Das Gebet des Herzens - Claude Vilain - E-Book

Das Gebet des Herzens E-Book

Claude Vilain

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Beschreibung

Innezuhalten, sich zu besinnen, Gott zu begegnen und in ein tiefes Gebet einzutauchen, fällt in der heutigen Zeit schwer. Lange war Claude Vilain selbst unzufrieden mit der Mittelmäßigkeit seines eigenen geistlichen Lebens. Er machte sich auf den Weg, las Schriften über die Spiritualität des Gebets der Christen, entdeckte Kirchen- und Wüstenväter und erlebete eine bisher unbekannte Tiefe des Glaubens und der Spiritualität. Er entdeckte die Wege der Meditation und des Herzensgebets, die seit vielen Jahrzehnten sein Glaubensleben prägen. In diesem Buch lädt er ein, das Gebet im Innern, von Mensch zu Gott, von Herz zu Herz kennenzulernen und in die Geschäftigkeit des Lebens zu integrieren. Mit praktischen Anleitungen und Inspirationen, eine Gebetszeit zu strukturieren, alleine und in der Gruppe.

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Seitenzahl: 326

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Claude Vilain, geboren 1946 in Brüssel, ist evangelischer Theologe. Nach Abschluss seines Studiums war er als Hochschulseelsorger tätig sowie als Leiter für Kirchensendungen im belgischen Fernsehen verantwortlich. Mehr als drei Jahrzehnte lehrte er an verschiedenen Schulen und Institutionen und war gleichzeitig im Pastoralrat einer evangelikalen Gemeinde südlich von Brüssel aktiv.

In den 90er-Jahren entdeckte er die Wege der Meditation und des Herzensgebets, die fortan seine Theologie prägten. Seit über 25 Jahren organisiert und leitet er lectio divina-Abende sowie Seminare und Einkehrtage zum Thema Herzensgebet.

Claude Vilain

DAS GEBET DES HERZENS

Die Tiefe des Betens spürbar erleben

Aus dem Französischen übersetztvon Eva-Maria Nietzke

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Klimaneutrale Produktion.

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem Papier.

© 2022 Bonifatius GmbH Druck | Buch | Verlag, Paderborn

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden, denn es ist urheberrechtlich geschützt.

Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt München, werkstattmuenchen.com

Umschlagfoto: © shutterstock / Pablo_G

Satz: Bonifatius GmbH, Paderborn

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

eISBN 978-3-89710-972-8

Weitere Informationen zum Verlag:

www.bonifatius-verlag.de

Inhalt

Vorwort

1. Die Quelle freilegen

2. Sehnsucht

3. Die Liebe Gottes

4. Jesus und die Apostel im Gebet

5. Das Herzensgebet

6. Das Jesusgebet

7. Das Atemgebet

8. Tägliche Meditation und lectio divina

9. Praktische Fragen

10. Und wenn Gott schweigt?

11. Gebet verwandelt

12. Unsere Erwartungen an Spiritualität

Epilog

Anhang

I. Gebetszeit strukturieren

II. Biblische Textvorlagen für geflüsterte Gebete

III. Eine lectio divina leiten

IV. Kleine morgendliche Liturgie

V. Tiefer in die Gemeinschaft mit Gott hineinwachsen

Quellenverzeichnis

Vorwort

Ich bin mir bewusst, dass ich den Leser mit diesem Buch auf einen Weg einlade, der ihm vermutlich kaum vertraut ist – einen Weg ins Innere der Seele, einen Weg der Meditation und der Stille. Möglicherweise hat man uns beigebracht, diesen Dingen gegenüber misstrauisch zu sein: Erinnert das nicht zu sehr an die östlichen Religionen oder an psychologische Erfahrungen ohne solide Grundlage? Man hat uns immer wieder dahingehend beeinflusst, nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren, alles zu kontrollieren, mit anderen Worten: Vernunftwesen zu sein. Für viele Menschen bedeutet Gott „kennen“ zunächst einmal, das richtige Wissen zu erlangen und sich eine rigoros konstruierte Theologie zu eigen zu machen. Emotionen sind bestimmten Milieus vorbehalten, die man mit einem gewissen Argwohn betrachtet.

Und doch – zieht sich nicht eine jubelnde Freude wie ein roter Faden durch die Heilige Schrift? Der Psalmdichter spricht von vollkommener Freude in der Gegenwart Gottes und von tiefer Zufriedenheit mit und in Gott. Doch auch wenn wir eine tiefere, sensiblere Erfahrung mit Gott suchen, müssen wir viele Hindernisse überwinden: Wir sind Kinder unserer Gesellschaft, Menschen, die aktiv und engagiert leben und deren Terminkalender so angefüllt sind, dass kaum noch Platz für Gott bleibt. Es fällt uns schwer, innezuhalten, zu meditieren und in tiefes Gebet einzutauchen. Dieses Buch lädt dazu ein, sich Zeit zu nehmen, um anzuhalten, durchzuatmen und den Reichtum zu schmecken, den der Herr uns verheißt, wenn wir einen Raum der Begegnung und des Dialogs mit ihm schaffen.

Ich habe diesen Weg des Herzensgebets – den wir noch genau definieren werden, um Missverständnissen vorzubeugen – eines Tages begonnen, ohne wirklich vorbereitet zu sein. Es ist mehr als zwanzig Jahre her. Ich war zunehmend unzufrieden mit der Mittelmäßigkeit meines geistlichen Lebens, insbesondere meines Gebetslebens. Ein tiefes Erlebnis der Gnade Gottes war dann der Auslöser für das Hinterfragen meiner Spiritualität − oder dessen, was ich damals dafür hielt. Ich entdeckte, dass die Kenntnis Gottes nichts mit der Anhäufung von theologischem Wissen zu tun hat, sondern dass es dabei in erster Linie um eine Beziehung geht. Es war die Einladung, Gott zu kennen, den Sieg des Kreuzes und die Kraft seiner Auferstehung.

