen es nach abartigen Tätern verlangte, die mit menschlichen Körpern Dinge taten, die jenseits aller Vorstellungskraft lagen. Hannibal Lecter war langweilig geworden. Heutzutage musste man Schlangen in die Vagina blutjunger Studentinnen einführen, Spuren hinter Augäpfeln verstecken, Kleider aus abgetrennter Haut nähen oder Körper durch Gartenhäcksler schieben. Die Plots sollten Hunderte von Wendungen und Tausende von Cliffhangern enthalten. Nein, er lieferte nur, was der Markt wünschte, dafür konnte man ihm nicht die Schuld geben.

Erst vor ein paar Wochen, in einem kleinen Kaff auf dem Lande, war es wieder so gewesen. Landfrauen, hatte er noch gedacht, was für ein langweiliger Abend. Aber die waren gut drauf gewesen, wahrscheinlich hatten sie vorgeglüht, und wenn er es zugelassen hätte, hätten sie mit ihm zusammen nachgeglüht. Es war eine feiste Metzgersgattin gewesen, die ihn damit aufgezogen hatte, er sei viel zu zaghaft mit der Kratzglocke umgegangen. Dabei hatte er gedacht, das Abschaben der menschlichen Haut mit diesem doch eher unbekannten Werkzeug zu beschreiben, das sei für alle Leserinnen ein Schock.

Tja, man durfte die Landfrauen nicht unterschätzen. Die sahen und erlebten Dinge, die jenseits von Gut und Böse waren.

Den restlichen Wein trank Andreas Zordan an die Arbeitsplatte gelehnt und wurde nachdenklich. Er belog sich nicht gern selbst, aber im Überschwang der Begeisterung war ihm das gerade passiert. Von wegen, er lieferte nur, was der Markt wünschte. Die einfache, ungeschminkte Wahrheit war: Er liebte, was er tat, und würde es auch tun, wenn er keine Leser hätte. Seine große Leidenschaft war es, Menschen zu quälen, zu foltern, zu töten. Wenn er solche Szenen schrieb, floss es nur so aus ihm heraus. Seine Finger flogen in Windeseile über die Tastatur, die Worte und Sätze entstanden schneller, als er sie lesen konnte, und hätte ihm jemand in solchen Schaffensphasen einen Spiegel vorgehalten, er hätte das zufriedene Lächeln eines Menschen sehen können, der voll und ganz in seiner Arbeit aufging.

»Du musst so verbraucht werden, wie du bist«, sagte Andreas zu seinem Spiegelbild in der gegenüberliegenden Terrassentür und prostete ihm zu. Das war einer der vielen Lieblingssprüche seiner Mutter gewesen, und damit hatte sie quasi Marc Aurel widerlegt, der angeblich mal gesagt hatte, es seien die Gedanken, die den Charakter färbten. So ein Quatsch. Ihren Charakter bekamen die Menschen bei der Geburt mit, und bis auf ein paar wenige Feinjustierungen war er unabänderlich.

Für den Bruchteil einer Sekunde verschwand sein Spiegelbild in der Scheibe, und Andreas erschrak. Draußen war irgendwas vorbeigehuscht, ganz dicht an der Hütte. Das kam immer mal wieder vor. Das Wild respektierte die Grundstücksgrenzen nicht und kam häufig nachschauen, ob er etwas Neues gepflanzt hatte.

Hatte er in der Tat. Einen Weidenbaum. Und weil es im Baumarkt keinen Kaninchendraht mehr gegeben hatte, stand das junge Geäst schutzlos auf der Rasenfläche.

Andreas stellte das Glas in die Spüle, schnappte sich die leistungsstarke Taschenlampe von der Fensterbank, öffnete die Terrassentür und trat ins Freie. Es war fast Mitternacht, die Luft war kühl und roch nach Fichtennadeln und feuchter Baumrinde. Da sein Grundstück komplett von hohen Bäumen umgeben war, fiel kaum Mondlicht herein. Es war stockdunkel. Andreas schaltete die Taschenlampe ein. Der Lichtkegel schnitt durch die Dunkelheit, riss die Gartenstühle, den Grill und die Hängematte daraus hervor und verlor sich schließlich zwischen den Bäumen.

Auf den ersten Blick war da nichts.

Geräuschlos schlich Andreas über die Holzterrasse. Die Lärchenbretter hatte er erst vor ein paar Monaten erneuert, da knarrte noch nichts. Von vorn, wo die hölzerne Balustrade die Terrasse zum Garten abgrenzte, überblickte er das komplette Rasenstück. Er ließ den Lichtkegel wandern. Ein Reh entdeckte er nicht, der Weidenbaum war unberührt, die zarten Äste nicht angeknabbert.

Er hatte sich getäuscht.

Da war nichts.

Kein Reh, kein Wildschwein, kein Wolf, keine Landfrau mit Kratzglocke, gar nichts.

Trotzdem blieb er stehen, schaltete die Taschenlampe aus und wartete, bis sich seine Augen an die beinahe vollkommene Dunkelheit gewöhnt hatten. Nach ein paar Minuten erkannte er die Umrisse der Gegenstände und Bäume auch ohne Licht. Irgendwo im tiefen Wald flatterte ein größerer Vogel, dann ertönte der Ruf eines Käuzchens.

Seit fünf Jahren lebte er in diesem ehemaligen Forsthaus am Waldrand, das er Horrorhütte nannte, und noch nie hatte sich in der Nacht jemand hierher verirrt. Warum auch? Es gab keine Straßen in der Nähe, keine Wohngebiete, und die wenigen Forstwege, die das Waldgebiet durchschnitten, waren schon tagsüber kaum frequentiert. Diesen Ort hatte er ausgesucht, weil er hier fernab der Gesellschaft − und ohne deren Vorstellung von Moral − ein nahezu autarkes Leben führen konnte. Unten im Ort wussten sie längst, dass dort oben am Hang zwischen den Bäumen ein merkwürdiger Schriftsteller lebte. Anfangs hatten sie versucht, ihn in die Dorfgemeinschaft hineinzuziehen, hatten ihn zu Geburtstagen, Osterfeuern oder dem Schützenfest eingeladen. Da er sich jedoch nirgendwo hatte blicken lassen, waren die Einladungen schnell ausgeblieben. Und die besonders Hartnäckigen, die es gewagt hatten, unangekündigt bei ihm aufzutauchen, war er durch unhöfliches und abweisendes Verhalten auch noch losgeworden.

Und dennoch … jemand war hier. Andreas spürte es. Er hatte feine Antennen für die Anwesenheit anderer Menschen und täuschte sich nie. Irgendwo dort zwischen den Bäumen schlich jemand umher, beobachtete das Haus, war vorhin an der Tür vorbeigehuscht, hatte ihn vielleicht längere Zeit durch eines der Fenster beobachtet. Andreas mochte weder Vorhänge noch Gardinen oder Rollläden. Wer seinen Blick derart einsperrte, musste sich nicht über kleingeistige Sichtweisen wundern. Augen und Geist brauchten Weite und Freiheit, nicht Enge und Barrieren.

