Das Gebot des Bösen - Oliver Juli - E-Book

Das Gebot des Bösen E-Book

Oliver Juli

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Beschreibung

Ein schonungsloser Kriminalroman der tief in die Abgründe der Balkan-Mafia eintaucht. Inmitten eines Waldes wird ein blutgetränkter Tatort ohne Leiche entdeckt. Zur selben Zeit verschwindet eine Schülerin aus einem nahe gelegenen Internat, aber das Blut im Wald stammt nicht von ihr. Kriminalpolizistin Dani Scholz und ihr Partner Nico Drabek stehen vor einem Rätsel. Mit Hilfe des jungen Roma Neven, der sich als Handlanger des organisierten Verbrechens zu erkennen gibt, nehmen sie die Spur eines skrupellosen Mafiaclans auf – doch ihre Ermittlungen führen in eine Katastrophe, und ein gnadenloser Kampf um Rache und Gerechtigkeit beginnt.

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Seitenzahl: 452

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Oliver Juli, geboren 1968, lebt mit seiner Frau in Klosterneuburg bei Wien. Nach der Matura startete er seine Karriere in einem Technologiekonzern und verbrachte einige Jahre beruflich im Ausland, unter anderem in Kroatien. Derzeit koordiniert er eines der größten Energieforschungsprojekte Europas in der Seestadt Aspern in Wien.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2023 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, unter Verwendung der Bildmotive arcangel.com/Silas Manhood, shutterstock.com/La-Veselochka

Lektorat: Lothar Strüh

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-003-7

Thriller

Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Textbaby Medienagentur, Wien.

1

Er war hellwach und konzentriert. Unabdingbar für einen Mann, dessen Leben beständig in Gefahr schwebte. Er dachte an nichts anderes als an den Auftrag. An die unzähligen Stunden des Beobachtens und Planens, die hinter ihm lagen, und an die unmittelbar bevorstehende Durchführung.

Die Gegend um das ehemalige Kloster Hohenwarten, dieser sorgsam versteckte Winkel im westlichen Wienerwald, war ihm mittlerweile sehr vertraut. Eigentlich kaum zu glauben, dass er heute das letzte Mal mit seinem Zeichenblock und dem kurz gewordenen Kohlestift hier auf der Anhöhe saß. Die moosige Bank unter der alten Eiche war lange Zeit sein Aussichtsposten gewesen.

Sein Interesse galt aber weder der düsteren Landschaft noch der imposanten Architektur des Gebäudes. Dem Kloster war seine ursprüngliche Bestimmung bereits vor Jahrzehnten abhandengekommen. Ein katholisches Internat hatte Einzug gehalten, und Teenager und Pädagogen bevölkerten das ehrwürdige Bauwerk. Die ursprüngliche Stille war mit den Mönchen von damals längst verschwunden.

Seine gesamte Aufmerksamkeit war einzig und allein darauf fokussiert, die Operation vorzubereiten. Den Einsatzbefehl hatte er vor zwei Tagen per SMS erhalten, unpersönlich und kommentarlos. Sechs aneinandergereihte Ziffern: das Datum. Dann vier weitere Ziffern: die Uhrzeit. Gefolgt von der Identifikationsnummer der Zielperson. Schicksalsbesiegelnd.

Plötzlich summte sein Mobiltelefon. Er sah auf den Bildschirm und rümpfte die Nase. Permanent unter Beobachtung zu stehen, war er gewohnt, aber die Intensität hatte absurde Ausmaße angenommen. Mit einem Seufzen nahm er das Gespräch entgegen. »Maxim. Was ist los?«

»Halt die Klappe, Neven, ich stell hier die Fragen. Wo bist du?«

Neven verspürte wenig Lust, sich zu unterhalten, und antwortete entsprechend knapp. »Hohenwarten.«

Am anderen Ende der Leitung blies Maxim verächtlich aus, um sogleich durch die Nase hochzuziehen. Neven hasste diesen Tick. Er hielt seinen Blick starr in die Ferne auf den diffusen Horizont gerichtet.

»Wozu? Erwartest du Komplikationen?«

»Nein.«

»Dann verschwinde von dort. Es ist zu riskant, sich ständig in ihrer Nähe aufzuhalten.«

»Erklär mir nicht, wie ich meinen Job zu tun habe.«

Neven konnte Maxims Gewaltbereitschaft nahezu körperlich spüren. Sie machte auch ihn aggressiv.

»Pass auf, was du sagst, Zigeuner. Fang lieber an zu beten, dass morgen alles klappt.«

»Ich bete nicht.«

»Enrico hat gebetet.«

Neven kaute auf seiner Unterlippe. »Vergeblich.«

»Vielleicht hat er einfach zu spät damit angefangen.«

»Nochmals: Ich bete nicht.«

»Ein Fehler, Junge, ein Fehler. Im Gebet findet der Mensch Trost. Es gibt ihm das Gefühl, nicht allein zu sein.«

»Ich brauche keinen Trost.«

»Das sagen sie am Anfang alle.«

Ein letztes rotziges Schniefen, dann beendete Maxim das Gespräch. Neven steckte das Mobiltelefon zurück in seine Jacke.

Enrico.

Der Junge war erst achtzehn Jahre alt gewesen, ein Anfänger. Er hatte versucht abzuhauen. Keine Ahnung, warum. Vielleicht hatte sich sein Gewissen gemeldet, oder er hatte Fehler gemacht und es mit der Angst zu tun bekommen. Wie auch immer, er hatte seine Lage vollkommen falsch eingeschätzt. Einfach alles hinschmeißen und verschwinden, diese Option existierte schlichtweg nicht.

Schon nach wenigen Tagen war Enrico geschnappt worden. Dann ging es schnell. Neven und die anderen Jungs hatten einem grausamen Schauspiel beiwohnen müssen. Ein Exempel war statuiert worden. Eine Lehrstunde, was mit Verrätern geschah.

Enricos Schreie klangen noch immer in seinen Ohren. Und all die anderen fürchterlichen Geräusche dieser Nacht, die er lieber nie gehört hätte. Kopfschüttelnd versuchte er, die ungebetenen Erinnerungen wieder zu verscheuchen.

Seine innere Uhr ging erstaunlich exakt. Wenige Sekunden bevor die breiten Glasschiebetüren des Hauptportals zur Seite glitten, blickte er auf. Ein Regentropfen traf seine Nasenspitze, ein zweiter den Skizzenblock. Die Kohle verlief, aber er beachtete den Schaden nicht weiter.

Er hatte jetzt nur Augen für sie.

Das Mädchen trat ins Freie, groß und schlank und anmutig, in hautenger schwarzer Trainingshose und dunkelblauer Allwetterjacke. Ihre Laufschuhe leuchteten neongrün. Fünfzehn Uhr fünfundvierzig. Ihre eiserne Selbstdisziplin nötigte ihm Respekt ab.

Geschmeidig wie ein Panther setzte sie sich in Bewegung. Neven zählte reflexartig die Sekunden. Nach zwanzig hatte sie den leeren Parkplatz überquert. Nach fünfundzwanzig den Schotterweg erreicht, der die Zufahrtsstraße begleitete und zur Hauptstraße hinabführte. Nach fünfundfünfzig verschwand sie hinter der Biegung.

Er fixierte die Stelle kurz, dann drehte er den Kopf. In siebenundvierzig Minuten würde sie wieder auftauchen, allerdings weiter im Norden, dort drüben, am Waldrand oberhalb des Sportplatzes.

Wenn sie unterwegs war, konnte er nicht arbeiten. Er klappte den Block zu und verstaute ihn zusammen mit dem Kohlestift in seinem Rucksack. Wieder einmal wartete er. Starrte gebannt auf den gegenüberliegenden Hang.

Die Zeit verstrich ereignislos, sah man davon ab, dass es leicht zu regnen begonnen hatte. Kaltes Wasser lief seinen Nacken hinab. Lockige Haarsträhnen klebten an seiner Stirn.

Und dann war sie auf einmal wieder da. Nahm mit spielerischer Leichtigkeit den Abhang. Umrundete den Sportplatz mit einem finalen Sprint und trabte locker aus. Der böige Wind zerzauste ihr feuchtes Haar. Am Hauptportal blieb sie kurz stehen und ließ ihren Blick wandern, ganz so, als suche sie etwas oder jemanden.

Neven schloss für einen Moment die Augen. Sein Magen krampfte unangenehm. Als er blinzelnd wieder aufsah, war sie im Inneren des Gebäudes verschwunden. Schwerfällig schulterte er den Rucksack und hob das Gesicht zum Himmel.

Der Wunsch, hierzubleiben und sie zu beschützen, lähmte ihn, obwohl er genau wusste, dass ihr in dieser Nacht noch keine Gefahr drohte. Ihm graute vor dem morgigen Tag. Vor dem, was er tun musste.

Und ihm graute vor der Frage, die er nach Maxims gehäuften Anrufen nicht mehr verdrängen konnte: Ahnten sie etwas von seinem Plan?

