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Sie lief einen halbdunklen Korridor entlang, der zum Ostflügel führte. Sie war noch zehn Schritte von dem schwachen Licht über sich entfernt, als sie Louise Gregory durch die Tür des Ostflügels kommen sah. Myra blieb stehen. Louise ging weiter, dann drehte sie sich um und steckte einen Schlüssel in die Tür. Das Klicken des Schlosses war deutlich hörbar, es durchdrang das Rauschen des Blutes in Myras Ohren. Sie trat zurück und weiter zurück, als Louise näherkam, sie hatte einen merkwürdigen Metallzylinder in ihren dicken Händen.
Myra drehte sich um und rannte. Sie wusste sofort, dass die seltsame alte Frau sie von jeder Hilfequelle abgeschnitten hatte...
Der Gothic-Horror-Roman Das Geheimnis der Dresden-Farm von Genevieve St. John (ein Pseudonym des US-amerikanischen Schriftstellers Leslie Gladson) erschien erstmals im Jahr 1968; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1972 in der legendären Reihe HORROR EXPERT.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers in seiner Reihe APEX HORROR.
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Genevieve St. John
Das Geheimnis
der Dresden-Farm
Roman
Apex Horror, Band 58
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DAS GEHEIMNIS DER DRESDEN-FARM
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Sie lief einen halbdunklen Korridor entlang, der zum Ostflügel führte. Sie war noch zehn Schritte von dem schwachen Licht über sich entfernt, als sie Louise Gregory durch die Tür des Ostflügels kommen sah. Myra blieb stehen. Louise ging weiter, dann drehte sie sich um und steckte einen Schlüssel in die Tür. Das Klicken des Schlosses war deutlich hörbar, es durchdrang das Rauschen des Blutes in Myras Ohren. Sie trat zurück und weiter zurück, als Louise näherkam, sie hatte einen merkwürdigen Metallzylinder in ihren dicken Händen.
Myra drehte sich um und rannte. Sie wusste sofort, dass die seltsame alte Frau sie von jeder Hilfequelle abgeschnitten hatte...
Der Gothic-Horror-Roman Das Geheimnis der Dresden-Farm von Genevieve St. John (ein Pseudonym des US-amerikanischen Schriftstellers Leslie Gladson) erschien erstmals im Jahr 1968; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1972 in der legendären Reihe HORROR EXPERT.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers in seiner Reihe APEX HORROR.
Myra Linden starrte auf das gerichtliche Schreiben, und trotz der rauen Wirklichkeit, dem Hin und Her in dem Büro, dem Sprechen und Lärmen der anderen vier Redaktionsmitglieder, war sie nicht ganz sicher, ob es Wirklichkeit war oder nicht. Sie nahm ihre Hornbrille ab, und die kleinen Buchstaben des Schreibens verschwanden aus ihrem Blickfeld. Sie begann mit sich selbst zu sprechen, um sich darüber klar zu werden, ob sie noch denken konnte oder nicht.
Mein Name ist Myra Linden. Ich bin sechsundzwanzig Jahre alt und Chefredakteurin des Currently Speaking, der Hauszeitschrift der Eastern Electric Company. Ich verdiene sechshundert Dollar im Monat und habe keine Schulden. Ich bekomme durchschnittlich im Jahr zwei Heiratsanträge und habe eine Menge guter Freunde. Nichts kann mir passieren.
Sie hatte von der Dresden-Farm gehört, als sie zwölf Jahre alt gewesen war, und damals hatte man ihr gesagt, dass sie im Alter von einem Monat Besitzerin von vierzigtausend Quadratmetern Land geworden sei. Nun gingen ihre Gedanken zurück zu jenem Tag, als Tante Flora ihr das erzählt hatte; nach dem schrecklichen Autounfall, bei dem Alcie und Arthur Linden getötet worden waren, hatte Tante Flora es übernommen, sie zu erziehen. Es hatte keine richtige Erklärung für diese Erbschaft gegeben, nur die, dass Silas A. Gregory, dem früher einmal fast ein Viertel von Milford County gehört hatte, verschiedene kleine Farmen aus unbekannten Gründen einigen Leuten hinterlassen hatte.