Andreas stellte die Taschenlampe auf der Balustrade ab, schaltete sie ein und machte ein paar rasche Schritte nach rechts in die Dunkelheit. Wer auch immer sich unbefugt auf seinem Grundstück aufhielt, würde ihn hinter der Taschenlampe vermuten. Es war nicht leicht, einen Schriftsteller zu verarschen, der sich tagtäglich Gedanken über den perfekten Mord, die perfekte Rachegeschichte, den perfekten Einbruch machte. Die Tricks und Kniffe, die die Einbrecherbanden von heute beherrschten, hatte Andreas schon vor Jahren abgearbeitet. Ihn konnten sie nicht überraschen. Deshalb hatte er trotz dieser einsamen Wohnlage auch keine Alarmanlage. Er vertraute voll auf seine Fähigkeiten und Instinkte – so wie die Tiere im Wald, zu denen er sich nach fünf Jahren mehr hingezogen fühlte als zu den Menschen im Ort.

Wer in das Revier eines Wolfes eindrang und ihm nicht gewachsen war, der musste damit rechnen, getötet zu werden.

Neben dem Außenkamin hing ein schwerer, geschmiedeter Schürhaken. Den nahm Andreas, wog ihn in der Hand und stellte sich vor, welch katastrophale Wunden die gebogene Spitze am Kopf verursachen würde. Der kalte Stahl in der Hand fühlte sich gut an, fühlte sich richtig an. Privatsphäre und Eigentum waren in seinen Augen hohe Güter, die es zu verteidigen galt, und dafür sollte jedes Mittel recht sein. Andreas war ein Verfechter des Grundsatzes: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Er ärgerte sich darüber, wenn Hausbesitzer, die einen Einbrecher erschossen, angeklagt und verurteilt wurden. Wie sollten die Degenerierten so Respekt vor Eigentum lernen?

Nun ja, er kannte die gesetzlichen Regeln der Notwehr und würde keinen Fehler machen. Den Fehler hatte derjenige begangen, der sich dazu entschieden hatte, sein Grundstück zu betreten.

Andreas schlich barfuß über den feuchten Rasen. Er musste nicht zu Boden schauen, um seinen Weg zu finden, denn hier kannte er jeden Stein, jeden Ast, jedes Mauseloch. Mit den Augen durchforstete er die Dunkelheit nach einer Bewegung und war gleichzeitig bereit, sofort zuzuschlagen, sollte jemand ihn angreifen.

Das Grundstück war riesig und zum größten Teil bewaldet. Er hatte nicht vor, es ganz abzusuchen, vor allem nicht den rückwärtigen Teil, der mehr Wald war als Garten und wo der Boden von Zweigen und Kiefernzapfen übersät war, die ihm in die Fußsohlen stechen würden.

Andreas schlich einmal um die Hütte herum, bis er wieder die Veranda erreichte. Die Taschenlampe stand noch dort, der Lichtstrahl war immer noch auf die Kiefer mit dem Gesicht im Stamm gerichtet. Astlöcher und Wucherungen verliehen dem Baum den Anschein eines darin eingewachsenen Dämons. Es war Andreas’ Lieblingsbaum, sein Baum der Inspiration. Ihn anzusehen und mit den Händen über das Gesicht zu streicheln half ihm, wenn er während des Schreibens an einer schwierigen Stelle feststeckte.

Wer immer auch hier gewesen war, er war fort. Aber etwas war zurückgeblieben. Eine spürbare Präsenz. Wenn er es in Worte fassen müsste, würde Andreas es so formulieren: Das Böse hatte sein Grundstück entdeckt, sich kurz umgesehen und entschieden, sich lieber nicht mit demjenigen anzulegen, der dort lebte.

[home]

Er verharrte in Stille, legte an und stellte den Sucher scharf. Der Restlichtverstärker zauberte ihm trotz der nächtlichen Dunkelheit ein detailliertes Bild auf den Monitor.

Sein Finger lag auf dem Auslöser.

Ich bin der beste Scharfschütze dieses Landes, sagte er sich und drückte ab. Seine Schulter fing den Rückschlag auf, sein Körper blieb ruhig, der Lauf verzog keinen Millimeter. Er sah das Projektil davonschießen und einen Moment später einschlagen. Kopftreffer. Sehr effektiv.

An dieser Stelle endete seine Vorstellungskraft, und er realisierte, dass er nur seine teure Kamera in den Händen hielt. Der Kopf, auf den er gerade geschossen hatte, landete als Foto auf der Speicherkarte und nicht als Blut- und Gewebematsch an der Hauswand hinter der Person, auf die er geschossen hatte. Dieser Mann trug eine Jeans, ein schwarzes T-Shirt und schlich barfuß mit einem Schürhaken in der zum Schlag erhobenen Hand um sein Haus. Vorsichtig bewegte er sich um die Hausecke, tauchte Minuten später an der anderen wieder auf und sah sich um.

Wie hatte er ihn bemerkt? Er rührte sich doch überhaupt nicht, saß still und starr im Gebüsch und ignorierte sogar die Ameisen, die sein linkes Hosenbein hinaufkrochen. Jetzt zahlte es sich aus, dass langes Sitzen ihm noch nie etwas ausgemacht hatte. Stundenlang konnte er sich auf seine Arbeit konzentrieren und seine Umwelt dabei ausblenden, als sei sie gar nicht vorhanden – was sie dann ja auch nicht war. Die Umwelt, das hatte er gerade vor ein paar Tagen gelesen, entstand überhaupt erst durch Wahrnehmung. Hatte irgendwas mit Wellen und Teilchen zu tun, so genau hatte er das nicht verstanden, aber er war von dem Online-Artikel fasziniert gewesen, denn der Verfasser hatte in Worte gefasst, was er selbst schon immer gespürt hatte. Die Umwelt existierte nur, wenn er es zuließ. Ansonsten herrschte die Inwelt vor, und darin galten andere Zeitgesetze. Darin konnte er stundenlang verharren. Darin war er allen anderen Menschen überlegen. Nur nicht dem Mann dort vorn.

Vor dem hatte er Angst, große Angst, und dennoch war er ihm hierher gefolgt. Normalerweise neigte er nicht zu spontanen Aktionen, überlegte im Gegenteil oft tagelang, bevor er aktiv wurde, aber in diesem Fall war die Neugierde zu groß gewesen.

Dieser Mann war in seinen Gedanken und in seinen Träumen, immer schon. Obwohl der Mann in vielerlei Gestalt an den Wänden seines Hauses hing, hatte er lange Zeit nicht verstanden, wen er dort sah. Erst seit einiger Zeit, seitdem der Mann wieder aufgetaucht war, war es ihm bewusst, und jetzt konnte er nicht mehr von ihm lassen. Jetzt musste er tun, was getan werden musste.

Dazu war es notwendig, die Angst zu besiegen.

Sein Therapeut hatte gesagt, das sei möglich, aber vorher müsse die Angst klar definiert werden. Es reichte nicht, sich vor der Umwelt, den Menschen, der Atemluft, dem hellen Tag, dem Klingeln des Telefons oder der Hektik im Allgemeinen zu fürchten. Denn alledem, so meinte der Therapeut, lag eine einzige Angst zugrunde. Die galt es, zu finden und sich ihr zu stellen. Dann würde sie von selbst verschwinden.

Er hatte seinen Therapeuten nie gemocht. Dieses viele Gerede, die geschwollene Ausdrucksweise, davon hatte er Kopfschmerzen bekommen. Und wie er immer die Augenbrauen hochgezogen hatte bei jeder Frage. Weil er so alt war, hatten sich dabei vorn auf seiner Glatze drei Falten gebildet, an denen hin und wieder Schweißtropfen entlanggelaufen waren. Das war eklig. Bei dem Anblick war ihm stets schlecht geworden, sein Magen hatte sich zusammengezogen, und er musste den Wunsch unterdrücken, seinem Therapeuten die Haut vom Kopf zu schneiden. Seinen Skalp zu nehmen, so wie die Rothäute in den alten Karl-May-Filmen, die er früher so gern geschaut und nachgespielt hatte.