Einer der Wüstenväter sagte: „Wenn du ein wahrer Theologe bist, wirst du wahrhaftig beten, und wenn du wahrhaftig betest, bist du ein Theologe.“ Damit brachte er zum Ausdruck, dass man das Gebet nicht von der rechten und tiefen Kenntnis Gottes und seines Wortes trennen kann. Unser Gebet wird vom Wort Gottes gespeist, und das aufrichtige Nachdenken über Gottes Wort führt uns unweigerlich zu Lob und Anbetung. Nun stellte sich mir die Frage, ob mein Erlebnis als ein „Zeichen“ Gottes oder als Erfahrung einzustufen war, die man mithilfe der Psychologie und ohne Bezug zur Religion erklären konnte.

Gewiss kann man jede spirituelle Erfahrung psychologisch erklären, aber wenn wir das tun und es dabei bewenden lassen, laufen wir Gefahr, ein an uns persönlich gerichtetes Wort Gottes zu missachten. Gott kann die Bewegungen unseres Herzens nutzen, um uns einzuladen, ihn tiefer kennenzulernen. Er spricht auf vielfältige Weise zu uns, doch oft sind wir wenig empfänglich für die Subtilität seiner Sprache.

Mein Erlebnis war für mich der Ausgangspunkt einer Reihe von Begegnungen. Die wohl wichtigste für mich war die mit Pastor Daniel Bourguet.1 Er hat mich mithilfe einiger Schriften die Spiritualität des Gebets der orientalischen Christen entdecken lassen, darunter die Anthologie des Gebets von Higoumène Chariton de Valamo2 und die Korrespondenz von Theophan3. Das waren die ersten Schritte, und es sollten viele andere folgen.

Meine nächste Entdeckung war die der Kirchen- und Wüstenväter, jener Männer, die alles aufgaben, um an kargen, einsamen Orten ihr Leben Gott zu weihen. Ich begann orthodoxe und katholische Schriften zu lesen, die mir die Tür zu einer mir bisher unbekannten Welt öffneten. Auf diesem Weg entdeckte ich unvermutete Schätze, die mich immer wieder zu Lob und Anbetung motivierten, voller Dankbarkeit gegenüber dem Herrn, der es mir erlaubt hatte, eine solche Tiefe des Glaubens und der Spiritualität zu entdecken.

Natürlich gab es auch Dinge, die ich nicht unbesehen annehmen konnte. Wie die Christen damals in Beröa (s. Apostelgeschichte 17,11) musste ich für mich abwägen und prüfen. Aber diese Mühe lohnte sich! Und so formte sich Schritt für Schritt die Entdeckung und Anwendung des „Herzensgebets“ oder „Jesusgebets“ in meinem Leben.

Ich bin davon überzeugt, dass es sich dabei um einen Weg unter mehreren handelt. Es liegt mir fern, ihn als den einzig wahren anzupreisen. Man kann das Herzensgebet als Grundlage für sein gesamtes Gebetsleben oder nur dann und wann praktizieren … oder sich gar nicht davon berührt fühlen. Doch diejenigen, die es leben, können bezeugen, dass es ihren Glaubensweg entscheidend geprägt hat. Diese Personen sprechen zumeist diskret darüber, zurückhaltend, um Missverständnisse zu vermeiden. Das Herzensgebet ist ein Weg zu tieferer Gemeinschaft mit dem Einen, der uns von jeher liebt und geduldig darauf wartet, dass wir auf seine Liebe antworten.

Ohne meine evangelikalen Wurzeln zu leugnen, habe ich in diesem Buch auf eine Vielfalt von Ressourcen zurückgegriffen. Der Leser sollte sich also nicht zu sehr wundern, Autoren zu entdecken, die er kaum oder gar nicht kennt und die alle auf ihre eigene Art ein ehrliches Verlangen nach Gott ausdrücken, so wie sie ihn in ihrer eigenen kirchlichen Geschichte innerhalb ihrer Tradition erlebt haben – eine Spiegelung der Spiritualität ihrer jeweiligen Glaubensgemeinschaft.

Das Gebet ist eine lebenslange Reise, dessen Ziel wir nicht auf dieser Erde erreichen werden. Wir werden bis zum letzten Tag unseres Lebens Lernende sein, die sich vorantasten. Und selbst wenn Gott uns die Gnade einer sehr tiefen Erfahrung mit ihm schenkt, werden wir demütig sagen: „Das ist nur ein Vorgeschmack dessen, was uns verheißen ist.“

Gebet und Demut gehen Hand in Hand – wir lesen gewissermaßen die Krümel auf, die vom Tisch des Königs herabfallen. Hüten wir uns davor, hochmütig zu werden und zu glauben, wir seien große „Beter“ geworden, die das Ziel des Weges erreicht haben. Vielmehr werden wir immer Bettler bleiben, die wie die Jünger bitten: „Herr, lehre uns beten.“

Eine letzte Bemerkung zum Buch: Sein Entstehen zog sich über mehrere Jahre hin. Wie oft war ich versucht, das Manuskript unberührt in der Schublade zu lassen – ich fühlte mich nicht würdig, über ein solches Thema zu schreiben. Doch schließlich war das Schreiben eine Art Therapie für mich; denn bei jedem Absatz stellte ich mir die Frage: „Lebst du auch, was du da schreibst?“

Ich hoffe, dass auch Sie sich diese Frage beim Lesen stellen und dass der Heilige Geist Ihren Blick und Ihre Gedanken während der Lektüre dieser Seiten auf den Vater, unseren „Abba“ lenkt, der uns unaufhörlich zuflüstert, dass wir seine geliebten Kinder sind.

1Zitate aus den Werken von Daniel Bourguet ziehen sich durch das gesamte Buch. Daniel Bourguet ist Pastor der Église réformée de France (Reformierte Kirche Frankreichs) und lebt als Einsiedler ein mönchähnliches Leben in Südfrankreich. Er war viele Jahre lang Prior der Fraternité spirituelle des Veilleurs. Er ist Verfasser einer Reihe von Büchern zum Thema christliche Meditation und Gebet und führt andere mit viel Einfühlungsvermögen auf den Weg des spirituellen Lebens. Für weitere Informationen: www.editions-olivetan.com/27-coll-veillez-et-priez

2Higoumène Chariton, L’art de la prière, Spiritualité orientale n° 18, Bégrolles-en-Mauges, Abbaye de Bellefontaine, 1976.