Niemand hatte viel an diese kleinen Farmen gedacht, denn sie lagen an der Peripherie des Gregory Estate in einem entfernten Teil des Staates New York. Es war felsiges und praktisch unbebaubares Land. Der bewaldete Boden war verkommen, überwuchert von Beerensträuchern, bepflanzt mit verkrümmten Eichen. Von all diesen ländlichen Gebieten besaß nur die Dresden-Farm ein Haus, die anderen Ländereien lagen verwaist und unbebaut da.
Aber nicht die Dresden-Farm. Myra hatte sie im Geist besiedelt - seit dem Tag, an dem sie erfahren hatte, dass sie ihr gehörte. Die anderen Kinder bauten sich Märchenschlösser auf und lebten auf einsamen Inseln; Myra hatte sich in die Dresden-Farm zurückgezogen, sie hatte von den fabelhaften Wäldern, von den grünen Wiesen geschwärmt, sie hatte erzählt, dass sie sich nach Sonnenaufgang in die kleine Hütte mit den lustigen Vorhängen und dem prasselnden Kaminfeuer zurückgezogen hätte. Sie besaß ein Pony namens George, eine Kuh namens Marie und eine Gans namens Sam. Sie besaß unzählige Enten und Hühner, und sie erschuf sich eine Katze und einen Collie und alles, was sie sich in der Phantasie vorstellen konnte. Die Farm war ihr privates Paradies geworden, und sie hatte sie von Anfang an geliebt.
Als sie sechzehn geworden war, hatte Tante Flora sie zum ersten Mal zu einem Besuch auf die Dresden-Farm mitgenommen. Seitdem hatten sich Myras Träume ein wenig geändert. Die Wälder waren nicht so fabelhaft, die Wiesen nicht so grün.
Das Haus war eine verkommene Hütte mit drei kleinen Zimmern, man musste das Wasser von der Pumpe holen, einem verrosteten, kreischenden, ehemals grün gewesenen Eisending mit einem gewaltigen Hebel. Die Tür des Außenhauses war so heruntergesackt, dass man sie kaum schließen konnte. Von jenem Tage an hatten sich ihre Träume geändert. Sie hatte nicht mehr von den Dingen geträumt, die waren, sondern von jenen, die sie einmal tun würde, um aus der Dresden-Farm einen Platz zu machen, auf dem ein Haus stand, in dem man wohnen konnte. Es hatte lange gedauert, bis ihre Pläne soweit gediehen wären.
Mit einundzwanzig hatte sie andere Dinge tun müssen. Ihre liebe Tante war gestorben; sie war allein; sie absolvierte das College mit sehr wenig Geld. Sie hatte sich alles so ganz anders vorgestellt, aber ihre unromantische Existenz engte ihre Erwartungen ein. Die meisten ihrer Freundinnen hatten geheiratet; sie hatte die glücklichen Paare gesehen, und sie war selbst nahe daran gewesen, auf alles zu verzichten, eine alte Jungfer zu werden. Und damals hatte sie begonnen, einen Plan auszuhecken. Sie hatte bereits gelernt, in die Zukunft zu schauen. Und die kleine Falte auf ihrer Stirn zeigte, wie oft sie grübelnd dagesessen hatte. Dann hatte sie ihr Examen als Journalistin gemacht.
Und der Plan war sehr einfach und klar. Im Herbst wollte sie ihre journalistische Karriere in Rochester beginnen. Und sie würde langsam auf der journalistischen Leiter hochsteigen, bis sie fähig war, sich freiberuflich als Schriftstellerin zu betätigen. Vielleicht konnte sie einmal Romane schreiben, gute Romane, erfolgreiche Romane, die sie instand setzten, sich ganz auf die Dresden-Farm zurückzuziehen und ihr Leben dort als eine von der zeitgenössischen Literatur angesehene Schriftstellerin zu beenden.
