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Polizeirevier 23, Hauptbahnhof München – Ausgangspunkt allnächtlicher Razzien auf jugendliche Ausreißer. Die junge, attraktive Kripobeamtin hat gerade die Polizeischule verlassen, weiß aber ihren erfahrenen Kollegen Mark Heller an ihrer Seite. Mark, gutaussehend, selbstbewusst und erfahren, kümmert sich nicht nur beruflich um sie, er ist auch als Mann an ihr interessiert. Monika weist jeden Annäherungsversuch energisch zurück. Sie hat trotz ihrer jungen Jahre schlechte Erfahrungen mit Männern gemacht und möchte sich auch auf ihren Beruf konzentrieren. An dieser Haltung ändert sich bei ihr lange Zeit nichts, bis zu dem Tag, als er ihr bei einer dramatischen Geiselbefreiung das Leben rettet ...Marie Louise Fischer wurde 1922 in Düsseldorf geboren. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lektorin bei der Prag-Film. Da sie die Goldene Stadt nicht rechtzeitig verlassen konnte, wurde sie 1945 interniert und musste über eineinhalb Jahre Zwangsarbeit leisten. Mit dem Kriminalroman "Zerfetzte Segel" hatte sie 1951 ihren ersten großen Erfolg. Von da an entwickelte sich Marie Louise Fischer zu einer überaus erfolgreichen Unterhaltungs- und Jugendschriftstellerin. Ihre über 100 Romane und Krimis und ihre mehr als 50 Kinder- und Jugendbücher wurden in 23 Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Gesamtauflage von über 70 Millionen Exemplaren. 82-jährig verstarb die beliebte Schriftstellerin am 2. April 2005 in Prien am Chiemsee.-
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Seitenzahl: 178
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Marie Louise Fischer
Saga Egmont
Das gefährliche Leben der Monika Berg
Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof A/S
Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)
represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)
Originally published 1976 by Lübbe Verlag, Germany
All rights reserved
ISBN: 9788711718469
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk — a part of Egmont www.egmont.com
Gestem war meine erste Jugendschutzstreife. War ich aufgeregt? Sehr. Es bedeutete soviel für mich. Mehr noch als meine bestandenen Prüfungen, mehr als meine Einführung ins Amt. Es war sozusagen meine Feuertaufe. Es kommt mir vor, als wenn ich erst seit gestern richtig dabei wäre.
Selbstverständlich habe ich es mir nicht anmerken lassen. Ich weiß von der Polizeischule her, daß die männlichen Kollegen eine Frau am liebsten nicht ernst nehmen möchten. Andere haben Angst, wir könnten sie überrunden. Eine weibliche Vorgesetzte zu kriegen, das ist ihr Alptraum. Na ja. Wahrscheinlich nicht nur bei der Polizei. Man muß sich hier besonders zusammenreißen und darf sich keine Blöße geben.
Deshalb habe ich mir auch lange überlegt, was ich anziehen sollte. Mein Hosenanzug wäre am praktischsten gewesen, hätte aber möglicherweise zu emanzipiert gewirkt. Man kann nie wissen. Deshalb habe ich mein braunes Gabardinekostüm gewählt, darunter eine hellgrüne Polobluse, braune Sportschuhe, braune Umhängetasche — auf den Regenschirm habe ich verzichtet, obwohl es nach Regen aussah. Der hätte womöglich wieder zu weiblich ausgesehen. Mëin dunkles Haar habe ich mir im Nacken mit einer Spange zusammengesteckt.
Als ich einen letzten Blick in den Taschenspiegel warf, bevor ich aus meinem kleinen Auto stieg — ich hatte mit viel Glück einen Parkplatz in der Damenstiftstraße gefunden —, war ich mit meinem Aussehen zufrieden. Ich wirkte zwar ein bißchen blaß ohne jedes Make-up, aber meine Haut war glatt und meine Augen blickten klar, obwohl ich schon acht Stunden Dienst hinter mir hatte. Daran, daß mein Mund ein bißchen zu groß ist, habe ich mich in den dreiundzwanzig Jahren meines Lebens gewöhnen können. Dafür sind die Zähne gesund. Wenn ich lache, bekomme ich Grübchen und sehe entschieden jünger aus. Deshalb war ich fest entschlossen, nicht zu lachen.