Der Mann mit dem Schürhaken betrat die Terrasse.

Dort blieb er stehen und starrte in die Dunkelheit.

Er legte die Kamera an und zoomte das Gesicht heran.

Die Augen, diese unergründlichen grünen Augen, die bei ihm immer noch eine Gänsehaut verursachten, obwohl es schon so viele Jahre her war. Sie sahen ihn direkt an, als gäbe es keine Entfernung, keine Kamera, keine Spiegel darin. Auge in Auge − so wie früher. Und wieder erzitterte er.

Der Mann hatte den bösen Blick, von dem seine Mutter ihm oft erzählt hatte. Menschen mit dem bösen Blick konnten in die Seelen der anderen sehen und deren Geheimnisse entblößen. Deswegen durfte er ihm nicht zu nahe kommen, ihm nicht in die Augen schauen, denn seine Geheimnisse, seine Gedanken, durften nicht entdeckt werden.

Er würde jeden töten, der das versuchte.

 

»Der Mann tickt nicht ganz richtig. Meiner Meinung nach ist der gefährlich. Ich hab mich schon vor Jahren beim Gemeinderat beschwert, aber da stößt man auf taube Ohren. Es muss erst etwas passieren, ist ja immer so.«

Die Frau nickte heftig, um ihren Worten mehr Gewicht zu verleihen, dabei wäre das nicht nötig gewesen. Greta Weiß zweifelte nicht daran, dass sie es ernst meinte. Diese Frau war wie ihre Mutter: Mimik, Tonalität, Gestik, alles war gleich. Für Gretas Mutter hatte selbst beim Tratschen jedes Wort größte Bedeutung gehabt, vielleicht sogar gerade beim Tratschen, und sie konnte tagelang beleidigt sein, wenn man ihr nicht die nötige Aufmerksamkeit schenkte.

Greta Weiß wünschte sich, es wäre nicht so, doch sie hatte dieses Tratsch-Gen von ihrer Mutter vererbt bekommen. Jedwede Neuigkeiten über Menschen, die sie kannte oder auch nicht kannte, interessierten sie. In diesem Fall sogar ganz besonders. Die Pensionswirtin Verona Klier redete über den Schriftsteller Andreas Zordan, und weil Greta wegen dem hier war, ließ sie die alte Frau reden, ohne sie zu unterbrechen.

Greta hatte die Nacht in der einzigen Pension im Ort verbracht. In Anlehnung an den Namen der Inhaberin hieß sie Haus Verona. Auf dem Fensterbrett des Frühstücksraums lagen Grußkarten mit Fotomotiven von Verona in Italien aus, dazwischen ein Bild der Pension. Toller Scherz.

Ein normales Hotel gab es im Umkreis von dreißig Kilometern nicht, zudem war Haus Verona wirklich günstig. Ein Umstand, den Greta zu schätzen wusste. Die Redaktion zahlte einem Neuling wie ihr weder die Reise- noch die Übernachtungskosten, sondern nur eine Pauschale. Sie war wie immer knapp bei Kasse, und schon die Fahrt hier heraus hatte unverhältnismäßig viel Sprit verschlungen. Zumindest im Verhältnis zu dem Honorar, das sie mit dem Artikel verdienen würde. Aber darum ging es ja nicht. Sollte sie es schaffen, den legendären Starautor des Thriller-Genres, Andreas Zordan, zu einem Interview zu bewegen, wäre das der beste Start einer Journalistenkarriere, den man sich vorstellen konnte. Seit fünf Jahren hatte der Mann, dessen Name zuverlässig jedes Jahr in den Bestsellerlisten auftauchte, kein Interview mehr gegeben.

»Was könnte denn passieren?«, fragte Greta und kratzte mit Nachdruck und lauten schabenden Geräuschen den Joghurtbecher aus. Sie hatte gestern Abend bei ihrer Ankunft in Kirchfelden auf ein Abendessen verzichten müssen, da das einzige Lokal, das Gasthaus Zur Peitsche, montags geschlossen hatte. Selbst wenn es geöffnet gewesen wäre, hätte sie lieber gehungert. Das Lokal als düster zu beschreiben wäre noch geschmeichelt. Und dann dieser Name? Wer ließ sich so etwas einfallen, wenn er auf Gäste angewiesen war? Jedenfalls war sie dankbar für das üppige Frühstück und hatte nicht vor, etwas davon zu verschwenden.

Frau Klier warf die Hände in die Luft. Sie säte Gesten wie Bauern Getreide.

»Alles Mögliche kann passieren. Dieser Mann da oben … Das ist doch nicht gesund, so allein zu leben und sich den ganzen Tag lang Horrorgeschichten auszudenken. Was, wenn er den Verstand verliert? Hört man doch heutzutage immer wieder. Die Leute verlieren den Verstand, schnappen sich eine Waffe und schießen wahllos Menschen nieder. Und dieser Zordan …«

Verona Klier sah sich verstohlen um und beugte sich über den Tisch. Die an einer Silberkette um den Hals baumelnde Lesebrille schlug gegen die Milchkanne aus Porzellan.

»… dieser Zordan hat Waffen. Das weiß ich aus erster Hand. Mit einem Schrotgewehr hat er den alten Toni von seinem Grundstück gejagt. Dabei wollte Toni nur seine Dienste als Gärtner anbieten.«

Greta ließ es sich nicht anmerken, dass sie erschrocken war. Zordan hatte Waffen!

Wie klug war es da, unangemeldet bei ihm aufzutauchen und um ein Interview zu bitten, wo er doch schon vor Jahren unmissverständlich klargemacht hatte, was er von der Presse hielt? Zordan war ein Mann eindeutiger Worte. Greta hatte sein letztes Interview gelesen. Selten hatte jemand ihren Berufsstand heftiger beleidigt.

Das war nicht klug, es war dumm. Aber sie hatte den Auftrag nun einmal angenommen und konnte keinen Rückzieher machen. Sie konnte scheitern, denn zu einem Gespräch zwingen ließ sich Zordan sicher nicht, doch aufgeben kam nicht in Frage. So begannen keine großartigen Karrieren, und Greta hatte keinen Zweifel daran, dass sie am Beginn einer solchen stand.

»Aber er hat doch nicht auf den Mann geschossen, oder?«

»Nein, hat er nicht. Der alte Toni war schlau genug, das Weite zu suchen. Seitdem geht keiner mehr da hoch. Was wollen Sie überhaupt von dem Mann, Kindchen?«

Greta zuckte mit den Schultern.

»Ihn interviewen.«

»Ganz allein? Das sollten Sie sich noch einmal überlegen.«

»Ich komme schon klar. Er wird mich sicher nicht gleich umbringen.«

Greta lächelte breit, konnte sich aber nicht einmal selbst damit überzeugen. Unsicherheit und eine diffuse Beklommenheit hatten sich mittlerweile ihrer bemächtigt.

Unvermittelt nahm Verona Klier Gretas Hand und sah sie eindringlich an.