Dreiundzwanzig Stunden später

Jede an der Operation beteiligte Person wusste, was sie zu tun hatte. Das Kommando glich einer perfekt ausbalancierten Maschine, die verlässlich zu laufen begann, sobald der Schalter umgelegt wurde. Die Zahnräder und Riemen mussten voneinander nichts wissen. Es genügte, dass sie an den richtigen Stellen ineinandergriffen.

Neven kauerte nahezu unsichtbar in einer Buschreihe, ganz in der Nähe jenes Platzes, der ihm so oft als Beobachtungsstelle gedient hatte. Zäher Nebel lastete auf der Landschaft. Er schluckte das Tageslicht und ließ die Wälder ringsum schwarz und kompakt und undurchdringlich erscheinen. Kein Lufthauch war zu spüren. Auch an diesem kalten Spätherbstnachmittag würde es mit Sicherheit noch regnen.

Durch sein Fernglas beobachtete Neven eine Person beim Verlassen des Wohnheims. Sie war klein, trug Jeans, einen dicken roten Anorak und eine schwarze Ohrenmütze. Ein Mädchen, das eilig das Hauptgebäude entlang in Richtung des Klostergartens lief. Neven verlor den Teenager zwischen den Bäumen aus den Augen. Egal. Es handelte sich nicht um die Zielperson.

Hinter der Kirche lief eine Kreissäge. Holz wurde geschnitten, vermutlich vom Schulwart oder seinem Gehilfen. Irgendwo weit entfernt bellte ein Hund.

Der Nebel sank tiefer. Ein seidiger Sprühregen legte sich über die Wiesen und Wälder. Die Hügelkette gegenüber war schon länger nicht mehr zu sehen, und nun entzogen sich auch der Sportplatz und das Hauptportal zusehends Nevens Blicken. Er überlegte kurz, seine Position zu verändern, um die Zielperson nicht womöglich zu übersehen, und entschied sich dagegen. Nur noch fünf Minuten.

Es glich einem Stich ins Herz, als das Warten plötzlich und ein wenig zu früh sein Ende fand. Kurzzeitig stieg Panik in ihm auf. Trotz aller Vorbereitungen drohten seine Emotionen außer Kontrolle zu geraten. Er zwang sich, an sein Ziel zu denken und daran, wie er es erreichen konnte. Wenn er jetzt einen Fehler beging, waren sie beide verloren.

Ich habe alles im Griff. Es ist gut, dass es endlich losgeht. Alles läuft nach Plan.

Er legte das Fernglas beiseite und zog das für den Einsatz vorgesehene Mobiltelefon aus der Brusttasche. Resignierend drückte er die Tasten. Zehn Sekunden nachdem er die SMS abgeschickt hatte, erhielt er die Bestätigung. Er entfernte die Rückabdeckung des Gerätes und entnahm die SIM-Karte. Hochkant drückte er sie tief in die matschige Erde.

Rückzug.

Sein Teil der Operation war damit erledigt. Neven hatte den Schalter umgelegt. Wieder einmal war eine Zielperson unterwegs, und die Maschine lief.

2

Vor der Dorfkirche Klosterneuburg-Weidling nippte Gruppeninspektorin Daniela Scholz an ihrem Espresso und blickte durch die Verglasung ins Innere der Bäckerei. Nico Drabek unterhielt sich seit einer gefühlten Ewigkeit mit der alten Schachtel hinter dem Tresen. Er stand da wie festgenagelt. Was zum Teufel hatten die beiden so lange zu bequatschen?

Dann endlich trat er einen Schritt zurück und wandte sich zum Gehen. Doch die Verkäuferin kannte keine Gnade. Sie redete gestenreich und ohne Unterbrechung weiter auf ihn ein. Diese verfluchte Schwätzerin!

Geduld, Dani, Geduld. Die Zeit arbeitet für dich.

Die Zeit vielleicht, aber nicht die Kälte. Dani legte den Kopf in den Nacken und blickte zur geschlossenen Wolkendecke auf. Noch hatten sie knapp über null Grad, aber der Wetterbericht prophezeite für die kommenden Tage fallende Temperaturen, und dann würde es den ersten Schnee geben.

Die Türglocke klingelte. Nico trat auf den Gehsteig, die Schultern hochgezogen. »Tut mir leid, dass du warten musstest, aber es gab einen Notfall.«

»Was für einen Notfall? Der einzige Notfall hier sind meine eiskalten Ohren.«

Nico zeigte nicht das geringste Mitgefühl. »Ihre kleine Enkelin muss einen Kriminalfall aufklären. Felicitas ist weg.«

»Wer zum Kuckuck ist Felicitas?«

»Ihre Monster-Puppe. Sie ist verschwunden, vermutlich eine Entführung.«

»Das ist jetzt nicht dein Ernst!«

»Ich kann doch meine Hilfe nicht verweigern, bloß weil es ein Fall ist, der meine Partnerin nicht interessiert.«

»Du hast nur Glück, dass du mein Chef bist. Wäre es umgekehrt …«

»Lass dir Zeit, okay? Ich muss es vorher in die Pension schaffen. Irgendwie. Bei dem Tempo, das du an den Tag legst, wird das womöglich echt knapp.«

Sein spitzbübisches Augenzwinkern brachte sie zum Lächeln. Er neigte den Kopf in Richtung der kleinen Brücke, die über den Weidlingbach führte. »Gut. Das hätten wir geklärt. Gegen kalte Ohren hilft im Übrigen eine Haube.«

»Verzichte. Du weißt, ich kann Kopfbedeckungen nicht ausstehen.« Dani stieß sich mit dem Hintern von der Motorhaube ihres Wagens ab. »Wir müssen etwas Wichtigeres besprechen.«

»Das habe ich befürchtet. Wo sind nur die entspannten Zeiten hin, als ich meinen Morgenspaziergang allein und in Ruhe genießen konnte?«

»Die sind futsch. Weg. Da hättest du dir eine andere Partnerin wählen sollen. Wir teilen wie abgesprochen alles. Meine Energie, deine Erfahrung, meine Durchsetzungskraft und deine Spaziergänge.«

Nico gab sich geschlagen. Er nahm einen Schluck aus seinem Becher. »Also gut. Der alte Pichler, richtig?«

»Natürlich. Wer sonst?«

»Er lässt dich also immer noch nicht schlafen.«

»Ich werde erst wieder ruhig schlafen, wenn der Fall abgeschlossen ist, das weißt du genau. Also, ich bin nach wie vor der festen Überzeugung, dass eine Frau die Täterin war. Was hältst du von der Hypothese, dass Pichler aus dem Dorf weggelockt wurde, um ihn völlig ungestört an einem abgelegenen Ort zu ermorden?«

»Das ist aber nicht neu, oder? Das haben wir bereits alles durchgespielt.«

»Wir haben durchgespielt, dass er von der Schule weggelockt wurde, das schon. Ich aber meine ›weiter weg‹. Raus aus diesem Kaff, ganz woandershin.«

»Es könnte sein, dass er noch lebt.«

»Ich weiß. Wir haben nirgends Hinweise auf eine Gewalttat gefunden, obwohl wir jeden Stein umgedreht haben. Weder die Hunde noch die Taucher haben etwas gefunden. Aber vielleicht suchen wir einfach an den falschen Stellen. Was, wenn die Täterin mit ihm weggefahren wäre und den Mord ganz woanders verübt hätte?«

»Eine Entführung?«

»Nicht ganz. Pichler war ein notgeiler alter Bock.«

Nico nickte. »Die Festplatte und die Fotos. Ich weiß.«

»Wenn ihn eine Frau eingeladen hätte, mit ihr essen zu gehen, wäre er in Erwartung eines unvergesslichen Abends mit Sicherheit bedenkenlos eingestiegen und mitgefahren.«

»Also doch eine Kollegin von ihm.«

Dani schüttelte den Kopf. »Wir haben alle überprüft. Ebenso die Mädchen, die er begrapscht hat, und deren Mütter. Ich glaube, die sind alle sauber.«

»Vergiss nicht die Väter, Onkel und Brüder.«

»Es war kein Mann, es war eine Frau.«

»Wen also suchen wir?«

»Eine Unbekannte, die in keiner offensichtlichen Verbindung zu einem der belästigten Mädchen steht. Oder eine, die selbst mal Opfer war. Oder in Verbindung zu einem Opfer steht, das sich nicht bei uns gemeldet hat.«

»Pichler hat sein gesamtes Berufsleben in diesem Dorf, an dieser Schule verbracht.«

»Eben. Das spielt uns in die Karten. Wir sollten uns einfach auch alle ehemaligen Schülerinnen und Lehrerinnen vorknöpfen.«

»Du weißt schon, über wie viele Personen wir hier reden? Das können weit über hundert sein.«

Sein zweifelnder Blick und die zusammengepressten Lippen gefielen Dani ganz und gar nicht. »Ich würde die Arbeit übernehmen.«

»Darum geht’s nicht, Dani. Ich bin einfach anderer Meinung. Ich bin sicher, dass wir es mit keiner Straftat zu tun haben. Dass der Typ jetzt seit sieben Monaten verschwunden ist und absolut nichts auf ein Verbrechen hindeutet, macht mich skeptisch. Ich denke, er ist tatsächlich einfach abgetaucht. Aus Scham. Oder aus Angst, dass ihn eines Tages eines der Mädchen anzeigt.«

»Es gibt keine Hinweise auf eine Flucht.«

»Wir haben keinen Koffer in seiner Wohnung gefunden und nur wenig Kleidung.«

»Aber wie ist er abgehauen? Er hatte kein Auto, und die Taxis und Busse haben wir allesamt überprüft.«

»Wenn es eine gut vorbereitete Flucht war, gibt es viele andere Möglichkeiten.«

Dani spielte ihren letzten Trumpf. »Es gab auch keine auffälligen Kontobewegungen.«

»Er war – oder ist – alleinstehend. Er könnte über Jahre kleine Beträge beiseitegelegt haben. Es war nicht viel Geld auf seinem Konto. Er hat gut verdient, aber wenig besessen. Wo ist die ganze Kohle geblieben?«

Dani schnaubte genervt. Warum fiel es ihr diesmal so schwer, Nicos gerühmten Feldherrenhügel zu erklimmen und die Lage von oben herab zu beurteilen?