Die Kollegen der Kriminal- und der Schutzpolizei waren schon alle im Polizeirevier 23 auf dem Hauptbahnhof versammelt. Ich kannte keinen von ihnen. Herr Schmitt, der Einsatzleiter — er nannte seinen Titel nicht, aber ich tippte auf Polizeihauptkommissar —, machte mich mit den einzelnen Herren bekannt. Sie waren alle in einer Art Räuberzivil erschienen.
Ich war so gespannt auf das, was kommen sollte, daß mir die Namen zu einem Ohr herein- und zum anderen wieder hinausgingen. Es waren an die zehn Herren, und ihre Gesichter waren auch nicht allzu einprägsam.
Nur einer machte eine Ausnahme. Er hielt meine Hand lange fest, wie in einem Schraubstock, sah mich mit einem halb freundlichen, halb spöttischen Lächeln an und wiederholte seinen Namen. »Heller«, sagte er, »mit Vornamen Mark … das ist leicht zu behalten, Sie brauchen bloß an Mark und Pfennig zu denken … Mark Heller!«
Ich verkniff mir eine Erwiderung. »Danke für die Gedächtnisstütze«, sagte ich nur.
Dieser Mark Heller war genau der Typ, den ich nicht ausstehen konnte: groß, schlank, breitschultrig, scharfgeschnittenes Gesicht, blondes Haar, sehr schick angezogen in einer schwarzen Cordsamthose, rotem. Rollkragenpullover, Wildlederschuhen und — wie könnte es anders sein — mächtig von sich eingenommen. Es gab eine Zeit, in der ich auf so etwas hereingefallen wäre, aber inzwischen habe ich meine Erfahrungen gemacht und eine heilsame Lehre erhalten.
Mark Heller, von seiner Unwiderstehlichkeit überzeugt, merkte nichts von meiner Ablehnung und klemmte sich ab sofort dicht an meine Fersen.
Wie es den Vorschriften entspricht — sämtliche Verhöre von Mädchen bis zu achtzehn und Jungen bis zu vierzehn Jahren sollen von Beamtinnen durchgeführt werden —, war außer mir noch eine andere Dame mit von der Partie: Frau Lehnert, etwa vierzig Jahre, aus dem Korps der weiblichen Kriminalpolizei, die bis vor einem Jahr ein geschlossener Verein war und nun auf die verschiedenen Ressorts aufgeteilt ist. Sie wirkte sympathisch, selbstbewußt und energisch, wenn auch ein bißchen altjüngferlich.
Frau Lehnert war zusammen mit einem Herrn Wolff vom Jugendamt gekommen, einem gemütlich wirkenden Herrn Mitte Dreißig, mit Brille, beginnender Glatze und Pfeife. Er hatte mit der eigentlichen Razzia nichts zu tun und hätte auf dem Revier warten können, bis aufgegriffene Jugendliche eingeliefert wurden. Doch er zog es vor, zuerst einmal mitzufahren.
Kurz nach zweiundzwanzig Uhr verteilten wir uns in die Streifenwagen, die bekannten grünen Kastenwagen mit vergitterten Fenstern und vier Bankreihen hintereinander. Ich kletterte in den ersten Wagen, Isar neun, in dem der Einsatzleiter sich schon neben den Fahrer gesetzt hat. Er gibt der Funkzentrale durch, daß es losgeht. Mark Heller quetscht sich, wie könnte es anders sein, neben mich. »Komisch, daß ich Sie noch nie gesehen habe«, sagt er.
