Das Geheimnis der Greta K. - Marie Louise Fischer - E-Book

Das Geheimnis der Greta K. E-Book

Marie Louise Fischer

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Beschreibung

Greta König ist an der Seite ihres Mannes, eines Industriemagnaten, glücklich, obwohl Hans-Philipp manchmal stur und egoistisch ist und seine Frau ganz und gar besitzen will. Doch um sich die Sicherheit der Ehe zu erhalten, nimmt sie das alles in Kauf. Denn sie weiß, wie es ist, wenn man verlassen ist, wenn man kein Geld hat – und sie hat ihrem Mann erzählt, wie sie sich damals ihren Lebensunterhalt verdient hat. Dennoch holt die Vergangenheit Greta eines Tages ein, als mit Heinz Feldmann ein Mann aus ihren früheren Tagen auftaucht. Ihre Ehe steuert auf eine Katastrophe zu – bis Greta erfährt, dass auch ihr Mann ein schreckliches Geheimnis hat.Marie Louise Fischer wurde 1922 in Düsseldorf geboren. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lektorin bei der Prag-Film. Da sie die Goldene Stadt nicht rechtzeitig verlassen konnte, wurde sie 1945 interniert und musste über eineinhalb Jahre Zwangsarbeit leisten. Mit dem Kriminalroman "Zerfetzte Segel" hatte sie 1951 ihren ersten großen Erfolg. Von da an entwickelte sich Marie Louise Fischer zu einer überaus erfolgreichen Unterhaltungs- und Jugendschriftstellerin. Ihre über 100 Romane und Krimis und ihre mehr als 50 Kinder- und Jugendbücher wurden in 23 Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Gesamtauflage von über 70 Millionen Exemplaren. 82-jährig verstarb die beliebte Schriftstellerin am 2. April 2005 in Prien am Chiemsee.-

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Marie Louise Fischer

Das Geheimnis der Greta K.

Roman

SAGA Egmont

Das Geheimnis der Greta K.

Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof A/S

Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)

Originally published 1987 by Lübbe Verlag, Germany

All rights reserved

ISBN: 9788711718476

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

1

Es war zehn Minuten vor zwölf, als Greta König die Sigmaringer Bank am Leopoldplatz betrat. Es war voller, als sie erwartet hatte. Aber sie reihte sich nicht in eine der kurzen Menschenschlangen vor den Schaltern ein, sondern blieb mitten im Kassenraum stehen. Sie war sicher, dass sie auf diese Weise rascher die Aufmerksamkeit der Angestellten auf sich ziehen würde, nicht nur wegen ihrer Schönheit, sondern weil sie die Frau eines sehr guten Kunden war. Hans-Philipp König gehörte zu den bedeutendsten Industriellen Baden-Württembergs.

Ihre Rechnung ging auf. Schon wenige Sekunden nach ihrem Eintritt hob ein junger Mann im Hintergrund, auf dessen braunen Schopf sie ihren Blick konzentriert hatte, den Kopf. Jürgen Haberls rundes Gesicht erstrahlte, als er sie erblickte, und er sprang auf.

Greta deutete mit ihrer linken Hand, in der anderen hielt sie ihre weiße Handtasche, nach unten, um ihm zu signalisieren, dass sie an ihren Safe wollte. Er eilte fort – um den Schlüssel zu holen, wie sie dachte – und kam wenig später mit dem Schlüsselbund und in Begleitung eines älteren Kollegen zurück. Er öffnete für sich und den anderen die Schranke.

»Guten Morgen, Frau König!« Er begrüßte sie mit einer leichten Verbeugung. »Darf ich Ihnen Herrn Großmann, unseren neuen Filialleiter, vorstellen?«

»Gnädige Frau!« Großmann beugte sich über die kräftige, gepflegte Hand, die sie ihm reichte.

Als er sich aufrichtete, war das beflissene Lächeln plötzlich wie weggewischt. Seine Pupillen weiteten sich in jähem Schreck.

Erst jetzt erkannte sie ihn wieder, aber sie hielt seinem Blick stand, ohne eine Miene zu verziehen. »Müsste ich mich nicht erst eintragen?« fragte sie.

»Das mache ich schon für Sie!« erbot sich Jürgen Haberl. »Sie brauchen nachher nur zu unterschreiben.«

»Danke.« Sie schenkte dem jungen Mann ein Lächeln.

»Ich begleite Frau König zum Tresor«, entschied Großmann und streckte seine Hand nach dem Schlüsselbund aus.

»Ja, natürlich. Wenn Sie es wünschen.« Jürgen war ein wenig verwirrt, gab aber die Schlüssel ab.

»Wenn Sie gestatten, gnädige Frau«, sagte Großmann etwas steif, »gehe ich voraus.«

Greta folgte ihm durch den schmalen, ihr wohl vertrauten Gang und die Kellertreppe hinunter. Während sie auf seinen breiten Rücken starrte, blieb ihr Gelegenheit, ihre Gedanken zu ordnen und den Schock zu überwinden. Umständlich machte Großmann sich daran, die schwere Tür des Tresorraums zu öffnen. »Wir kennen uns«, sagte er, ohne sie anzusehen; es klang nicht wie eine Frage, sondern war eine Feststellung.

»Nein«, erklärte sie beherrscht.

Er gab nicht auf. »Berlin?«

»Ich habe zwar einige Jahre in Berlin studiert, aber es ist ausgeschlossen, dass unsere Wege sich je gekreuzt haben.«

Jetzt richtete er sich auf und sah sie an. »Sind Sie ganz sicher?« »Vollkommen.« Unwillkürlich sah sie auf den schmalen Goldreif an seiner rechten Hand, als er den Schlüsselbund abzog.

Er bemerkte ihren Blick. »Ich bin sehr glücklich verheiratet«, sagte er, als müsste er sich verteidigen.

Ihr Lächeln wirkte distanziert. »Wie schön für Sie! Ich übrigens auch.«

Er ließ die Tür für sie aufschwingen, und sie trat vor ihm in den Tresorraum, dessen Wände mit grauen Stahlkassetten ausgepanzert waren.

Sie machte zwei rasche Schritte auf ihren Safe zu. »Ich habe die Nummer dreihundertsiebzehn.« Sie nahm ihren eigenen Schlüsselbund aus der Handtasche.

Gleichzeitig steckten sie beide ihre Schlüssel in das Doppelschloss; die Safetür sprang auf.

