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Ein Kampf auf Leben und Tod: Der schwedische Kriminalroman „Das Geheimnis der toten Vögel“ von Anna Jansson jetzt als eBook bei dotbooks. Wenn das Paradies zur Hölle wird … Auf der idyllischen Ferieninsel Gotland stirbt ein Taubenzüchter an einem seltenen Virus. Kurz darauf trifft es die Köchin in einem Fußballcamp für Kinder. Panik bricht aus, als bekannt wird, dass die Ärzte der Seuche keinen Einhalt gebieten können. Auch der Sohn von Maria Wern muss in Quarantäne. Die Hilflosigkeit trifft die Kriminalinspektorin wie ein Fausthieb. Was kann sie tun in einem Fall, in dem es nur einen Täter zu geben scheint: die grausame Natur? Doch dann wird eine Krankenschwester ermordet – und in Maria erwacht ein schrecklicher Verdacht. Aber wer setzt wissentlich das Leben Tausender Unschuldiger aufs Spiel? Ein albtraumhafter Wettlauf gegen die Zeit beginnt! Erschreckend real und mitreißend erzählt: „Kundig zeichnet Anna Jansson ein erschütterndes Szenario – ein Spannungsroman der Spitzenklasse“, urteilte die schwedische Tageszeitung Nerikes Allehanda. Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Das Geheimnis der toten Vögel“ von Anna Jansson ist der fünfte Fall ihrer schwedischen Spannungsreiihe um Polizistin Maria Wern, die alle Fans von Lina Areklew und Lina Bengtsdotter begeistern wird. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 451
Über dieses Buch:
Wenn das Paradies zur Hölle wird … Auf der idyllischen Ferieninsel Gotland stirbt ein Taubenzüchter an einem seltenen Virus. Kurz darauf trifft es die Köchin in einem Fußballcamp für Kinder. Panik bricht aus, als bekannt wird, dass die Ärzte der Seuche keinen Einhalt gebieten können. Auch der Sohn von Maria Wern muss in Quarantäne. Die Hilflosigkeit trifft die Kriminalinspektorin wie ein Fausthieb. Was kann sie tun in einem Fall, in dem es nur einen Täter zu geben scheint: die grausame Natur? Doch dann wird eine Krankenschwester ermordet – und in Maria erwacht ein schrecklicher Verdacht. Aber wer setzt wissentlich das Leben Tausender Unschuldiger aufs Spiel? Ein albtraumhafter Wettlauf gegen die Zeit beginnt!
Erschreckend real und mitreißend erzählt: »Kundig zeichnet Anna Jansson ein erschütterndes Szenario – ein Spannungsroman der Spitzenklasse«, urteilte die schwedische Tageszeitung Nerikes Allehanda.
Über die Autorin:
Anna Jansson, geboren 1958 auf Gotland, ist gelernte Krankenschwester und begann 1997, Kriminalromane, Sach- und Kinderbücher zu schreiben. Zahlreiche ihrer Krimis um die Kommissarin Maria Wern wurden verfilmt und in Deutschland unter dem Serientitel »Maria Wern, Kripo Gotland« ausgestrahlt. Anna Jansson lebt mit ihrer Familie in Örebo.
Bei dotbooks ermittelt Maria Wern in folgenden Kriminalromanen: »Und die Götter schweigen« »Totenwache« »Tod im Jungfernturm« »Schwarze Schmetterlinge« »Das Geheimnis der toten Vögel«
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eBook-Neuausgabe Dezember 2018
Die schwedische Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel »Främmande fågel« bei Prisma/Norstedts Förlagsgrupp AB, Stockholm.
Copyright © der Originalausgabe 2006 Anna Jansson und Prisma, Stockholm
Copyright © der deutschen Erstausgabe 2007 Piper Verlag GmbH, München
Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Bildmotives von shutterstock/Conny Sjostrom
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)
ISBN 978-3-95520-935-3
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Anna Jansson
Das Geheimnis der toten Vögel
Ein Fall für Maria Wern – Band 5
Aus dem Schwedischen von Susanne Dahmann
dotbooks.
Doch gehe ich über die Wiesen, wo der Himmel weit ist,da saget mir – wenn auch die Hände leer,da saget mir, Ihr Ernterinnen in der Ernte Zeit:Welche gibt mir ihr Herz zur Blume?
Welche gibt mir ihr Herz zur Freude und zum Trost,zum Duft, der mir die Wange umspielen will,dass ich auf meinen Wegen zu Vergänglichkeit und Herbstnicht vor dem letzten Gatter mich ängstigte.
Aus der Gedichtsammlung»Mit vielen bunten Lichtern«von Nils Ferlin
Ruben Nilsson trat in die Sommerdämmerung hinaus und klopfte seine Pfeife auf dem Geländer der Veranda aus. Wenn er gewusst hätte, wie wenige Stunden das Leben nur noch für ihn bereithielt, hätte er vielleicht eine andere Eile verspürt. Der Wind war abgeflaut, die Bäume warfen lange Schatten über den gepflegten Rasen, und er blieb mit einem Gefühl der Wehmut stehen. Vielleicht war es der Duft, der ihn an Angela denken ließ, dieser süße Duft von Falschem Jasmin, der im Dunst der Abendbrise herüberwehte. Die Blumen hingen in großen Trauben über die Steinmauer und leuchteten seltsam weiß in der Dämmerung.
Als Ruben die Äste berührte, sanken die Blütenblätter wie Schneeflocken auf den Boden. Zu spät. Eben noch hatte der Falsche Jasmin in voller Blüte gestanden. Dieses Erlebnis musste an ihm vorübergegangen sein. Jetzt war der Duft ein wenig fad, die Blütenblätter schon runzelig und an den Rändern braun. Zu spät, genau wie damals, als er Angela Stern geliebt hatte, aber nicht die richtigen Worte finden konnte. Der Gedanke daran schmerzte immer noch.
