Das Gedächtnis des Baumes - Tina Vallès - E-Book

Das Gedächtnis des Baumes E-Book

Tina Vallès

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Beschreibung

»Tina Vallès zeigt in ihrer feinfühlig erzählten Geschichte ihr ganzes Können.« EL PAÍS

»Darf ich mich freuen?« fragt Jan seine Eltern, nachdem er erfahren hat, dass die Großeltern demnächst bei ihnen wohnen werden. Er weiß zwar nicht warum, aber intuitiv spürt er das Unheilvolle in dieser Nachricht. Der Einzug der Großeltern verändert den Alltag der Familie. Plötzlich erhält Gesagtes und selbst das Schweigen eine ganz neue Bedeutung. Jan und sein Großvater Joan verbringen viel Zeit miteinander. Auf gemeinsamen Spaziergängen bleiben sie oft an Bäumen stehen und der Großvater erzählt von einer Trauerweide, der er als Kind all seine Geheimnisse anvertraut hat.

Nach und nach jedoch verändern sich die Gespräche der beiden; der Großvater antwortet nicht mehr auf Fragen und gibt Antworten auf Fragen, die Jan gar nicht gestellt hat. Der Junge erlebt mit, wie der Großvater sein Gedächtnis verliert. Die Trauerweide wird in Jans Fantasie immer mehr zum Anker für das, was bleibt.

Tina Vallès erzählt einfühlsam in Form vignettenartiger Passagen, was Jan denkt und was ihn bewegt. Auf berührende Weise erlebt der Leser aus der Perspektive eines Kindes mit, was es bedeutet, einen lieben Menschen loslassen zu müssen. Ein bemerkenswertes Buch von einer talentierten Autorin.

»Das Gedächtnis des Baumes ist ein zauberhaftes Buch, welches das Thema Demenz wunderbar poetisch und einfühlsam behandelt. Die Figuren sind so voller Respekt und Liebe füreinander, die Sprache des Werks so stark, dass man als Leser mit jedem Kapitel in ein Leben mit einem an Demenz Erkrankten hineinwächst, um erstarkt und voller Dankbarkeit für die eigene Familie daraus hervorzugehen.« Dr. Sarah Straub, Demenz-Expertin und Autorin

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Seitenzahl: 129

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Inhalt

»Das Gedächtnis des Baumes ist ein zauberhaftes Buch, welches das Thema Demenz wunderbar poetisch und einfühlsam behandelt. Die Figuren sind so voller Respekt und Liebe füreinander, die Sprache des Werks so stark, dass man als Leser mit jedem Kapitel in ein Leben mit einem an Demenz Erkrankten hineinwächst, um erstarkt und voller Dankbarkeit für die eigene Familie daraus hervorzugehen.«

DR. SARAHSTRAUB, DEMENZ-EXPERTINUNDAUTORIN

»Tina Vallès zeigt in ihrer feinfühlig erzählten Geschichte ihr ganzes Können.«

ELPAÍS

»Darf ich mich freuen?« fragt Jan seine Eltern, nachdem er erfahren hat, dass die Großeltern demnächst bei ihnen wohnen werden. Er weiß zwar nicht warum, aber intuitiv spürt er das Unheilvolle in dieser Nachricht. Der Einzug der Großeltern verändert den Alltag der Familie. Plötzlich erhält Gesagtes und selbst das Schweigen eine ganz neue Bedeutung. Jan und sein Großvater Joan verbringen viel Zeit miteinander. Auf gemeinsamen Spaziergängen bleiben sie oft an Bäumen stehen und der Großvater erzählt von einer Trauerweide, der er als Kind all seine Geheimnisse anvertraut hat.

Nach und nach jedoch verändern sich die Gespräche der beiden; der Großvater antwortet nicht mehr auf Fragen und gibt Antworten auf Fragen, die Jan gar nicht gestellt hat. Der Junge erlebt mit, wie der Großvater sein Gedächtnis verliert. Die Trauerweide wird in Jans Fantasie immer mehr zum Anker für das, was bleibt.

Autor

Tina Vallès (Jg. 1976) studierte katalanische Philologie in Barcelona. Sie ist eine mit Preisen ausgezeichnete Autorin, Übersetzerin sowie Mitherausgeberin der digitalen Kurzgeschichten-Zeitschrift Paper de Vidre.