»Wenn Sie mir den Kasten herausheben würden«, bat sie, »er ist ziemlich schwer.«

»Gerne.« Er stellte den Behälter auf einen Klapptisch.

»Ich brauche nur meinen Schmuck.« Sie nahm das rechteckige schwarze Lederetui heraus.

»Möchten Sie ein Zimmer?«

Sie zögerte, denn gewöhnlich nahm sie das, was sie wollte, heraus, während ihr Begleiter den Blick abzuwenden pflegte. Diesmal aber sagte sie: »Ja, bitte.« Es würde ihr gut tun, ein paar Minuten allein zu sein.

Er stellte den Behälter in den Safe zurück, und gemeinsam schlossen sie ab.

»Komisch«, sagte sie und brachte, während sie ihm offen in die Augen blickte, ein unbefangenes Lächeln zu Stande, »ich bin bisher in meinem Leben noch nie verwechselt worden. Ernsthaft, meine ich. Höchstens wenn jemand anbandeln wollte, Sie kennen das ja.« »Sie haben ein ziemlich unverwechselbares Gesicht.«

»Das habe ich bisher auch geglaubt. Aber wie wir feststellen mussten, war das ein Irrtum.«

Endlich ließ er sie in einem der kleinen, für die Kunden bestimmten unterirdischen Zimmer allein. Sie legte ihr Schmucketui vor sich auf den Tisch und nahm in einem der beiden, einander gegenüberstehenden Sessel Platz. Ihre Züge, vom Zwang des Lächelns erlöst, entspannten sich.

Hatte er ihr geglaubt? Zumindest konnte er sich seiner Sache nicht mehr sicher sein. Vielleicht hatte sie zu dick aufgetragen. Aber das war nicht wichtig. Es war unbedingt richtig gewesen zuzugeben, dass sie einige Jahre in Berlin gelebt hatte. Wenn er nachgeforscht oder es durch einen Zufall herausbekommen hätte, wäre das ein Beweis gegen sie gewesen.

Auf alle Fälle konnte er nichts unternehmen, ohne sich selber zu schaden, und das musste er wissen. Er war in seiner Stellung zu exponiert, und er würde auch seine Ehe nicht gefährden wollen. Nein, von Großmann drohte ihr nichts.

Und doch – sie war so sicher gewesen, ihre Vergangenheit abgestreift zu haben, hier in der Ruhe dieser fleißigen kleinen Stadt, in der Geborgenheit ihrer Ehe mit einem starken, tüchtigen Mann, im Schutz ihres Heims, das tatsächlich eine Burg war.

Oder machte sie sich nur etwas vor? Ja, das tat sie. Greta gestand sich ein, dass sie sich immer der Gefahr der Entdeckung bewusst geblieben war. Ein winziger Rest von Angst war stets geblieben. Damit musste sie leben, und sie konnte es. Vielleicht war es gerade diese Angst, von einem Tag zum anderen alles wieder zu verlieren, die sie ihr Dasein so genießen ließ.

Sie holte den Spiegel aus ihrer Handtasche und begutachtete aufmerksam ihr schönes Gesicht. Sie hatte ihre hellen Wimpern grau getuscht, um den großen Augen mit den fast grasgrünen Iris noch mehr Ausdruck zu geben, als sie ohnehin schon hatten, den vollen, etwas zu großen Mund nur sanft getönt. Um den Kopf hatte sie ein grünseidenes Tuch geschlungen, da sie ihr Haar heute waschen wollte und keine Lust gehabt hatte, sich zu frisieren. Dadurch wirkten ihre breiten Jochbögen noch markanter.

Ja, vielleicht war dieses Kopftuch ein Fehler gewesen. Entschlossen nahm sie es ab, faltete es sorgfältig zusammen und ließ es in ihre Tasche gleiten. Sie fuhr sich mit dem Kamm durch das sehr helle, blonde Haar und frisierte sich, so gut es ging. Sofort sah sie verändert aus, sehr viel weicher, lieblicher. Wenn Großmann sie so sah, würde er bestimmt glauben, sich geirrt zu haben.

Sie telefonierte in den Kassenraum hinauf, um mitzuteilen, dass sie fertig war. Dann nahm sie zwei mit Brillanten gefasste Smaragdohrringe aus dem Etui und einen dazu passenden Anhänger. Sie ließ den Schmuck in ein Wildledertäschchen gleiten, das sie zu diesem Zweck mitgebracht hatte.

Sie schloss das Etui und stand auf. Aber es war nicht Großmann, der kam, um sie abzuholen, sondern Jürgen Haberl. Ihm konnte sie ein Lächeln schenken, das ihr keine Mühe kostete.

Nachdem Greta König und Jürgen Haberl im Tresorraum fertig waren, und er die schwere Tür wieder verschlossen hatte, gingen sie die Treppe hinauf und durch den schmalen Gang zurück. Sie blieben nebeneinander stehen; sie waren beide so schlank, dass sie sich nicht behinderten.

»Hoffentlich habe ich Sie nicht zu lange aufgehalten«, entschuldigte sich Greta.

Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Die paar Minuten. Das macht doch nichts.« Bewundernd fügte er hinzu: »Auf Sie würde ich Stunden warten!«

Sie lachte. »Das haben Sie nett gesagt!«

Er begriff, dass er zu weit gegangen war und wechselte rasch das Thema. »Haben wir nicht ein wunderbares Wetter?«

»Ja, wirklich, wunderbar.«

»Bei Ihnen draußen muss es noch schöner sein als in der Stadt.«

»Da haben Sie recht. Wir konnten auch schon den Tennisplatz aufmachen.«

»Beneidenswert!«

Greta blieb stehen und sah ihn aufmerksam an. Er wirkte jung und anständig, so eifrig und bemüht und mochte kaum älter als zwanzig sein. Sie wünschte, er würde sich mit Aline befreunden. »Warum kommen Sie nicht einfach mal zu uns raus?« fragte sie.

»Ist das Ihr Ernst?«

»Warum nicht? Rufen Sie an, wenn Sie Lust haben. Bringen Sie auch ruhig einen Freund mit.« Nach leichtem Zögern fügte sie hinzu: »Oder eine Freundin.«

»Das werde ich tun«, versprach er.