Auf dem Mittsommerfest bei den Jakobssons in Eksta hatte sie sich neben ihn gesetzt, hatte seinen Hemdkragen zurechtgerückt und ihren Arm unter den seinen geschoben, als sie vom Tisch aufstanden. Sie waren in einem immer erdrückenderen Schweigen durch den Garten spaziert. Der Augenblick war groß, und alles, was ihm zu sagen einfiel, während er mit der schönsten Frau Gotlands Arm in Arm unter den Linden ging, war, dass der Wollpreis dieses Jahr wahrscheinlich schlecht werden würde, dass aber die Kartoffeln gut seien. Sie hatte geduldig zugehört und dann auf die Laube gewiesen. Den Blick, den sie ihm in diesem Moment zugeworfen hatte, würde er niemals vergessen. In der grünen Blätterhöhle vor allen anderen verborgen, hatte er sie in den Arm genommen.
Das Einverständnis war den ganzen Abend da gewesen, die Blicke, die man nicht übersehen konnte, und die leichte Berührung, sowie sie in seine Nähe kam.
Der Erdbeerduft vom Falschen Jasmin war berauschend gewesen. Der dünne Stoff ihres Kleider spannte über dem Busen und über der weichen Rundung der Hüften – das hatte ihn verlegen und stumm gemacht, während ihm die Reaktionen in seinem eigenen Körper sehr bewusst gewesen waren. Eben war sie noch ein Kind, eine Spielkameradin gewesen. Angela mit dem Engelshaar, das sich wie gesponnenes Gold über ihre Schultern ergoss, mit den blaugrünen Augen und der leicht hervorstehenden Oberlippe, die er einfach küssen musste. In der Blätterhöhle fasste er Mut und tat es. Es war ein etwas missglückter Kuss geworden, die Zähne schabten aufeinander, und beide hatten sich etwas verschämt zurückgezogen.
Er hatte versucht, etwas vorsichtiger zu Werk zu gehen, und gemerkt, wie sie weicher wurde. Ihre Hände hatten seinen Rücken gestreichelt und waren langsam an den Muskeln entlang unter das Hemd geglitten. Als ihre Fingernägel vorsichtig über seine Haut kratzten und ihr Atem schneller wurde, hatte er einen leichten Schauder verspürt, der sich in seinem Körper ausbreitete. Seine Hand hatte sich den Weg in ihre Unterhose gebahnt, und sie hatte sie in der Bewegung eingefangen und festgehalten. Wie sehr liebst du mich, Ruben? Sie hatte ihm direkt in die Augen geschaut, ohne dem Blick auszuweichen, und darauf gewartet, dass er das unmögliche Losungswort aussprach. Wie sehr willst du mich? Wie sehr liebst du mich? Und er hatte geantwortet, indem er sein pochendes Glied an ihren Bauch gedrückt hatte. Sie war zurückgeschreckt, und er hatte ihre Hand dorthin geführt, wo er sie sich wünschte, damit sie spüren konnte, dass er steif war, und begreifen, wie sehr er sie wollte, wie sehr er sich nach ihr gesehnt und an sie gedacht hatte.
Hör auf! Ihr Körper war erstarrt. Er wollte sie berühren, aber sie entzog sich. Das Lächeln in ihrem Gesicht war erloschen. Als er immer noch nichts sagte, hatte sie ihn von sich weggeschubst und war zu den ändern gelaufen. Er hatte sie eingeholt und versucht, sie von hinten zu umarmen. Sag doch was, du dummer Idiot, flüstere die Worte, die sie hören will. Aber die Worte hatten sich niemals eingefunden, damals nicht, und auch heute kaum, fünfzig Jahre später, als er darüber nachdachte, was er hätte sagen müssen, um den Lauf der ganzen Geschichte zu verändern. Wie sehr liebst du mich? Was antwortet man darauf? Liebe kann man doch nicht abwägen und messen. Sie hatte sich mit einem Zorn, den er nicht verstehen konnte, aus seiner Umarmung losgerissen und ihn dann den ganzen Mittsommerabend lang nicht mehr angeschaut. Und danach – war es zu spät gewesen.
Ruben wandte das Gesicht mit den blassblauen Augen zum Abendhimmel und schniefte. In der letzten Zeit überfiel ihn oft die Rührung. Als Kind weint man, weil man traurig ist oder sich wehtut, und wenn man alt ist, weint man, weil man gerührt ist, wenn man »Geh aus, mein Herz« hört oder sich an eine alte Liebe erinnert. Er rückte die Hose im Schritt zurecht und lächelte in sich hinein. Auch der Körper erinnerte sich noch.
Hoch über dem Taubenschlag kreiste ein Schwarm Tauben. Ruben blieb ganz still stehen und sah zu, wie sie auf dem Blechdach landeten und gurrend auf und ab spazierten, ehe sie sich zur Nacht hineinbegaben. Er erkannte die Tiere am Aussehen und wusste ihre Namen. General von Schneider, Mr. Pomoroy, Sir Toby, Mr. Winterbottom, Panik, Kakao und Evert Taube drängelten sich und pickten einander mit den Schnäbeln, als sie durch die Luke zu ihren Weibchen und Jungen und dann zum abendlichen Futter wollten. Same procedure, jeden Abend.
Ganz außen auf dem Dachfirst saß eine neue Taube, die dem Schwarm zum Schlag gefolgt sein musste. Es war ein kräftiger, leicht braun gefleckter Vogel mit weißem Kopf. Wahrscheinlich ein Männchen. Den musste er sich näher anschauen. Ruben hakte die niedrige Tür zum Schuppen auf, schlich die knarrende Holztreppe zum Taubenschlag hoch und dann zu den Säcken mit den Hanfsamen. Das waren Leckereien, die die neue Taube würden hineinlocken können. Er stellte Luke und Gitter so ein, dass die Vögel in den Taubenschlag hinein-, aber nicht hinausspazieren konnten, und wartete in der Dunkelheit, während die untergehende Sonne den Himmel und das Meer orangerot färbte und eine glühende Sonnenstraße sich ausbreitete.