So oder so, die Dresden-Farm war immer noch ein Phantasiegebilde, ein Traum, ein Geheimnis, das sie nicht losließ, ein Paradies, in welches sie sich in ihren Tag- oder Nachtträumen zurückziehen konnte, wenn sie dem gnadenlosen Erwerbsleben nicht gewachsen war. Um zu testen, was ihre Träume und ihre Hoffnungen wert waren, hatte sie versucht, im folgenden Sommer nach ihrem Examen auf dem Hulbert College auf der Farm zu wohnen. Einmal war es die Lust am Abenteuer gewesen, zum anderen hatte sie eine Menge Geld sparen wollen. Aber sie hatte in dieser winzigen, schäbigen Hütte nur eine Woche gebraucht, um sich darüber klar zu werden, dass die mageren zweihundertsechzig Dollar, die sie Penny auf Penny von ihrem Stipendium erspart hatte, niemals für die drei Monate ausreichen würden, die ihr verblieben, ehe sie ihren neuen und ersten Job in New York antreten würde.
Und dann, mit zweiundzwanzig, hatte Myra eine ganze Menge schlechter Erfahrungen hinter sich. Sie war aufgewachsen als Waise, ein armes Mädchen, und vielleicht war sie auch weniger hübsch als viele der anderen Mädchen, die sie kannte. Ihre Liebeserlebnisse waren nichts weiter als ein trivialer Spaß gewesen. Sie war still und scheu, und ihre ein wenig geheimnisvolle Persönlichkeit hatte ihr manche Rollen in Theaterstücken eingebracht, vor allem meistens einen Platz im Komitee, das sich um die Dekorationen und das Programm zu kümmern hatte. Ihre Triumphe waren klein.
Das Jahrbuch des Hulbert College hatte sie als die Standfeste erwähnt, und das war sie gewesen: Ein Mädchen, das um wenig bat und bis zur absoluten Grenze ihrer Möglichkeiten gab. Angesichts des immer weniger werdenden Geldes und eines Traumes, der nicht wahr geworden war, hatte sie allein auf die Zukunft gesetzt, nicht, weil sie sich besiegt fühlte, sondern weil sie die Absicht hatte, etwas zu erreichen. Sie hatte die Dresden-Farm wieder verlassen, nachdem sie kaum Bekanntschaft mit ihrem seltsamen Erbe geschlossen hatte; sie hatte nicht einmal das Land oder die Leute kennengelernt, die in der Nähe wohnten. Aber der Traum und der große Plan blieben, doch es war nur logisch, alles ein wenig hinauszuschieben.
Vier Jahre waren nun vergangen, vier Jahre voller Arbeit und manchem Erfolg als Journalistin, und diese Arbeit hatte ihre ganze Zeit beansprucht und ihr Wesen ausgefüllt. Doch nun träumte sie manchmal wieder, sie dachte an ihren Plan und an die vergangenen Dinge. Sie hatte ein gewisses Schuldgefühl, dass sie sich so wenig um die Dresden-Farm gekümmert hatte. Und nun hatte sie Angst, weil sie diese Entwicklung nicht erwartet hatte und nicht begriff.
Sie setzte ihre Brille wieder auf und starrte auf das Schreiben. Es war die gerichtliche Verfügung, die ihr verbot, irgendwelche Veränderungen auf der Dresden-Farm vorzunehmen oder sie zu verkaufen, und vor dem Kreisgericht zu erscheinen und nachzuweisen, warum ihr Besitzanspruch laut Eintragung in Sektion 286 des New-York-State-Kodex, betreffend Besitztitel und Hinterlassenschaften, nicht für rechtsungültig erklärt werden sollte. Die Verhandlung im Kreisgericht war auf den 15. Oktober 1971 festgesetzt. Gezeichnet Richter Jakob Vollmer. Und das Staatssiegel auf dem Schreiben war sehr eindrucksvoll.