Was übersehe ich? Wo liegt der Fehler?

Ein paar Minuten gingen sie schweigend nebeneinanderher.

Sie ließ den inzwischen zerknüllten Kaffeebecher immer wieder durch ihre Finger wandern. Lag Johann Pichler mit einem Cocktail in der Hand an einem x-beliebigen Strand in Thailand, oder fraßen sich Würmer durch seinen irgendwo verbuddelten Leichnam? Egal, aus welcher Perspektive sie die Geschichte betrachtete, sie glaubte an die Version mit den Würmern. »Ich möchte nochmals mit allen Mädchen sprechen, mit allen Lehrerinnen, auch mit allen ehemaligen.«

Es klang trotzig. Als sie Nicos amüsiert verzogene Mundwinkel bemerkte, ballte sie ihre Hände zu Fäusten. »Was ist?«

»Nichts. Mir gefällt deine Hartnäckigkeit. Du gibst nie auf.«

»Ich bin also stur?«

»Das war keine Kritik, Frau Kollegin, im Gegenteil. Wenn du eine herausragende Polizistin werden willst, dann brauchst du genau dieses Durchhaltevermögen. Viel Ausdauer und einen immens langen Geduldsfaden.«

Dani entspannte sich ein wenig. »Ich wünschte nur, wir würden irgendeinen Anhaltspunkt finden. Irgendwas, wo wir einhaken können.«

»Ein Anhaltspunkt wäre tatsächlich hilfreich. Ohne, fürchte ich, haben wir keine Chance.«

Verärgert kickte Dani einen Stein in den Bach und sah ihm hinterher, als plötzlich ein Summen ertönte. Sie fingerte ihr Mobiltelefon hervor, aber der Bildschirm war dunkel. »Nico, es ist deins.«

Umständlich versuchte nun Nico, in die Innentasche seines Mantels zu greifen. Dani nahm ihm seinen halb vollen Kaffeebecher ab. Sie waren stehen geblieben. Während Nico den Anruf entgegennahm, aufmerksam zuhörte und über den Rand seiner Brille ins Leere blickte, wuchs Danis Ungeduld.

»Ich habe verstanden, Ewald. Wir kümmern uns darum.«

Als sie den Namen hörte, verspürte sie augenblicklich einen gewaltigen Energieschub. Ihr letzter Fall lag mittlerweile drei Wochen zurück. Wenn Nico um diese Uhrzeit einen Anruf von Leutnant Ewald Rosenberger bekam und die beiden so ernst miteinander sprachen, dann konnte das nur eines bedeuten. »Was ist los? Haben wir endlich wieder etwas zu tun? Haben wir einen neuen Fall?«

Nicos versteinerte Miene ließ sie verstummen. Manchmal war ihr ihre Begeisterung für ihren Job und für Kriminalfälle selbst ein wenig peinlich.

»Ich weiß nicht, ob es ein neuer Fall ist.« Er betonte das »neuer« etwas eigentümlich. »Das war jedenfalls der Boss. Er hat vor wenigen Minuten einen Anruf erhalten.«

Und bei seinen nächsten Worten lief es Dani eiskalt den Rücken hinab.

»Von Kresnik. Es scheint, dein Bauchgefühl hat dich nicht im Stich gelassen. Irgendetwas stimmt da draußen nicht. Wir sollen sofort nach Hohenwarten fahren.«

Dani warf ihre geliebte Lederjacke achtlos auf die Rückbank und schwang sich hinters Lenkrad.

Nico sank mit einem tiefen Seufzer auf den Beifahrersitz. »Ich werde alt. Ein kleiner Sprint, und schon bin ich vollkommen außer Puste.«

»Bleib auf dem Teppich. Fünfundfünfzig ist kein Alter für einen Haudegen.«

Nicos neidischer Blick streifte sie. »Du hast leicht reden. Erinnere mich daran, dass ich am Wochenende wieder zu trainieren beginne. Meine Kondition ist grauenhaft.«

»Du darfst dich nicht mit mir vergleichen. Ich bin erst neunundzwanzig und schon immer ein Wiesel gewesen.«

»Ich vergleiche mich nicht mit dir, sondern mit mir. Vor zwei Jahren. Und jetzt fahr endlich los.«

Dani grinste, startete den Motor des VW Touran und gab Gas. Die Vorderräder drehten durch, und der Wagen schlingerte. Eine kurze Hochrechnung. Die Fahrt von Klosterneuburg nach Hohenwarten nahm etwas mehr als eine halbe Stunde in Anspruch. Vielleicht schaffte sie es in weniger, wenn der Montagmorgenverkehr überschaubar blieb und Nico nicht zu heftig protestierte.

»Freust du dich so darauf, Kresnik wiederzusehen? Oder warum rast du so?«

Sie warf Nico einen giftigen Blick zu. Kresnik. Allein der Name ließ ihren Blutdruck nach oben schießen. Bei den Untersuchungen rund um das Verschwinden von Johann Pichler waren sie und Chefinspektor Frank Kresnik mehrmals heftig aneinandergeraten. Nico hatte immer wieder schlichtend eingreifen müssen. So viel Überheblichkeit und Chauvinismus gepaart mit so wenig Kompetenz bei einem Polizisten seines Ranges! Ein richtiger Volltrottel. Ihre Vorfreude auf ein neuerliches Zusammentreffen hielt sich in Grenzen.

Während sie die Hügel und Täler des Wienerwaldes mit dem Selbstverständnis einer Rennfahrerin durchpflügte, gab Nico Rosenbergers Informationen Wort für Wort weiter. Wie sie aus leidvoller Erfahrung wusste, war es keine gute Idee, ihren Partner bei seinen Ausführungen zu unterbrechen. Dabei hatte sie sich schon mehrmals ordentliche Rüffel eingefangen. Also hielt sie sich zurück und wartete, bis er mit seiner Einweisung fertig war. Erst dann legte sie los. »Nochmals für ganz Dumme. Es gibt einen Tatort, aber kein Opfer?«

»Wir wissen nicht, ob es ein Tatort ist. Ich sagte ›vermeintlicher‹ Tatort. Sie haben Blutspuren gefunden. Aber ich bin da vorsichtig. Könnte auch tierisches Blut sein. Es ist immerhin ein Wald. Es gibt nur die Aussage dieses alten Mannes.«

»Wir fahren also dorthin, weil ein alter Mann gestern bei Nacht und Nebel gesehen hat – korrigiere –, gesehen haben will, dass zwei Männer einen leblosen dritten in einen Lieferwagen verladen haben? Und dann abgerauscht sind?«

Sie beobachtete Nico, wie er seine Lippen spitzte, ehe er antwortete. »Und weil es genau dort Blutspuren gibt.«

»Der Alte ist der Großvater eines Polizisten?«

»Inspektor Mayr ist sein Enkel. Wir kennen ihn.«

»Fabian! Der farblose Junge.«

»Genau der.«

»Und Kresnik will sich wieder nicht selbst um die Angelegenheit kümmern?«

»Kresnik will sich um überhaupt nichts mehr kümmern. Er geht in drei Monaten in Pension.«

»Wie kann ein Mann wie Rosenberger nur ein Kumpel von so einem Arsch sein?«

»Gute Frage. Ich habe keine Ahnung.«

»Soll so sein. Ich bin jedenfalls gespannt, was wir da finden werden.«

Mit Sicherheit sah auch Nico die Möglichkeit eines Zusammenhangs. Im April war Pichler verschwunden. Und jetzt, im November, sollte ein lebloser Mann abtransportiert worden sein. Sie musste es nicht aussprechen. Der heiß ersehnte Anhaltspunkt. Sie hatten endlich eine Spur.

Der Verkehr blieb zum Glück überschaubar. Sie konnte ihr hohes Tempo halten, ohne ihrem Partner mit gewagten Überholmanövern auf die Nerven zu gehen.