Die Vögel schlugen sich um das Futter. Von Schneider hackte Winterbottom auf den Kopf und kriegte als Antwort dafür einen Schlag mit dem Flügel ab. Wer meint, Tauben seien die wahren Friedenssymbole, der täuscht sich. Das hatte Ruben schon bei vielen Gelegenheiten gesagt. Es gibt keine Vogelart mit mehr Aggression und Herrschaftsgebaren als die Taube, aber als Symbol für Liebe und Treue funktioniert sie ausgezeichnet. Die besten Flugkünstler sind die Männchen, deren Weibchen gerade brüten oder Junge haben. Sie geben alles dafür, schnell nach Hause zu kommen, was man bedenken sollte, wenn man für einen Wettkampf Brieftauben auswählt.
Ruben hatte schon angefangen, die Tauben auszusuchen, mit denen er dieses Wochenende am Brieftaubenwettbewerb seines Clubs teilnehmen würde. Die Tauben würden früh am Sonntagmorgen von der Gotska Sandön losgeschickt werden. Zuvor würden die Uhren der Brieftaubenbesitzer so kalibriert werden, dass sie synchron und nach der offiziellen Zeit liefen. Auf diese Weise ersparte man sich nachträgliche hässliche Diskussionen, wenn der Schnitt in Kilometer und Zeit ausgerechnet wurde. Aber natürlich gab es auch Leute, die schummelten. Petter Cederroth hatte einmal ein kaum sichtbares Loch in das O vom Hersteller des Glasdeckels gebohrt. Dann hatte er die Uhr mit Hilfe einer Nadel bei einer passenden Zeit angehalten, um eine Wahnsinnszeit stempeln zu können. Damit man ihm nicht auf die Schliche kam, hatte er kurz vor dem Öffnen der Uhren die Zeiger vorgerückt, sodass die Zeit wieder stimmte. Ganz schön schlau, hätte sich nicht seine Frau verplappert, als sie einen in der Krone hatte. Ruben kannte niemanden, der in leicht angeheitertem Zustand so mitteilsam war wie Sonja Cederroth.
Wenn es um richtig viel Geld gegangen wäre, wie bei den Wettkämpfen auf nationaler Ebene, und nicht nur um den Wanderpreis »Die Silbertaube«, dann wäre Cederroth sicherlich aus dem Brieftaubenverband ausgeschlossen worden. Aber der Club schwieg die Sache tot. Er war einfach so nett, und noch dazu war er richtig gut darin, Gotlandsdricka zu brauen. Das musste zu seiner Verteidigung gesagt werden.
Der neu angekommene Tauber hockte immer noch auf dem Dach und hatte es nicht eilig, auch wenn er hin und wieder neugierig in den Schlag äugte. Ruben holte den Feldstecher heraus und betrachtete ihn. Wirklich ein kräftiger Vogel und vom Flug offenbar sehr mitgenommen. Ein Metallring am Bein als Markierung. Also war er ein Ausländer, in Schweden trugen die Tauben ja Plastikringe. Ein Flugtourist auf Besuch? Bestimmt war die Taube lange unterwegs gewesen, ehe sie sich dem Schwarm angeschlossen hatte. Demnach sollte der Hunger größer sein als das Misstrauen, und der Vogel würde schon in den Schlag kommen. Das war doch das Letzte, jetzt musste man sich noch lächerlich machen und aufs Blechdach steigen, um das Tier herunterzuholen.
Ruben kroch mit seinem Fangkäfig heraus. Die Taube flatterte auf und setzte sich dann ganz außen auf die Regenrinne und schaute zu, wie die Käfigfalle aufgestellt wurde. Ein Stöckchen mit einer Nylonschnur hielt die Klappe auf, und im Käfig selbst lagen appetitliche Hanfsamen auf dem Futterbrei. »Jetzt komm! Komm näher!« Ruben kroch zurück und stand dann unbeweglich mit der gespannten Nylonschnur in der Hand hinter der Wand. »Nun komm schon! Noch ein Stück. Genau, ich sehe doch, dass du hungrig bist.« Die Taube beäugte den Käfig mit halb geschlossenen Augenlidern und lächelte frech. Ruben kam es höhnisch vor, wie sie lief und den Kopf in den Nacken warf. »Was bist du für ein Vogel, und woher kommst du?. Es war doch richtig aufregend, sich vorzustellen, wie weit die Taube geflogen sein könnte.
Cederroth hatte das ganze Frühjahr damit angegeben, dass er eine Taube aus Polen bei sich gefunden habe, aber niemand hatte sie sehen können, ehe sie wieder davongeflogen war, und Jönsson hatte vorigen Sommer bewiesenermaßen einen Vogel aus Dänemark und neulich einen aus Skåne gehabt. »Ja, gut so. Jetzt rein mit dir. Nein.« Die Taube hatte vor dem Käfig kehrtgemacht und marschierte jetzt wie ein General mit steifem Rücken in die entgegengesetzte Richtung. Dann fing sie bei der Regenrinne noch mal an. Jetzt kam sie zurück. Ruben war bereit. Er hielt den Atem an. Kein Geräusch durfte den Vogel erschrecken. Die Taube machte den entscheidenden Schritt. Jetzt vermochte sie den Leckereien nicht mehr zu widerstehen, und die Klappe schlug zu.
Ruben trug den Käfig mit der Taube über das Dach und öffnete ihn nicht, ehe er im Schlag war. Es war wirklich ein prächtiger Tauber, wenn auch das Federkleid während der langen Reise ein wenig gelitten hatte. Ruben breitete die Flügel nacheinander in seiner Hand aus und sah sie sich gründlich an. Am rechten fehlten zwei Federkiele, und am linken war ein Kiel zu kurz, aber wieder im Wachsen begriffen. Um die Beringung näher betrachten zu können, musste er seine Brille aufsetzen. Er fand sie auf der Holzleiste über den Transportkäfigen, rieb den weißen Staub vom Glas und besah sich den Ring. Das sah aus wie russische Buchstaben, wirklich interessant. Ruben gab den Tauben frisches Wasser und fütterte sie mit einer Maismischung. Dann ging er ins Haus, um Cederroth anzurufen. Doch der war bei seinem Bruder in Martebo, und wie Sonja sagte, würde er erst am späten Abend zurückkehren.