»Ich bin eine solche Närrin!«
Sie hatte es laut vor sich hin geschrien, ein oder zwei Minuten nachdem sie Grantville, die Stadt mit dem Kreisgericht von Milford County, hinter sich hatte. Sie hatte seit Jahren nicht mehr geweint, aber nun weinte sie, während sie den Wagen auf dem fast vergessenen Weg zur Dresden-Farm fuhr. Sie hatte nichts als unsinnige Dinge getan, seitdem Tom Brokaw ihr gesagt hatte, sie sollte um ihre Erbschaft kämpfen. Und es hatte noch keine Eile damit. Sie hatte noch volle sieben Tage vor der Verhandlung. Sie hatte warme Kleider und flache Schuhe eingepackt, sie hatte sich daran erinnert, wie steinig das Land gewesen war, und sie hatte nur ein einziges gutes Kleid mitgenommen, das sie vor dem Gericht tragen wollte. Sie hatte sich keinem anvertraut, sie hatte auch keinen New Yorker Rechtsanwalt bemüht, um sich über die Legalität ihres Anspruchs zu erkundigen. Und jetzt, als sie durch die wilden Hügel von Milford County fuhr, weinte sie grundlos, vielleicht war es nur das kleine Gefühl ihrer Einsamkeit, dass sie in den vier Jahren, in denen sie für die Eastern Electric Company gearbeitet hatte, nicht hierhergekommen war.
Und dann versiegten ihre Tränen plötzlich und sie wischte ihre Wangen trocken. Ein- oder zweimal schnaubte sie noch, dann verließ sie die zweispurige Asphaltstraße und fuhr auf dem Feldweg, der zur Dresden-Farm führte und weiter zum Tor des Gregory-Landsitzes. Soviel sie wusste, war dieses Gut vier Meilen von ihrer Farm entfernt. Das Land erschien fremd und doch manchmal ein wenig vertraut, und sie spürte die Spannung in sich, als sie Ländereien mit weißen Häusern und Scheunen und Zäunen passierte. All das erinnerte sie an die seltsamen Figuren in ihren verrückten Träumen, die sie vor vielen Jahren gehabt hatte. Und dann schob sie ihr Kinn vor. Nicht nur Träume - und gar nicht verrückt. Verschwommen vielleicht, mit ein wenig Verzweiflung in Kleinmädchenart, aber nicht mehr länger unmöglich. Die tausend Dollar in Traveller-Schecks, die sie in ihrer Handtasche hatte, dazu noch weitere fünfzehnhundert auf der Bank - und wenn zweihundertsechzig Dollar damals nicht viel für die Dresden-Farm bedeutet hatten: tausend oder zweitausend waren schon etwas. Und in fünf oder zehn Jahren, wenn sie ihr erstes Buch herausgegeben und ihre neue Karriere eingeschlagen hatte, dann würde sie vielleicht Geld genug haben, um aus der Dresden-Farm einen wundervollen Besitz zu machen, so, wie sie ihn sich immer vorgestellt hatte. Und niemand - niemand! - sollte ihr das alles wegnehmen.
Ihr Atem ging schneller, als sie um die Kurve fuhr, die zu jenem Gebäude führte, das einmal ein Teil des unglaublich großen Gregory-Besitzes gewesen war. Und dann sah sie den steinernen Schornstein, das Dach, und schließlich die altersgrauen Wände ihres kleinen Hauses. Unkraut wuchs in dem Hof, und sie konnte sich gar nicht an die hohen Bäume erinnern, die so nahe an ihrem Haus wuchsen. Es schmerzte sie, als sie den verrotteten Zaun vor ihrem Eigentum sah, und sie wurde zornig, als sie bemerkte, dass irgendjemand die Tür offen gelassen hatte.