3Theophan der Klausner (1815–1894), Rektor der Akademie Petersburg, Bischof von Tambow und später von Wladimir, zog sich 1886 in das Wyscha-Kloster zurück, wo er 28 Jahre lang, bis zu seinem Tod, als Einsiedler lebte. Er verbrachte seine Zeit mit Gebet, dem Verfassen geistlicher Literatur und dem Beantworten zahlreicher Briefe von Menschen in ganz Russland. Ein großer Teil dieser Korrespondenz hatte das Gebetsleben und insbesondere das Herzensgebet zum Thema.

1.Die Quelle freilegen

„Ich habe das Gefühl, dass ich das Gebet seit Jahren in meinem Herzen trug, ohne es zu wissen. Es war wie eine Quelle, die von einem Stein bedeckt war. Eines Tages nahm Jesus den Stein fort und die Quelle begann zu sprudeln. Seitdem hat sie nie aufgehört zu sprudeln.“001

Erstaunliche Worte von André Louf: Das Gebet „plätschert“ ohne unser Bewusstsein in unserem Innern, bis eines Tages auf geheimnisvolle Weise „ein Stein“ fortgenommen wird, sodass es ungehindert sprudeln kann − als Ergebnis einer Gnade oder als Antwort auf eine unermüdliche Suche. Zwar ist das Gebet für jede christliche Erfahrung von grundlegender Bedeutung, doch wie viele Hindernisse gilt es zu überwinden, bevor es zu einer Realität wird, die in unserem tiefsten Innern wohnt und unser Leben mit Sinn erfüllt!

Das Gebet ist im Herzen jedes Gläubigen präsent, doch oft ist es wie ein Stammeln. Unsere Herzen sind manchmal wie Mauern, die der Gnade trotzen. Wir fühlen uns so hilflos, wenn es ums Beten geht. Wir schwanken zwischen Entmutigung und Schuldgefühlen. Wir fühlen uns dem Jünger nah, der angesichts des Gebetslebens von Jesus die Bitte auszusprechen wagte: „Herr, lehre uns beten.“

Ist das Gebet tatsächlich wie ein fernes, unerreichbares Ufer? Müssen wir ebenso beten: „Herr, lehre uns beten“? Der Herr lädt uns quer durch die Heilige Schrift zum Gebet ein. Wie gehen wir mit dieser Einladung um? Ist es für uns eine Utopie, eine nie zu erreichende Wirklichkeit, oder ist es wie ein Kanal, durch den das lebendige Wasser fließen kann, von dem Christus allen, die sich ihm aufrichtig nähern, verspricht, dass es im Überfluss sprudeln wird? Jesus sagte:

„Wer Durst hat, der soll zu mir kommen und trinken! Wer an mich glaubt, wird erfahren, was die Heilige Schrift sagt: Von seinem Inneren wird Leben spendendes Wasser ausgehen wie ein starker Strom“ (Johannes 7,37.38).

Das lebendige Wasser, das Jesus uns anbietet, ist das Einzige, das unseren Durst – all unseren Durst − stillen kann.

Auch der samaritanischen Frau am Brunnen in Johannes 4 bot Jesus dieses Wasser an: „Wenn du wüsstest, was Gott dir geben will und wer dich hier um Wasser bittet, würdest du mich um das Wasser bitten, das du wirklich zum Leben brauchst. Und ich würde es dir geben“ (Johannes 4,10).

Mehrere Jahrhunderte zuvor hatte der Psalmdichter bereits die Quelle des wahren Lebens in Gott entdeckt: „Denn du bist die Quelle – alles Leben strömt aus dir“ (Psalm 36,10).

Dieses lebendige Wasser ist Jesus Christus selbst, der durch den Heiligen Geist in uns wohnt. Aber seine Gegenwart kann sich nur dann in ganzer Fülle entfalten und unser Leben bewässern, das Gebet kann nur dann wie eine Quelle sprudeln, wenn der Stein fortgenommen wird, der unser Herz verschließt.

Das Gebet kann nur dann wie eine Quelle sprudeln, wenn der Stein fortgenommen wird, der unser Herz verschließt.

Unsere Gesellschaft bietet uns so viele Möglichkeiten, unseren Durst an allen möglichen Quellen zu stillen. Darum laufen wir Gefahr, die eine Quelle zu verpassen, die allein unseren Durst stillen kann, wie Jeremia so treffend ausdrückte: „Denn mein Volk hat eine doppelte Sünde begangen: Erst haben sie mich verlassen, die Quelle mit Leben spendendem Wasser, und dann haben sie sich rissige Zisternen ausgehauen, die überhaupt kein Wasser halten“ (Jeremia 2,13).

Wir haben Durst nach dem Leben spendenden Wasser, doch unser Leben ist von so vielen Dingen angefüllt, dass dieser Durst oft unterdrückt wird. Wir haben uns eine Vielzahl von Brunnen erschaffen, die mehr oder weniger unseren Durst stillen … und meistens belassen wir es dabei, bis wir eines Tages erkennen, dass sie unseren tiefsten Durst nicht stillen können, ähnlich wie das Wasser des Brunnens, das die samaritanische Frau täglich neu schöpfen musste.

Ich bin davon überzeugt, dass das Gebet der uns von Gott vorgeschlagene Königsweg ist, um den Geschmack am Leben spendenden Wasser Gottes wiederzufinden und es reichlich in unserem Leben fließen zu lassen. Wir werden im Laufe dieses Buches gemeinsam zu entdecken versuchen, was den Zugang zum tiefen Gebet – dem Gebet der Gemeinschaft mit Gott, des gegenseitigen Zuhörens – so schwierig macht. Gott hat für jeden von uns diese Gebetsqualität geplant. Sie ist keineswegs einer Elite vorbehalten, sondern steht für jeden offen, der sich danach sehnt. Wir werden versuchen herauszufinden, warum unser Wunsch nach einem tiefen Gebetsleben oft nur einige Tage anhält und warum wir so oft meinen, es gäbe viele andere, konkretere, spannendere Dinge zu tun als zu beten.

Der in diesem Buch beschriebene Weg ist praktisch und konstruktiv. Der Leser wird einige Hinweise und Spuren entdecken, die ihm helfen können, ein tieferes und authentischeres Gebetsleben zu praktizieren, sowohl in seiner täglichen „stillen Zeit“ als auch mitten in seinen Alltagsaktivitäten.