Ein Blick auf den Gratiskalender vom ICA-Laden zeigte Ruben, dass schon der 29. Juni war. Er ließ sich auf einen Stuhl sinken und betrachtete durch das Fenster das wunderschöne Farbenspiel, als die rote Sonnenscheibe langsam ins Meer glitt. Es ist eine große Gunst und eine Wohltat für die Seele, so zu wohnen, dass man die Sonne über dem Meer untergehen sehen kann, dachte er. Dann stand er auf, um sich einen Kaffee einzugießen und eine Scheibe Brot abzuschneiden, die er dann mit Fleischwurst belegte, zwei dicke Scheiben auf einer soliden Unterlage aus Butter, keine künstliche Margarine mit Plastikkügelchen drin. Das Meer war am Abend so unglaublich schön anzusehen. Man wurde richtig andächtig und sanftmütig davon und voller Gedanken darüber, was es jenseits der Zeit wohl noch geben mochte.
Er dachte an das Wort »Versöhnung«, und er dachte an Angela. Gab es ein schöneres Wort als Versöhnung? Mit dem, was geschehen war, Frieden zu schließen, es nicht zu vergessen oder zu verringern, sondern sich ohne ein Gefühl des Schmerzes daran zu erinnern. Sich damit abzufinden, dass es nicht so gekommen war, wie man in seinem Herzen gedacht und gehofft hatte. So weit zu kommen, dass man sich mit seinem Schicksal versöhnte.
Angelas Vater war es gewesen, der mit den Brieftauben angefangen hatte. Als er sie leid war und stattdessen anfing, Golf zu spielen, hatten Ruben und sein kleiner Bruder Erik die Tauben übernommen und den Schlag zu sich nach Hause an den Södra Kustvägen in Klinte verlegt. Aber Erik hatte auch irgendwann keine Lust mehr gehabt und sich lieber ein Motorrad angeschafft. Und so kam es, wie es kommen musste.
Im Licht der ersten Morgendämmerung kam Angela übers Meer auf ihn zu gelaufen. Die Schleppe an ihrem dünnen Kleid wurde eins mit dem Schaum der Wellen, und das lange Haar war aus Morgenlicht gesponnen. In den smaragdgrünen Augen glänzte das Meer. Sie hielt eine weiße Jungtaube in ihren Händen und ließ sie zum Himmel auffliegen. Komm. Sie streckte ihm die Arme entgegen. Komm jetzt. Ihr Lächeln war genauso verlockend, wie er es von jenem schicksalsschweren Mittsommerabend her in Erinnerung hatte. Komm, auch du kannst auf dem Wasser gehen. Aber er drehte dem Meer den Rücken zu und sah sie nicht mehr. Und sie kam wie eine Dunkelheit, wie ein Sturm übers Land. Die Bäume bogen sich. Die Schilfhalme wurden auf die Erde gedrückt, die Vögel verstummten, und die Blitze sprühten wie ein Feuerwerk zwischen den Wolken. Aber er weigerte sich, auf sie zu hören, er schloss die Augen und hielt sich die Ohren zu. Da kam sie wie ein Duft. Wie wehrt man sich gegen einen Duft, der Erinnerungen hervorlockt?
Als Ruben erwachte, merkte er, dass er geweint hatte. Er verspürte die Sehnsucht nach Angela in seinem ganzen Körper, es tat weh, zog und stach im Bauch. Angela. Angela. Wie konnte eine Sehnsucht plötzlich so groß werden? Im Traum hatte sie eine weiße Taube gehalten. Er sah immer noch vor sich, wie ihre Hände mit den kurzen, etwas knubbeligen Daumen die verletzte Taube festgehalten hatten, die der Habicht erwischt hatte, damals, in einer anderen Zeit, als alles noch möglich gewesen war. Es war eine ihrer ersten Begegnungen gewesen. Sie hatte mit ihren kleinen Händen über den Rücken der Taube gestrichen. Du armes Ding. Wir werden uns um dich kümmern, hatte sie gesagt. Während Angela die Taube mit Brei fütterte und sie ins weichste Heu bettete, hatte, hatte Ruben seine Schrotflinte geladen und dem Taubenhabicht aufgelauert, der hoch über dem Schlag seine Kreise drehte. Mit dem Finger am Abzug gewartet, bis sich der Raubvogel in der Tanne neben dem Schuppen niederließ. Dann die Schrotladung abgefeuert. Der Habicht war tot zu Boden gefallen. Triumphierend hatte er den Räuber bei den Beinen gepackt und ihn auf den Küchentisch geworfen, damit Angela sehen konnte, dass der Schuldige seine Strafe erhalten hatte. Natürlich hatte er nicht damit gerechnet, dass sie in Tränen ausbrechen würde. Aber genau das tat sie. Wie konntest du nur? Wie konntest du ihn einfach erschießen? Mit hängenden Armen hatte er in der Küche gestanden, ohne etwas zu seiner Verteidigung vorbringen zu können. Der einzige Laut, den man hörte, war das Sirren einer Fliege gewesen, die auf dem Leimstreifen, der von der Küchenlampe herunterhing, festklebte, und dieses Sirren bohrte so lange in seinem Kopf, bis völlige Gedankenleere herrschte.
Sobald die Bibliothek öffnete, machte sich Ruben dorthin auf. Wieder zu Hause trank er seinen Vormittagskaffee, während er den Wetterbericht anhörte. Danach ging er in den Taubenschlag, um nach der neuen Taube zu sehen. Der Vogel hatte nach dem Flug müde und mitgenommen gewirkt. Seine Augen waren ein wenig matt gewesen. Kein Wunder, wenn er so weit geflogen war. Aber eine körperlich so kräftige Taube sollte heute wieder voll bei Kräften sein. Als Zuchttaube war das ein richtiges Prachtexemplar. Cederroth würde grün vor Neid werden. Man stelle sich mal vor, die Taube war den ganzen weiten Weg aus Bjaroza in Weißrussland gekommen. Ruben hatte mit Hilfe der Bibliothekarin im Internet gesucht, um eine Liste der Landesbezeichnungen und der Namen der verschiedenen Brieftaubenvereine im jeweiligen Land zu finden, und am Ende hatten sie herausgefunden, woher die Taube kam. Ein Weißrusse. Er hatte sie als zugeflogen angezeigt. Wenn sich kein Besitzer meldete, dann würde sie wohl bleiben können. Darauf hoffte er.