Es war nicht ganz ersichtlich, auf was sich diese Zusage bezog. Aber Greta wollte nicht nachfragen. Sie hoffte, dass er klug genug war, die richtige Entscheidung zu treffen.

Der Kassenraum hatte sich inzwischen völlig geleert. Sie unterschrieb das Protokoll: den Tag und die Uhrzeit, zu der sie sich den Safe hatte öffnen lassen.

»Moment«, sagte Jürgen, »ich muss noch Herrn Großmann Bescheid sagen, damit er uns hinauslässt.«

Er verschwand mit dem Schlüsselbund in einem der Büros und kam gleich darauf in Begleitung des Filialleiters zurück.

Greta sah ihnen gelassen entgegen. »Habe ich Sie etwa auch aufgehalten, Herr Großmann?« fragte sie.

»Aber nein. Ich hatte sowieso noch etwas zu tun.«

»Ich bin erleichtert, das zu hören. Trotzdem werde ich in Zukunft zu einer passenderen Zeit in die Bank kommen.«

»Das brauchen Sie nicht, gnädige Frau. Wir stehen Ihnen jederzeit zur Verfügung.« Großmann hatte die Hintertür aufgeschlossen, die zu den Parkplätzen führte und ließ Greta und Jürgen Haberl hinaus. »Da übertreiben Sie wohl doch ein bisschen«, sagte sie mit gespielter Sorglosigkeit.

Jürgen verabschiedete sich und schwang sich auf sein Fahrrad.

Greta spürte den starken Wunsch, so schnell wie möglich fortzukommen. Aber sie gab ihm nicht nach, sondern blieb neben Großmann stehen und wartete, bis er von außen abgeschlossen hatte.

Er drehte sich zu ihr um und sah sie an; ihre Haltung und ihr verändertes Aussehen verunsicherten ihn. »Ich glaube, ich habe mich vorhin sehr dumm benommen«, sagte er.

»Ach was! Ich fand’s ganz lustig.« Sie zuckte die Achseln. »Man erlebt hier ja so wenig.«

»Erzählen Sie es niemandem!« bat er spontan.

»Aber warum denn nicht?«

»Ich muss wie das verkörperte schlechte Gewissen gewirkt haben.« »Machen Sie sich nichts draus. Es spricht für Sie, dass Sie ein Gewissen haben. Aber, na gut …« Sie reichte ihm die Hand. »… ich werde schweigen wie ein Grab.«

Er zögerte, sich zu verabschieden. »Kann ich Sie irgendwohin bringen?«

»Sehr nett von Ihnen, aber nicht nötig. Ich bin mit dem Wagen hier.« Außer Großmanns Auto stand nur noch der Kombi der Burg auf dem Parkplatz, und sie merkte, dass er sich darüber wunderte. »Ich hatte größere Einkäufe zu machen, deshalb bin ich mit dem Kombi in die Stadt gefahren. Diese Einkäufe waren übrigens auch der Grund, warum ich so spät gekommen bin.«

»Ich verstehe.«

Jetzt fand sie es an der Zeit, die kleine Szene zu beenden. »Also bis dann, Herr Großmann«, sagte sie, »auf Wiedersehen.« Sie wandte sich ab, ging aber nicht auf den Kombi zu, sondern entschlossenen Schritts auf die Straße. Sie wollte noch nicht nach Hause fahren, sondern hatte vor, Aline aus der Schule abzuholen. Aber darüber hatte sie Herrn Großmann keine Erklärung abgeben wollen, weil es ihn nichts anging.

Als er an ihr vorbeifuhr, hupte er leicht, und sie hob die Hand zum Gruß. Sie lächelte in sich hinein. Für diesmal war die Gefahr gewiss gebannt.

Mit einem Blick auf ihre Armbanduhr stellte sie fest, dass ihr noch eine gute Stunde Zeit bis zum Unterrichtsschluss blieb. Sie hätte einen Spaziergang in der Stadt unter dem mächtigen Hohenzollernschloss machen können. Das Frühsommerwetter verlockte dazu. Aber die Geschäfte waren schon geschlossen, und sie fand einen Schaufensterbummel hier sehr wenig ergiebig. Kleidung und Accessoires pflegte sie in Stuttgart einzukaufen.

Also entschloss sie sich, die »Konditorei Maucher« aufzusuchen. Die Bedienung erkannte sie sofort und begrüßte sic mit Namen. Es duftete nach frisch gebackenem Hefekuchen, aber Greta beschränkte sich darauf, ein Kännchen Kaffee und eine Flasche Wasser zu bestellen.

Während sie wartete, dachte sie darüber nach, wie anders hier in Sigmaringen doch alles war als in den Großstädten, in denen sie früher gelebt hatte. Es schien keine Anonymität zu geben. Sicher würde die Bedienung darüber reden, dass ihr Haar nicht so gepflegt wie üblich war. Dabei war sie, davon abgesehen, wie aus dem Ei gepellt in ihrer makellosen weißen Leinenhose und der langärmeligen grünen Seidenbluse. Sie nahm den grauen Kaschmirpullover ab, den sie sich über die Schultern geworfen hatte und legte ihn auf den Stuhl neben sich.

Ja, es war wirklich alles ganz anders. Inge Kramer – ihr Mann war der Kompagnon Hans-Philipp Königs – hatte ihr erzählt, dass es hier noch Leute gab, die Spiegel hinter den Fenstern hatten, durch die sie alles beobachten konnten, was auf der Straße vorging, ohne selber gesehen zu werden, sogenannte Spione. Sie hatte es nicht recht glauben können und wusste immer noch nicht, was sie davon halten sollte. Wenn ein Mädchen einen Auswärtigen heiraten wollte, hatte Inge behauptet, würden die Freundinnen der Mutter Geld sammeln, damit eine von ihnen in seine Heimat fahren und sich nach seinen finanziellen Verhältnissen und seinem Leumund erkundigen konnte. Seltsame Geschichten. Vielleicht war Sigmaringen wirklich nicht die richtige Stadt für eine Frau mit Vergangenheit.

Sie hatte das von Anfang an gewusst. Aber sie hatte nur die Wahl gehabt, Philipps Heiratsantrag abzulehnen oder ihm hierher zu folgen. Um einen Schlussstrich zu ziehen, war es damals aber schon zu spät gewesen, denn sie liebte ihn.