Aber es war wundervoll, auf dem zugewachsenen Weg weiterzufahren mit dem eigenen Wagen, auf ihren eigenen Besitz zu fahren, es war einfach herrlich. Sie fuhr vor die Veranda, drehte die Zündung ab und blieb ruhig sitzen; sie war nicht ganz sicher, wie sie sich fühlte. Glücklich? Weltschmerz? Besorgnis? Vielleicht sogar ein wenig Furcht? Sie starrte auf die Tür. Irgendetwas fehlte und sie musste nachdenken, was es sein konnte. Ja. Herbstblätter hätten auf der Veranda liegen müssen. Und die Stufen zur Veranda sahen so fest aus. So sauber. Es war, als hätte irgendjemand die Büsche und das Unkraut entfernt, das damals unter der Veranda gewachsen war. Myra stieg aus und ging zur Veranda hinauf. Ihre rechte Hand umklammerte den großen alten Schlüssel, der seit vielen Jahren in dem Safe der Bank gewesen war. Es bedurfte einigen Mutes, den Schlüssel ins Loch zu stecken. Sie packte den Türknopf mit der linken Hand, dann erinnerte sie sich daran, dass dieses Schloss dreimal so alt war wie sie und dass es damals, vor über vier Jahren, so schwer aufzuschließen gewesen war. Doch zu ihrer Überraschung ging es jetzt leicht, schnell, und mit einem einzigen leichten Klicken. Die Tür ging auf, damals hatte sie in den Angeln gequietscht, nun nicht mehr; jemand hatte die Angeln geölt, dachte sie, aber wie hätte jemand wagen können, in ihr Haus einzudringen - und dann hatte sie plötzlich Angst, dass irgendjemand noch drin sei und dies alles besitze.
»Jemand wohnt hier!«, keuchte sie laut.
Sie schnüffelte. Jemand hatte etwas gekocht. Nirgendwo war Staub, nirgendwo lag etwas herum. Da stand ein Tisch mit einer Petroleumlampe und einigen Büchern, und daneben war ein Schaukelstuhl, den irgendein New Yorker Händler vielleicht als antik klassifiziert hätte. Sie konnte in das Esszimmer sehen und es war leer - und dann sah sie zwei verschlossene Koffer auf dem Boden.
»Hallo! Ist jemand hier?«, rief Myra. Als sie keine Antwort bekam, ging sie zu der geschlossenen Tür des Schlafzimmers. Der Schlüssel steckte. Sie drehte ihn um und schaute hinein. Im Schlafzimmer war Staub, überall lagen Blätter herum, das Fenster war zerbrochen, und Regenspuren waren an der Wand und auf dem Boden. Offensichtlich hatte der, der im Haus war oder gewesen war, hier nichts repariert. Myra schloss die Tür und ging zur Küche. Sie sah einen Laib Brot und eine ganze Reihe von Konserven. Und im Kühlschrank war ein halb gefüllter Karton mit Milchdosen, einigen Scheiben Schinken und einem Topf mit Suppe oder was es sein sollte. Sie ging zur Pumpe. Das Wasser floss leichter heraus als früher.
Irgendwie war sie eher zornig als betroffen. In den vier Jahren musste irgendwie jemand die alten Möbelstücke, die sie hiergelassen hatte, weggenommen haben. Nur der alte eiserne Ofen war noch da und das Rohr, das irgendwo hinausführte. Nun, vielleicht hatte ein Tramp das Haus bezogen und es sich wohnlich gemacht. Er war eine Weile hier gewesen und offensichtlich hatte er die Absicht, noch länger zu bleiben. Er hatte Lebensmittel in die alte Küche gebracht, er hatte ein Bett im Wohnzimmer aufgeschlagen, er hatte sich einen Sessel und eine Lampe besorgt. Er hatte sogar die Türangeln geölt.
»Was für eine Narretei!«, schalt sie.