Ganz in Gedanken stieg Ruben die Treppe zu seinem Taubenschlag hinauf, und noch mehr in Gedanken versunken kam er wieder heraus. Der fremde Vogel hatte tot auf dem Steinfußboden unter dem Fenster gelegen. Im Licht der Dämmerung hatte das Tier in seinem Federkleid fast grau ausgesehen. Es schien nicht verletzt zu sein. Es wäre ja möglich gewesen, dass die anderen Vögel ihn im Kampf um Futter und Weibchen angegriffen hätten, doch darauf wiesen keinerlei Anzeichen hin. Als er den schlappen Körper hochgehoben hatte, war ihm der flüssige Taubenkot auf dem Boden aufgefallen. Vielleicht hatte das Tier etwas Schlechtes gefressen. Oder es war krank gewesen? Er strich ihm gedankenverloren über die Flügel. Es war wirklich eine sehr schöne und gut gebaute Taube.
Zunächst hatte Ruben vorgehabt, den Weißrussen an der Gartenmauer zu vergraben, wo er einen kleinen Vogelfriedhof angelegt und nacheinander die Vogelkadaver eingegraben hatte, doch plötzlich war es ihm ein wenig zuwider, den Spaten im Schuppen zu holen. Die Schmerzen in der Hüfte waren schlimmer als sonst. Er konnte die Taube genauso gut später begraben, das hatte keine Eile.
Auf dem Weg ins Haus sah er seine Nachbarin Berit Hoas, die hinter ihrem Haus stand und Wäsche aufhängte. Es war eine Quelle ständigen Streits, wenn Rubens Tauben über Berits Leintüchern kreisten und auf der sauberen Wäsche ihre Visitenkarten hinterließen. Als ob er sie davon abhalten könnte. Tauben werfen ihren Ballast ab, wenn sie zum Himmel aufsteigen. Das ist ein Naturgesetz. Sie könnte ja ihre verdammte Wäsche stattdessen vor dem Haus aufhängen, aber das wollte sie nicht. Was würden die Leute sagen? Nun, solange die Leute keine anderen Sorgen hatten, dann sollten sie sich ruhig darum kümmern, fand er. Berit war da anderer Ansicht.
»Na, schon zu Hause?«, fragte er aus Höflichkeit.
»Ja, die Kinder haben ihr Frühstück gekriegt, und ich muss kein Mittag kochen, denn sie haben alle ihre Butterbrote dabei. Sie haben heute ein Spiel in Dalhem. Drei Wochen geht dieses Fußballcamp, danach habe ich frei und werde meine Schwester auf Fårö besuchen. Die Arbeit ist zwar nicht so toll bezahlt, aber es macht Spaß, denn die Kleinen sind richtig hungrig und dankbar für das Essen. Du, ich habe übrigens noch etwas Morchelragout, das ich gerade aus der Tiefkühltruhe geholt habe. Vom vorigen Jahr. Ich musste aufräumen, damit ich Platz für die Pilze von diesem Jahr habe, deshalb muss es weg. Wenn du magst, kannst du gern rüberkommen und etwas davon essen. Ich meine, wenn du nichts anderes vorhast.«
»Vielen Dank. Ich hatte vorgehabt, mir ein Stück Fleischwurst zu braten, aber das kann bis morgen warten. Ruf mich doch kurz an, wenn es so weit ist.«
Ruben trottete zum Geräteschuppen, um den Spaten zu holen, aber dann überlegte er es sich anders. Cederroth würde ihm niemals glauben, wenn er die Taube nicht mit eigenen Augen zu sehen bekam. Da war es besser, wenn sie weiter in der Zinkwanne unten im Schuppen liegen blieb, bis Petter Zeit fand vorbeizukommen. Petter Cederroth war ziemlich viel unterwegs. Aber klar, mit so einer Alten, da war es wohl das Beste, wenn man möglichst oft weg war, wollte man nicht die Ohren abgeschwatzt kriegen.
Anstatt die Taube zu begraben, fuhr Ruben mit dem Fahrrad zum Hafen hinunter, um ein paar geräucherte Flundern zu besorgen. Am Kiosk hielt er an und las die Schlagzeilen der Zeitungen. »So haben Sie besseren Urlaubssex!« Ruben lachte. Wenn in Schweden die Pest oder ein Bürgerkrieg ausgebrochen wären, hätten die Buchstaben auf dem Aushänger nicht größer sein können. Musste man den Schweden die grundlegendsten Dinge beibringen, zum Beispiel, wie man für die Erhaltung des Volkes sorgt, wenn kleine Tiere wie zum Beispiel Kaninchen, die ein viel kleineres Gehirn hatten, das ganz alleine hinzukriegen schienen? Urlaubssex, das klang wie eine Art Jagdsaison. Die Jagd ist eröffnet. Verfahren Sie wie folgt.
Ohne dass er sie hereingebeten hätte, tauchten die Gedanken an Angela wieder auf, obwohl er doch die ganze Zeit versuchte, sie mit wichtigeren Sachen beiseitezuschieben. Es war an der Zeit, mehr Holz zu bestellen, und die Dichtung im Wasserhahn in der Küche musste ausgewechselt werden, und er musste zum Großhändler in die Stadt fahren und Futter für die Tauben kaufen. Angela, was willst du von mir? Die Erinnerungen drängten sich herein, und er konnte sich nicht länger gegen sie wehren.
Angela hatte sich aus seiner Umarmung losgerissen und war zu den anderen gelaufen, die sich um Erik und seine neue Harley versammelt hatten. »Darf ich mal eine Runde mitfahren?«, hatte sie gefragt, und Erik hatte genickt. Ruben sah sie auf den Soziussitz klettern und Eriks neue Lederjacke umfassen. Dann waren sie in einer Staubwolke den Schotterweg entlang verschwunden. Verdammt, musste das sein?