»Dann tun Sie mir aber bitte den Gefallen und kommen danach noch einmal bei mir vorbei, ja. Damit ich weiß, dass es Ihnen gutgeht. So ein hübsches Kindchen wie Sie sollte nicht allein da hinaufgehen.«

Eigentlich fand Greta die Fürsorge der alten Frau rührend, aber mit dem letzten Satz machte sie alles kaputt. Hübsches Kindchen − sie konnte es nicht mehr hören. Immer wieder wurde sie auf ihr Aussehen reduziert. Am besten hatte es vorgestern noch ihr neuer Chefredakteur, Ludwig Semrau, ausgedrückt, als er Greta der versammelten Mannschaft vorgestellt hatte.

»So, hier haben wir hübsches Frischfleisch von der Uni. Helene Fischer mit Aggressionspotential, würde ich sagen.«

Die Lacher der altgedienten Kollegen reichten von freundlich bis herablassend, und Greta war die Zornesröte ins Gesicht gestiegen. Sie hatte es klaglos weggesteckt, denn Semrau hätte jeden mit dem Auftrag zu Zordan schicken können, aber er hatte sie ausgewählt. Die Neue, die Unerfahrene. Das betrachtete Greta als Vertrauensvorschuss. Außerdem sah sie in der Tat aus wie eine ungeschminkte Version der Schlagersängerin, und was ihr Aggressionspotential anging, ahnte Semrau nicht einmal, wie groß es war. Greta konnte sich durchbeißen, das hatte sie in ihrem sechsundzwanzigjährigen Leben bereits bewiesen. Wer es aus einem Elternhaus wie ihrem auf die Uni schaffte, konnte mehr als mit glockenheller Stimme Schlager trällern. Ihre Stimme klang ohnehin eher nach Reiner Schöne als nach Helene Fischer.

»Geht klar, mach ich gern«, versprach Greta und unterdrückte ihren Ärger.

Möglicherweise blieb ihr gar nichts anders übrig, als eine weitere Nacht in der Pension zu verbringen. Sie rechnete nicht damit, Zordan schon heute zu einem Interview überreden zu können. Wahrscheinlich würde sie ihn durch Hartnäckigkeit überzeugen müssen. Und wenn das nicht half, durch Dreistigkeit. Als Letztes blieb ihr dann noch die Möglichkeit, ohne Zordans Mithilfe eine Story aus dem zusammenzuschustern, was sie hier im Ort erfuhr.

Verona Klier strich ihr tröstend über die Schulter und entfernte sich Richtung Küche. Greta sah ihr einen Augenblick nach und nahm schließlich das Buch aus ihrer Handtasche. Es war die günstige Taschenbuchausgabe des größten Bestsellers von Andreas Zordan.

25 mögliche Mörder.

Greta hatte es bereits gelesen und für gut befunden. Sehr gut sogar. Sie hatte es nicht aus der Hand legen können, und die über sechshundert Rezensionen auf Amazon sprachen ebenfalls Bände. Klar, in den Feuilletons war es damals zerrissen worden, aber welcher massentaugliche Unterhaltungsroman wurde das nicht. Die Leute liebten es jedenfalls. Es jagte ihnen eine Scheißangst ein, weil es ihnen drastisch vor Augen führte, dass sie jeden Tag ihres Lebens von Psychopathen umgeben waren und absolut nichts dagegen tun konnten, wenn einer beschloss, zum Mörder zu werden.

Auf der Innenseite der Klappe war ein großes Foto des vierzigjährigen Schriftstellers abgedruckt. Zordan lächelte nicht, das tat er nie, zumindest nicht auf Fotos. Er hatte ein schmales, scharf geschnittenes Gesicht mit hohlen Wangen, trug meistens einen Dreitagebart und sein schwarzes Haar schulterlang. Auf diesem Foto war es nicht zu sehen, aber Greta wusste, er hatte grüne Augen. Auf einigen Fotos, die von ihm geschossen worden waren, ohne dass er es bemerkt hatte, war der Ausdruck darin von einer tiefen Sehnsucht geprägt. So als vermisse er etwas in seinem Leben, als müsse er ein tiefes Loch in seiner Seele füllen, ohne zu wissen, womit.

Auf diesem Foto hier schaute er allerdings so böse und abweisend wie meistens.

»Quetschen Sie ein paar Worte raus aus diesem unfreundlichen Arsch, bringen Sie mir etwas, was die Leute polarisiert, und ich mache eine Festanstellung aus Ihnen«, hatte Chefredakteur Semrau zu Greta gesagt. Eine Festanstellung in der Printbranche kurz nach der Uni wäre ein Traum, und Greta war fest entschlossen, mehr als nur ein paar Worte aus diesem unzugänglichen Autor herauszupressen.

Sie strich mit dem Daumen über die Fotografie.

»Warm anziehen, Zordan. Ich bin unterwegs.«

 

Der Morgen war kühl. Andreas Zordan zog sich eine Jacke über, verließ seine Hütte und atmete die würzige Waldluft ein. Sofort verflog seine Müdigkeit.

Er stieg die dreizehn Stufen aus altem Sandstein hinunter, die den Hang vor seinem Haus überwanden. Unten trennten von Efeu überwucherte Sichtschutzzäune sein Grundstück von dem Sandweg, der zum Dorf führte. Ein Privatweg, den niemand außer ihm benutzte. Andreas öffnete den Riegel des Tores und trat auf den Weg. Von dort aus bot sich ihm ein grandioser Ausblick auf das zweihundert Meter tiefer gelegene Tal mit dem Dorf und den verstreut daliegenden Gehöften. Wald überwog, dann folgten Äcker und Wiesen, schließlich die Häuser. Genau die richtige Reihenfolge, wie er fand. Andreas verstand die Gründe, warum Menschen gern eng zusammenlebten, teilte sie aber nicht. Er war anders, war kein soziales Wesen, und Einsamkeit machte ihn nicht krank, sondern frei.

Eigentlich brach er jeden Morgen um diese Zeit zu einem einstündigen Spaziergang auf. Er hasste es, wenn diese Routine durchbrochen wurde, gehörte sie doch zu seinem Schreibritual. Rituale waren wichtig, wollte man die übermächtige innere Trägheit jeden Tag aufs Neue überwinden. Aufstehen. Duschen. Anziehen. Wandern. Mit dem Frühstück, bestehend aus einer speziellen Müslimischung und einer Kanne Kaffee, vor den Laptop. Genau so musste es ablaufen, keinen Deut anders. Doch heute würde es anders laufen.

Er erwartete Besuch.

Andreas ging durch den Steingarten am Carport vorbei zur Rückseite der Hütte. Dort angekommen, bemerkte er sofort den Geruch, der nicht hierhergehörte und der ihn an das Reh erinnerte, das vor einigen Jahren direkt an seiner Grundstücksgrenze verendet war. Es war Hochsommer gewesen, so wie jetzt, und binnen weniger Stunden waren die Käfer und Fliegen über den Kadaver hergefallen. Andreas hatte sich einen Klappstuhl und seine Videokamera geschnappt, sich neben den Kadaver gesetzt, den intensiven Verwesungsgeruch ertragen und dem Verdauungsprozess der Natur beigewohnt. Noch tagelang war er den Geruch nicht losgeworden.

Als er sich dem Waldrand näherte, sah er zwischen den Bäumen etwas pendeln, wo normalerweise nichts pendelte. Das Licht war dort hinten diffus, nur vereinzelt stachen Sonnenlanzen durch das dichte Dach des Waldes, dennoch erkannte er, dass etwas unter seinem Lieblingsbaum hing. Außerdem lehnte an dem stabilsten Ast der Kiefer eine Aluleiter − es war seine, dass erkannte er an den vielen angetrockneten Farbklecksen vom Streichen der Außenfassade seiner Hütte. Die Leiter bewahrte er im Holzschuppen auf, jeder konnte sie dort rausholen, denn der Schuppen war nie abgeschlossen. Warum auch?