Die katalanische Originalausgabe von Das Gedächtnis des Baumes, La Memoira de l’arbre wurde 2017 mit dem Anagram Award ausgezeichnet und in acht Sprachen übersetzt. In Frankreich war das Buch 2020 shortlisted für den Jean Monnet-Preis. Von der spanischen Presse wird Tina Vallès als die »Meisterin der kleinen Form« gefeiert.

Tina Vallès

Das Gedächtnis des Baumes

Inspirierender Roman

Aus dem Katalanischen von Ursula Bachhausen

Diederichs

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die katalanische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel La memòria de l’arbre im Verlag Editorial Anagrama, Barcelona © Tina Vallès, 2017

Die Ausgabe wurde nach Vereinbarung mit Asterisc Agents veröffentlicht. Alle Rechte vorbehalten.

Copyright © 2021 Diederichs Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: zero-media.net, München

Umschlagmotiv: © Borislav Zhuykov / Stocksy United

ISBN 978-3-641-28024-6V003

www.diederichs-verlag.de

Überlassen wir also die Vorbereitung von Kriegen, Verträgen, unseren Gräbern und ihren Standbildern den hitzköpfigen Patrioten, und reden wir über das, was wichtig ist: meinen Großvater.

GONÇALO M. TAVARES

Ein Junge ist ein wunderbarer Ort zum Wohnen.

ROBERTOPIUMINI

1. Die neue Situation

Die beiden Klone

»Zwei vom gleichen Schlag«, sagt mein Opa, wenn meine Mama und meine Oma Streit haben. Aber wenn man ihnen das vorhält, sagt jedes Mal eine von beiden: »Wir streiten nicht, wir reden immer so.« Am besten lässt man sie in solchen Fällen einfach in Ruhe.

Mit »vom gleichen Schlag« ist aber auch gemeint, dass sie sich unheimlich ähnlich sehen. Das weiß ich inzwischen, denn mein Opa hat es mir erklärt. Gleich darauf ist er ins Arbeitszimmer meiner Eltern gegangen und mit einem staubigen Album zurückgekommen. Er hat mir Fotos von meiner Oma gezeigt, als sie im gleichen Alter war wie meine Mutter jetzt.

»Die beiden sehen ja aus wie geklont!«, habe ich da gesagt.

Seit dem Tag sind meine Mutter und meine Oma die beiden Klone. Aber das wissen sie nicht, das ist Opas und mein Geheimnis.

Auf einem der Fotos sitzt Oma mit umgebundener Schürze auf der Steinbank vor ihrem Haus. Zu ihren Füßen malt meine Mutter mit einem Stück Kreide auf den Boden. Neben ihr ist das Bild eines Baumes zu sehen. Er ist riesig, ja vielleicht sogar lebensgroß.

»Meine Trauerweide«, hat Opa zu mir gesagt. »Irgendwann werde ich dir mal von ihr erzählen.«

Der Junge

»Joan, geh mit dem Jungen Brot kaufen.«

»Der Junge«, das bin ich. Neuerdings bin ich immer mit von der Partie, wenn sie Opa zu einer Besorgung losschicken. Manchmal habe ich keine Lust, weil ich gerade spiele oder lese oder womöglich Hausaufgaben mache. Aber seit ein paar Wochen hat es für mich oberste Priorität, Opa zu begleiten.

»Sie sagt, wir sollen Brot holen, Jan.«

Draußen nimmt mich Opa fest bei der Hand und lässt mich die Namen sämtlicher Straßen vorlesen. Ich soll unsere Strecke auswendig lernen, meint er, immerhin sei ich schon groß und würde bald ganz allein durch die Welt gehen. Wenn er das sagt, stockt mir der Atem, denn er bekommt dann einen glasigen Blick, den ich an ihm bisher nicht kannte. Aber weil ich immer auf meinen Opa höre, lese ich die Straßenschilder vor: Urgell, Borrell, Tamarit, Viladomat …

»Auf die Läden darfst du dich nicht verlassen, die ändern sich ständig. Nur die Straßen, die ändern sich nicht,«, sagt er und stiert bei diesen Worten auf die weißen Marmorschilder mit den dunklen Buchstaben, als müssten wir an jeder Straßenecke geheime Botschaften entziffern, um nach Hause zu finden.