Viele Wege

Es gibt zahlreiche Wege des Gebets und unterschiedliche Formen, je nach Umstand und Sensibilität. Im Laufe dieses Buches werden wir uns in erster Linie auf das individuelle Gebet konzentrieren – jenes Gebet, das wir einerseits im Verborgenen unseres Zimmers und andererseits in den unterschiedlichen Situationen unseres Alltags leben. Es sind zwei unterschiedliche, einander ergänzende Wege, die uns geschenkt werden, um unser Leben in Gott zu verankern.

Der erste Weg ist sicherlich der uns vertrauteste. Es ist der Weg, den wir ganz natürlich beschreiten, wenn wir uns Zeit nehmen, in der Bibel zu lesen, darüber nachzudenken und zu beten. Es geht hier also nicht um das gemeinschaftliche Gebet, sondern um das Gebet im Verborgenen, von dem Jesus in der Bergpredigt spricht:

„Wenn du beten willst, zieh dich zurück in dein Zimmer, schließ die Tür hinter dir zu und bete zu deinem Vater. Denn er ist auch da, wo niemand zuschaut. Und dein Vater, der auch das Verborgene sieht, wird dich dafür belohnen“

(Matthäus 6,6).

Es ist das Gebet im Inneren, im Angesicht des Herrn, von Herz zu Herz. Man tritt nicht ganz so leicht in dieses Gebet ein, wie man glauben könnte. Und doch ist dies ein ganz entscheidender Schritt, den wir gehen müssen, wenn wir uns nach tieferer Gemeinschaft mit unserem Vater im Himmel sehnen.

Der zweite Weg verfolgt das demütige Ziel, das Gebet als Realität zu erleben, die uns den ganzen Tag über begleitet, sogar mitten in unseren zahlreichen Aktivitäten. So können wir auf die Aufforderung von Jesus und von Paulus antworten, „unablässig“ zu beten.

Der erste Weg handelt also vom tiefen Gebet, das unsere Momente der Andacht und der Stille erleuchtet, während uns der zweite Weg zeigt, dass es möglich ist, ständig mit dem Herrn in Gemeinschaft zu bleiben, selbst mitten in der Geschäftigkeit unseres Lebens, und jederzeit im Dialog mit dem Vater zu sein. Beide Wege sind „Herzensgebet“. Der erste betrifft die spezifischen Momente der Andacht, der zweite will alle Momente unseres Lebens bewässern. Die beiden Gebetsbewegungen stehen nicht miteinander im Wettbewerb – keine von beiden ist reicher oder sinnvoller als die andere. Es sind zwei Wege, die zum gleichen Ziel führen: Sie sollen uns helfen, eine authentischere Gemeinschaft mit dem Herrn zu entwickeln.

Doch bevor wir uns näher mit den beiden Wegen beschäftigen, sollten wir uns einige grundlegende Wahrheiten in Erinnerung rufen, sofern wir den Wunsch haben, ein Gebetsleben in Übereinstimmung mit den Gedanken Gottes, genährt von seinem Wort und erleuchtet von seinem Geist, zu entwickeln.

Wir sind von Gott geliebt!

Die gesamte biblische Offenbarung ist eine einzigartige Liebesgeschichte: Die Geschichte der Liebe Gottes zu einem Volk, das er sich auserwählt hat, und zur Menschheit in ihrer Gesamtheit. Es ist die stürmische Geschichte einer Braut, die oft, viel zu oft, der Liebe ihres Bräutigams gegenüber gleichgültig ist. Die Geschichte von der leidenschaftlichen Liebe eines Gottes, der sich selbst opfert, um uns mit ihm zu versöhnen. Gott sagt uns nachdrücklich, dass wir seine „geliebten Kinder“ (Matthäus 3,17) sind und wartet voller Ungeduld auf unsere Antwort auf seine Frage: „Liebst du mich?“ (Johannes 21,15).

Unsere Antwort ist mit Nachfolge verbunden: „Wer mich liebt, richtet sich nach dem, was ich gesagt habe. Auch mein Vater wird ihn lieben […]“ (Johannes 14,23). Diese wiederum hat zur Folge, dass wir seine Nachahmer werden: „Ihr seid Gottes geliebte Kinder, daher sollt ihr in allem seinem Vorbild folgen. Geht liebevoll miteinander um, so wie auch Christus euch seine Liebe erwiesen hat […]“ (Epheser 5,1–2).

Alle Überlegungen im weiteren Verlauf dieses Buches gründen sich auf diese Realität: Wir sind von Gott geliebt! Wenn wir in das Mysterium des Gebets eintreten wollen, sollten wir diese Überzeugung an die erste Stelle setzen: „Gott liebt mich.“

Das Gebet kommt uns anfangs vielleicht wie eine Pflichtübung vor, die es zu erledigen gilt, doch wir werden entdecken, dass es in Wirklichkeit eine Quelle des Lebens, der Freude und des tiefsten Glücks ist. Das Gebet nach dem Herzen Gottes ist niemals eine Last oder Pflicht oder Unannehmlichkeit, sondern die Begegnung mit dem Einen, der uns von aller Ewigkeit her liebt. Das bedeutet jedoch nicht, dass das Gebet nie Kampf oder Ringen, manchmal schmerzvolles Ringen ist. Doch wenn wir uns auf diesen Kampf einlassen, dann sicherlich nicht, um Gottes Widerstand zu besiegen, sondern unseren eigenen Widerstand, uns seinem Willen unterzuordnen.

Wir werden später den ganzen Weg sehen, zu dem wir eingeladen sind, damit unser Ja zu Gottes Liebe nicht theoretisches Wissen bleibt, sondern zur Lebensrealität wird, die uns zutiefst verändert. Wir werden entdecken, dass dieser Weg schwierig und mühsam sein kann, weil sich unser kulturelles, soziales und intellektuelles Umfeld dagegenstellen.

Vielleicht würde unser Leben völlig umgekrempelt, wenn wir nur ein wenig dieses Wort „von Gott geliebt“ ernst nehmen würden. Lässt sich unsere Mittelmäßigkeit und unsere geistliche Armut darauf zurückführen, dass wir nicht ausreichend dazu in der Lage sind, die Wahrheit, von Gott geliebt zu sein, in unser Leben zu integrieren?