In einem schwachen Moment hatte Ruben seinem Bruder Unglück gewünscht, das musste er sich hinterher eingestehen. Aber natürlich nicht das, was dann geschah. Als Kind hat man die Vorstellung, man könne die Welt durch die Kraft seiner Gedanken lenken. Als Erwachsener darf man manchmal noch in dieses magische Denken zurückfallen. Als Angela dann völlig außer Atem und mit Schürfwunden im Gesicht angerannt kam, hatte Ruben die Schuld wie eine Hand gespürt, die ihm die Kehle zudrückte.
»Hilfe! Ich glaube, Erik ist tot! Er rührt sich nicht. Er antwortet nicht. Es blutet! Ich glaube, er hat sich den Kopf an einem Stein angeschlagen. Wir sind vom Weg abgekommen. Kommt mit!« Ihre aufgeregte Stimme war in Schluchzen übergegangen. Ruben hatte seinen Bruder nicht tot sehen wollen. Er hatte sich nur gewünscht, dass er weniger übermütig wäre und einen Dämpfer bekäme, das war alles.
Sie waren in die Richtung gelaufen, in die Angela gewiesen hatte. Ruben war als Erster am Unfallort angekommen.
»Erik! Lieber kleiner Bruder!« Er antwortete nicht. Er rührte sich nicht, lag nur mit dem Körper in einem seltsamen Winkel verkrümmt da unter dem Motorrad. Auf dem Stein neben seinem Kopf war Blut, und seine weiße Hemdbrust rötete sich immer weiter. »Erik!« Ruben beugte sich hinab, um das Motorrad wegzuheben, und viele Hände halfen ihm. Großer Gott, lass ihn am Leben sein!, dachte er. Er rüttelte seinen Bruder an der Schulter und hielt die Hand über sein Gesicht, um zu spüren, ob er noch atmete. Die andern hatten sich hinter seinem Rücken versammelt.
»Was ist los mit ihm? Spürst du seinen Puls?« Ruben griff an die Innenseite von Eriks Handgelenk. War da ein Puls zu spüren? Vielleicht war es sein eigener. Er konnte es nicht unterscheiden. »Fass an die Halsschlagader«, sagte Gerda Jakobsson, die oft bei der Gemeindeschwester aushalf.
Dann wurde alles so still. Ein hohles, ungeduldiges Warten. Und alle Blicke waren auf Ruben gerichtet, als könnte er, wenn er nur wollte, ein Wunder vollbringen und seinen Bruder von den Toten auferwecken. Er merkte, dass er die Finger in seiner Angst viel zu fest auf die Haut gepresst hatte, und lockerte den Griff ein wenig. Ja, da am Hals, da konnte er den Puls spüren. Jetzt ganz deutlich. Erik bewegte sich und schlug die Augen auf, ein Stimmengewirr brach in die Stille ein.
»Er muss ins Krankenhaus, bestimmt hat er eine Gehirnerschütterung«, sagte jemand.
»Niemals!« Erik setzte sich halb auf und sank dann wieder zu Boden und hielt sich den Kopf. Sein Gesicht war bleich, als er das Hemd hochschob und seinen Bauch betrachtete. Er hatte eine anständige Schürfwunde abbekommen, aber nichts Tieferes. »Was ist mit dem Motorrad?«, stöhnte er.
Genau, Ruben konnte sich daran erinnern, als sei es gestern gewesen. Was ist mit dem Motorrad?, war das Erste gewesen, was sein Bruder gefragt hatte, als er wieder bei Bewusstsein war. Er fragte nicht nach Angela, die im Graben saß und weinte. Erik sah sie nicht. Sie hätte ebenso gut tot oder schwer verletzt sein können.
Es gab dann keine Fahrt ins Krankenhaus in der Stadt. Erik hatte ein gutes Viertel Selbstgebrannten getrunken und wollte seinen Führerschein nicht verlieren. Also hatte Ruben das Lastenmotorrad geholt, ihn zurück zu Jakobssons gefahren und dann in der Mädchenkammer ins Bett gebracht.
»Wir können ihn nicht so allein liegen lassen«, sagte Gerda. »Er darf nicht einschlafen. Das kann gefährlich sein. Das sagt Svea jedenfalls«, beeilte sie sich hinzuzufügen, damit niemand ihre Behauptung in Frage stellen konnte. Wenn die Gemeindeschwester Svea dieser Ansicht war, dann handelte es sich um eine grundsätzliche Wahrheit. Unumstößlich.
Angela strich sich den Haarschopf aus dem Gesicht.
»Ich kann bei ihm bleiben.« Sie hatte sich an Ruben vorbei durch die Tür geschlängelt, ohne ihn auch nur anzusehen. »Ich bleibe hier«, sagte sie. »Geht ihr, Erik braucht Ruhe. Ich passe auf ihn auf.«
Ruben kaufte seine Flundern bei dem Fischer, bei dem er sie immer kaufte. Das würde sein Beitrag zum Mittagessen werden. Berit hatte versprochen, zum Pilzragout ein Omelett zu machen. Das konnte leicht etwas fade werden. Er glaubte nicht, dass sie ein paar frisch geräucherte Flundern ablehnen würde. Vielleicht sollte man auch einen kleinen Blumenstrauß dabeihaben. Er hatte im Laufe der Jahre herausgefunden, dass Frauen so etwas mochten. Es mussten keine teuren gekauften Blumen sein. Man konnte genauso gut schnell am Graben anhalten und Natternkopf, Margeriten, Rotklee und Akelei pflücken und dann den Strauß mit dem Farnkraut einrahmen, das an der nördlichen Ecke des Hauses wuchs. Vielleicht war es schade, dass er fünfzig lange Jahre gebraucht hatte, um sich einigermaßen auf Frauen zu verstehen, aber lieber spät als nie. Frauen wollen überrascht werden.
Angela hatte einen halb verwelkten Kranz aus Wiesenblumen auf dem Kopf gehabt, als sie sich am Nachmittag des Mittsommertages am Ballastkai getroffen hatten. Sie saß da und baumelte auf eine wütende Weise mit den Beinen im Wasser, wie wenn eine Katze mit dem Schwanz schlägt, und wollte erst gar nichts von ihm wissen. Die Haare waren zerzaust. Sie sah müde aus.