Dein Großvater

»Sag deinem Großvater, dass wir gleich zu Abend essen.«

Wenn meine Oma »dein Großvater« sagt, schrillen bei uns alle Alarmglocken.

Oma Caterina ist fast immer gut gelaunt. Fast, wohlgemerkt. Wenn das mal nicht der Fall ist, bekommt es Opa als Erster zu spüren, denn dann redet sie nicht mehr mit ihm.

An manchen Tagen heißt es: »Schatz, wir essen, sag dem Jungen Bescheid«, und an anderen: »Sag deinem Großvater, dass wir gleich essen.« Ersteres ist häufiger der Fall. Das heißt, es war häufiger. Seit Kurzem höre ich abends nur noch »dein Großvater«.

Und die beiden Klone zanken kaum noch, sondern verschanzen sich stattdessen in der Küche und flüstern. Sie machen jedes Mal die Tür zu, wie an Tagen, an denen meine Mutter Sardinen grillt oder mein Vater unbedingt Kohl essen möchte. Aber diesmal ist es nicht der miefige Kochdunst, der nicht hinausdringen darf.

Mein Opa lässt die Klinke nicht aus den Augen, solange die Tür zu ist. Ich glaube, er blinzelt nicht einmal, sondern zählt nur die Sekunden, und je länger es dauert, desto leerer wird sein Blick.

Wenn die Tür wieder aufgeht, kommt immer Oma als Erste heraus und sieht sich rasch nach Opa um. Sobald sich ihre Blicke begegnen, fangen seine Augen an zu leuchten.

Wie am Schnürchen

Opa Joan war Uhrmacher. »Das bin ich immer noch!«, brummt er. Der Dorfuhrmacher. Er sagt oft, es sei ihm zu verdanken gewesen, dass in Vilaverd früher immer alles wie am Schnürchen lief. Und das glaube ich ihm gern. Aber im gleichen Moment frage ich mich, ob es dort jetzt, weil Oma und Opa bei uns wohnen, um fünf Uhr noch immer fünf Uhr schlägt oder ob den Leuten im Dorf allmählich, Minute für Minute, die Zeit abhandenkommt.

Opa lacht und sagt, sie bräuchten ihn dort jetzt nicht mehr. Aber das stimmt nicht. Jeden Tag ruft einer aus dem Dorf an und erkundigt sich nach ihm, und während sich Opa mit ihm unterhält, unterbrechen Mama und Oma ihre Arbeit und lauschen so aufmerksam, dass es mich ganz hibbelig macht.

Kaum hat Opa aufgelegt, wird er einem Verhör unterzogen: »Wer war das?« »Was wollte er?« »Was hat er gesagt?« »Und du, was hast du gesagt?« Wenn er antwortet, schrumpft mein Opa förmlich in seinem riesigen Sessel, bis seine Augen wieder glasig werden und sich die beiden Klone in die Küche verziehen, um zu flüstern.

Drei Buchstaben

Wenn sich Opa die Zeitung nimmt, sieht er ganz fremd aus. Nicht mehr wie mein Opa, sondern wie ein alter Mann, der die Nachrichten studiert. Dann beobachte ich ihn gern heimlich. Ich sehe ihn so lange und so eingehend an, bis er nicht mehr er ist. Doch sobald er zur Seite mit den Kreuzworträtseln kommt, sieht er mich über den Rand der Zeitung an und tastet auf dem Beistelltischchen nach dem Stift. Und wenn er dann fragt: »Bist du schon mit den Hausaufgaben fertig?«, ist er wieder ganz mein Opa.

Für die Kreuzworträtsel braucht er nicht lange. Im Nu hat er sie vollständig gelöst. Zumindest war das so. Vor ein paar Tagen hat er ein bisschen länger dafür gebraucht, und vorgestern fehlten ihm am Ende drei Buchstaben. Mein Papa bemerkte es, als er abends die Zeitung zur Hand nahm.

»Da fehlen ja drei Buchstaben!«

Papa hielt die Seite mit den Kreuzworträtseln hoch.

»Tja.«

Mehr sagte mein Opa nicht, nur diese drei Buchstaben.