2

Fast gleichzeitig mit dem Klingelzeichen, das den Schluss des Unterrichts verkündete, brandete der Lärm junger Stimmen im »Hohenzollern-Gymnasium« auf. Bald darauf stürmten die ersten Jungen und Mädchen aus dem Backsteinbau, gefolgt von einem ganzen Pulk sich schiebender, lachender, Schultaschen und Beutel schwenkender Jugendlicher, die sich in Gruppen und Grüppchen aufteilten.

Es war Susanne, die den Kombi auf der Fahrbahn gegenüber der Schule als Erste entdeckte.

Sie war ein großes, robustes Mädchen, und der Stoß mit dem Ellenbogen, mit dem sie Aline darauf aufmerksam machen wollte, fiel kräftiger aus, als sie gewollt hatte. »Guck mal! Deine Mutter!«

»Aua!« Aline, sehr viel zarter und schmaler, eine Fünfzehnjährige, schwarzhaarig und dunkelhäutig, rieb sich die Rippen. »Sie ist nicht meine Mutter! Wie oft soll ich dir das noch sagen?«

»Sie ist die Frau deines Vaters, das kommt aufs selbe raus«, erwiderte Susanne ungerührt.

»Überhaupt nicht! Sie ist nicht mal mit mir verwandt.«

»Was hast du gegen sie? Sie ist doch so nett zu dir.«

»Ach was, sie will sich nur einschmeicheln.«

»Warum sollte sie? Du könntest ihr doch auch ganz egal sein.«

»Ich mag sie nicht«, entgegnete Aline ohne jede Logik.

»Dumm genug. Ich wäre jedenfalls froh, wenn ich so eine Mutter hätte.«

Aline dachte an die ausgemergelte, zähe, streitsüchtige Frau, die Susanne zur Mutter hatte und hätte beinahe gesagt: ›Das kann ich mir vorstellen.‹ Aber sie verkniff sich diese Bemerkung, weil es nicht ihre Art war, jemanden willkürlich zu kränken.

Susanne war ihr schon vorausgeeilt.

Sie beugte sich in das herabgekurbelte Fenster des Kombi und rief: »Guten Tag, Frau König! Können Sie uns mitnehmen?«

»Natürlich, Susanne, deshalb warte ich ja hier.«

»Das ist aber nett von Ihnen!«

Die Fahrt mit dem Bus nach Untersalm, dem Dorf, das der Burg am nächsten lag, dauerte fast eine Stunde. Mit dem Auto brauchte man nur zwanzig Minuten.

»Wo steckt Aline?«

»Kommt gleich. Sie wissen ja, bei der dauert alles immer ein bisschen länger.« Greta hätte fast gesagt, dass sie kritische Bemerkungen über ihre Stieftochter nicht schätzte. Sie unterließ es, weil sie wusste, dass Susanne es nicht böse gemeint hatte und auch der Wahrheit recht nahe gekommen war. Aline war eine Träumerin und schien mit den Gedanken oft nicht bei der Sache.

Endlich kam sie angetrabt, und Greta stellte wieder einmal fest, dass ihre Entwicklung, zumindest körperlich, hinter ihrer Altersklasse zurücklag. Ihre Brustwarzen wurden zwar keck von einem engen rosa T-Shirt betont, aber von weiblichen Rundungen war noch kaum eine Spur vorhanden. Dadurch wirkte ihr ganz normaler Popo unpropor tioniert groß. Doch das, davon war Greta überzeugt, würde sich auswachsen, und eines Tages würde Aline ein sehr schönes Mädchen sein. Vielleicht, so hoffte sie, würde sie dann besser mit ihr auskommen können.

Im Moment mochte sich Aline jedenfalls nicht einmal ein Lächeln abringen; ihre Begrüßungsworte waren aber nicht mehr als ein Gemurmel.

»Steigt ein!« forderte Greta die Mädchen auf. »Eure Schultaschen stellt ihr am besten hinter die Sitze.« Sie lachte auf. »Wozu sage ich euch das? Ihr kennt euch ja aus.«

Die Mädchen kletterten nacheinander auf den Vordersitz. Greta griff über sie hinweg, schloss mit Schwung die Autotür und drückte den Sicherungsknopf, damit sie während der Fahrt nicht aufgehen konnte. Dann startete sie den Kombi und fuhr vorsichtig im Schritttempo an, um keines der immer noch aus der Schule strömenden Kinder zu gefährden.

»Ist es nicht toll, dass deine Mutter auf uns gewartet hat?« rief Susanne munter und gab Aline wieder einen ihrer gewohnheitsmäßigen Stöße mit dem Ellenbogen.

»Lass das!« sagte Aline mürrisch. »Du machst mir ja blaue Flecken.« Susanne lachte. »Die sieht niemand! Oder hast du vor, Striptease zu machen?«

»Sehr witzig!«

»Wenn ich in der Stadt zu tun habe«, erklärte Greta, »hole ich euch doch immer ab.«

»Das finde ich ja gerade das Tolle! Die Geschäfte sind doch längst geschlossen. Sie müssen richtiggehend auf uns gewartet haben.« »Stimmt.«

»Wie lange?«

»Eine knappe Stunde.«

»Was sagst du dazu, Aline?«

Susanne wollte wieder mit dem Ellenbogen zustoßen, aber diesmal war Aline schneller und wehrte ab.

»Bitte, rangelt euch nicht«, bat Greta, »wenigstens nicht solange ihr mit mir im Auto sitzt. Es ist ohnehin eng genug.«

»Entschuldigen Sie, bitte!« sagte Susanne sofort reuevoll. »Aber warum kriegt Aline es nicht in ihren sturen Kopf, dass es echt toll von Ihnen ist, auf uns zu warten?«

»So toll nun auch wieder nicht«, schwächte Greta ab, »ich habe inzwischen Kaffee getrunken.«

»Ich hätte genauso gut mit dem Bus fahren können«, behauptete Aline.

»Falsch!« widersprach Susanne. »Wir hätten zwar mit dem Bus fahren können, aber bestimmt nicht genauso gut. Der hält doch an jeder Ecke.«

Greta bog rechts von der Hohenzollernstraße ab und fuhr weiter in Richtung Sigmaringen-Laiz.«Sprechen wir zur Abwechslug von etwas anderem!« schlug sie vor. »Wie war es in der Schule?«

»Ach, wie immer.« Greta lachte. »Dir hätte ich eine gescheitere Antwort zugetraut, Susanne!«

»Aber über die Schule gibt es wirklich nichts zu erzählen. Immer der gleiche Krampf.«

Greta warf einen raschen Blick über Susanne hinweg. »Bist du der gleichen Meinung, Aline?«

»Ich weiß nicht.«

»Aber das musst du doch wissen!« rief Susanne.