Lieben und geliebt werden sind Grundbedürfnisse unserer Existenz, eine entscheidende Komponente unserer Persönlichkeit, ein Bedürfnis, das im Herzen jedes Menschen verankert ist. Ohne Liebe verkümmert unser Leben. Es ist uns gleichermaßen ein Bedürfnis, geliebt zu werden, wie Liebe zu schenken. Wir wissen, welche tiefen Wunden im Herzen eines Kindes entstehen, dem es an Liebe fehlt. Wir wissen, dass die Liebe alles verändert. Wenn man verliebt ist, wird alles von diesem Gefühl erhellt: Eine gewöhnliche Mahlzeit wird zum Fest, ein trüber, grauer Himmel erscheint strahlend wie der Sommerhimmel in Italien.

Lieben und geliebt werden sind also grundlegende Bedürfnisse des Menschen, doch die Erfahrung lehrt uns, dass es in der Praxis nicht so einfach ist, wie es in Liebesliedern besungen wird. Wir können die Freude, den Genuss der Liebe wertschätzen, ohne zu begreifen, dass Liebe auch Geben und miteinander Teilen bedeutet. Jesus sagte, es gäbe keine größere Liebe als die, sein Leben für seine Freunde zu geben (Johannes 15,13). In der Bibel werden die drei griechischen Begriffe eros, philia und agape verwendet, um die unterschiedlichen Facetten der Liebe zu beleuchten, wobei agape die Liebe beschreibt, die Gott uns zuwendet.

Wir kennen die dramatische Erfahrung einer einseitigen, nicht erwiderten Liebe. Was für unsere zwischenmenschliche Liebe gilt, gilt noch mehr in Bezug auf die Liebe Gottes zu uns: Er ist der Erste, der die Erfahrung eines Liebesangebots macht, das bei uns nur eine schwache Antwort auslöst. Unser Widerstand gegenüber seinem Werben bricht ihm sein Vaterherz. Er schenkt uns seine Liebe in ihrer ganzen Fülle und erwartet von uns ein Zeichen, eine Reaktion, und sei sie noch so diskret. Wie viele Widerstände, wie viel Verrat, wie viele Kompromisse unsererseits hindern ihn daran, in unser Herz hineinzulegen, was er seit ewigen Zeiten für uns bereithält?

Gewiss ist es leichter, jemanden zu lieben, den wir mit unseren physischen Augen sehen, als jemanden, der unseren natürlichen Sinnen verborgen bleibt. Die zwischenmenschliche Liebe ist konkret, sichtbar, spürbar. Sie zeigt sich mit Blicken und Worten, die uns unserer Liebe zueinander versichern. Es ist leichter zu lieben, wenn man sich geliebt weiß und diese Liebe durch spürbare Gesten erfährt. Wenn wir sagen, dass Gott uns liebt, dann müssen wir akzeptieren, dass seine Liebe einer anderen Realität angehört, sich auf einer anderen Ebene ausdrückt und erlebt wird als die zwischenmenschliche Liebe.

Doch die Bibel beschränkt sich nicht darauf, uns zu sagen, dass wir von Gott geliebt sind; sie zeigt uns auch einen Weg, auf dem sich diese Liebe ganz praktisch erfahren lässt – durch das Befolgen seines Wortes, den Dienst am Nächsten, in Solidarität und Gemeinschaft.

Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass unser wahres Glück in Gott verborgen ist. Alle anderen Dinge, die uns glücklich machen – ob zu Recht oder nicht –, sind nur ein Schatten, ein schwacher Abglanz des Glücks, das Gott uns anbietet. Um Gemeinschaft mit Gott zu erfahren, ist das Gebet unumgänglich: Es ist keine Option, keine Nebensache, sondern der Königsweg zum Glück der Gemeinschaft mit Gott.

Auf den folgenden Seiten werden wir ausgiebig darauf zurückkommen.

2.Sehnsucht

Liebe und Glück stehen im Mittelpunkt einer Suche, die sich wie ein roter Faden durch die gesamte Geschichte der Menschheit zieht. Doch was früher ein Suchen, eine Hoffnung, eine Erwartung war, ist heute ein „Recht“ geworden. Man glaubt, ein Recht auf Glück und Genuss zu haben. Das wiederum kurbelt die Wirtschaft und insbesondere das Marktsegment der Selbstverwirklichung an. Die Werbung hat sich perfekt darauf eingestellt und spricht pausenlos Bedürfnisse an, die es zu befriedigen gilt, um glücklich zu sein: Reisen, Anschaffungen, der Kult des jungen und schönen Körpers … Lauter Vorschläge, die suggerieren, dass diejenigen, die all das nicht haben, Außenseiter, Benachteiligte, oder einfach frustrierte Menschen sind.

Genuss, Glück und Freude

Diese drei Begriffe werden häufig verwechselt, obwohl sie unterschiedliche Realitäten darstellen. Wir wollen sie uns näher ansehen und voneinander unterscheiden:

•Genuss ist ein vorübergehendes Empfinden, das sich einstellt, wenn eine Erwartung, ein Bedürfnis, ein Wunsch erfüllt wird. Ich habe Durst, also trinke ich. Das bereitet mir Genuss. Doch sobald mein Durst gestillt ist, verschwindet das Empfinden des Genusses. Das Gleiche gilt für die Befriedigung anderer Bedürfnisse: Essen, Schlafen, Zärtlichkeit empfangen… Sogar das Betrachten einer wunderschönen Landschaft ruft nur eine vorübergehende Empfindung hervor. Sicherlich bewahrt man die Erinnerung daran, doch sie verblasst schon bald.

•Freude ist ebenfalls eine Empfindung, doch sie ist viel intensiver und berührt unser ganzes Wesen. Sie kann uns zum Tanzen, Jubeln, Singen oder Lachen animieren. Wir empfinden jedes Mal Freude, wenn wir einen persönlichen Sieg errungen haben: eine bestandene Prüfung, ein gelungenes Kunstwerk, die Befriedigung einer erledigten Aufgabe oder die Ankündigung einer guten Nachricht.

Die Freude nimmt im Wort Gottes einen hohen Stellenwert ein. Im Alten Testament steht sie in Verbindung mit der Erwartung des Heils, der Rückkehr aus dem Exil und der Ankunft der Endzeit (siehe Jesaja 9,2 und Jesaja 35,10). Das Neue Testament spricht von der Freude als einer Realität, die der Gläubige bereits hier und heute erfahren kann. Das Thema Freude kommt immer wieder in den Schriften des Johannes vor. Jesus verheißt diese Freude und erbittet sie von seinem Vater (Johannes 17,3), und sie wird den von Trauer gezeichneten Jüngern nach seiner Auferstehung geschenkt (Johannes 16,20–24).