»Nicht so komisch«, erwidere ich, »ich bin noch nicht lange dabei.«
»Machen Sie so etwas heute etwa zum erstenmal mit?«
»Ja. Wünschen Sie sonst noch Auskünfte?«
Er ist gar nicht beleidigt, sondern lacht nur. »Wie sind Sie auf die Idee gekommen, zur Polizei zu gehen?«
Ich hätte Lust, ihm eine runterzuhauen. »Aus denselben Gründen wie Sie wahrscheinlich!«
»Glaube ich Ihnen nicht. Ich bin zur Polizei gegangen, weil man in dem Verein Aufstiegschancen hat wie nirgends. Das trifft aber nicht — oder wenigstens noch nicht — auf das weibliche Geschlecht zu.«
»Vielleicht setze ich darauf, daß das noch kommt«, behaupte ich. Warum soll ich ihm auf die Nase binden, daß ich ein ganz persönliches Interesse daran habe, gefährdete junge Menschen zu schützen und den Verbrechern, die ihre Situation ausnutzen wollen, das Handwerk zu legen. Es geht ihn nichts an, und ich wette, er würde es sowieso nicht verstehen.
»Tun Sie das lieber nicht«, warnt er mich. »Für Damen ist das hier nicht das Richtige. Oder können Sie sich einen weiblichen Einsatzleiter vorstellen?«
»Warum nicht?«
»Sie haben eine ausschweifende Phantasie!«
Ich weiß, daß er all das nicht so meint, wie er es sagt, daß er mich nur ärgern will, um mein Interesse zu wecken. Aber gerade das stört mich. Ich bin kein Objekt für männliche Eroberungslust. Also schweige ich.
Wir brausen durch die nächtliche Großstadt, ohne Martinshorn und Blaulicht zwar, aber in einem ziemlich rasanten Tempo. In einer Kurve werde ich gegen Heller geschleudert, und er benutzt die Gelegenheit, mich festzuhalten. Seine Hände sind warm, sein Griff ist zupackend. Ich befreie mich schleunigst.
Unser Streifenwagen fährt in den Garagenhof einer Tankstelle, wendet und hält.
Schmitt setzt sich mit der Funkzentrale in Verbindung.
»Hier Isar neun … Zentrale, bitte melden! Sind auf der Goethestraße … nehmen uns den ‚Vampyr’ vor! Bis jetzt keine besonderen Vorkommnisse. Melden uns anschließend wieder. Ende.«
Wir anderen sind schon hinausgesprungen. Das Trittbrett des Streifenwagens liegt hoch, und Mark Heller bildet sich ein, mir die Hand reichen zu müssen. Natürlich nehme ich sie nicht, bin eine Sekunde unsicher und komme so hart auf dem Betonboden auf, daß ich mir fast den Knöchel verstaucht hätte. Dabei habe ich die Sportprüfung mit Auszeichnung gemacht!
Er grinst, und ich muß mich sehr zusammennehmen, um nicht zu hinken. Aber die Freude mache ich ihm nicht.
Das Wort »Vampyr« zuckt in grellroten Leuchtbuchstaben über dem Eingang des Lokals. Sonst ist alles dunkel, bis auf die Schaukästen, in denen Glanzfotos verschiedene Striptease-Tänzerinnen in unnatürlichen Posen zeigen.
»Bleiben Sie draußen«, sagt Heller, »das da drin ist nichts für Sie.«
Ich werde böse. »Herrje, hören Sie auf, mich wie ein Baby zu behandeln!«
»Der Kollege hat recht«, behauptet Herr Schmitt, »es ist wirklich nicht nötig, daß Sie mitkommen, Fräulein Berg. Wir werden da kaum ein Mädchen oder einen kleinen Jungen aufgreifen.«
Ich will mich auf keinen Fall abschieben lassen. »Warten wir’s ab«, sage ich und dränge mich vor.
»Sie wollen wohl unbedingt was erleben?« frotzelt Heller.
Der Einsatzleiter bestimmt sechs von unserer Mannschaft, darunter auch mich, die Kontrolle durchzuführen, die anderen sollen draußen warten. Ich bin froh, daß ich es geschafft habe. Mein Tatendrang ist groß.
Drinnen ist es kaum heller als draußen. Nur die winzige Bühne wird von verschiedenfarbigen Scheinwerfern erleuchtet. Ein Mädchen im weißen Brautkleid mimt eine Braut in der Hochzeitsnacht und entkleidet sich gekonnt. Die Gäste starren gebannt zu ihr hinauf, die Gesichter im Schatten der kleinen roten Tischlampen.
Während Herr Schmitt noch nach dem Geschäftsführer fragt, um ihm den Zweck unseres Hierseins zu erklären, schwärmen wir schon aus.