Dann ging sie bis Wohnzimmer und hob eines der Bücher hoch. Es war ein Text über Hydraulik, und sie hob erstaunt die Augenbrauen.
»Das andere ist nicht besser, es sei denn, Sie interessierten sich für Boiler und solche Dinge«, sagte eine Stimme hinter ihr. »Die Herzogin von Kent, nehme ich an? Machen Sie es sich bequem, Herzogin. Der Tee wird in einer Minute fertig sein.«
Myra wirbelte herum, sie hob das schwere Buch, um sich zu verteidigen. Der Mann stand in der geöffneten Tür, er war zu gewaltig, um von einem Buch eingeschüchtert zu werden, zu breit, als dass sie an ihm hätte vorbeilaufen können und er lächelte zu nett, um Angst zu erwecken. Er hatte einen Rollpulli an, Jeans und Tennisschuhe. Sein zerzaustes braunes Haar lag in Wellen um seinen Kopf. Seine Augen waren sehr blau und strahlten. Er lächelte und zeigte ebenmäßige weiße Zähne.
»Wer... wer sind Sie?«, fragte Myra.
»Donald Duck. Und Sie müssen Miss Linden sein, denke ich. Willkommen zu Hause.«
»Ich möchte gern wissen, was Sie in meinem Haus machen.«
Nun hob er die linke Hand, die auf seinem Rücken gewesen war und zeigte ihr ein frisch enthäutetes Kaninchen. »Ich wollte gerade dieses Kaninchen zubereiten. Und da dies Ihr Haus ist, sind Sie eingeladen. Kaninchenbraten ist köstlich, Sie dürfen bloß nicht dabei an Katzen denken. Lassen Sie mich mal zum Wasserbecken, sonst werden die schönen orientalen Teppiche blutig.«
Er grinste und ging in die Küche. Sprachlos folgte ihm Myra mit weitgeöffneten Augen. In seiner rechten Hüfttasche steckte ein Revolver, ein automatischer, wenn das, was sie vom Fernsehen gelernt hatte, stimmte. Das Metall leuchtete blau und der Holzgriff war ziemlich abgenutzt, als ob ihn eine große Hand viele, viele Male lang gehalten hätte.
Sie hörte, dass er das Kaninchen ins Wasserbecken fallen ließ, und dann ein dumpfes Poltern, als ob die Pumpe von einem Motor angetrieben würde.
»Oh!«, rief er aus der Küche. »Ich will mal nicht verrücktspielen. Ich heiße Silas Gregory. Sie können mich Si nennen, okay?«
»Silas Grego - Gregory? Aber der ist doch seit sechsundzwanzig Jahren tot!«
»Das war mein Großvater. Hey, das ist aber ein kleines fettes Ding. Wie mögen Sie Kaninchen: gekocht oder gebraten? Sie können es sich aussuchen - Holz braucht man so und so für diesen alten Herd.«
»Ge - gebraten«, stotterte Myra und ließ sich in den Schaukelstuhl fallen.
»Wie war's denn, wenn Sie die Kartoffeln schälten?«
Am liebsten hätte sie vor Wut laut geschrien und sich geweigert, aber sie war müde und schockiert und hatte nie zuvor einen Mann mit einer Waffe in der Tasche gesehen. Ob es nun ein Revolver war oder eine Pistole. Und dann war sie sehr beeindruckt von der Art, wie sein Haar über die Ohren hing und wie die kleinen kastanienbraunen Löckchen den Rollkragenpulli oben bedeckten. Sie stand auf und zog ihre Kostümjacke aus, sie rollte die Blusenärmel hoch und betrat die Küche.