•Glück ist − im Gegensatz zum Genuss und auch zur Freude – ein Zustand tiefer Befriedigung, ja der Fülle und heiteren Ruhe, der sogar inmitten schwieriger Umstände erhalten bleiben kann. Dieser Zustand erfordert, dass wir an uns arbeiten; er will gesucht und genährt werden. „Es ist ein dauerhafter Zustand, das Ergebnis einer Arbeit, eines Willens, einer Bemühung.“002

In einer Gesellschaft, in der die Suche nach dem Glück großgeschrieben wird, ist die Aufforderung des Psalmschreibers, Freude und Glück in Gott zu finden (Psalm 37,4), brandaktuell: „Freue dich über den Herrn“ (HFA) oder „Habe deine Lust am Herrn“ (LUT) könnten übersetzt werden mit: „Finde dein größtes Glück im Herrn.“ David spricht offensichtlich nicht von einem flüchtigen Glück, sondern von der aktiven Suche nach der Gegenwart des Herrn, geprägt von Vertrauen, aber auch von einer verbindlichen Nachfolge. In Psalm 4,7 stellt er die Frage: „Wer wird uns das Glück schauen lassen?“ Die Antwort lautet: Das Glück findet sich in einer tiefen, persönlichen Beziehung zu Gott.

Eine Einladung

Die Aufforderung, uns an Gott zu erfreuen, findet ihr Echo im ersten und größten Gebot, das Jesus in Erinnerung ruft: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, mit ganzer Hingabe und mit deinem ganzen Verstand“ (Matthäus 22,37). Nun könnte man sich darüber wundern, dass diese Einladung zum Glück wie ein Gebot formuliert wird: „Du sollst lieben!“ Kann man Liebe gebieten? Wenn man liebt, weil man es soll, ist das wirklich Liebe oder nur die Antwort auf einen Zwang, die Unterwerfung unter ein Gesetz? Was genau ist mit diesen Worten gemeint: „Habe deine Lust am Herrn […]“ – „Du sollst den Herrn lieben […]“

Allzu häufig reduzieren wir die Liebe auf den Ausdruck von Gefühlen. Gibt es etwas Mitreißenderes und zugleich Zerbrechlicheres als die Verliebtheit? Das Gefühl des Verliebtseins weckt in uns die Illusion „ewiger Liebe“. Wie viele Enttäuschungen, Misserfolge und Dramen entstehen, weil man glaubte, man brauche sich nur von seinen Gefühlen leiten zu lassen, um sicherzugehen, dass die Liebe der Zeit und Gewohnheit widersteht. Doch Liebe kann sich nur in ihrer ganzen Kraft und Schönheit entfalten, wenn sie von einem konkreten Engagement begleitet wird: Wirklich lieben bedeutet, es zu wollen. Ansonsten läuft man Gefahr, dass die kleinste Widrigkeit, die geringste Enttäuschung, weil der andere nicht komplett unseren Erwartungen entspricht, die Liebe ins Wanken bringt. Wahre Liebe schließt unser ganzes Wesen ein: unser Herz, unsere Kraft, unseren Willen, unsere Seele, unser Denken. Die Liebe auf den ersten Blick steht vielleicht am Anfang einer großen Verliebtheit, doch es braucht Geduld und Ausdauer, um dieses Gefühl in eine Liebe zu verwandeln, die tragfähig genug ist, sowohl die Freuden als auch die Tiefschläge des Lebens auszuhalten.

Das Gleiche gilt für das Liebesprojekt, das Gott für uns bereithält. Er ergreift voll und ganz die Initiative, doch es liegt an uns, der Aufforderung zu folgen, in dieser Liebe zu bleiben. Das ist der Preis für die Freiheit, die Gott uns schenkt: Wir können seiner Aufforderung, ihn zu lieben, widerstehen oder nur zaghaft darauf antworten, wie es leider oft, zu oft, der Fall ist. Doch wenn wir entdecken, dass Gott uns liebt, und den Wunsch haben, dass diese Liebe Leben hervorbringt, dann müssen wir auf diese Liebe antworten. Gott zündet die Flamme in unserem Herzen an, doch es liegt an uns, sie am Leben zu halten, sie zu nähren, damit sie größer und nachhaltiger wird. Mangelnde Investition in die Liebesbeziehung zu Gott führt oft zu spirituellem Scheitern. Doch Gott lässt uns keinesfalls allein: Wenn er in uns den Wunsch weckt, ihn zu lieben und mit ihm Gemeinschaft zu haben, so ist er auch derjenige, der uns hilft, auf diesem Weg zu wachsen und Fortschritte zu machen, sofern wir das wollen und uns ihm öffnen. Unsere Liebe zu ihm wird immer eine stammelnde Liebe sein, doch wenn wir uns bemühen, sie im Laufe unseres Weges und durch unsere Lebensumstände hindurch zu nähren, dann wird sie sich immer mehr zu einer Lebens- und Glaubensrealität entwickeln, wie Daniel Bourguet schreibt:

„Die kleine Liebe, die ich heute für Gott habe, ist nur der Beginn dessen, was ich eines Tages in ganzer Fülle besitzen werde. Doch selbst dieses wenige ist bereits ein Geschenk von ihm. Meine kleine Liebe ist nicht etwa das Ergebnis meiner Arbeit, die Frucht meiner Aktivität, sondern vielmehr ein Gut, das niemand anderer als Gott selbst in mich hineingelegt hat. Wer anders könnte dies tun? Dieses zerbrechliche Gut ist das Zeichen des Handelns Gottes mit mir – ein Handeln seiner Liebe. Daher kann ich sagen, dass Gott den ersten Schritt getan hat: ‚Wir lieben, weil Gott uns zuerst geliebt hat‘“ (1. Johannes 4,19).003

Unablässige Suche oder unverhofftes Geschenk?