Mein Papa schwieg ebenfalls, und als er mich ansah, hatte er genauso glasige Augen wie Opa. Mama und Oma waren in der Küche. Das fand ich beruhigend. Ich weiß auch nicht, warum.

Stille

Wenn mein Opa still ist, macht mir das Angst.

Opa war immer laut, wie die alten Uhren früher, die immerzu tickten, bis sie irgendwann kaputtgingen.

Und jetzt ist er plötzlich ganz leise. Inzwischen rede ich sogar schon für uns beide, wenn ich mit ihm allein bin.

Doch kaum sind Mama oder Oma im Raum, lastet die Stille so schwer, dass ich ganz tief Luft holen muss, um nicht zu ersticken. Wenn keiner der drei ein Wort sagt, schnürt sich mir der Hals zu. Sobald sie mich dann geräuschvoll nach Luft schnappen hören, nehmen sie mit einem gezwungenen Lächeln die Tätigkeit wieder auf, die sie zuvor unterbrochen haben.

Aber zu Füßen von Opas Sessel ist es ganz egal, wie laut ich bin, denn die Stille bleibt. Opas Atem geht ruhig, als würde er das Ticken wirklich nicht vermissen.

Vesperbrot

Mein Vesperbrot schmeckt mir jetzt viel besser. Wenn Opa mich von der Schule abholt, bringt er mir immer ein Brot mit, das meine Oma erst eine halbe Stunde vorher geschmiert hat. Früher hat mir meine Mutter das Sandwich schon morgens zubereitet, und es ist über den Tag in meinem Rucksack ganz matschig geworden.

Das Nachmittagssandwich ist das Einzige, das sich mit der neuen Situation deutlich verbessert hat. Das Brot ist noch knusprig, und ich darf mir den Belag selbst aussuchen. Opa sieht mir immer beim Essen zu und wirkt bei jedem meiner Bissen ein kleines bisschen glücklicher.

»Es ist beneidenswert, was für einen Hunger du hast, Jan!«, sagt er und wuschelt mir durch das Haar.

Ich schiebe seine Hand weg und frage mit vollem Mund: »Möchtest du mal?«

»Nein, nein. Ich möchte nicht. Das ist ja gerade das Problem.«

Also verspeise ich das Brot auf dem Heimweg allein und frage mich, warum Opa gern meinen Hunger hätte, wo er doch sonst immer sagt, dass er als Kind so oft Hunger erleiden musste.

Etwas

Eines Tages saß ich gerade an meinen Hausaufgaben, als meine Eltern in mein Zimmer kamen und sich auf mein Bett setzten. Sie hatten etwas Wichtiges auf dem Herzen, das konnte ich ihnen ansehen.

»Komm her, setz dich zwischen uns, Jan, mein Junge.«

»Dein Vater und ich müssen dir etwas erzählen.«

»Etwas Schönes.«, bestätigt Papa.

Aber ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war es wohl doch nicht ganz so schön.

»Opa Joan und Oma Caterina ziehen nächsten Monat zu uns.«

Ich wartete einen Moment, aber erstaunlicherweise lächelten sie nicht. Dabei war das in meinen Augen eine tolle Neuigkeit. Eine zum Jubeln oder Sich-um-den-Hals-Fallen. Opa und Oma würden bei uns zu Hause wohnen, wie in den Ferien, nur andersherum.

»Darf ich mich darüber freuen?«

»Natürlich, mein Schatz.«

»Und warum freut ihr euch nicht?«

»Wir müssen uns erst noch an den Gedanken gewöhnen«, sagte mein Vater. Er griff nach der Hand meiner Mutter und drückte sie.

Als die beiden wieder gegangen waren, machte ich meine Englischhausaufgaben zu Ende und merkte, dass meine Schrift ganz fremd aussah, gar nicht wie meine. Aus den As und Os war irgendwie die Luft heraus.

Bei Oma und Opa

Am nächsten Tag hatte ich eine Menge Fragen zu der neuen Situation. Aber Mama wollte ich sie nicht stellen, auch wenn ich nicht wusste, warum. Also wartete ich, bis ich mit Papa allein war.