»Die Schule ist mir egal. Ich habe noch nie darüber nachgedacht.« »Ausgerechnet du! Mit deinen tollen Noten!«

»Nun halt mir bloß nicht wieder vor, dass ich eine Streberin wäre!« »Habe ich das?«

»Was kann ich dafür, dass ich das alles ganz einfach finde?«

»Dein Vater und ich«, sagte Greta, »sind jedenfalls sehr stolz, dass du so gut in der Schule bist.«

»Ich lerne nicht euretwegen.«

»Das ist auch ganz richtig so«, erwiderte Greta, Alines Aufsässigkeit freundlich übergehend, »ihr solltet auch nicht für die Noten lernen, sondern um des Lernens willen, für euch selber.«

»Puh, wenn ich das schon höre! Was habe ich davon, wenn ich weiß, was eine Hyperbel ist? Oder was Bert Brecht sich dabei gedacht hat, als er seine olle ›Mutter Courage‹ geschrieben hat?« Susanne unterbrach sich. »Entschuldigen Sie, Frau König, ich wollte nicht frech werden. Aber es regt mich einfach auf, wenn ich das höre, ›Lernen um des Lernens willen.«

»Du bist im Unrecht. Man braucht ein gutes Grundwissen für den späteren Beruf.«

»Aber wer sagt denn, dass ich berufstätig werden will? Die meisten Mädchen heiraten ja doch.«

»Auch dann ist eine Allgemeinbildung sehr nützlich.«

»Was haben Sie selber denn gelernt?«

Diesmal war es Aline, die einen Rippenstoß austeilte.

»Au!« schrie Susanne. »Man wird doch noch fragen dürfen!« Dann fügte sie, etwas kleinlauter, hinzu: »Oder etwa nicht? Ich habe es nicht frech gemeint. Es interessiert mich einfach.«

»Ich habe mein Abitur gemacht«, erklärte Greta gelassen, »und danach Betriebswirtschaft studiert, nebenbei Informatik, und zusätzlich Schreibmaschine und Steno gelernt.«

»Toll!« Susanne war tief beeindruckt, aber nach einer Weile fragte sie: »Und was haben Sie jetzt davon? Ich meine, jetzt sind Sie doch auch verheiratet?«

Greta lachte. »Ohne diese Vorbildung hätte ich meinen Mann gar nicht kennen gelernt, und selbst wenn, hätte er mich wahrscheinlich nicht zur Frau genommen.«

»Sie meinen, er hat Sie bloß geheiratet, weil Sie eine Menge Zeugs gelernt haben?«

»Weil ich durch ›diese Menge Zeugs«, wie du es nennst, das geworden bin, was ich bin.«

»Hm, hm«, sagte Susanne, wenig überzeugt.

»Du weißt, wir haben oft Gäste, auch Ausländer, Geschäftsfreunde meines Mannes. Die muss ich unterhalten, und das kann ich nur dank meiner Kenntnisse. Wenn dabei auch nicht gerade über Hyperbeln und selten über Brecht gesprochen wird, dann aber doch über ziemlich viel mehr als das Wetter und andere Banalitäten.« »Zugegeben. Aber einen Mann wie Herrn König würde ich ja doch nicht kriegen, und außerdem wäre er mir viel zu alt.«

»Oh, du mein Gott!« stöhnte Aline in gelangweiltem, fast angeekeltem Ton.

Greta lachte. »Susanne, du bist wirklich noch ein richtiger Kindskopf. In ein paar Jahren unterhalten wir uns mal über dieses Thema, ja?«

Sie hatten inzwischen Laiz hinter sich gelassen und fuhren durch eine schöne, sehr grüne Landschaft oberhalb der jungen Donau, die immer wieder von jäh aufsteigenden grauen Felsen unterbrochen wurde. Noch bevor sie das Dorf erreichten, tauchte die Burg Salm vor ihnen auf. Aus der Ferne wirkte der mächtige Bau wie ein Spielzeug mit seiner vergoldeten Wetterfahne, die in der Sonne funkelte. Das Dorf Untersalm war früher nicht mehr als ein Weiler aus fünf Gehöften gewesen.

Nach dem letzten Krieg war eine Siedlung aus weißen, spitzgiebeligen, rot bedachten Häusern dazugekommen, die zumeist von Leuten bewohnt wurden, die in Sigmaringen arbeiteten. Zu ihnen gehörten auch Susannes Eltern, ihr Vater war Postbeamter, und sie war das mittlere von fünf Kindern.

Greta bremste den Kombi an der Bushaltestelle und löste den Sicherheitsknopf, Aline stieg als Erste aus.

»Nochmals schönen Dank fürs Mitnehmen«, sagte Susanne munter, angelte nach ihrer Schultasche und sprang auf die Straße.

Einen Augenblick standen sich die beiden Mädchen etwas unschlüssig gegenüber. Aline überlegte, ob sie Susanne Vorschlägen sollte, sie am Nachmittag zu besuchen, unterließ es aber, weil sie eine Abfuhr befürchtete. Susanne war meist sehr beschäftigt. Sie wurde von der Mutter zur Hausarbeit eingespannt und hatte ihre Geschwister, mit denen sie sich unterhalten konnte.

Susanne hätte Aline gerne besucht, aber obwohl sie sich das selbst nicht zugeben mochte, pflegte die Burg mit ihrer Pracht sie einzuschüchtern. So unbekümmert sie auch gewöhnlich war, und so munter sie mit Greta zu diskutieren wagte, in dem ›alten Gemäuer‹, wie sie die Burg immer insgeheim nannte, verschlug es ihr buchstäblich die Sprache. Sie kam sich dort unbeholfen vor.

So kam es, dass beide Mädchen fast gleichzeitig nichts weiter mehr sagten als: »Also dann bis morgen!«

Susanne winkte Greta noch einmal, dann marschierte sie auf das Dorf zu.