Die meisten Gäste sind offensichtlich älter als achtzehn Jahre, viele haben sogar die Mitte des Lebens schon überschritten. Es gibt erstaunlich viele alte Herren und ältere Ehepaare, die anscheinend Erinnerungen auffrischen oder sich anregen lassen wollen. In Zweifelsfällen fragen wir nach den Papieren. Zwei junge Männer werden herausgeholt.
Die Stripperin ist jetzt nur noch mit ellenbogenlangen weißen Handschuhen und einem auf dem blonden Haar festgesteckten Schleier bekleidet. Ich schaue mir nicht gern so was an, aber ich zwinge mich dazu, um Heller zu beweisen, daß ich alles andere als zimperlich bin.
So kommt es, daß ich stutzig werde. Das Gesicht des Mädchens ist derart stark geschminkt, daß man ihr Alter unmöglich schätzen kann. Aber der Körper mit dem kleinen Busen, den schmalen Schultern und dem leichten Bauchansatz kommt mir geradezu kindlich vor.
Mark Heller ist, wie könnte es anders sein, dicht hinter mir.
»Ich schau mal in die Garderobe«, flüstere ich ihm zu.
»Wegen der da?« fragt er mit einer Kopfbewegung zur Bühne. »Ich komme mit!«
Es stellt sich heraus, daß es nur eine einzige Garderobe für die fünf Stripperinnen gibt. Hier sitzen sie schlampig und lustlos herum. Es riecht nach Schweiß und Schminke. Eine schreit auf, als wir eintreteft. Sie wirft einen Schuh nach uns, der Heller fast am Kopf getroffen hätte. Er kann sich gerade noch bücken. Von denen ist keine unter Zwanzig. Ich ziehe ihn rasch wieder auf den Flur hinaus, aber ich habe noch festgestellt, daß es keine andere Tür aus der Garderobe gibt, dafür aber zwei Fenster. Sie sind verriegelt, aber das besagt nichts. Der »Vampyr« liegt zu ebener Erde. Also kann man theoretisch leicht auf den Hof hinaus.
»Jetzt können Sie mich auslachen!« Mark Heller reibt sich die Stirn, dort, wo ihn der Schuh beinahe getroffen hätte.
»Ich bin nicht schadenfroh«, erkläre ich. Tatsächlich bin ich im Augenblick sogar ganz froh, ihn in der Nähe zu wissen.
Jetzt kommt die junge Stripperin von der Bühne. Sie hat sich einen schmierigen Morgenmantel übergeworfen, den sie unter dem Kinn zusammenhält. Unten klafft er weit auseinander und enthüllt ihre langen Beine.
»Lassen Sie mich rein«, sagt sie und will an uns vorbei.
Ich klappe meinen Ausweis auf. »Jugendschutzstreife!«
»Na und?« fragt sie gleichgültig, aber das Erschrecken in ihren runden blauen Augen, deren Lider schwer von den angeklebten Wimpern sind, verrät sie.
»Wie alt bist du?« frage ich.
»Achtzehn«, behauptet sie, aber ich weiß, daß es gelogen ist.
»Zeig mir mal deine Papiere!«
Sie lacht. »Glauben Sie etwa, mein Kostüm hat Taschen?«
»Gut, dann gehen wir zusammen rein.« Ich öffne die Tür zur Garderobe.
»Ich bleibe hier«, verspricht Heller. »Sie brauchen bloß einen Laut von sich zu geben, wenn jemand frech wird.«
»Danke.«
Die Stripperinnen starren uns an.
»He, was soll das?« fragt mich eine fette Negerin. »Bist du etwa die Tante von der Kleinen? Oder was?«
»Ich bin Kriminalbeamtin, aber lassen Sie sich durch mich nicht stören. Ich interessiere mich nur für die Kleine.«
Es wird plötzlich still in dem überhitzten Raum.
Das Mädchen hat sich bis zu einem der Schminktische durchgedrängt. Sie macht sich an ihren Sachen zu schaffen, so, als wolle sie ihren Ausweis suchen. Dann, mit einer plötzlichen Bewegung, will sie das Fenster aufreißen.