»Den Sommer verbringen wir aber trotzdem wie immer in Vilaverd, oder?«

»Wir werden sehen.«

»›Wir werden sehen‹ heißt nein, oder?«

»Vermutlich …«

»Papa!«

»Ich glaube nicht, Jan, mein Junge.«

Bei einem »Jan, mein Junge« schalte ich ab, darauf weiß ich nichts mehr zu sagen. »Jan, mein Junge« ist eine rote Linie, ein »bis hierhin und nicht weiter«. Ein »Jan, mein Junge« habe ich noch nie überschritten.

Ich stellte keine weiteren Fragen mehr, denn ich wollte keine weiteren Antworten hören.

Jan, mein Junge

An dem Tag, an dem Opa und Oma mit Sack und Pack ankommen sollten, wurde ich zu Moisès geschickt, einem Klassenkameraden. Es war ausgemacht worden, dass ich bei ihm übernachte. Eigentlich hätte ich mich darüber freuen müssen.

»Was sollen wir spielen?«

»Was du willst.«

Wir bauten aus Legosteinen ein Schloss, das den ganzen Boden in Moisès’ Zimmer einnahm. Seine Mutter bestellte zum Abendessen Pizza, und sein Vater erlaubte uns, bis zur Hälfte einen Superhelden-Film anzusehen. Alle drei bemühten sich so sehr, mich glücklich zu machen, dass ich noch trauriger wurde.

Am Abend setzte sich Moisès’ Mutter ans Fußende meines Klappbettes und streichelte mir mit der Hand über die Beine, während uns sein Vater ein Märchen erzählte.

»Jan, mein Junge, versuch zu schlafen«, sagte sie nach dem Gutenachtkuss zu mir. Da wurde ich ganz ruhig.

Aufziehen

Ich habe geträumt, mein Opa hätte die alte Uhr im Esszimmer aufgezogen. Zuerst so wie immer, ruhig und behutsam, mit seinen Uhrmacher-Opa-Fingern. Aber dann machte er es immer hastiger. Stöhnend trippelte er von einem Fuß auf den anderen, um Schwung zu holen. Als der Zeiger endlich über das Zifferblatt kreiste, wurde es draußen abwechselnd Nacht und wieder Tag, als hinge der Lauf der Zeit tatsächlich von der alten Uhr in unserem Esszimmer ab.

2. Die Straßen

Die Bäume

»Sieh mal, Jan, das ist die Carrer Urgell.« Mein Opa hält unter dem Straßenschild an und zeigt nach oben. Wir bleiben eine Weile stehen und betrachten es. »Und als Nächstes nehmen wir die Carrer Tamarit, ja?«

»Sehen wir uns keine Bäume mehr an, Opa?«

»Doch, doch, die auch.«

Schweigend setzen wir den Heimweg fort. Ich blicke zu den Bäumen und sehe meinen Opa an, der seinerseits die Straßenschilder anschaut. Er sagt nichts mehr.

Unterwegs werfen die Zweige Muster auf den Bürgersteig. Mein Opa schlurft so sehr mit den Füßen, dass ich schon fürchte, einer der Schatten könne sich für immer an seine Sohlen heften. Aber es sind nur die Zweige, die sich im Wind wiegen. Er lässt sie einen traurigen Tanz vollführen, weil wir keinen Blick für sie haben.

Zu Hause im Fahrstuhl atmet Opa erleichtert auf. Sein Spiegelbild sagt mit glasigen Augen zu mir:

»Morgen sehen wir uns die Bäume an, Jan.«

Fünf Uhr

Ich denke an mein Brot, als ich aus dem Klassenzimmer laufe. Womit meine Oma es wohl heute belegt hat?

Ich renne die Treppe hinunter und suche in dem Gewimmel von Eltern, Großmüttern und Kindermädchen nach Opas Gesicht. Früher habe nicht ich nach ihm gesucht, da hat er mich gefunden. Ich weiß nicht, wann oder warum wir die Rollen getauscht haben. Allmählich beschleicht mich eine Ahnung, dass die neue Situation nicht eine einzige Veränderung ist, sondern aus vielen kleinen Veränderungen besteht, die zusammen eine große ergeben. Eine so große, dass ich sie nicht sehen kann.

»Punkt fünf Uhr. Irgendwann schlägst du dir noch mal den Kopf auf, du kleiner Lausebengel.«