Die Entdeckung der Liebe Gottes bleibt ein Mysterium. Für manche ist sie mit einer unablässigen Suche verbunden, andere erfahren sie auf erstaunlich unverhoffte Weise. Diese beiden Aspekte finden sich auch in den Worten von Jesus über das Reich Gottes:

„Gottes himmlisches Reich ist wie ein verborgener Schatz, den ein Mann in einem Acker entdeckte und wieder vergrub. In seiner Freude verkaufte er sein gesamtes Hab und Gut und kaufte dafür den Acker mit dem Schatz. Mit Gottes himmlischem Reich ist es auch wie mit einem Kaufmann, der auf der Suche nach kostbaren Perlen war. Als er eine von unschätzbarem Wert entdeckte, verkaufte er alles, was er hatte, und kaufte dafür die Perle“ (Matthäus 13,44–46).

Jesus stellt uns hier zwei kontrastierende Situationen vor: Einige von uns sind auf der Suche nach der kostbaren Perle und geben sich nicht eher zufrieden, bis sie sie gefunden haben. Sie sind bereit, alles zu opfern und aufzugeben, um diese Perle zu erwerben. Es ist eine unablässige Suche, die ein ganzes Leben beanspruchen kann. Gott ist in Jesus Christus die kostbare Perle, die alle anderen übertrifft. Andere finden den Schatz, indem sie den Acker umgraben, ohne zu wissen, dass sich der Schatz darin befindet. Sie haben keine Erwartungen, und plötzlich zeigt Gott sich ihnen auf eindrückliche Weise. Zahlreiche Zeugnisse sprechen von Männern und Frauen, die nicht aktiv suchten und dann eines Tages von der Offensichtlichkeit der Realität Gottes überwältigt wurden. Für einige hat diese Entdeckung ihr ganzes Leben umgewälzt; andere haben nur für einen Moment in dieser lichtvollen Erfahrung geschwelgt, ohne Folgen für ihr weiteres Leben. Leider gibt es viele Berichte von Menschen, die einen solchen Moment der Gnade erlebten, sich aber damit begnügten; Gott hat ihnen die Hand gereicht, doch sie hielten sie nicht fest. Derjenige jedoch, der den Acker bearbeitet, hat begriffen, dass dieser Schatz wert ist, alles andere dafür aufzugeben. Er verkauft seinen ganzen Besitz, um den Acker zu erwerben und damit den Schatz, der darin verborgen ist.

In dem Gleichnis von Jesus verhalten sich der Kaufmann und der Mann, der den Acker bearbeitet, beide gleich: Sie opfern alles, um die Perle bzw. den verborgenen Schatz zu erwerben. Doch egal, ob Gott sich uns auf unerwartete Weise oder als Antwort auf anhaltendes Suchen zeigt – unsere Antwort auf seine Liebe ist immer mit einem gewissen Ringen verbunden. Die Begegnung der Gnade ist niemals das Ziel, sondern der Beginn eines Weges. Gottes Wort antwortet auf unsere legitime Suche nach dem Glück, doch es macht auch deutlich, dass die Entdeckung desselben oft das Ergebnis eines langen Weges, die Frucht einer Suche ist, die Ausdauer und Engagement erfordert.

Als Jakob Gott in der Furt am Jabbok begegnet, ruft er aus: „Ich lasse dich nicht eher los, bis du mich gesegnet hast!“ (1. Mose 32,27). Der Segen, den Jakob sucht und von ganzem Herzen erhofft, wird ihm erst nach einem Kampf gewährt, der die ganze Nacht anhält. Wollte Gott Jakob diesen Segen denn nicht schenken? Ganz gewiss wollte er das, doch er wartete darauf, dass Jakob bereit war, sich mit seinem ganzen Wesen einzusetzen. Erst nach dem langen Ringen in der Nacht konnten die Sehnsucht Gottes und die Sehnsucht Jakobs miteinander in Einklang kommen. „Wenn wir mit Gott kämpfen, dann ist es kein Kampf gegen Gott, sondern mit Gott gegen den Zweifel, die Trägheit oder unsere Auflehnungen, gegen Entmutigung und Verzweiflung…“004

Nach dem Ringen mit Gott erhält Jakob den Segen des Herrn und trägt fortan einen neuen Namen, doch er hat nun auch eine lahme Hüfte und hinkt. Habe ich je ein solches Gebet gewagt? Haben wir je gewagt, eine solche Bitte auszusprechen? Haben wir je zu Gott gesagt: Ich lasse dich erst los, wenn du mich gesegnet hast?

Wie schwer fällt es uns, so zu beten. Henry Nouwen schrieb mit großer Ehrlichkeit und Klarsicht, nachdem er das Rembrandt-Gemälde „Rückkehr des verlorenen Sohnes“ betrachtet hatte: „Hatte ich jedoch selber jemals wirklich gewagt, in die Mitte zu treten, niederzuknien und mich von einem vergebenden Gott umarmen zu lassen?“005 Im Licht voranzugehen und Gott zu bitten, uns zu segnen, ist mit einem gewissen Risiko verbunden; denn wir wissen nicht, wohin uns diese Erfahrung Gottes führen wird. Henry Nouwen fährt fort:

„Das ist der Ort, an den zu gelangen ich mich so sehr sehne, an dem zu sein ich mich aber so sehr fürchte. Es ist der Ort, an dem ich alles empfangen werde, was ich begehre, alles, was ich je erhoffte, alles, was ich je benötige, aber es ist auch der Ort, an dem ich alles loslassen muss, was ich am liebsten festhalten möchte.“006

Sind wir bereit, loszulassen und das aufzugeben, was wir für sicher hielten, um Gott zu unserer einzigen Sicherheit zu machen? Als Gott Abraham dazu aufforderte, sein Heimatland zu verlassen, nannte er nicht das Ziel seiner Reise; „[…] zieh in das Land, das ich dir zeigen werde!“ (1. Mose 12,1). Könnte es ein unklareres Ziel geben? Gott forderte ihn auf, sein Land, das Haus seines Vaters, mit einem Wort: seine Wurzeln und Sicherheiten aufzugeben, um sich auf den Weg der Karawanen zu machen, ohne zu wissen, wo seine Reise enden sollte. So war es auch, als Jesus seine Jünger aufrief, ihm zu folgen. Er gab ihnen nur eine Verheißung mit auf den Weg: „Ich werde euch zu Menschen machen, die andere für Gott gewinnen“ (Matthäus 4,19). Wie viel Mut und Vertrauen sind nötig, um auf dieses einzige Wort Gottes hin ins Ungewisse zu ziehen. „Es ist eine schwierige Entscheidung“, stellt Michel Cornuz fest, „denn man weiß, was man verliert, aber man weiß noch nicht, wo sich das verheißene Land befindet, ja man weiß nicht einmal, ob es wirklich ein verheißenes Land gibt.“007

Ob wir uns nach tieferer Gemeinschaft und einer authentischeren Erfahrung Gottes ausstrecken wie Jakob oder aber wie bei Abraham Gottes Ruf an uns ergeht – die Widerstände und Risiken sind gleich: Es ist immer eine Reise ins Ungewisse, eine Reise des Glaubens, eine Prüfung unseres Vertrauens in den Einen, der uns liebt und auf uns wartet.