Ich packe sie beim Handgelenk. »Das hat doch keinen Sinn, wie weit, glaubst du wohl, wirst du in dieser Aufmachung kommen? Es stehen noch sechs Leute von uns draußen.«
Sie gibt sich geschlagen. »Ich habe keine Papiere.«
»Soll das heißen, daß man dich einfach so, ohne lang zu fragen, hier eingestellt hat?«
Sie nickt mit zusammengepreßten Lippen.
»Und du bist auch noch keine achtzehn. Hör auf zu lügen. Wir werden dich mit auf die Wache nehmen und so oder so alles über dich herausbekommen.
»Fünfzehn«, gesteht sie kaum hörbar.
Das trifft mich wie ein Schlag. Ich habe sie zwar für minderjährig gehalten — aber doch nicht für so jung! Ich habe Mühe, mir mein Mitleid und mein Entsetzen nicht anmerken zu lassen. »Und wie heißt du?«
»Doris … Doris Sieben …«
»Damit du weißt, mit wem du es zu tun hast … ich heiße Monika Berg. Und nun zieh dich mal schön an und pack deine Sachen zusammen.«
Doris hat sich auf den Hocker gesetzt, reißt sich eine ihrer falschen Wimpern ab und blickt mich von unten herauf an. »Wollen Sie mich verhaften?«
»Unsinn! Du bist ja noch ein Kind.«
»Dann, bitte … würden Sie wohl draußen warten, bis ich …?« Ihr Blick ist herzzerreißend. »Es ist mir peinlich, mich vor Ihnen umzuziehen.«
»Das nehme ich dir nicht ab, Doris. Mach keine Geschichten. Also los!«
Mir ist es peinlicher als ihr, ihr beim Umziehen zuzusehen. Aber ich muß es tun, denn dieses Mädchen scheint zu jedem Trick fähig. Ihr weißer, noch so unberührt wirkender Körper wirkt so kindlich, und doch, was mag sie schon alles damit angestellt haben! Fünfzehn Jahre! Ich selbst war immerhin sechzehn gewesen, als ich Conny in die Hände fiel, dem Mann, der mein Leben beinahe zugrunde gerichtet hätte.
Als sie fertig ist, durchstöbere ich ihre Handtasche, ein erbärmliches Ding aus weißem Plastik. Aber es ist nichts darin außer zwei Lippenstiften, einem Kamm, einem schmutzigen zerknüllten Taschentuch, einem Täschchen mit etwas Kleingeld. In einem Seitenfach entdecke ich ein paar größere Scheine und eine Packung mit Präservativen.
Unwillkürlich blicke ich sie an.
Sie wird ein bißchen verlegen, und das zeigt mir, daß sie doch noch nicht ganz verloren ist. In diesem Augenblick entschließe ich mich, sie auf den richtigen Weg zurückzubringen.
Knappe zehn Minuten später sitzen wir uns in einem Hinterzimmer des Polizeireviers 23 gegenüber. Nebenan verhört Mark Heller einen der beiden jungen Männer. Auch Herr Wolff vom Jugendamt war mit zurückgekommen. Er erwartet auf der Wache unsere Berichte. Er ist es, der in jedem Fall das letzte Wort über das Schicksal der Aufgegriffenen zu sprechen hat.
Der Raum ist dürftig ausgestattet. Es gibt einen wackligen alten Schreibtisch mit einer Schreibmaschine und einem Telefon darauf, einen hölzernen Sessel mit flachem Polster, einen Stuhl vor dem Schreibtisch und einen in der Ecke. Das ist alles. Ich hätte mich gern in einer angenehmeren Umgebung mit Doris unterhalten. Sie sieht jetzt, abgeschminkt, in Jeans und einem gestreiften Pullover, harmlos, etwas verschüchtert und sehr jung aus. Ihre Hände, Teenagerhände mit abgebissenen Nägeln, spielen unruhig mit der Plastiktasche.
»Möchtest du eine Zigarette?« frage ich.
»Ja, bitte.« Sie nickt eifrig.
Aber ich bin Nichtraucherin und habe keine Zigaretten bei mir. Ich nehme den Telefonhörer ab und rufe in die Wachstube hinüber.