»Übrigens, was war mit deiner kleinen Schwester los? Hast du schon mit ihr gesprochen?«

Dani zuckte zusammen. Der abrupte Themenwechsel erwischte sie auf dem falschen Fuß. Sofort war das schlechte Gewissen wieder da. »Nein. Ich schiebe es immer noch vor mir her.«

»Aber du hast es deiner Mutter versprochen, oder?«

»Ja. Weil ich ein Vollidiot bin und zu allem Ja sage.«

»Immerhin geht es um deine Familie. Um deine Schwester. Es sollte dich auch interessieren, wenn etwas nicht stimmt.«

»Das schon, aber da ist nichts. Mama sieht bloß Gespenster.«

»Deine Mutter scheint vieles zu sein, aber sicherlich ist sie nicht ängstlich. Vor allem ist sie eine erfahrene Ärztin. Wenn sie etwas spürt, ist es nicht unwahrscheinlich, dass es einen triftigen Grund dafür gibt.«

Dani drosch mit beiden Händen aufs Lenkrad ein. Mit Unbehagen dachte sie an das Telefonat mit ihrer Mutter zurück. Nadja auf der schiefen Bahn? Ins Drogenmilieu gerutscht? Unmöglich, nicht ihre kleine Schwester, dieses Vorzeigeexemplar einer perfekten Tochter.

Nico ließ nicht locker. »Du solltest dir einen Ruck geben und es hinter dich bringen.«

»Mhm.«

»Du bist gut in diesen Dingen. Mach dir ein Bild. Vielleicht braucht sie deine Unterstützung. Bei der großen Schwester ist es gegebenenfalls auch leichter, sich auszuheulen. Oder um Hilfe zu bitten. Leichter jedenfalls als bei der Mutter.«

Den Rest der Fahrt hing Dani ihren eigenen Gedanken nach. Die Sache ließ sich nicht so einfach verdrängen, weil ihre Mutter vermutlich recht hatte. Nadja verhielt sich in letzter Zeit tatsächlich eigenartig. Rief seltener an, erzählte nichts mehr und antwortete einsilbig. Aber Dani weigerte sich, gleich das Schlimmste anzunehmen. Verrückt. Beruflich tickte sie komplett anders, da kannte ihre Phantasie keine Grenzen.

Vielleicht war Nadja bloß unglücklich verliebt und hatte gerade keinen Bock auf die Uni. Oder es herrschte Streit unter Freundinnen. Es konnte tausend Gründe geben, warum sich ihre kleine Schwester abkapselte. Da mussten nicht gleich Drogen und finstere Gestalten mit im Spiel sein.

Kurz bevor sie Hohenwarten erreichten, rang sie sich zu einem Entschluss durch. Sobald sie den Tatort besichtigt hatten und die Spurensicherung an die Arbeit ging, würde sie Nadja anrufen, sich mit ihr noch für den Abend verabreden und ihr Versprechen halten.

»Jetzt müsste die Einfahrt zum See gleich kommen.«

Sie sprach die Worte mehr zu sich selbst als zu Nico. Nebelschwaden hingen in den tropfnassen Baumwipfeln, und sie musste den Scheibenwischer betätigen, obwohl es nicht regnete. Der Hohlweg tauchte auf, eine verborgene Abzweigung von der Hauptstraße, mitten im Wald. Matschige Reifenspuren wiesen darauf hin, dass in letzter Zeit einige Wagen diese versteckte Kreuzung in alle Richtungen benutzt hatten.

Im Schritttempo krochen sie den Forstweg entlang, ein Teilstück hinauf, das nächste wieder hinunter, nach rechts, nach links. Es war praktisch unmöglich, jedem Schlagloch und jeder Wurzel auszuweichen. Sie wurden unsanft durchgeschüttelt. Nach etwas mehr als einem Kilometer führte der Pfad steil bergab, ehe es heller wurde und der Wald sich öffnete, wie ein Vorhang, den man zur Seite zog.

Vor ihnen in der Senke ruhte der Waldfelsensee, klar und dunkel, eine spiegelnde Scheibe von etwa dreihundert Metern Durchmesser. Dahinter ragte eine Felswand an die sechzig Meter senkrecht in die Höhe, ein gigantischer Granitblock, fünfmal so breit wie hoch. Seine Abbruchkante war von Tannen und Fichten gesäumt, die wie gebeugte Riesen auf die Wasserfläche herabschauten.

Dani und Nico passierten den See und nahmen die nächste Steigung in Angriff. Nach einem weiteren Kilometer durch dichten Mischwald erreichten sie eine Hügelkuppe und eine Lichtung. Der Weg endete hier. Zwei seitlich geparkte Polizeiwagen waren zu sehen. Im Hintergrund schmückte eine Kapelle die Szenerie, davor standen drei dick eingepackte Gestalten.

Dani murrte vor sich hin. »Wir sollten diese lahme Ente gegen einen Geländewagen tauschen, solange wir hier am Arsch der Welt arbeiten müssen.«

Sie stellte den Wagen neben den beiden anderen ab. Die Kollegen drehten sich in ihre Richtung. Dani griff nach ihrer Lederjacke.

Nico stellte den Kragen seines Mantels hoch. »Also gut, sehen wir uns das mal an. Alles okay mit dir?«

»Geht schon.«

Sie zog den Schlüssel ab und öffnete die Tür. Ein Schwall feuchtkalter Luft empfing sie. Nico wartete, bis Dani den Wagen umrundet hatte, dann gingen sie zu der Gruppe hinüber.

Chefinspektor Frank Kresnik rührte sich nicht von der Stelle. Als ihn Danis Blick traf, setzte er sein dämliches Grinsen auf. Provokant wandte er sich an Nico und hielt ihm seine Hand entgegen. »Schön, dass Sie es einrichten konnten, Herr Kollege. Neues Spiel, neues Glück. Manchmal bekommt man vom Leben eine zweite Chance, nicht wahr? Meine Kollegen Ebner und Mayr kennen Sie ja.«

»Verschonen Sie mich mit Ihrer Jovialität, Kresnik. Wir kennen beide den Grund unseres erneuten Hierseins.« Nico war nicht bereit, die verbalen Grenzverletzungen seines gleichrangigen Kollegen widerspruchslos hinzunehmen.

Dani konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Sie überließ das Reden Nico und folgte seinen Begrüßungsfloskeln nur mit einem Ohr. Sie selbst bedachte die anderen beiden Kollegen mit einem knappen Gruß.

Abteilungsinspektor Klaus Ebner stand neben Kresnik, die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Ganz offensichtlich kotzte ihn das Herumstehen in der Kälte gewaltig an.

Inspektor Fabian Mayr stand etwas abseits und machte ein unglückliches Gesicht, wie ein Lehrling, der eben eins aufs Dach bekommen hatte. In der Hand hielt er eine Leine. Zu seinen Füßen kauerte ein großer Schäferhund, das Fell voller Wassertropfen.

Dani ging hinüber, kraulte das Tier hinter den Ohren und sah zu seinem Besitzer hoch. »Ein Polizeihund?«

»Das ist meiner. Er heißt Cosmos.«

»Ein Zivilist also. Hi, Cosmos. Grausliches Wetter, was?«

Der Hund legte den Kopf in den Nacken und winselte leise.

Inzwischen hatte Nico die formelle Begrüßung hinter sich gebracht. »Also gut, schießen Sie los. Was haben wir?«

Kresniks faltige Mundwinkel wanderten bei Nicos Frage nach unten. Er steckte die Hände in seine Jackentaschen und hob die Schultern. »Nicht viel. Die Aussage des alten Mayr. Ein paar Tropfen getrocknetes Blut. Reifenspuren und Fußspuren.«

»Na dann … Leisten wir ein bisschen seriöse Polizeiarbeit, auch wenn’s schwerfällt. Hat jemand Lust, den möglichen Tatort abzusperren?«

Während Ebner im Schneckentempo zu den Wagen schlurfte, deutete Kresnik zu Boden. Der Schäferhund winselte und knurrte. Fabian zog kurz und heftig an der Leine.

Dani ging neben Nico in die Hocke. Rostrote Flecken, verteilt auf ein paar Steinen und Grashalmen. Nicht viel, aber gut sichtbar. Es schien tatsächlich Blut zu sein. »Und wo hat der Lieferwagen gestanden?«

Kresnik zeigte auf die freie Fläche hinter seinem Rücken.

Dani besah sich auch diese Stelle näher. Tiefe Reifenspuren. Fußspuren von zwei unterschiedlichen Profilen, möglicherweise Bergschuhe oder schwere Stiefel.

Nico setzte seine Befragung fort. »Hat der Zeuge einen Kampf gesehen?«

»Nein.« Kresnik deutete vage nach hinten, zur Kapelle. »Zwei Männer haben einen leblosen Körper getragen und verladen. Woher sie genau kamen, kann Mayr nicht sagen, es war zu nebelig. Aber ungefähr von dort.« Er hob sein Kinn und deutete über seine linke Schulter nach hinten.

»Und wo ist Mayr jetzt?«

»In seiner Hütte am See. Wollen Sie mit ihm sprechen? Soll ich ihn holen lassen?«

»Später.«

Dani sah zur Kapelle. Ungefähr von dort.