Henri Nouwen erkannte, dass all seine Sehnsüchte und Erwartungen ihre Antwort in Gott finden, und doch musste er einräumen, dass es eine Herausforderung bleibt, ihm alles zu geben:

„Oh Herr, was oder wen könnte ich mir wünschen außer dir? Du bist mein Gott, der Herr meines Herzens, meines Geistes und meiner Seele. Du kennst mich durch und durch. Du bist der Ursprung und das Ziel aller Dinge. Du trägst alles Seiende in deinen Händen und hältst es durch deine ewige Liebe und deine grenzenlose Barmherzigkeit am Leben.

Warum also beharre ich darauf, Glück und Zufriedenheit außerhalb von dir zu suchen? Warum behandele ich dich wie einen Freund unter mehreren? Bist du nicht mein einziger Freund? Derjenige, auf dem alle anderen Freundschaften aufbauen?

Warum, Herr, fällt es mir so schwer, dich zu meiner einzigen Liebe zu machen? Warum zögere ich, loszulassen und mich dir vorbehaltlos auszuliefern?

Hilf mir, Herr, das falsche Ich zu töten, das ich immer wieder auf tausendfache Weise zu konstruieren suche, indem ich mich an meine trügerischen Begierden klammere. Lass mich in dir zu neuem Leben erwachen. Hilf mir, die Welt aus deiner Perspektive zu sehen, damit meine Taten, Worte und Gedanken ein Lobgesang zu deiner Verherrlichung sind.“008

Ein Leben voller Sehnsucht

Es gibt kein wahres christliches Leben und somit authentisches Gebet, wenn ihm nicht eine tiefe Sehnsucht zugrunde liegt – die Sehnsucht nach Gott, nach der Gemeinschaft mit ihm. Das Wesen des Menschen ist von Wünschen und Bedürfnissen geprägt. Der Wunsch, die Sehnsucht nach etwas oder jemandem motiviert uns dazu, zu handeln, zu wählen, Entscheidungen zu treffen. Die physischen Grundbedürfnisse Essen, Trinken und Schlafen müssen erfüllt werden, um nicht zu sterben. Auch das psychische Grundbedürfnis nach Liebe – geliebt zu werden und Liebe zu schenken – hat diesen elementaren Charakter. Wünsche dagegen dienen nicht zum Überleben, sondern dazu, dem Leben Geschmack und Würze zu verleihen − man kann essen, um zu überleben, aber man kann auch leben, um zu essen.

Unsere Gesellschaft kreiert eine Vielzahl von Bedürfnissen, die oft zweitrangig oder überflüssig sind, von denen wir aber trotzdem den Eindruck haben, es sei wichtig, sie zu befriedigen. Bei der Vielfalt der Angebote kann einem regelrecht schwindelig werden. Wir sind frustriert, weil wir den Eindruck haben, ein einziges Leben würde niemals ausreichen, um alle Angebote auszuschöpfen. Unsere Gesellschaft ist von dem Verlangen nach „immer noch mehr“ gekennzeichnet. Wir sind davon wie gelähmt und zappen uns permanent durch das Programm: Wir laufen von einer Aktivität zur nächsten und nehmen uns nicht die Zeit, den gegenwärtigen Augenblick zu genießen. Diesen Druck spüren wir auch in unseren Andachtsund Gebetszeiten. Selbst wenn wir das Verlangen haben, Zeit mit Gott zu verbringen, laufen wir Gefahr, uns allzu schnell vom Klingeln des Telefons oder dem Eintreffen einer neuen Nachricht auf unserem Tablet oder unserem Smartphone ablenken zu lassen …

Und doch werden wir nur dann einen Weg lebendigen Glaubens und harmonischen Gebets finden, wenn wir unsere Beziehung zu Gott in den Mittelpunkt unseres Verlangens stellen. Natürlich kann man Gott aus Pflichtbewusstsein heraus gehorchen und eine Beziehung zu ihm entwickeln, die von Zwängen, Pflichten und Verboten geprägt ist. Ein solcher Ansatz kann rasch dazu führen, dass man Schuldbewusstsein empfindet, weil man nicht genug tut – oder aber, was noch schlimmer ist, man läuft Gefahr, hochmütig zu werden wie der Pharisäer, der seine Verdienste vor Gott ausbreitet, während der Zöllner nicht einmal wagt, seine Augen zum Himmel zu erheben (s. Lukas 18,9–14).

Wenn wir dagegen entdecken, dass unsere Beziehung zu Gott von gegenseitiger Sehnsucht geprägt ist – unserer Sehnsucht, uns Gott zu öffnen, und seiner Sehnsucht, uns zu begegnen –, dann erfahren wir die ganze Fülle unseres Glaubenslebens.

„Lass dein Herz zur Ruhe kommen.

Du, der du Gott suchst, der du in deiner Seele das Verlangen spürst zu beten, der du die Stimme des Herrn vernimmst, der dich zu einer tiefen Begegnung mit ihm einlädt – höre auf seine Stimme.

Gib dich der heiteren Ruhe und Verfügbarkeit hin, die notwendig sind, um deine Zeit mit Gott ‚zu verlieren‘.

Höre einen Moment lang auf mit dem, was du tust.

Lass dich nicht von den unerbittlich voranschreitenden Zeigern deiner Uhr versklaven.

Erlebe deine Zeit für Gott wie eine Zeit außerhalb der Zeit. Sei achtsam: Schlafe nicht, aber beeile dich auch nicht.

Denke an dich. Versuche dein eigenes, inneres Universum zu schaffen.