3

Aline blieb unschlüssig stehen. Es war ihr nicht angenehm, mit Greta allein zu bleiben. Andererseits war der Aufstieg zur Burg steil und anstrengend, während die Fahrt hinauf nur wenige Minuten dauerte. Greta verstand, was in ihr vorging und drängte sie nicht. Erst als ihre Überlegungen gar zu lange dauerten, fragte sie: »Möchtest du lieber zu Fuß gehen?«

Das half Aline, zu einem Entschluss zu kommen. »Nein, nein, ich fahre mit.« Sie kletterte ins Auto und schloss die Tür.

Greta fuhr an. »Hör mal, wenn du es nicht magst, dass ich dich von der Schule abhole, kann ich es auch lassen. So wild bin ich nicht darauf.«

Aline hatte sich in die Ecke neben der Autotür gedrückt. »Was sollte ich dagegen haben?«

»Keine Ahnung. Aber du benimmst dich so.«

»Weil ich dir nicht den gebührenden Dank entgegenbringe?« »Unsinn! Ich erwarte keinen Dank von dir, und das weißt du. Aber du brauchtest auch nicht ausgesprochen unfreundlich zu sein.«

»Das wollte ich gar nicht.«

»Na schön. Ich werde also für eine Weile darauf verzichten, euch mitzunehmen. Mal sehen, wie es dann zwischen uns läuft.« Sie bogen von der Landstraße ab und fuhren den geschotterten Privatweg zur Burg hinauf.

»Ich habe mich über Susanne geärgert«, platzte Aline heraus.

»So?«

»Sie redet immer von dir, als wenn du meine Mutter wärst. Aber das bist du doch gar nicht.«

»Natürlich nicht. Und cs ist mir auch ganz bewusst, dass ich dir die Mutter nicht ersetzen kann. Das versuche ich gar nicht. Aber ich finde, wir könnten doch wie zwei vernünftige Menschen miteinander auskommen.«

»Das tun wir ja,«

»Absolut nicht, Aline. Du schottest dich gegen mich ab, als hättest du was von mir zu befürchten. Dabei tue ich keiner Fliege was zu Leide.«

»Ich kann nichts dafür.«

Greta warf einen Blick zu Aline hinüber, sah die zitternden Lippen, die gerade kleine Nase, die dichten dunklen Wimpern. Das Mädchen wirkte sehr rührend und sehr verletzlich.

»Wahrscheinlich nicht«, sagte sie ruhig.

Sie fuhren auf den Burghof hinein, und der Kombi holperte auf dem Kopfsteinpflaster.

So imponierend die Burg Salm wirkte, so einfach war sie im Grunde gebaut, ein mächtiges rechteckiges Haus, mit schräg gestrichenen rot-weißen Läden an jedem Fenster, verziert von nur einem einzigen Erker, der sich vom ersten Stock an aus der rechten Ecke wölbte und in einem gesonderten runden, spitzgiebeligen Kupferdach endete. Auf der Rückseite erhob sich das Gebäude auf einem steilen Felsen, der mehrere hundert Meter tief zum Donautal abfiel. Im frühen Mittelalter errichtet, war es von dieser Seite her immer uneinnehmbar gewesen. Eine sehr hohe Mauer aus grauen Feldsteinen umschloss die anderen Seiten. Durchgang bot nur ein schweres eisernes Tor, das tagsüber gewöhnlich offen stand. Der Platz im Innern der Ummauerung war beschränkt: außer dem Hof gab es nur noch ein Pförtnerhaus, die ehemaligen Stallungen und einen kleinen Garten, in dem vornehmlich Küchenkräuter und Blumen zum Schmuck des Hauses gepflanzt wurden.

Die Burg hatte im Laufe der Jahrhunderte mehrfach die Eigentümer gewechselt. Es hieß, dass sie von Raubrittern erbaut worden sei, dann war sie auf friedlichere Adelsgeschlechter übergegangen, hatte zeitweilig auch den Hohenzollern gehört und war zu Beginn des Jahrhunderts in den Besitz eines Fabrikanten von Kosmetika gelangt. Der hatte sie modernisiert, eine Heizung und Badezimmer einbauen lassen, die jedoch, als Hans-Philipp König die Burg vor zwanzig Jahren übernommen hatte, weitgehend veraltet gewesen waren. Immerhin waren die Voraussetzungen für Installationen gegeben gewesen, und er hatte sie benutzt und auf den neuesten Stand gebracht. Die Burg stand unter Denkmalschutz, sodass er an ihrem Äußeren nichts hatte verändern dürfen. In die Stallungen hatte er Garagen eingebaut, aber sein Wunsch, auf der Rückseite ein großes Fenster aus dem dicken Mauerwerk zu schlagen, um die Aussicht auf das dichtbewaldete, wunderschöne Donautal zu erweitern, war ihm verwehrt geblieben.

Irgendwann im Laufe der Geschichte hatten aie Bewonner sien dann einen unterirdischen Fluchtweg aus der Burg geschaffen. Den hatte König ausgebaut, und er führte jetzt unter der Landstraße hinweg zu dem weiten Gelände, das zu seinem Besitz gehörte. Dort hatte er einen Tennisplatz angelegt und ein bei schlechtem Wetter überdachbares Schwimmbad, das von einer riesigen Solarzellenwand beheizt wurde.

Der unterirdische Gang, der das Haupthaus und die Sportstätten verband, endete unterhalb der Burg bei einem elektrischen Aufzug, der ins Souterrain führte, neben der Küche und den Wirtschaftsräumen. Er wurde von den Bewohnern aber nur bei extremen Witterungsverhältnissen benutzt, denn er war sehr kühl, roch modrig, und es konnte einem darin unheimlich werden.

Überhaupt war der Winter auf der Burg – es war der erste Winter, den Greta hier verbracht hatte – nicht angenehm gewesen. Das mächtige Haus stand zu exponiert, wenn es stürmte, pfiff es drinnen aus allen Ritzen, und obwohl die Heizung auf vollen Touren gelaufen war und in jedem Kamin ein Feuer gebrannt hatte, war es nicht wirklich warm geworden.

Aber jetzt, als sie bei strahlendem Sonnenschein in den Hof einfuhr, war das alles vergessen. Sie hielt vor der breiten Steintreppe, die links und rechts von gelehrten Löwen – jeder hielt sitzend ein aufgeschlagenes Buch in den Pranken – geschmückt war, hupte dreimal und stieg aus.