Cosmos verhielt sich eigenartig. Er sah zur Kapelle hinüber, dann zu Fabian, dann wieder zur Kapelle. Winselte erneut, wollte aufstehen und wurde von Fabian an der Leine zurückgehalten. Dani gesellte sich wieder zu ihnen. »Ist er immer so unruhig?«

»Vermutlich die vielen unbekannten Leute. Das ist er nicht gewohnt.«

»Hast du ihn mit heraufgebracht, um nach Spuren zu suchen?«

Fabians Gesicht hellte sich merklich auf. »Ja, eine gute Idee, nicht? Nach allem, was Opa gestern Abend erzählt hat, dachte ich, Cosmos könnte uns vielleicht helfen. Er war es auch, der für uns die Blutstropfen da entdeckt hat. Aber …«

»Ja?«

Der junge Polizist lächelte verhalten. »Chefinspektor Kresnik war von meiner Initiative wenig begeistert. Ich glaube, er hasst Hunde.«

»Gestern Abend, sagst du?«

»Ja. Klaus und ich sind hierherauf gekommen, nachdem Opa mich angerufen hat. Aber in der Dunkelheit und bei dem Nebel war rein gar nichts zu sehen, also haben wir beschlossen, heute Morgen nochmals herzukommen.«

Mindestens zwölf Stunden, eher mehr, waren demnach inzwischen vergangen. Sie versuchte, die Szene von gestern Abend vor ihrem geistigen Auge zu rekonstruieren. Einer der beiden Männer hatte die Türen des Lieferwagens geöffnet. Der andere hatte hier gestanden, mit dem blutenden Opfer im Arm. Aber woher genau waren sie gekommen?

Cosmos sah wieder zur Kapelle, dann zu Dani.

»Hast du Cosmos noch weitersuchen lassen?«

»Chefinspektor Kresnik hat gesagt, wir sollen uns nicht von der Stelle rühren, bis ihr da seid. Um nicht unabsichtlich Spuren zu zerstören.«

»Was für ein kluger Polizist, der Herr Chefinspektor. Darf ich mal?«

Sie nahm Fabian die Leine ab und tätschelte Cosmos am Hals. »So, mein Junge. Wird Zeit, dass wir uns ein wenig bewegen. Was meinst du? Da hinüber?«

Sie machte ein paar Schritte Richtung Kapelle. Der Rüde sprang hocherfreut auf, wedelte mit dem Schwanz und übernahm sofort die Führung, die Schnauze in Bodennähe.

Aus den Augenwinkeln sah Dani, wie Fabian, sichtlich unentschlossen, von einem Bein aufs andere trat.

Cosmos zog an der Leine. Neben der Kapelle tauchte ein schmaler Pfad auf, der nach rechts abfiel und zwischen den Bäumen verschwand. Dani wandte sich um. »Dieser Pfad führt zum Internat, oder?«

Fabian, der offenbar eine Entscheidung getroffen hatte, war bereits knapp hinter ihnen und nickte heftig. »Ja, genau. Zum alten Kloster Hohenwarten. Sind vielleicht drei Kilometer oder so.«

Dani trabte locker hinter dem Schäferhund her. Im Gänsemarsch ging es einige hundert Meter den gewundenen Weg hinab. Nach etwa fünf Minuten wollte Cosmos plötzlich nach links in den Wald abbiegen. Dani murmelte eine Ermunterung.

Sie bahnten sich einen Weg quer durchs Unterholz. Der Boden war vielerorts dicht mit verdorrten Gräsern, Farnen und Büschen bedeckt. Umgestürzte Bäume versperrten immer wieder den Weg. Cosmos führte sie durch Gräben und über Hügel, vielleicht einen halben Kilometer weit. Dann stoppte er unvermittelt am Rand einer Senke, hob den Kopf und wedelte stolz mit dem Schwanz.

Dani sah sofort, warum. Ihr Herz klopfte wie verrückt. Was war denn hier passiert? Der Waldboden war zerfurcht, als hätten Wildschweine nach Fressbarem gewühlt. Dutzende Abdrücke von Schuhen, unterschiedliche Profile, kreuz und quer. Schleifspuren. Und vor allem Blut. Ziemlich viel Blut. Auf den Pflanzen, den Felsbrocken und der Erde. Verteilt über einen guten Quadratmeter.

Sie kniete sich zu Cosmos und drückte den hechelnden Hund fest an sich. »Braver Junge.« Als sie sich umwandte, stand Fabian mit fassungslosem Gesicht knapp hinter ihr.

»He! Inspektor Mayr! Aufwachen! Lauf zurück und hol Drabek. Ich verständige inzwischen die Spurensicherung. Wenn die Kollegen da sind, schick sie hier herunter. Cosmos hat den Tatort gefunden.«

3

Neven stieg aus dem Bus und atmete tief durch. Selbst hier, an der Haltestelle im Dorfzentrum, roch die Luft nach Harz und Tannennadeln. Die Wälder der Umgebung hatten es ihm angetan, aber Hohenwarten selbst präsentierte sich, wie er es in den letzten sechs Wochen kennengelernt hatte. Ignorant, grau und wenig einladend. Ein trostloser Flecken am Ende der zivilisierten Welt.

Schwere Wolken türmten sich am Horizont.

Der Springbrunnen in der Mitte des Hauptplatzes war mit Holzplanken abgedeckt und mit einem übergroßen Adventskranz geschmückt. Betonierte Blumentröge mit immergrünem Kirschlorbeer säumten das Portal der Kirche. Bei Tageslicht wirkte die allgegenwärtige Weihnachtsdekoration wie lustlos verteilter Tand.

Neven rieb sich die Augen. Irgendwie musste er die hartnäckige Müdigkeit loswerden. Er fischte eine Koffeintablette aus seiner Jackentasche und wollte sie sich eben in den Mund schieben, als sein Mobiltelefon zum Leben erwachte. Die Nummer war ihm vertraut. Er versicherte sich, dass niemand mithören konnte.

»Hallo, Sergej!«

»Neven, mein Freund. Ich hab eben deine Nachricht gelesen. Was gibt’s?«

»Einen neuen Auftrag. Wieder direkt von Sagatov.«

Neven ahnte, dass diese Information dem Alten missfallen würde, und wie erwartet legte Sergej eine ungewöhnlich lange Pause ein, ehe er mit säuerlicher Stimme reagierte. »Welchen Reizen ist er diesmal erlegen?«

Neven holte tief Luft. »Keinen. Ich soll Vulkos Mörder finden.«

»Was redest du da? Vulko ist tot? Was zum Henker ist passiert?«

»Er wurde erschlagen. Gestern Nachmittag, während der Krizan-Operation.«

»Von wem?«

»Das ist der Punkt. Es weiß keiner. Laut unseren Männern gab es einen Zeugen. Angeblich ein Jugendlicher, etwa fünfzehn. Als sie ihn entdeckten, ist er sofort losgerannt. Vulko ist ihm allein hinterher, damit die anderen beiden das Paket zeitgerecht abliefern konnten. Als sie zurückkamen, um Vulko und den Zeugen zu holen, war niemand da. Sie haben dann Vulkos Telefon geortet und ihn mitten im Wald gefunden. Erschlagen.«

»Von einem Teenager? So ein Schwachsinn!«

»Das denkt Sagatov auch. Er ist fuchsteufelswild. Glaubt den beiden kein Wort. Ich soll herausfinden, ob es diesen Jungen tatsächlich gibt und wo er sich befindet. Damit die Angelegenheit bereinigt werden kann.«

Sergej schwieg einen weiteren Moment. »Mir gefällt Vlados Verhalten in letzter Zeit zwar nicht, aber ich kann es auch nicht ändern. Wenn er dich für diesen Job auserwählt hat, dann ist das eben so. Er ist der Boss.«

Neven vernahm ein Knurren am anderen Ende der Verbindung.

»Du bist dir im Klaren darüber, dass Maxim dir die Schuld in die Schuhe schieben wird?«

»Ich bin nicht von gestern.«

»Gib auf dich acht, Neven. Ich muss los. Ich treffe mich in einer Stunde mit Ilana. Sieh zu, dass du unterm Radar bleibst und die Sache ohne großes Aufsehen erledigst. Und melde dich, wenn es vorbei ist.« Damit beendete er das Gespräch.

Neven legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Trotz der Kälte stand ihm Schweiß auf der Stirn. Der Schock von gestern Nacht, als ihn Sagatov im Beisein von Maxim mit den Details des Vorfalls vertraut gemacht hatte, steckte ihm noch immer in den Knochen und hatte eben eine unwillkommene Auffrischung erhalten.

Kleinwüchsig und schmal, rote Jacke, blaue Hose, dunkle Mütze. Die Beschreibung des Zeugen passte haargenau auf jene Person, die Neven kurz vor Beginn der Operation beim Verlassen des Internats beobachtet, aber ignoriert hatte. Die Männer wollten einen Jungen erkannt haben, aber Neven war sicher, dass sie sich irrten. Dieser zierliche Körperbau. Das typische Bewegungsmuster. Es war ein Mädchen gewesen.

Wie hatte ihm nur ein solcher Fehler unterlaufen können? Seine einzige mögliche Entschuldigung, der dichte Nebel, würde im Zweifel niemanden interessieren. Die Übelkeit der vergangenen Nacht kehrte mit voller Wucht zurück. Ihn traf nicht nur Mitschuld an Vulkos Tod, sondern auch an allem, was jetzt passieren würde.