So viele Fragen waren in Myras Kopf, dass sie nicht in der Lage war, diejenige herauszupicken, mit der sie beginnen sollte. Sie hatte immer geglaubt, dass vier Jahre Arbeit als Redakteurin der Eastern Electric Company ihr die Scheu genommen hätten, die sie während ihrer ganzen Schulzeit gequält hatte. Jetzt wusste sie, dass es nicht so war. Sie war zur Dresden-Farm zurückgekehrt und hatte einen großen lachenden Mann vorgefunden, Dinge, die offensichtlich ihm gehörten, und sie hatte nicht den Mut, ihn deswegen zu fragen. Und Silas Gregory schien keine Lust zu haben, diese Dinge mit ihr zu besprechen. Es war, als ob er seinen messerscharfen Verstand dazu benutzte, das Unbehagen zu genießen, das - er musste es wissen! - Myra verspürte.
Und er war so gesellig! Er sprach über die elegante Küche, über den phantastischen alten Herd, über das wunderbare Porzellan aus China, das ihm von einem gewissen Mr. Woolworth zugeschickt worden wäre. Und trotz ihrer Verstörtheit musste sie ein- oder zweimal über seine Witze lachen. Und dann machten die Küchengeräusche jede Unterhaltung unmöglich. In bemerkenswert kurzer Zeit war das Essen fertig, und Myra war erstaunt, wie gut es roch und wie gut es ihr schmeckte. Er hatte ihr den Schaukelstuhl gegeben und einen Koffer herumgedreht, so dass er sich darauf setzen konnte.
Sie saßen beide ein wenig zu tief.
»Wenn ich gewusst hätte, dass Sie kommen, dann hätte ich die Tischbeine abgesägt«, sagte er.
»Wenn ich gewusst hätte, dass Sie hier sind, dann hätte ich zuerst einen Polizisten geschickt«, sagte Myra. »Aber Ihre Kartoffeln und das Kaninchen sind ganz ausgezeichnet. Sie haben wohl Hauswirtschaft studiert, nicht wahr?«
»Ich bin Ingenieur«, verbesserte er sie, dann verschwand das Lächeln aus seinem Gesicht. »Ich glaube, wir sollten nun zu der ernsthafteren Seite dieses Fiaskos kommen. Es wird bald dunkel sein, und wir müssen uns entscheiden, was wir mit Ihnen machen. Haben Sie die Absicht, hier über Nacht zu bleiben?«
»Nicht unbedingt, obgleich damals einige Möbelstücke da waren. Nein. Ich glaube, ich werde nach Grantville in das Hotel zurückfahren, aber ich meine auch, dass Sie mir einige Erklärungen schuldig sind, Mr. Gregory. Warum kampieren Sie hier in meinem Haus, wenn Ihr eigenes Haus nur eine Meile oder so von hier entfernt ist? Ich könnte mir denken, dass das Gregory-Haus bedeutend komfortabler ist als die Dresden-Farm! Und dann bleibt noch die Tatsache, dass Sie unbefugt hier eingedrungen sind!«
»Unbefugt eingedrungen? Das ist eine merkwürdige Geschichte, Miss Linden, aber die dürfte am 15. dieses Monats vor dem Gericht geklärt werden.«
Myra sah ihn an, sie suchte nach einem kleinen Zeichen von Humor, den er noch vor einer halben Stunde so oft gezeigt hatte, aber sein Gesicht war sehr grimmig, fast hart, und sie hatte Angst.
»Dann sind Sie mein Gegner, nicht wahr?«, fragte sie schließlich.