Notiz, dachte Andreas. Schloss für die Schuppentür besorgen.

Er hatte den gestrigen Abend nicht vergessen. Dieses intensive Gefühl, aus dem Dunkel heraus von jemandem beobachtet zu werden, hatte er hier oben in seiner Horrorhütte nie zuvor erlebt. War dort jemand gewesen, oder hatte er sich getäuscht? So viel Alkohol hatte er gar nicht getrunken, dass ihm seine Sinne einen Streich hätten spielen können. Er war besorgt deswegen und näherte sich mit größter Vorsicht dem Gegenstand im Baum und der Leiter. Irgendwas sagte ihm, dass er höllisch aufpassen musste. Es ging etwas vor, das er nicht kontrollieren konnte, und das hasste er. In der lauten hektischen Welt dort draußen war es ihm egal, aber hier oben galten seine Regeln, hier wollte er sich keine Gedanken über mögliche Gefahren durch andere Menschen machen.

Dies würde ein Wunschtraum bleiben.

An dem Ast, an den die Leiter gelehnt war, hing eine weibliche Leiche. Höchstens zwanzig Jahre alt, schlank, weiß und vollkommen nackt baumelte sie im leichten Wind des frühen Tages. Von ihrem Schädel war Blut in feinen Bahnen an ihrem Körper hinabgelaufen bis zu den Zehen. Es war bereits angetrocknet. Der große Zehennagel sah aus, als wäre er mit Blut lackiert. Die Zehen befanden sich circa zehn Zentimeter vom Boden entfernt. Unter den Füßen war der Waldboden dunkel verfärbt.

Normale Menschen wären jetzt in Panik verfallen, hätten geschrien, wären davongelaufen, doch Andreas war nicht normal. Er achtete darauf, was dieser Anblick mit ihm machte, um es irgendwann mal aufschreiben zu können. Diese Disziplin sollten Schriftsteller aufbringen, egal, ob sie so waren wie er selbst oder nicht. Wollte man Gefühle realistisch zu Papier bringen, so musste man sie sogar im Augenblick intensivster Empfindung und Verwirrung analysieren und reflektieren können. Sogar mit dem sterbenden Partner im Arm sollte das gelingen.

Es war nicht so einfach, wie er stets gedacht hatte.

Leicht erhöhter Herzschlag. Schweißausbruch. Zittern in den Beinen. Ein Anflug von Panik. Sein Mund stand offen, seine Zunge fühlte sich trocken und taub an. Diese Symptome glichen denen anderer Menschen, der Unterschied zwischen ihnen und ihm war, dass Andreas weiterhin präzise Gedanken fassen konnte. Und weil ihn sein Leben lang die Details am stärksten fasziniert hatten, konzentrierte er sich auch jetzt darauf.

Nichts war wichtiger als die Details.

Andreas analysierte die Leiche.

Läge eine Schlinge um deren Hals, wäre das Kinn auf die Brust gesunken, und sie hätte ihn aus gebrochenen Augen angestarrt. Es war aber keine Schlinge, die zum Tod geführt hatte, sondern zwei Ringe aus Edelstahl, die Andreas nur allzu gut kannte – auch sie stammten aus seinem Schuppen. Er hatte sie bei einem Metallbaubetrieb im Ort anfertigen lassen. Der Stahl selbst hatte einen Durchmesser von der Stärke eines Fingers, die Ringe von dreißig Zentimetern. Sie waren durch die Augenhöhlen sowie durch zwei Löcher in der Schädeldecke getrieben worden. Geschlossen wurden die Ringe ähnlich wie Karabiner. Da Andreas die Verschlüsse nicht sehen konnte, vermutete er sie im Inneren des Schädels. Das war sinnvoll, da sie eine Schwachstelle im Gesamtkonstrukt darstellten und keinesfalls dort liegen durften, wo sich die Ketten befanden. Denn an den Ketten hing das Gewicht des Körpers. Zwei einfache metallene Ketten, die um den Ast der Kiefer geschlungen und mit einem Karabiner geschlossen waren.

Eine menschliche Schaukel.

Gegen die Erinnerungen war seine Selbstkontrolle machtlos. Sie kamen, wie sie wollten.

 

…Die Krähen dort oben auf der Suche nach Futter stürzten sich auf die reifen Kirschen, schrien, lärmten, gebärdeten sich wie Kinder, schraken auf unter den Schreien, stoben davon, weg von diesem Todesbaum, kein verschmitztes Lächeln in den Augen, nur noch Angst und Panik, und das hohe Gras duftete so intensiv, dass es ihm beinahe den Verstand raubte …

 

Ein Geräusch riss Andreas aus den Erinnerungen und ließ ihn herumfahren.

Ein Wagen kam den Sandweg herauf.

Sein Besuch.

Er geriet noch immer nicht in Panik, aber sein Blutdruck stieg.

Mit schnellen Schritten machte er sich auf den Weg und nahm den Umweg über die Terrasse, um den Schürhaken zu holen.

[home]

Greta Weiß stoppte ihren Wagen, einen altersmüden Fiat Punto in gelber Lackierung, vor einem gewaltigen Findling, der mitten auf der Straße lag. Nein, nicht auf der Straße, sondern auf dem Sandweg, dem sie den Hügel hinauf etwa drei Kilometer gefolgt war. Am Anfang des Weges, quasi noch im Ort, warnte ein Schild auf einem Holzpfahl vor dem Befahren und wies ihn unmissverständlich als Privatweg aus. Durchfahrt verboten! Greta war, ohne zu zögern, daran vorbeigefahren. Welche gute Journalistin ließ sich von Schildern einschüchtern?

Hier ging es aber definitiv nicht weiter, lediglich eine schmale Zufahrt führte direkt auf das Grundstück. Rechts und links des Weges standen Bäume, in der Mitte schien der große Brocken aus dem Boden herauszuwachsen. Ein seltsamer Anblick, denn es gab hier ansonsten keine Felsen. Hatte Zordan ihn hierhertransportieren lassen, um die Straße zu versperren?

Greta stieg aus und sah sich um. Von dem Haus, in dem Zordan lebte, war nicht mehr als ein Stück des Daches, ein Schornstein aus Backsteinen und die Hälfte eines grünen Sprossenfensters zu erkennen. Das Grundstück war Teil des Waldes und zudem von Sichtschutzzäunen umgeben. Hier hatte jemand alles dafür getan, den Blicken neugieriger Menschen zu entgehen.

Greta passierte den Findling und ging bis zu einer Treppe aus Sandstein vor, die zwischen den Sichtschutzzäunen hindurch auf das Haus zuführte – überraschenderweise stand die Holztür offen. Die Stufen überwanden einen steilen Hang, waren von Moos und Algen überzogen und bei feuchtem Wetter sicher eine Gefahrenquelle. Oben thronte ein kleines Försterhaus mit tief heruntergezogenem Satteldach. Zwischen dunklen Fachwerkbalken waren die Wände weiß verputzt, die modernen Sprossenfenster waren nicht allzu alt, genauso der angebaute Carport, an dem die schmale Zufahrt endete und in dem ein schwarzer Range Rover parkte.

Für einen Moment hatte Greta den Eindruck, vor einem Hexenhäuschen zu stehen. Nach allem, was sie bisher über Zordan in Erfahrung gebracht hatte, passte das Haus zu ihm. Ein Menschenfeind wie er musste einfach so leben.