Dieser verfluchte Auftrag. Neven hatte das Treffen mit Vladimir Sagatov in dem kleinen Café in der Wiener Innenstadt noch vor Augen, als wäre es gestern gewesen.

»Ab sofort kümmerst du dich ausschließlich um diese eine Sache.« Sagatov hatte ein Kuvert über den Tisch geschoben, wie in einem dieser altmodischen Agentenfilme. »Kein Suchen diesmal. Hier drinnen findest du alles über das Mädchen. Sonst ändert sich nichts, verstanden? Du erstellst ein Dossier, und wenn wir ein Angebot bekommen, legst du los. Wie gehabt.«

Neven hatte nach dem Umschlag gegriffen und ein Foto herausgezogen. Am unteren Bildrand hatte in Blockbuchstaben ein Name gestanden. Anisa Krizan. »Wer hat sie ausgewählt?«

»Keine Fragen. Mach dich einfach an die Arbeit und gib Bescheid, sobald du fertig bist.«

Sechs Wochen lag dieses Treffen mittlerweile zurück. Sechs Wochen, die Nevens Leben eine völlig neue Richtung gegeben hatten. In denen kein Stein auf dem anderen geblieben war.

Und jetzt das. Wie um alles in der Welt sollte er Anisas Rettung einfädeln, wenn er nicht wie geplant aus dem Verborgenen heraus agieren konnte? Wenn er stattdessen eine minderjährige Mörderin finden und ausliefern musste?

Egal, wie er es auch drehte, er durfte den Dingen keinesfalls ihren Lauf lassen. Anisa wäre für immer verloren. Und nicht nur sie, auch das unbekannte Mädchen. Und vermutlich auch der alte Mann vom See, den Maxim als Täter verdächtigte. Neven seufzte. Es gab keinen anderen Weg. Er musste rasch ins Handeln kommen, auch wenn es bedeutete, dass es danach kein Zurück mehr gab.

Die Koffeintablette, die er immer noch in der Hand hielt, verschwand in seinem Mund. Fröstelnd zog Neven seine Kapuze tiefer ins Gesicht und orientierte sich. Bank, Kirche, Gemeindeamt. Die Polizeiinspektion befand sich in dem flachen Anbau hinter dem Rathaus, nur ein paar Schritte entfernt. Vier Beamte versahen hier normalerweise ihren Dienst, aber hinter den schmutzigen Fenstern brannte kein Licht. Die beiden für die Dienstfahrzeuge reservierten Parkplätze waren leer.

Neven ordnete seine Gedanken. Die unbesetzte Inspektion ließ nur einen Schluss zu: Die Polizei hatte die Ermittlungen aufgenommen. Vielleicht hatte er Glück, und die Beamten waren zuerst zur Kapelle gefahren, um den Tatort von Anisas Entführung oder jenen von Vulkos Ermordung zu untersuchen. Vielleicht blieb ihm ein kleines Zeitfenster, in dem er sich selbst ungestört im Internat umsehen konnte. Den See musste er jedenfalls großräumig meiden. Der Polizei in der Nähe eines Tatorts in die Hände zu laufen, war das Letzte, was er wollte.

Er trieb sich zur Eile. Entschlossen marschierte er los. Kurz nach den letzten Häusern am Dorfausgang passierte er die Rückseite des mächtigen Waldfelsens und nahm den markierten Wanderweg über die bewaldete Hügelkette, die den See bogenförmig umspannte. Nach einer knappen Stunde Gehzeit erreichte er den Campus. Er verließ den Weg und schlenderte unbehelligt quer durch den Park des ehemaligen Klosters. Tatsächlich war weit und breit kein Polizist zu sehen, auch kein Dienstwagen oder ein anderweitig auffälliges Fahrzeug.

Neven überlegte. Wer konnte ihm nun weiterhelfen? An wen konnte er sich wenden, ohne Verdacht zu erregen? Sollte er wahllos einen Schüler oder eine Schülerin einer höheren Klasse ansprechen? Den Schulwart aufsuchen? Wer konnte etwas gesehen haben oder etwas wissen?

In der Nähe des Sportplatzes lehnte sich Neven ratlos an einen der zahlreichen Picknicktische und beobachtete die Zufahrtsstraße. Gesetzt den Fall, die Polizei würde tatsächlich demnächst auftauchen, was dann?

»Möchten Sie vielleicht eine Tasse heißen Tee? Es ist kalt geworden seit letzter Nacht.«

Neven wirbelte herum. Ein großer Mann in graugrüner Arbeitskluft stand hinter ihm, ein hagerer Typ in Nevens Alter, um die fünfundzwanzig. Die schweren Tränensäcke verliehen seinem Blick eine tiefe Traurigkeit. In einer Hand hielt er eine Thermoskanne, an der anderen baumelten zwei Becher. Neven ließ erleichtert die Schultern sinken. Er kannte den Mann. »Sie sind der Gehilfe des Schulwarts.«

»Ich heiße Felix. Wollen Sie jetzt einen Tee oder nicht?«

Neven wandte sich vollends seinem Besucher zu und nickte.

Felix stellte die beiden Becher auf den Tisch. »Ich kenne Sie auch. Sie sitzen oft da oben, bei der alten Eiche. Ich frage mich, wieso.« Mit dem Kopf deutete er in die besagte Richtung, während er mit konzentriertem Blick den Tee eingoss. »Ich habe ein wenig Rum dazugemischt. Kirschrum.«

Neven rang sich ein Lächeln ab, obwohl ihm nicht danach zumute war.

Felix reichte ihm eine Tasse, die andere hielt er an seine Lippen und blies hinein. »Zeichnen Sie heute nichts?«

Nachdenklich musterte Neven sein Gegenüber und las nichts als naive Neugierde in Felix’ Gesicht. Einen Versuch war es wert. Vielleicht konnte Neven ohne viel Aufwand das Vertrauen des jungen Mannes gewinnen, indem er sich selbst ein wenig öffnete.

»Mein Name ist Neven. Wir können uns gerne duzen. Ich bin Künstler und studiere in Wien.«

»Und was macht ein Kunststudent jeden Tag da oben bei der alten Eiche?«

»Ich arbeite mit den Leuten zusammen, die euren Kirchentrakt renovieren, und begleite die Restaurierungsarbeiten. Ich zeichne das Kloster.«

Felix blickte ihn zweifelnd an. »Wochenlang?«

Statt einer Antwort öffnete Neven seinen Rucksack, zog die Skizzenmappe heraus und reichte sie seinem Gegenüber. »Die Arbeit ist sehr zeitaufwendig. Sieh es dir an. Ich habe viele Zeichnungen gemacht.«

Felix stellte seinen Becher ab, legte die Mappe auf den Tisch und klappte sie auf. Er betrachtete das erste Blatt, dann das zweite, das dritte. Seite für Seite. Die Zeichnungen zauberten einen Hauch Ehrfurcht in sein Gesicht. Nächste Seite. Plötzlich richtete er sich zu voller Größe auf. »Ich habe es mir gedacht. Das Kloster ist nur ein Teil der Wahrheit, richtig? Du bist auch ihretwegen hier.«

»Du kennst Anisa?«

»Natürlich. Jeder im Internat kennt sie.«

Felix’ Hände zitterten, als er Neven die Mappe zurückgab. »Aber irgendetwas stimmt nicht. Deshalb will ich mit dir reden. Du warst gestern Nachmittag da oben, als sie losgelaufen ist, und dann bist du verschwunden, und sie ist auch nicht mehr zurückgekommen. Ich verstehe das nicht. Was ist passiert?«

Neven senkte seinen Kopf und starrte auf die Mappe in seinen Händen. Felix mochte ein einfältiger Charakter sein, aber er war offensichtlich ein überraschend genauer Beobachter. Noch ein Zeuge. Das Nachspiel der Operation entwickelte sich immer mehr zu einem Alptraum. Neven antwortete mit kaum hörbarer Stimme. »Ich weiß es nicht.«

Felix trat von einem Bein auf das andere. »Und wer weiß es? Kannst du es herausfinden?«

»Vielleicht.«

»Das wäre gut. Ich schlafe nämlich wesentlich besser, wenn hier alles in Ordnung ist, verstehst du?« Er deutete auf den Picknicktisch. »Ich muss los, mein Chef sucht mich sicher schon. Wenn du den Tee ausgetrunken hast, lass den Becher einfach hier stehen. Ich hole ihn später.« Eilig schnappte er sich die Thermoskanne und seinen Becher und eilte ohne Abschiedsworte davon.

Neven sah ihm nach. Erst als Felix hinter der Sporthalle verschwunden war, klappte er die Mappe auf und betrachtete Anisas Porträt. Vertiefte sich voller Sehnsucht in die naturgetreu gezeichneten Augen, die keck geschwungenen Brauen und den lächelnden Mund. Sie hatten in der Sonne auf der Terrasse eines Cafés gesessen. Er hatte ihre Hand berührt. Wie zufällig. Sie war nicht zurückgewichen und hatte ihn gewähren lassen. Es war einer der glücklicheren Momente in seinem Leben gewesen.