Schon auf der Fahrt habe ich mich mit dem Polizeipräsidium in Verbindung gesetzt und die Bestätigung erhalten, daß ein fünfzehnjähriges Mädchen namens Doris Sieben aus Liebenau als vermißt gemeldet ist.
Ich sage es ihr.
»Das wundert mich«, meint sie.
»Wieso?«
»Ich dachte, meine Eltern wären froh, wenn sie mich loswürden.«
Es ist schwer, etwas darauf zu sagen. Doris einzureden, daß sie sich irrt, scheint mir zu billig. Noch kenne ich ihren Fall ja nicht.
»Es hat zu Hause also Ärger gegeben?« frage ich.
»Das ist doch egal … oder?« entgegnet sie verstockt.
Ich bin froh, daß in diesem Augenblick Mark Heller hereinkommt. Er legt einen Zettel mit Notizen vor mich auf den Schreibtisch. »Mir Scheint, da haben wir einen richtigen Flamingo erwischt«, bemerkt er grinsend.
Mich stört die Art, wie er in Gegenwart des Mädchens über es redet. Trotzdem muß ich ihm danken. Er hat inzwischen genaue Auskünfte über sie eingeholt, und das wird mir im weiteren Gespräch von Nutzen sein.
»Haben Sie vielleicht eine Zigarette?« frage ich.
»Natürlich, ja … hatte ich fast vergessen!« Er hält mir sein Päckchen hin.
Ich lehne ab und weise mit dem Kopf auf Doris.
Sie schenkt ihm einen gekonnten Aufschlag aus ihren großen blauen Augen, die von einem Rest Wimperntusche verschmiert sind. »Das ist aber lieb von Ihnen«, schnurrt sie.
Er gibt ihr Feuer. »Nichts da, Puppe! Spar dir deine Tricks. Ich bin kein Kinderschänder.«
Er zwinkert mir über ihren Kopf zu, bevor er das Zimmer verläßt.
Doris ist wütend. »So ein gemeiner Kerl«, schimpft sie und spielt das gekränkte kleine Mädchen, jetzt offensichtlich um mich zu rühren. »Aber so sind sie eben alle … einfach gemein!«
Sie tut mir leid, aber ich halte es für besser, es ihr nicht zu zeigen. »Diese Abfuhr hättest du dir ersparen können«, sage ich kühl. »Also los … erzähl mal! Warum kneifst du dauernd von zu Hause aus? Hier lese ich, daß es schon das fünfte Mal ist. Mit neun hast du damit angefangen, und diesmal warst du — vom April an — also vier Monate unterwegs!«
Doris ist beeindruckt. »Woher wissen Sie das?«
»Wir können noch mehr über dich erfahren. Alles, was dich betrifft. Wenn ich dich bitte, mir zu erzählen, dann nur, um dir eine Chance zu geben.« Ich werfe wieder einen Blick auf meinen Zettel. »Du hast dich mit deinem Vater nicht vertragen.«
Sie inhaliert tief, hält den Rauch eine Weile an, bevor sie ihn ausstößt. »Ja. Stimmt.«
»Woran lag denn das?«
»Weiß nicht. Er … er mochte mich nie leiden. Nie. Meine Brüder — die sind jünger — dürfen alles. Auf mir wird immer nur herumgetrampelt.«
Mag sein, daß sie sich das einbildet. Es ist aber auch möglich, daß es stimmt. Vielleicht ist sie der Grund gewesen, daß ihre Eltern heiraten mußten, vielleicht wollte ihr Vater immer nur Söhne haben, vielleicht ist sie sogar das Kind eines anderen …
»Dein Vater — was ist er denn?«
»Der arbeitet im Büro.«
»Kaufmännischer Angestellter also?«
»Kann schon sein.« Sie hat die Zigarette zu einem Stummel aufgeraucht und verbrennt sich jetzt fast die Fingerspitzen. Hastig drückt sie ihn aus.