Greta überlegte, ob sie mangels einer Klingel rufen sollte, entschied sich aber dafür, das geöffnete Tor als Einladung zu verstehen. Sie hatte den rechten Fuß gerade auf die unterste Stufe der Treppe gesetzt, als ein lauter Ruf die Stille beendete.

»Halt! Was machen Sie da. Das ist Privatgelände. Runter von meinem Grundstück.«

Am oberen Ende der Treppe tauchte ein Mann auf, den sie eindeutig als Andreas Zordan identifizierte. Obwohl sie ihn von Fotos und Fernsehinterviews kannte, erschrak Greta. Nicht weil der Mann etwa so furchteinflößend aussah, sondern weil er drohend einen Schürhaken schwang.

Greta nahm den Fuß von der Stufe und ging ein paar Schritte zurück, bis sie sich wieder auf dem vermeintlich sicheren Sandweg befand. Karriere hin oder her, ihr Leben wollte sie dafür nicht riskieren. Vielleicht war der Schriftsteller in dieser Einsamkeit längst durchgedreht, so, wie es Verona Klier vermutete. Auszuschließen war das nicht.

Greta bemühte sich um ihr allerschönstes Helene-Fischer-Lächeln und steckte ihr Aggressionspotential einstweilen weg.

»Hallo, guten Morgen! Ich suche Andreas Zordan.«

So, wie er die Treppe heruntergelaufen kam, machte Zordan einen durchtrainierten Eindruck. Die letzten zwei Stufen überwand er in einem Sprung, blieb dann aber nicht etwa stehen, sondern preschte durch das Tor und drängte Greta noch weiter zurück. Den Schürhaken hielt er dabei vor sich ausgestreckt.

»Was fällt Ihnen ein, unbefugt Privatgelände zu betreten«, fuhr er sie an. Er schien wirklich erregt zu sein. Seine Augen zuckten hin und her, sein Gesicht war gerötet.

Greta war eingeschüchtert, und das gefiel ihr nicht. So hatte sie sich den Beginn des Gespräches nicht vorgestellt. Sie musste schnellstmöglich einen Weg aus der Defensive finden, bevor Zordan sie nach Strich und Faden fertigmachen konnte. Ihr Lächeln behielt sie einstweilen bei. Es gab wissenschaftliche Untersuchungen dazu, wie ein Frauenlächeln auf Männer wirkte. Kombiniert mit dem tiefen Ausschnitt ihrer Bluse, müsste Zordan sein feindseliges Verhalten eigentlich bald aufgeben.

»Die Tür stand offen, und ich konnte keine Klingel entdecken«, sagte Greta in entschuldigendem Ton.

»Die Ware lag im Regal, und ich konnte kein Preisschild entdecken«, äffte Zordan sie nach. »Dann klaut man sie halt, oder was?«

»Entschuldigung, aber …«

»Nein, ich entschuldige nicht, und Ihr Aber können Sie sich sparen. Sie befinden sich immer noch auf meinem Besitz. Verschwinden Sie.«

»Das ist eine Straße, oder?«

»Nein, das ist ein Sandweg, der zu meinem Grundstück gehört.«

»Bis wohin geht Ihr Grundstück?«

»Der Findling markiert die Grenze. Was dachten Sie, warum der da liegt. Und jetzt hauen Sie endlich ab, ich habe zu tun.«

»Darf ich mich wenigstens kurz vorstellen? Ich habe einen weiten Weg hinter mir.«

»Dann machen Sie sich besser ohne Vorstellung auf den Rückweg, es wird bald dunkel.«

»Es ist früher Morgen.«

»Sagten Sie nicht, der Weg wäre weit.«

Und plötzlich wusste Greta nicht mehr, was sie entgegnen sollte. Das war ihr während des Studiums nur ein einziges Mal bei einem Professor für Rhetorik passiert. Sie war ein wenig vorlaut gewesen, und der alte Mann hatte sie an die Wand gequatscht, wieder zurück und noch mal dagegen. Zordan schien von ähnlichem Kaliber zu sein.

»Gaffen ist schon gar nicht erlaubt«, sagte er und wies mit dem Schürhaken in Richtung ihres Autos. »Abfahrt.«

Greta nutzte ihre Sprachlosigkeit, um Zordan zu betrachten. Er sah auf eine wilde, ursprüngliche Art gut aus, machte aber einen gehetzten Eindruck.

»Mein Name ist Greta Weiß, ich schreibe einen Artikel für People United und würde Ihnen gern …«

»Presse? Und auch noch aus der Klatschabteilung? Sie haben Nerven, hier aufzutauchen.«

»Womit habe ich Ihre Unfreundlichkeit verdient«, versuchte Greta, ihn mit einer Frage zu locken. Wer fragt, der führt, und offene Fragen führten zu einer Unterhaltung. Mehr wollte sie ja gar nicht.

»Sie sollen abhauen«, antwortete Zordan knapp.

»Ich möchte ernsthaft über Ihr Wirken berichten. An Tratsch und Klatsch habe ich keinerlei Interesse.«

»Wirkung ist eine physikalische Größe der Dimension Energie mal Zeit. Hört sich das nach Literatur an, Schätzchen.«

Greta holte tief Luft. Es war nicht so sehr seine blöde Antwort, die ihr Aggressionspotential weckte, sondern sein letztes Wort. Schätzchen!

»Salinger, Michener und Faulkner verfassen Literatur. Sie schreiben Krimis.«

»Und die haben Sie natürlich gelesen, weshalb Sie sich eine Meinung erlauben können. Nur interessiert Ihre Meinung hier niemanden. Mich nicht, die Tiere im Wald nicht, und ich befürchte, die Leute unten im Ort erst recht nicht. Aber Sie können es gern in der Kneipe neben der Kirche ausprobieren, wenn Sie gleich wieder unten sind. Oder nein, versuchen Sie es im örtlichen Buchladen. Der ist zwar klein, hat aber eine gute Auswahl. Fragen Sie dort nach Salinger, Michener und Faulkner. Und wenn Sie keine Zeit haben, bis morgen auf die Bestellung zu warten, dann nehmen Sie eines meiner Bücher mit. Selbst in diesem Kuhdorf sind die alle vorrätig.«

Greta zog ihr Exemplar des Buches 25 mögliche Mörder aus der Handtasche.

»Nicht nötig, ich kenne Ihre Bücher.«

»Wie schön für Sie. Und jetzt verschwinden Sie endlich, bevor ich unhöflich werde.«

»Werde! Was sind Sie jetzt?«

»Im Moment noch zurückhaltend, Schätzchen.«

»Stecken Sie sich Ihr Schätzchen sonst wohin.«

»Hat Semrau Sie geschickt?«

»Wie bitte?«

»Semrau, der Chefredakteur von People United. Hat der Sie geschickt?«

»Ich habe einen Auftrag von …«

»Hab ich mir gedacht. Dann bestellen Sie dem alten Schmierfink mal einen schönen Gruß und sagen Sie ihm, wenn ich ein hübsches Gesicht sehen will, schaue ich mir die Helene-Fischer-Show an.«

So, das reichte jetzt. Innerhalb weniger Sätze hatte Zordan bei ihr alle Knöpfe gedrückt, die zur Zündung der Triebwerke führten. Greta pfiff auf das verdammte Interview, von diesem arroganten Wichser würde sie sowieso nichts Neues erfahren. Aber sie konnte ihm wenigstens noch sagen, was sie von ihm hielt. Vermutlich würden ihre Worte zwar an seinem Panzer aus Arroganz abprallen, aber immerhin würde sie sich danach besserfühlen.