Aline war noch schneller als sie und wollte sich gleich davonmachen. »Halt, halt!« rief Greta. »Du weißt, was meine Mutter gesagt hat: ›Geh nie mit leeren Händen‹!« Sie öffnete die Rückseite des Autos und holte einen Karton mit Salatköpfen heraus, der leicht genug war, dass Aline ihn samt ihrer Schultasche tragen konnte. »Bitte, bring das in die Küche.«

Es war im Grunde unnötig, dass Greta das Mädchen zu dieser Hilfe heranzog, denn schon kam Frau Breuer aus dem sogenannten Lieferanteneingang, der vom Hof aus hinunter in die Küche führte, um auszuladen, gefolgt von ihrem Mann. Aber Greta fand, dass es richtig war, das Mädchen an soziales Verhalten zu gewöhnen. So packte sie denn auch selbst mit zu, bis der Laderaum leer war.

Frau Breuer war eine stämmige freundliche Frau, ein Jahr jünger als die dreißigjährige Greta. Sie und ihr einen Kopf kleiner, rundlicher Mann waren die Stützen des Burghaushaltes. Sie wohnten im Pförtnerhaus und erledigten alle anfallenden Arbeiten. Einige Mädchen und Frauen aus dem Dorf kamen stundenweise zur Hilfe, und zwei junge Burschen unterstützten Egon Breuer bei der Pflege des Tennisplatzes und Schwimmbades.

Leni Breuer überfiel Greta und Aline gleich mit der Mitteilung, dass Herr König angerufen und erklärt hatte, dass er nicht zum Mittagessen kommen könnte.

Daran war Greta gewöhnt. »Schade«, sagte sie nur, »da kann man nichts machen.«

Aline rief, schon halb in der Küchentür: »Dann esse ich auch nicht!« »Kommt gar nicht in Frage«, widersprach Greta.

»Aber ich habe wirklich keinen Hunger.«

»Der wird dir schon beim Essen kommen.«

»Aber wenn ich doch nicht möchte …«

»Du wirst mir wenigstens Gesellschaft leisten.«

»Es gibt Kirschknödel«, verkündete Frau Breuer vermittelnd, »die isst du doch so gerne.«

Aline verschwand im Haus.

»Danke, Frau Breuer«, sagte Aline.

»Ein Jammer, dass das Kind so schwierig ist.«

»War sie immer so?«

»Als sie mit ihrem Vater hier allein gelebt hat, meinen Sie? Wenn Sie mich fragen, – er hat sie etwas zu sehr verwöhnt, aber auch zu viel allein gelassen.«

Greta wusste, dass es schlechter Stil war, sich mit einer Angestellten über private Dinge zu unterhalten, aber die Sorge um Aline war stärker als ihr Gefühl für Schicklichkeit. »Und früher?« fragte sie.

Frau Breuer wechselte einen Blick mit ihrem Mann. »Wir sind ja erst ins Haus gekommen, nachdem …« Sie stockte … »na ja, nachdem ihre Mutter gestorben war.«

Greta war überrascht. »Das habe ich gar nicht gewusst!«

»Es muss ein arger Verlust für das Kind gewesen sein.«

»Da haben Sie Recht. Es gibt kaum etwas Schlimmeres, was einen jungen Menschen treffen kann.«

»Nur gut, dass sie jetzt wieder eine Mutter hat.«

»Ich bin nicht Alines Mutter, und ich kann es auch nie werden.« »Aber Sie sind doch so gut zu ihr.«

»Ich tue, was ich kann, aber ich weiß nicht, ob es genug ist.«

»Wir sind jedenfalls froh, dass Sie jetzt da sind, nicht, Egon? Manche glauben, wir hätten es früher leichter gehabt, aber das ist nicht wahr.« »Schwatz nicht so viel, Leni!« brummte der Mann.

»Wer sagt das?« fragte Greta.

»Die Leute aus dem Dorf. Aber die haben ja keine Ahnung. Wenn Sie wüssten, was die immer reden …«

Ihr Mann fiel ihr ins Wort: »Mach zu, Leni! Sonst sind wir bis heute Abend noch nicht fertig.«

Greta hätte ganz gern erfahren, was die Dorfbewohner über sie und ihre Familie dachten, doch sie ließ es dabei bewenden. Klatsch war das Letzte, was sie beeindrucken konnte. »Bitte, fahren Sie den Wagen in die Garage, Herr Breuer«, sagte sie und ging ins Haus. Immer wieder war sie von der riesigen, am Tage düsteren Halle beeindruckt. Sie war sparsam möbliert, nur mit einigen antiken Truhen und einem mächtigen Schrank aus dem 15. Jahrhundert. Der Boden bestand aus schweren grauen und rosa Steinplatten. Es gab weder Teppiche noch Sitzgelegenheiten. Die Wände waren mit sehr dunklem, durch das Alter fast schwarzem Holz verkleidet, das den dicken Balken entsprach, die die Decke durchzogen. Ein weit ausladender Kronleuchter aus Eisen, der statt der Kerzen elektrische Birnen trug, und einige Wappenschilder an den Wänden waren der einzige Schmuck. Die Halle strahlte kühle Würde aus.

Gleich nebenan lag eine Waffenkammer, die schon der Kosmetikfabrikant als Garderobe hatte herrichten lassen.

Greta schauderte leicht, denn es war tatsächlich im Gegensatz zu draußen kalt in dem alten Gemäuer. Immer noch kam sie sich hier etwas verloren vor wie ein Liliputaner, den man in die Welt der Riesen versetzt hat. Aber sie bekämpfte dieses Gefühl, das, wie sie dachte, nur daher rührte, dass die elterliche Wohnung bescheiden gewesen war, und sie in den vergangenen Jahren stets in kleinen Apartments gehaust hatte.

Dennoch beschleunigte sie den Schritt und beeilte sich, die breite Treppe hinaufzusteigen, die in die etwas heimeligeren oberen Räume führte. Hier waren Zwischendecken eingezogen, auch um Heizkosten zu sparen. Vor ihrer Hochzeit hatte Greta selber das eheliche Schlafzimmer ganz nach ihrem Geschmack ausgestattet, mit einem breiten Messingbett, dazu passenden Lampen, Nachttischen aus Glas und Messing, einem dezent gemusterten Berberteppich und gelben Seidenvorhängen. Hans-Philipp hatte sie gewähren lassen, weil er verstand, dass sie den Schatten seiner verstorbenen Frau zu bannen suchte.