»Sollen wir baden?«, hatte er gefragt, nachdem eine ganze Weile vergangen war, ohne dass einem von ihnen etwas eingefallen wäre, was er hätte sagen können. Es war erleichternd, die Kleider von sich werfen zu dürfen und ins Wasser zu springen. Es war kalt, und Angela kreischte, doch sie schien in der Kälte wieder zu sich zu kommen. Ein schnelles Eintauchen. Er hatte nach ihrem Handtuch gegriffen, um sie abzutrocknen, und sie hatte es geschehen lassen. Sie sah beinahe blassblau aus und hatte eine Gänsehaut, und die Brustwarzen waren deutlich durch den Stoff des weißen Badeanzugs zu sehen. Er trocknete ihr Haar, das vom Wasser um mehrere Schattierungen dunkler geworden war, er rieb und rieb, damit es wieder seine richtige Farbe annehmen würde. Er wollte, dass sie wie immer aussah, wie immer war. Als sie sich frei zu machen versuchte, küsste er sie auf die Nasenspitze, die das Einzige war, was aus dem Badehandtuch herausschaute.
»Wie geht es Erik?«, fragte sie.
»Gut, glaube ich. Er ist mit dem Schiff aufs Festland rüber. Ihm ist zum Glück nichts Schlimmes passiert. Weder ihm noch dem Motorrad, erstaunlicherweise.«
Plötzlich hatte Angela ihre Arme um Ruben geschlungen, ihm ein Bein gestellt und ihn auf den Boden gedrückt. Sie waren wie kleine Kinder im Gras herumgerollt, und sie hatte versucht, ihn zu zwingen, wie ein Kaninchen Löwenzahnblätter zu essen.
»Ich bin doch kein Vegetarier, ich will Fleisch«, hatte er geknurrt und sie in den Arm gebissen. Sie hatte gelacht, wie nur Angela lachen konnte, ein perlendes Kichern. Dann hatte sie sich quer auf seinen Bauch gesetzt. Er hatte vom Ellenbogen bis zur Schulter hinauf nach ihrem Arm geschnappt und sich dann hingesetzt. Da wurde sie plötzlich ernst.
»Ruben, wirst du nie erwachsen?« Er hatte laut gelacht und weiter so getan, als würde er auch ihren anderen Arm aufessen, ohne zu begreifen, dass das Spiel vorbei war und dass sie jetzt etwas anderes erwartete. »Ich meine, wie denkst du über die Zukunft? Was willst du mit deinem Leben?«
»Was ich mit meinem Leben will?«, hatte er etwas dümmlich gefragt. »Es ist doch gut, so wie es ist. Ich bin Tischler. Ich kann ein wenig maurern – ich kann mich mit denen hier versorgen.« Und er hatte ihr seine großen sehnigen Hände gezeigt.
»Willst du nicht wie Erik studieren und etwas werden?
»Ich bin etwas. Ich bin Ruben.« Er hatte seine Wange an ihre weiche Haut gelegt und ihren Duft von Salz und Sommerwärme eingesogen. Hatte ihren Mund gesucht und eine unerwartete Offenheit gefunden.
»Liebst du mich?«, hatte sie gefragt, als er die Augen öffnete und den Heiligenschein von Haaren um ihr Gesicht scheinen sah, so wie sie es seither immer getan hatten, wenn er sich an sie erinnerte.
Er nickte.
»Woher weißt du das? Woher weiß man, ob man jemanden wirklich liebt? Du kennst mich nicht. Du weißt nicht, wie ich wirklich bin.« Und dann hatte sie den Kopf an seinen Hals gedrückt. »Es ist nicht einmal sicher, dass man sich selbst kennt, Ruben. Begreifst du das nicht?«
Etwas später am Abend fuhr Ruben mit dem Auto zum Friedhof von Klinte, um Blumen auf die Gräber zu stellen. Normalerweise nahm er das Fahrrad, aber ihm taten die Knochen weh. Vielleicht würde es einen Wetterumschwung geben.
Oben an der Mauer war J. N. Donner begraben gewesen, der aus einer Reedereifamilie stammte, den Besitzern von Klinteby. Aber er hatte keine Ruhe in der Erde des Friedhofs gefunden, und die Pferde hatten sich geweigert, vorüberzugehen, weshalb seine sterblichen Überreste schließlich in den schönen Park gebracht worden waren, der zu dem Hof gehörte. An der dunklen Nordseite des Friedhofs waren die Bürger zweiter Klasse begraben, die Selbstmörder und die Freikirchler. Die Mitglieder der Staatskirche und Verfechter der reinen Lehre, die an Altersschwäche und Krankheiten gestorben waren, durften an der Sonnenseite liegen. Großvater und Großmutter lagen also an der Nordseite, denn sie waren Baptisten gewesen. Ruben pflegte bei seinen Friedhofsbesuchen ein paar Worte mit Großvater Rune zu wechseln. Großmutter war immer ein wenig reservierter gewesen, aber das Gespräch mit Großvater Rune musste ja nicht aufhören, nur weil er jetzt im Jenseits war. Er war immer ein guter Zuhörer gewesen.
»Die Benzinpreise sind wieder hochgegangen. Du würdest dich im Grab umdrehen, wenn du wüsstest, was das jetzt kostet – und trotzdem tankt man und fährt mit seinem Auto. Es bleibt einem ja nichts anderes übrig. Ich müsste mir eigentlich eine neue Hose kaufen, aber das kann ich mir nicht leisten. Weißt du, Großvater, wenn das so weitergeht, dann steht man beim Tanken irgendwann mit nacktem Hintern da, denn Benzin braucht man ja.«
Das wohlwollende Schweigen war Antwort genug. Ruben stellte einen Strauß Natternköpfe in die spitze Vase und trottete hinüber zu dem Teil des Friedhofs, der unterhalb des Klintebergs lag. Da war es sonniger, aber Ruben fröstelte trotzdem. Hier lag seine Mutter, Siv Nilsson, begraben, und die kleine Emelie, die im Jahr nach Eriks Geburt gestorben war. Ruben konnte sich vage an sie erinnern, ein schreiendes Bündel in einem Korb mit rosa Himmel aus dünnem Stoff. Ein paar strampelnde Füße und eine spitzenbesetzte Mütze, die fast das ganze kleine Gesicht verbarg.