»Ich bestelle Herrn Semrau gern, dass ich Sie angetroffen, mich aber gegen ein Interview entschieden habe, weil ich es unseren Lesern nicht zumuten kann, zu wiederholen, was ein abgewrackter Einsiedler, der seinen schriftstellerischen Zenit lange überschritten hat, zu sagen hat.«

Während sie sprach, nutzte Greta das Taschenbuch als Verlängerung ihres Zeigefingers und wedelte damit vor Zordans Nase herum.

»Wollen Sie es signiert haben, Schätzchen?«, fragte er, als sie ihn, außer Atem und wutschnaubend, anstarrte. »Haben Sie einen Stift dabei? Ich laufe nämlich nicht extra hoch.«

Sein Lächeln war fies und abgründig.

Greta starrte ihn noch einen Moment an, machte dann auf dem Absatz kehrt, blieb dabei leider im tiefen Sandboden stecken, stolperte, fiel auf die Knie, verlor das Taschenbuch und ließ es liegen, weil sie, so schnell es ging, zu ihrem Wagen wollte, bevor hier noch ein Unglück geschah.

[home]

Andreas Zordan brach die Totenstarre, indem er die rechte Hand der Leiche zur Faust ballte, danach die Finger streckte und sie erneut zur Faust ballte. Er kannte die biochemischen Vorgänge und wusste, das Mädchen war noch nicht länger als vierzehn bis achtzehn Stunden tot. Die Leichenstarre war noch nicht vollständig ausgebildet. Einzelne Muskelfasern waren noch beweglich.

Sofort stellte er eine Berechnung auf, um sich den möglichen Ablauf zu vergegenwärtigen: Gestern Nacht war er zwischen dreiundzwanzig und vierundzwanzig Uhr auf die Anwesenheit von jemandem oder etwas in seinem Garten aufmerksam geworden. Zu dem Zeitpunkt hing die Leiche noch nicht im Baum. Um halb eins war er schlafen gegangen, um halb sieben aufgestanden. Innerhalb dieser sechs Stunden hatte jemand die Leiche in den Baum gehängt. Dies führte zu folgendem Schluss: Das Mädchen war circa acht bis zehn Stunden zuvor getötet und dann auf schnellstem Weg hierhergeschafft worden. Kein Zufall, kein spontaner Einfall, sondern ein genau ausgetüftelter Plan steckte dahinter.

Andreas schoss mit seinem Handy ein Foto von der Leiche. Dann nahm er den mitgebrachten Bolzenschneider, stieg auf die Leiter und verharrte. Genau diese Situation hatte er damals mit genau diesen Materialien an genau diesem Baum nachgestellt. Nur um zu sehen, ob es funktionieren würde. Zumindest mit der Puppe und den mit Sand gefüllten Säcken als Ersatz für fehlendes Körpergewicht hatte seine Konstruktion damals funktioniert. Um den Leuten vor Augen zu führen, wie ernst er seine Recherche nahm, hatte er damals ein Foto davon auf seiner Facebook-Seite gepostet. Die Reaktionen waren unterschiedlicher Art gewesen. Viele fanden es geil, ein paar wenige abartig. Das Ziel, zu polarisieren und damit Aufmerksamkeit zu erregen, hatte er jedenfalls erreicht. Und im Anschluss war 25 mögliche Mörder zu seinem größten Bestseller geworden.

Bevor er den Bolzenschneider ansetzte, dachte Andreas über die Journalistin nach. Er hatte gewartet, bis sie mit ihrem kleinen Wagen auf dem engen Weg umständlich gewendet hatte. Sie touchierte dabei mit der hinteren Stoßstange den Findling und war schließlich mit überhöhter Geschwindigkeit den Hügel hinuntergefahren. Andreas war sich sicher, dass er sie wiedersehen würde, und zwar bald. Die Frau hatte Biss und würde ihr Ziel nicht einfach so aufgeben. Sie verkörperte das Klischee einer jungen, karrieregeilen Journalistin, die beinahe alles tun würde, um voranzukommen. Ein Interview mit ihm mochte nur der Anfang sein, ein vergleichsweise unwichtiges Ereignis, dennoch würde sie es mit dem gleichen Ernst und der gleichen Beharrlichkeit verfolgen wie die Aufklärung eines Politskandals. Andreas kannte solche Menschen zur Genüge. Sie boten keine Überraschungen.

Er widmete sich wieder der Leiche.

Das Mädchen war zu Lebzeiten hübsch gewesen, die Metallringe in ihren Augenhöhlen veränderten aber natürlich alles. Die Eisenringe, die Wunden … alles war genauso wie in seiner Phantasie. Einerseits erstaunlich. Andererseits war seine Vorstellungskraft schon immer sein größtes Talent gewesen. Wo andere Autoren mühsam recherchieren mussten, genügte es ihm, für einen Moment die Augen zu schließen, die gewünschte Szene heraufzubeschwören und sie dann mit allen Details aufzuschreiben.

Details, Details, Details.

Der kleine Fetzen Papier, der zwischen den Lippen der Leiche klebte, war ein solches Detail. Andreas nahm den Bolzenschneider in die linke Hand und zog mit den Fingern der rechten vorsichtig an dem Papierfetzen. Er spürte einen Widerstand. Im Inneren der Mundhöhle befand sich noch mehr Papier.

Da die Totenstarre zuerst im Gesicht begann, war sie dort schon vollständig abgeschlossen, und obwohl sich durch die plötzliche Erschlaffung nach Eintritt des Todes die Kiefer eigentlich öffneten, waren sie bei dem Mädchen geschlossen. Bestatter erreichten dies, indem sie eine Mullbinde um Kiefer und Kopf der Leiche wickelten, um den unerwünschten Anblick eines weit geöffneten Mundes zu verhindern.

Es kostete Andreas einige Kraft, den Kiefer zu öffnen.

In der Mundhöhle befand sich ein zusammengeknüllter Zettel.

Mit dem Handy machte er ein Foto davon, dann nahm er ihn heraus und faltete ihn auseinander. Er war feucht, die Schrift darauf ein wenig verschmiert, aber durchaus noch gut zu lesen.

Mit Gruß von Nummer 25. Leiche ist übersät mit deinen Fingerabdrücken, und eine private Verbindung besteht auch. Check deine Mails.

Mit dem feuchten Zettel in der Hand stand Andreas auf der Leiter und sagte leise zu sich selbst: »Hinterfrage das Offensichtliche.«

Warum sollte der Schreiber dieser Zeilen ihn wissen lassen, dass die Leiche mit seinen Fingerabdrücken übersät war und dass eine private Verbindung zu dem Mädchen bestand?

Dafür gab es nur einen Grund, den auch der Dümmste verstehen würde. Der Schreiber wollte ihn davon abhalten, die Polizei zu informieren. Aber die war für Andreas ohnehin keine Option. Die Beamten würden sich auf ihn als Täter einschießen und nicht ernsthaft nach einem anderen Täter suchen. Außerdem würden sie wahrscheinlich tief graben, und was dort versteckt war, musste versteckt bleiben – für alle Zeiten. Auch das würde der Dümmste verstehen.

Wenn die Polizei also keine Option war, welche blieb ihm dann?