Das Zischen von Reifen auf nassem Asphalt zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Ein Polizeiwagen näherte sich. Schlagartig war Neven zurück in der Gegenwart. Ohne das Fahrzeug aus dem Blick zu lassen, verstaute er seine Mappe im Rucksack. Ein Mann in Uniform wälzte sich aus dem Wagen. Der Dorfpolizist. Mit einer Hand am Geländer, die Kappe in der anderen, quälte er sich die Stufen zum Hauptportal hinauf.

Neven trank noch etwas Tee und leerte den Rest in die Wiese. Den Becher ließ er wie versprochen auf dem Picknicktisch zurück.

4

Dani stand mit verschränkten Armen oberhalb der Senke und ließ die Düsternis der Umgebung auf sich wirken. Ein beklemmendes Gefühl hatte sich breitgemacht. Der Wald war erwacht, rückte näher, schien sie regelrecht umarmen zu wollen. Böiger Wind fauchte durch die Wipfel. Das Team der Spurensicherung war unterwegs, und auch Nico müsste jeden Moment hier auftauchen.

Nachdem Fabian und sein Schäferhund losgelaufen waren, hatte sie sich ein Paar Latexhandschuhe übergezogen und begonnen, den Tatort großräumig einzukreisen. Vorsichtig, jeden ihrer Schritte mit Bedacht setzend, hatte sie die Umgebung abgesucht. Abgebrochene Äste. Niedergetrampeltes Gestrüpp. Mindestens drei Männer waren hier gewesen. Sie war nicht zur tiefsten Stelle der Senke hinuntergestiegen. Dort wimmelte es von Spuren. Das sollten sich zuerst die Experten ansehen.

Mit Ausnahme von Schuhabdrücken und Schleifspuren hatte sie nichts entdeckt. Kein Messer, kein Beil und keinen Holzprügel. Auch sonst keinen anderen auffälligen Gegenstand, nicht mal einen Zigarettenstummel.

Wer war hier gewaltsam zu Tode gekommen? Hatte Johann Pichler vor sieben Monaten ein ähnliches Schicksal ereilt? Gab es womöglich einen weiteren Tatort hier in diesem Waldstück? Und wenn ja: Warum hatten ihn die Hunde im Frühjahr nicht gefunden?

Es knackte im Unterholz. Nico tastete sich unsicher den rutschigen Hang herunter und fluchte leise vor sich hin. Ein Grinsen erhellte Danis Gesicht. »Wo ist denn der lokale Platzhirsch? Ist der Weg hier herunter zu beschwerlich für den alten Fettsack?«

Nico schnaufte durch und schüttelte den Kopf. »Reiß dich zusammen, Dani. Er hat einen Anruf erhalten und musste weg. Aber ich glaube, er war ganz froh, dass er sich verdrücken konnte.« Er suchte sicheren Stand und betrachtete die Szenerie. »Wow. Das ist stark. Eine kleine Arena. Hast du schon etwas entdeckt?«

»Nicht viel. Ich war noch nicht ganz unten, ist schwierig hinzukommen, ohne die Spuren zu beschädigen. Ich denke, das sollte sich Egon zuerst anschauen und sichern. Die Abdrücke stammen jedenfalls von mindestens drei verschiedenen Profilen. Keine Tatwaffe und auch sonst nichts.«

»Und das dort ist alles Blut.« Es war eine überflüssige Feststellung. Der dunkle, quadratmetergroße Fleck klaffte wie eine offene Wunde. »Sieht aus, als wäre jemand von einem Raubtier zerfleischt worden.«

Ein Tier? Nach Tierspuren hatte Dani nicht gesucht. Sie trat einige Schritte zur Seite und stellte sich auf einen Baumstumpf. Perspektivenwechsel. Ein mannshoher Felsblock hinter dem Tatort. Eng aneinandergeschmiegte Bäume, ineinander verkeilt wie ins Erdreich gerammte Pfähle. Das dichte Dach des Mischwaldes. Gestern am späten Nachmittag musste es hier schon stockdunkel gewesen sein.

Sie wandte sich an Nico. »Was meinst du, was hier passiert sein könnte?«

»Bei dem vielen Blut? Ich denke, der leblose Körper, den der alte Mayr gesehen hat, war tatsächlich eine Leiche.«

»Ein tödlicher Kampf.«

»Möglich. Aber warum hier unten?« Nico wiegte seinen Kopf, als höre er Musik.

Dani kannte die Bedeutung dieser für ihn so typischen Bewegung. »Du willst nicht spekulieren, oder?«

»Wir wissen noch zu wenig. Es gibt wahrscheinlich Dutzende Möglichkeiten.«

»Was machen wir also?«

»Wir warten, bis unsere Leute hier sind. Egon ist der richtige Mann für das hier. Ein begnadeter Spurenleser. Mit seiner Erfahrung kann er für uns sicherlich ein paar interessante Details aus dem Durcheinander herauslesen. Wir besuchen einstweilen Paul Mayr. Und erst dann bauen wir eine erste Version der Geschichte.«

Warten also. Sich in Geduld zu üben, zählte nicht zu ihren Stärken.

Sie seufzte und sah sich um. Vielleicht fand sie noch etwas. Tierspuren zum Beispiel.

Um die Mittagszeit waren die Zufahrt zum See, die Lichtung rund um die Kapelle und der Tatort im Wald großräumig abgeriegelt. Ein Heer von Beamten des Landeskriminalamtes untersuchte jeden Quadratzentimeter der abgesperrten Bereiche. Verteilte Unmengen gelber Nummernkärtchen. Schoss zahlreiche Fotos. Spürhunde durchkämmten mit ihren Führern das umliegende Gebiet.

Dani stand abseits am Ufer des Sees und blickte ins glasklare, schwarzgrüne Wasser. Hatte sie erwartet, dass Nadja ihren Anruf entgegennehmen würde? Es war Montag. Normalerweise verbrachte ihre süße kleine Schwester den Vormittag nach dem Wochenende im Bett und bequemte sich erst spät zur Uni. Müßiges Studentenleben. Und da Nadja sich beharrlich weigerte, eine Sprachbox einzurichten, konnte Dani ihr nicht mal eine Nachricht hinterlassen. Stattdessen tippte sie eine WhatsApp-Nachricht, bestehend aus nur vier Wörtern: »Ruf mich sofort zurück«.

Nico näherte sich von hinten. »Hat sie nicht abgehoben?«

»Nein. Und bei Handys hebt man nicht ab. Das war zu deiner Zeit. Die Dinger mit den antiken Hörern.«

»Und was tut man stattdessen?«

»Man geht einfach ran. Man geht verdammt noch mal ran, wenn jemand aus der Familie anruft.«

»Ist es ungewöhnlich, dass sie nicht … rangeht?«

»Ja. Schon.«

»Wir könnten nachher bei ihr vorbeifahren.«

Dani lachte auf. »Tolle Idee! Das wird sie sicher freuen.«

Sie zählte die kleinen Wellen, die ans steinige Ufer klatschten. Zorn oder Sorge? Eine Mischung aus beidem. Noch überwog der Zorn, aber die Sorge wuchs. Womöglich hatte ihre Mutter recht, und es stimmte tatsächlich etwas nicht. Die Worte, die ihr auf der Zunge lagen und die sie ihrer Schwester gerne an den Kopf geworfen hätte, blieben ungesagt. Vorerst.

Nico wartete einige Schritte entfernt. Bestimmt wollte er ihr Zeit geben, die Situation zu verarbeiten. Das mochte sie an ihm, seine Empathie, seine Menschenkenntnis, seine Gelassenheit. Er schien immer genau zu wissen, wie es gerade in ihr aussah, nahm ihren Zynismus augenzwinkernd zur Kenntnis und ihre gelegentlichen Gefühlsausbrüche nicht persönlich.

Ihr Blick glitt über die leicht gekräuselte Wasserfläche zum gegenüberliegenden Ufer. Wie ein Gemälde, dachte sie. So friedlich und stimmungsvoll. Alles schien so geordnet. Die Jagdhütte wirkte mit der gewaltigen Felswand im Hintergrund winzig und war leicht zu übersehen. Der Ärger verflog, die Sorge blieb. Und dort drüben wartete ihr Job. »Also gut. Wir können los.«

Sie ging entschlossen voran, ohne Nico ins Gesicht zu sehen. Ihre familiären Probleme waren ihr unangenehm, immer schon gewesen. Aber sie hatten sich in der Vergangenheit stets lösen lassen.

Der Pfad, den sie nehmen mussten, war schmal und aufgrund der Nässe unangenehm glitschig. Zu Beginn führte er sie bergauf und direkt am steil abfallenden Ufer entlang. Dann lotste er sie einige Meter in den Wald hinein und wieder hinaus. Mehrmals suchten sie an Ästen und Wurzeln Halt, um nicht auszurutschen. Nico hatte sichtlich Mühe, mit ihr Schritt zu halten, verlor aber kein Wort. Dani sprach ihm über die Schulter hinweg Mut zu. »Wir haben es gleich geschafft. Da vorne wird das Gelände wieder flacher.«

Der erste Eindruck hatte getäuscht. Die vermeintlich winzige Jagdhütte entpuppte sich beim Näherkommen als stattliches Haus, mit massiven runden Bohlen und wuchtigen Fensterläden. So wie es hier stand, hätte es auch hervorragend in die Rocky Mountains gepasst.