»Legen Sie mir bitte keine Worte in den Mund! Und nennen Sie mich Si, denn ich möchte Sie ganz gern Myra nennen. Also, Myra. Ich weiß, dass das alles ein Schock für Sie ist, und in gewisser Weise ist das auch ein Schock für mich. Das Problem ist, dass Sie eine Erklärung verlangen können, und ich kann sie Ihnen nicht geben... noch nicht. Aber ich bin nicht Ihr Gegner, um das klar zu machen. Um Ihnen das zu beweisen, möchte ich Ihnen einen Vorschlag machen, aus dem Sie ersehen können, dass wir sogar Freunde sein werden. Sie haben recht. Das Gregory-Haus ist sehr bequem. Sind Sie jemals in diesem Haus gewesen?«
»Nein. Einmal, vor vier Jahren, bin ich auf der Straße vorbeigegangen und habe durch das Tor geschaut. Ich hatte die Absicht hineinzugehen, einfach als Nachbar, der einen kurzen Besuch macht, aber die gewaltige Größe des Besitztums erschreckte mich.«
»Es erschreckt mich immer noch und ich wurde dort geboren«, sagte er mit einer freundlicheren Stimme. »Achtundzwanzig Zimmer, alles unterkellert, und über allem ein gewaltiger Boden. Ställe für zwölf Pferde. Und dazu noch zwei große Scheunen. Die Diener wohnen in einem anderen Haus neben den neuen Garagen. Ein Stückchen weiter weg ist ein Haus, das einmal von zwölf Landarbeitern bewohnt wurde. Und alles ist umgeben von fast einer halben Million Quadratmeter Land. Aber seit mein Vater vor fünf Jahren starb, hat nicht ein einziges Mal eine Kuh auf diesem Land geweidet. Und wären Sie vor vier Jahren in dieses Haus gekommen, dann hätten Sie nur Elbe Gleason, die Haushälterin, vorgefunden und den Abe Taggart, das alte Faktotum. Und ich versichere Ihnen, man hätte Sie nicht willkommen geheißen! Doch jetzt wird es anders sein. Ein halbes Dutzend meiner Verwandten ist dort, einige Frauen und ihre Männer. Aber wenn ich Sie an die Hand nehme, dann sind Sie willkommen. Sehen Sie, und das möchte ich Ihnen vorschlagen. Sie halten mich für einen unwillkommenen Gast in Ihrem Haus; seien Sie in meinem Haus ein willkommener Gast. Oder wenigstens in dem Teil des Hauses, das mir gehört!«
Myra starrte ihn an. »Ich danke Ihnen sehr, Si. Aber ich begreife das nicht! Warum bleiben Sie denn nicht dort und lassen mir die Dresden-Farm?«
»Weil die Dresden-Farm kein Ort ist, in dem eine Lady schutzlos leben sollte, und weil es mir hier gefällt. Aber keine Bange, Myra! Meine Verwandten werden glücklich sein, Sie zu sehen. Sie werden keinen einzigen langweiligen Augenblick verleben«, versprach er. »Nun, also abgemacht. Möchten Sie jetzt gehen, oder wollen Sie zuerst die Dresden-Farm inspizieren, um zu sehen, was in vier Jahren geschehen ist?«
»Weder - noch, Si. Ich weiß nicht warum, aber ich habe eine Vorahnung, dass alles gar nicht so einfach ist, wie Sie tun. Ich habe ein Recht zu wissen, warum Sie in meinem Haus wohnen, und es gibt noch verschiedene andere Dinge über den Besitz, die ich gern erfahren möchte. Warum, zum Beispiel, erhebt Harold Robie, der Gutsverwalter, Anspruch auf einen Besitztitel für diese Farm? Warum ist im Kreisgericht nicht eingetragen, dass ich ein von Ihrem Großvater, Silas A. Gregory, unterzeichnetes Testament besitze?«
Seine Augenbrauen hoben sich leicht. »Sie haben also einige Erkundigungen eingezogen, ehe Sie heute Nachmittag herkamen«, stellte er fest. »Nun, das ist eine lange. Geschichte, und ein vom Gesetz Befugter könnte sie besser erzählen. Um ganz offen zu sein, ich weiß wenig von all diesen Dingen.«
»Seit wann wohnen Sie hier auf meinem Besitz?«
Er überlegte sich seine Antwort. »Seit dem 3. Juli - seit dem Tag, an dem das Testament meines Vaters den Mitgliedern der Gregory-Familie vorgelesen wurde.«
»Warum, um Himmels willen?«