»Und du selbst müßtest doch noch in die Schule gehen?«
»Ja, aber diesen Sommer komme ich raus.«
»Und was möchtest du gern werden?«
»Werden?« Sie sieht mich an, als spräche ich in einer fremden Sprache mit ihr. »Werden? Was kann man schon werden? Heiraten möchte ich. Oder wenigstens einen Mann finden, der sich um mich kümmert.«
»Obwohl du eine so schlechte Meinung von den Männern hast?«
Sie zuckt mit den mageren Schultern. »Stimmt schon. Aber man braucht sie doch.«
Was für ein gleichgültiges, gedankenfaules Wesen! Es juckt mir in den Fingern, sie zu schütteln, um sie zur Besinnung zu bringen! Und dennoch bin ich in ihrem Alter wahrscheinlich nicht viel anders gewesen. Sonst hätte Conny nie eine solche Macht über mich gewinnen können.
»Hast du noch nie daran gedacht«, frage ich beherrscht, »selbst etwas aus deinem Leben zu machen? Dann brauchst du dir nichts mehr von allen möglichen Kerlen gefallen zu lassen. Du könntest dir einen aussuchen, den du liebst.«
»Schön wäre das schon«, sagt sie langsam, und mir scheint es, als wenn ihre Augen einen träumerischen Glanz bekämen.
»Du mußt es nur wollen, und du schaffst es«, behaupte ich.
»Ich kann’s ja versuchen«, erklärt sie bereitwillig — ein bißchen zu bereitwillig.
Ich laß es vorläufig dabei bewenden. »So, und nun erzähl mal, was du in den vergangenen Monaten so alles getrieben hast!«
Doris berichtet, ein bißchen stockend, aber ganz sachlich. Es ist eine tolle Geschichte, die dabei herauskommt. Sie ist während des Frühsommers quer durch die Bundesrepublik getrampt? Per Anhalter. Über die Grenzen hat sie sich nicht gewagt, obwohl sie das gern gewollt hätte. Zwischendurch hat sie immer mal wieder gearbeitet. Aushilfsweise in, verschiedenen Gaststätten. Da sie immer gleich gesagt hat, daß sie nur einspringen will, hat niemand nach ihren Papieren gefragt.
Im »Vampyr« hat sie als Animiermädchen angefangen. Daß sie dann als Stripperin auftreten durfte, war für sie ein großer Aufstieg. Trotzdem hat sie sich auch weiter mit Animieren etwas dazuverdient. Offensichtlich hat man ihre Lage ausgenutzt. Sie wurde schlecht bezahlt. Wenn ein Gast sie aufforderte, ist sie deshalb nach draußen mit in sein Auto gegangen.
Mark Heller steckt den Kopf herein. »Können wir?«
Aber ich muß ihn enttäuchen. Ich bin noch nicht fertig. Ich muß erst noch das Protokoll tippen. Dazu brauche ich alle Adressen, bei denen sie gearbeitet hat. Theoretisch könnte auch morgen noch eine Kollegin tiefer bohren. Aber ich muß einkalkulieren, daß Doris dann vielleicht keine Lust mehr zum Reden hat. Ihre Festnahme wird einen Rattenschwanz von Anzeigen nach sich ziehen, und das ist auch gut so. Alle Menschen, die bedenkenlos und aus bloßem Eigennutz eine Ausreißerin bei sich einstellen, haben Strafe verdient.
Natürlich muß ich sie auch noch fragen, ob sie sich selbst, während sie unterwegs war, strafbar gemacht hat. Aber ich bringe es nicht über mich, ihr eine Falle zu stellen. Das scheint mir zu unfair, gerade jetzt, wo sie Vertrauen zu mir gefaßt hat.
»Du selbst hast doch nichts angestellt«, sagte ich statt dessen.« Ich weiß, daß ich ihr die Antwort sozusagen in den Mund lege, und genau das will ich.
»Wieso?« fragt sie und reißt die Augen auf.
»Du könntest ja zum Beispiel was geklaut haben.«
Sie tut, als verstünde sie erst jetzt. »Nein, bestimmt nicht.«
Mir ist es egal, ob sie lügt oder die Wahrheit sagt. Ich tippe: Eigentumsdelikte liegen nicht vor. Dann ziehe ich das Protokoll aus der Maschine. »So, das hätten wir.« Ich stehe auf.
»Muß ich zu meinen Eltern zurück?« fragt Doris erschrocken. »Bitte, schicken Sie mich nicht dahin!«