»Ein wirklich idyllisches Plätzchen, findest du nicht? Sogar bei dem beschissenen Wetter –«

Sie brach den Satz ab und blieb ohne Vorwarnung stehen. Nico lief in sie hinein und murmelte eine Entschuldigung.

Auf der geräumigen, überdachten Veranda standen zwei Männer. Ein bärtiger Riese in weißem Shirt unter offenem Holzfällerhemd und ein hagerer, blasser Glatzkopf mit rostroter Jacke und einem kleinen schwarzen Rucksack. Die beiden tauschten lachend ein paar Worte und schüttelten einander die Hände. Eine Verabschiedung. Der Hagere wandte sich ab, und Dani meinte für einen kurzen Moment ein vernarbtes Gesicht zu sehen. Wenige Augenblicke später war er neben der Blockhütte im Wald verschwunden. Der Riese warf hinter sich die Tür ins Schloss.

Dani und Nico folgten dem restlichen Weg an knorrigen alten Bäumen und großen Felsbrocken vorbei zum abschüssigen Uferabschnitt vor der Veranda. Ein sandiger Trampelpfad führte zu einem kurzen Holzsteg, an dessen Ende ein wenig vertrauenerweckendes Ruderboot schaukelte. Der Waldfelsen ragte dahinter senkrecht in die Höhe wie die Fassade eines Hochhauses.

Hinter Nico erklomm Dani die fünf Stufen zur Eingangstür. Die Blockhütte hatte die Ausmaße eines Einfamilienhauses. Dani fragte sich, wie das Material für den Bau wohl hierhergeschafft worden war. Nicos Klopfen wurde von einem donnernden »Herein« aus dem Inneren beantwortet.

»Paul Mayr?«

»Wer will das wissen?«

»Mein Name ist Drabek. Chefinspektor bei der Kriminalpolizei.«

»Endlich! Warte schon den ganzen Tag auf euch.«

Es war gemütlich in der geräumigen Stube. Etwas zu warm und muffig vielleicht. Überall hingen Jagdtrophäen an den Wänden, ausgestopfte Vögel, präparierte Tierköpfe und Geweihe. Ein Marder mit spitzen Zähnen. Und ein Murmeltier.

Mayr saß an einem schweren Holztisch direkt neben dem flaschengrünen Kachelofen. Das Fenster hinter ihm war gekippt. In der Mitte der Tischplatte standen eine leere Flasche Wodka und zwei Gläser, vor ihm lag eine aufgeschlagene Zeitung.

Nico deutete mit dem Kopf nach draußen. »Ein Freund von Ihnen?«

»Wer?«

»Der Mann mit der Glatze.«

»Nein, den habe ich vorher noch nie gesehen. Ein Wanderer. Wollte zur alten Kapelle, aber ihr habt ja alles abgesperrt. Da hat ihn sein Weg wohl an meiner Hütte vorbeigeführt.«

»Wodka zum Frühstück?«

»Wahnsinn, was? War ein Russe! Die ernähren sich von dem Zeug.«

Dani nahm die Alkoholfahne wahr und rümpfte angeekelt die Nase. Während Nico, ohne zu fragen, auf einem der Sessel Platz nahm, blieb sie im Hintergrund stehen und sah sich um. Der Wohnraum maß etwa sechs mal sechs Meter. Rechter Hand eine kahle, einfache Küchenzeile, mittelalterlich anmutend, mit eisernem Herd und steinernem Waschbecken. Im hinteren Teil wies eine offene Tür in einen dämmrigen Flur, von dem zu beiden Seiten Räume abzweigten. Der Holzboden war rau und unbehandelt. Hier drinnen behielt man die Schuhe an.

Mayr schob die Zeitung beiseite. »Lust auf einen kleinen Schluck? Ich hab irgendwo noch eine Flasche.«

Nico schüttelte den Kopf.

»Kann euch auch einen Tee aufsetzen.«

»Erzählen Sie uns lieber, was Sie gestern Abend gesehen haben.«

Dani schätzte den alten Mayr auf Mitte siebzig. Er war nicht nur groß, sondern auch kräftig gebaut, mit breiten Schultern und Pranken wie ein Bär. Seine Augen lagen tief in den Höhlen, von buschigen Brauen umrahmt, um den Mund ein verfilzter, grauschwarzer Vollbart.

Mayr fasste unter den Tisch und holte aus einer Kühlbox eine Dose Bier. Aus seiner Brusttasche fischte er eine Zigarette und ein Feuerzeug. Ein Schnipp, ein tiefer Zug. Seine Worte polterten wie Bauklötze durch den Raum. »War gestern Nachmittag, so gegen halb fünf, kurz nachher vielleicht. Ja, eher nachher. Da ist mir der Lieferwagen zum ersten Mal aufgefallen. Kam den Weg von der Kapelle und fuhr zur Straße runter. Rauffahren hab ich ihn nicht gesehen. Ich dachte, der hat sich vielleicht verfahren, zu spät gemerkt, dass er in einer Sackgasse steckt.«

Der Dosenverschluss zischte. Die Zigarette zwischen den Lippen wippte auf und ab.

»Dann kam fünf oder zehn Minuten später ein anderer Wagen, ein Jeep oder so was. Kann ich auf die Entfernung nicht genau sagen. Fuhr in die andere Richtung, zur Kapelle rauf. Komisch, dachte ich. Bin zwar nicht mehr so oft hier in der Hütte, aber Autos verirren sich selten hierher. Manchmal der Förster, aber der hat einen Pick-up. Zwanzig Minuten später, es war inzwischen schon ziemlich dunkel, ist der Jeep zurückgefahren. Langsam und mit Abblendlicht, wie er gekommen war. So als wollte er nicht auffallen.«

Eine Pause, ein Schluck Bier. Dani hielt ihre Arme verschränkt und verzog die Mundwinkel. Es war gerade mal Mittag. »Haben Sie gestern ähnlich viel getrunken wie heute?«

Der Riese grinste verächtlich und würdigte sie keines Blickes. »Provokant, Ihre kleine Kollegin. Aber nicht mein Typ. Zu drahtig.«

»Sie spielen mit dem Feuer, guter Mann, da sind Sie bei mir an der falschen Adresse. Beantworten Sie die Frage.«

»Reicht ein ›Möglich‹?«

»Reicht. Und weiter?«

»Hab zusammengeräumt, vor der Hütte. Inzwischen war es dunkel und der Nebel dicht. Wollte eben aufhören, da sehe ich erneut einen Lichtball. Wieder Scheinwerfer. Den Weg heraufkommen. Konnte die Karre nicht sehen, aber es klang wieder wie der Lieferwagen.«

»Sie glauben, es war der gleiche?«

»Es war der gleiche. Hab nachgesehen.«

»Sie sind ihm also nachgegangen?«

»Hatte plötzlich die Eingebung, dass da womöglich jemand illegal Müll ablädt oder so. Und daher beschlossen, nachzusehen und diese Arschlöcher zur Rede zu stellen.«

»Verstehe. Sie sind also losmarschiert.«

»Dauert nur zwanzig Minuten von hier zur Kapelle, und weiter kann er ohnehin nicht fahren. Ich also den Hügel rauf. War wie gesagt sehr neblig. Inzwischen konnte ich keine zwanzig Meter weit sehen.«

Mayr sprach jetzt langsamer und schwerfälliger, als müsse er die Worte in seinem Kopf erst suchen und dann aneinanderreihen wie Dominosteine. »War schon beinahe bei der Kapelle, da sehe ich den Wagen, irgend so ein dunkler Kasten, zehn Meter vor mir. Aber keiner da.«

»Ich nehme nicht an, dass Sie sich das Nummernschild gemerkt haben?«

»Ausländisches Kennzeichen. Begann mit SE, mehr weiß ich nicht mehr.«

Dani konnte sich ein gemurmeltes »Großartig« nicht verkneifen.

Nico trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. »Und weiter?«

»Hab überlegt, ob ich mich umsehen oder warten soll. Bin zur Kapelle gegangen. Da hab ich dann die Stimmen gehört. Fremde Sprache, kann nicht sagen, welche. Slawisch vielleicht. Aufgeregt und schrill. Eigentlich hysterisch. Zwei Männer, die stritten.«

Schluck Bier, Zigarette, Pause.

»Bin einfach neben der Kapelle stehen geblieben. Da sind sie vorbei. Der eine, der so rumgeschrien hat, hat wild gefuchtelt. Der andere hat einen Mann getragen. Über der Schulter. Wie einen Mehlsack.«

»Sie sind sicher, dass es ein Mann war?«

»Alle drei waren Männer. Ich weiß, was ich gesehen hab.«

Dani schaltete sich wieder ein. »Bei Dunkelheit und Nebel? Vom Suff ganz zu schweigen? Sie könnten sich irren.«

Es war offensichtlich, dass der Riese Dani gerne an die Gurgel gegangen wäre. »Hirsch war’s jedenfalls keiner.«

Nico ließ sich nicht beirren. »Weiter. Was ist dann passiert?«