Daneben lag das Badezimmer, in weiß-schwarzem Marmor gehalten und mit einer runden Wanne ausgestattet, die Platz für zwei bot. Es gab für Greta und für ihren Mann je ein Ankleidezimmer, ihres mit weißen, seines mit braunen Wandschränken, Spiegeln und Kommoden ausgestattet.

Auf dem gleichen Stockwerk lagen noch die Räume der Kinder, die beide sehr groß, aber wie ganz gewöhnliche moderne Jugendzimmer ausgestattet waren. Greta nahm an, dass dies auf Initiative von Elvira, der ersten Frau König, geschehen war, denn in den Räumen des zweiten Stockwerks, das nie benutzt wurde, gab es noch altertümliche Betten und Schränke genug. Der siebzehnjährige Stefan, den Greta noch gar nicht kannte – er lebte in einem Internat in Oberbayern -, hatte einige hübsche Antiquitäten bei sich aufgestellt: ein Stehpult, einen mittelalterlichen Helm und zwei schöne Messingleuchter, die sich seltsam genug zwischen den mit Postern beklebten Wänden ausnahmen. Aber Aline hatte darauf verzichtet. Ihr Zimmer hatte, für Gretas Geschmack, geradezu etwas Unpersönliches, wenn da nicht das Regal mit ihren vielen, vielen Büchern gewesen wäre. Lesen und Träumen schienen ihre Lieblingsbeschäftigungen zu sein. Jeder der beiden jungen Leute hatte eine eigene Stereoanlage, und jeder ein eigenes Bad.

Greta hatte gerade noch Zeit, sich die Hände zu waschen und ein wenig frisch zu machen, als drei mächtige Gongschläge sie zum Mittagessen riefen.

Wenn Königs keine Gäste hatten, pflegten sie ihre Mahlzeiten in der sogenannten Anrichte zu sich zu nehmen, denn das eigentliche Speisezimmer war für zwei oder drei Personen zu gewaltig. Die Anrichte, von der aus bei festlichen Gelegenheiten serviert wurde, hatte auch noch beträchtliche Ausmaße. Sie war durch einen Türbogen mit einem Vorhang aus Goldbrokat vom Esszimmer getrennt, und ein Küchenaufzug brachte die Speisen hier herauf.

Als Greta die Anrichte betrat, leuchtete schon das rote Licht am Aufzug, und sie holte die Schüssel mit den Kirschknödeln und der zerlassenen Butter heraus. Sie stellte beides auf den hübsch gedeckten, mit einem Blumenstrauß geschmückten Tisch.

Aline ließ wieder einmal auf sich warten.

Greta begann noch nicht zu essen. Sie überlegte, was sie oft tat, ob man nicht doch hier in der Anrichte oder auch in einem der oberen Räume eine kleine Küche einbauen könnte. Das hätte es ihr ermöglicht, ohne große Umstände auch einmal allein für sich und Aline oder auch für ihren Mann zu kochen. Platz wäre reichlich vorhanden gewesen. Aber wenn sie mit dieser Idee vorsichtig an ihren Mann herangetreten war, hatte er immer gleich abgewinkt.

»Das würde unser schönes Haus verhunzen!« Oder: »Wir haben doch eine prachtvolle Küche!«

Auch fehlte es in der Küche im Souterrain an nichts, das musste Greta zugeben. Aber sie war riesig, und man musste die fertigen Speisen jedesmal nach oben transportieren, und das selbst dann, wenn die Breuers Ausgang hatten. Greta fand das umständlich und unbequem, und Hans-Philipp war auch nicht der Mann, der in der Küche essen mochte, auch wenn sie noch so hochherrschaftlich war.

Endlich erschien Aline. Sie drückte sich durch den Vorhang und setzte sich mit provozierend mürrischer Miene. Als Greta nichts sagte und sie nur freundlich anlächelte, murmelte sie dann doch eine Entschuldigung.

»Langsam solltest du nun schon wissen«, sagte Greta und bediente sich, »dass ich dir nie Vorwürfe mache.«

»Ich habe mich bereits entschuldigt.«

»Ich versuche ja gerade, dir beizubringen, dass das nicht nötig war. Es ist bekannt, dass du kein Zeitgefühl besitzt, und was macht es schon, wenn das Essen kalt wird.«

»Musst du dauernd auf mir herumhacken?«

»Das war nicht meine Absicht. Mir fehlt es, scheint’s, an jeder pädagogischen Ader.«

Greta musste sich eingestehen, dass sie nicht den richtigen Ton zu Aline fand. So aßen sie denn schweigend. Aline, die angeblich keinen Hunger gehabt hatte, sehr viel mehr als Greta, die auf ihre Figur achtete.

»Du weißt, wir bekommen heute Abend Gäste«, begann Greta nach einer Weile, »zwei Herren aus London und natürlich die Kramers.« »Hm, hm«, machte Aline mit vollem Mund.

»Möchtest du mir nicht ein bisschen in der Küche helfen?«

Abrupt ließ Aline die Gabel sinken, die sie schon halb zum Mund geführt hatte. »Warum? Du hast doch Frau Breuer.«

»Vielleicht würde es dir Spaß machen.«

»Nein.«

»Du hast es ja noch nie versucht.«

»Meine Mutter hat so etwas nie von mir verlangt.«

»Ich verlange es ja auch nicht, sondern schlage es nur vor. Außerdem warst du, als deine Mutter lebte, noch ein Kind.«

»Sie hat nie selber gekocht. Warum tust du das überhaupt?«

»Weil es mir Spaß macht, und weil ich alles genau nach meinem Geschmack haben möchte.«

»Versteh’ ich nicht. Die Breuer kocht doch prima.«

»Ja, die Knödel sind gut, nicht wahr? Aber zu einem richtigen Dinner gehört doch mehr. Ich kann mir nicht vorstellen, dass deine Mutter sich bei einer solchen Gelegenheit nicht doch selber um das Essen gekümmert hat. Zumindest um die Speisenfolge.«

»Wir hatten nie Gäste«, erklärte Aline überraschend.

»Nie?« fragte Greta erstaunt.

»Vielleicht kann ich mich auch nur nicht erinnern«, schränkte Aline ihre Behauptung ein.

Greta war verwirrt. Hans-Philipp legte besonderen Wert darauf, seine Geschäftsfreunde bei sich zu Hause zu bewirten. »In Sigmaringen ist