Die Leiche verschwinden lassen? Das Waldgebiet hinter seinem Haus war groß genug dafür. Er musste nur die richtige Stelle finden. Allerdings würde er sehr tief graben müssen. Körpersäfte sickerten bei der Verwesung in den Boden und konnten von Spürhunden noch monatelang, mitunter auch jahrelang, erschnüffelt werden.

Notiz: Sie können dir beweisen, dass du solche Details kennst, also beachte sie auch.

Oder aber er wickelte die Leiche in eine Folie, packte sie in den Wagen und brachte sie irgendwo anders hin. Er könnte sie vorher waschen, um die Fingerabdrücke zu entfernen. Aber was, wenn sich zusätzlich sein genetisches Material daran befand. Hautschuppen? Haare? Oder wenn ihn jemand dabei beobachtete? Im schlimmsten Fall die nervige Reporterin.

Er durfte nicht einfach hoffen, dass das nicht passierte.

Hoffnung war der Ersatz der Dummen für Zielstrebigkeit. Sein Leben lang hatte Andreas sich keine Hoffnung auf glückliche Fügungen oder göttliche Hilfe gemacht, sondern für sein Ziel hart gearbeitet und alles darangesetzt, das Spiel von Sieg und Niederlage für sich zu entscheiden. Er hatte keine Hoffnung gehabt, als seine Mutter an Alzheimer erkrankte, sondern damit begonnen, sich um ihre Angelegenheiten zu kümmern. Als seine Manuskripte von den Verlagen reihenweise abgelehnt wurden, hatte er nicht abgewartet, in der Hoffnung, dass sich doch noch ein Verlag finden würde, sondern immer weitergeschrieben. Stets hatte er gehandelt, statt zu hoffen.

»Tu, was ein normaler Mensch tun würde«, sagte er zu sich selbst.

»Check erst mal deine Mails.«

[home]

Es gab einen kleinen Weiher in der Nähe des Dorfes, die Einheimischen nannten ihn Loch Nass. Umrahmt von Bäumen, lag er zwischen Feldern und Wiesen, nur ein schmaler Fußweg führte dorthin. Entdeckt hatte Greta Weiß den Weiher bei Google Maps, als sie auf der Suche nach Zordans Haus gewesen war. Aus der Vogelperspektive hatte Loch Nass romantisch und einladend ausgesehen. Die menschliche Perspektive allerdings bot vier Verbotsschilder, die darauf hinwiesen, dass sich nur Angler mit gültigen Papieren am Ufer aufhalten durften.

Das war Greta scheißegal.

Sie hatte eine Handvoll Steine vom Straßenrand mitgebracht, und die mussten unbedingt versenkt werden. Am Ufer stehend, holte sie weit aus und warf jeden Stein mit der ganzen Kraft ihrer Wut aufs Wasser hinaus. Sie konnte werfen wie ein Junge, das hatte sie lange und hart trainiert, um dem Klischee entgegenzutreten, Mädchen könnten dies nicht.

»Scheiße, Scheiße, Scheiße«, schrie sie bei jedem Stein, und als alle versenkt waren, war sie tatsächlich erschöpft und die Wut einigermaßen verraucht.

Greta umrundete den Weiher zur Hälfte und betrat den Holzsteg, der zwei Meter aufs Wasser hinausführte. Sie setzte sich ganz vorn an die Kante und ließ die Füße baumeln. Das Wasser unter ihr war braun und trüb. Sie hasste solche Gewässer. Man konnte nicht sehen, was darin lebte.

Zordan.

Was für ein arrogantes Arschloch.

Was für eine Niederlage.

Er hatte sie abblitzen lassen wie eine blutige Anfängerin – was sie auch war. Anstatt cool zu bleiben und an ihr Ziel zu denken, hatte sie sich von ihm provozieren lassen, und darüber ärgerte sich Greta am allermeisten. Sie hatte sich tagelang auf dieses Interview vorbereitet, alle notwendigen Hintergründe recherchiert, sich Fragen zurechtgelegt, sie hatte eingeplant, dass Zordan sich weigerte, mit ihr zu sprechen, dass er sie aber derart abkanzeln würde, daran hatte sie nicht eine Sekunde gedacht.

Und dann hatte er sie auch noch Schätzchen genannt.

Unglaublich.

Gretas Vater hatte mal über sie gesagt, sie sei ein Junge im Mädchenpelz. Jeder, der sie wie ein niedliches Kind behandelte, musste mit ihren ausgefahrenen Krallen rechnen. Das war bei einem dieser üblichen Sonntagnachmittag-Familientreffen gewesen, als Tante Edith versucht hatte, ihr in die Wange zu kneifen. Greta war acht Jahre alt gewesen und hatte die Hand ihrer Tante weggestoßen – damals ein unglaublicher Eklat. Mit diesem bildhaften Satz hatte ihr Vater die Stimmung gerettet, aber als alle fort gewesen waren, hatte Papa sie auf den Schoß genommen und ihr erklärt, dass es ihr gutes Recht sei, so zu reagieren. Es sei schließlich ihr Körper.

Von Mama hatte sie eine Woche Stubenarrest aufgebrummt bekommen. Am Abend hatte Greta die beiden streiten hören, und wie immer hatte Papa nachgegeben.

Greta hielt sich nicht für einen Jungen und wollte auch keiner sein. Aber sie hasste es, dass Menschen die Geschlechterrollen auch heutzutage noch über längst überholte Klischees definierten. Und die überhebliche Art vieler Männer hasste sie noch mehr. Zordan würde nicht einfach so damit durchkommen. Er war aggressiv und unhöflich gewesen, ohne dafür einen Grund zu haben. Wer sich mit seiner Arbeit in die Öffentlichkeit begab, der musste auch akzeptieren, dass die Öffentlichkeit Interesse an der Person hatte. So funktionierte das nun mal. Schließlich profitierte Zordan von der Presse. Ohne sie wäre er nicht so bekannt. Es war an der Zeit, ihm dies wieder ins Gedächtnis zu rufen. Die etablierten Kollegen hatten sich lange genug von ihm auf der Nase herumtanzen lassen. Vielleicht war es gar keine so dumme Idee von Semrau gewesen, Greta zu schicken. Irgendeinen Grund musste der Chefredakteur ja gehabt haben, aus einem Pool von Dutzenden freiberuflicher Leute ausgerechnet sie auszuwählen. Anfangs hatte Greta geargwöhnt, der alte Sack wolle sie absichtlich auflaufen lassen, damit sie sich die Hörner abstieß.

Der Sprung ins kalte Wasser, sozusagen.

Wenn du in dieses Wasser springst, dann wirst du auch mit Zordan fertig.

Greta hatte keine Ahnung, woher dieser Gedanke plötzlich kam, aber nun war er einmal da, und sie konnte ihn nicht ignorieren. Es war, als hätte jemand zu ihr gesagt, sie würde sich ja doch nicht trauen. Es war, als hätte Semrau hämisch lachend mit dem Finger auf sie gezeigt. Es war, als würde an diesem Weiher ihre weitere berufliche Karriere entschieden.

Greta sah sich um. Lauschte. Bis auf den leichten Wind, der mit den Blättern der Silberpappeln spielte, war es still hier draußen. Sie war allein. Kurz entschlossen zog Greta zuerst ihre Schuhe und danach alles andere aus. Nackt setzte sie sich erneut auf die Kante des Stegs, streckte sich und tauchte ihren Fuß ins Wasser. Es war nicht einmal besonders kalt.

Also, dann los.