Der alte Vater lebte im Heim, in seiner eigenen Welt, in der sich Siv in Hörweite in der Küche befand und dort mit der Kaffeekanne auf dem Herd klapperte. Um fünf Uhr wollte er aufstehen und die Kühe melken, schlief aber dankbar wieder ein, wenn einer vom Nachtdienst versprach, sich um die Sache zu kümmern. Und wenn er Kaffee ans Bett kriegte, obwohl er nicht Geburtstag hatte, dann fand er, es sei fast wie im Himmel.
»Ach ja, Mama, weißt du noch, wie du mit mir über Angela reden wolltest?«, fragte er und legte seine Hand auf den Grabstein. »Das ist jetzt fünfzig Jahre her, und es war der schlimmste Tag meines Lebens.« Ruben setzte sich ins Gras und lehnte den Kopf schwer an den Stein. Mit einem Mal fühlte er sich so matt. Bestimmt hatte er sich eine Erkältung geholt, er spürte es im Hals.
Wahrscheinlich hatte er Fieber. Das war nicht gut im Hinblick auf den Brieftaubenwettkampf am Wochenende. Mit den schnellen Jungtauben, die er ausgewählt hatte, müsste er diesmal gute Chancen auf den Wanderpokal haben. Er schloss die Augen, und plötzlich drängte sich die Erinnerung an Angela wieder mit voller Kraft heran. Seine Bauchmuskeln spannten sich wie zur Verteidigung an. Hinter den Augenlidern brannte es, und er ließ die Gedanken und die Tränen kommen. Es war das Fieber, das ihn jammerig und weinerlich machte, da war er sich ganz sicher. Sonst hätte er nicht dagesessen, wo ihn jeder sehen konnte, und geschnieft und sich komisch benommen.
Seit jenem Mittsommerabend war Angela irgendwie verändert gewesen. Ruben konnte sich nicht erklären, warum. Sie hatte schon immer über das Leben und den Tod und den Sinn, der darin liegen könnte, nachgegrübelt, aber seit dem Motorradunfall war es noch schlimmer als vorher.
»Man hat nur ein Leben und so viele Möglichkeiten. Woher weiß man denn, ob man die richtige wählt? Damit man es hinterher nicht bereut und dann alles zu spät ist, meine ich.« Er wusste es nicht, darüber hatte er nie nachgedacht. Es war doch alles gut, so wie es war. Man stand morgens auf, tat seine Arbeit, und das war es.
Angela hatte Arbeit in der Konservenfabrik von Klinteby gefunden, und abends, wenn Ruben mit dem Fahrrad kam, um sie zu besuchen, wollte sie immer nur schlafen. Aber an den Wochenenden, wenn sie freihatte, kam es vor, dass sie nach Björkhaga oder Tofta zum Baden fuhren. Sie lud ihn nicht mehr zu Küssen oder Zärtlichkeiten ein. Es schien, als sei nach den verspielten Momenten am Ballastkai das Verzauberte verloren gegangen, und er wusste nicht, was er tun konnte, um es zurückzubekommen. »Wir hätten tot sein können, Erik und ich«, sagte sie immer und immer wieder. »Stell dir vor, wenn es so wäre ... wenn wir wirklich tot wären ... und dieses Leben hier wäre gar nicht das richtige, sondern wir täten nur weiterhin so als ob, weil der Tod so schlimm wäre. Nicht mehr da zu sein, das macht mir Angst. Verstehst du das, Ruben? Verstehst du, was ich sage? Aber vielleicht kann man mehrere Leben parallel leben. Dieser Gedanke gefällt mir, denn dann muss man nicht wählen und kann auch keine Fehler machen. Mehrere Leben parallel, so wie der Baum sich verästelt, verstehst du?«
»Nein, aber ich höre es mir trotzdem gern an«, hatte er in dem Versuch geantwortet, die Wahrheit zu sagen und es ihr dennoch recht zu machen.
Sie gingen mehr wie Freunde oder Geschwister miteinander um denn als Liebespaar. Deshalb erstaunte es ihn, als sie ihn eines Abends bat, mit ihr auf ihr Zimmer zu kommen. Da war etwas in ihrem Blick. An dem Abend war nichts wie sonst.
»Niemand ist zu Hause«, hatte sie gesagt, »die kommen nicht vor morgen Mittag zurück.« Mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit hatte sie begonnen, sich vor ihm auszuziehen. Er hatte wie versteinert dagestanden und sie angeschaut. Als sie den Pullover über den Kopf zog und er sah, dass sie keinen BH trug, wusste er nicht, wohin er schauen sollte. Dann stieg sie aus dem Rock und aus der Unterhose und sah ihn ernst an. Sie war niemals schöner gewesen und hatte auch niemals trauriger ausgesehen als in diesem Moment. Er hatte kaum zu atmen gewagt, geschweige denn, sich zu rühren. Dann hatte sie ihn an der Hand genommen. »Komm.« Wie im Traum war er ihr zum Bett gefolgt. Er hatte Probleme mit den Knöpfen an seinem Hemd gehabt, und sie hatte ihm geholfen. Als das Versteinerte gewichen war, hatten sie wie besinnungslos miteinander geschlafen. Alle Verspieltheit war weg gewesen. Da war ein Hunger, eine Besessenheit in ihr, wie wenn man liebt, um den Tod in seine Schranken zu weisen.
»Wie sehr liebst du mich?«
Er hatte sie geküsst und gestreichelt, damit sie begreifen möge, dass er sie mehr liebte als das Leben selbst, mehr als irgendetwas oder irgendjemanden anders. Reden war nie seine Sache gewesen, seine Sprache steckte in seinen Händen. Er hatte gehofft, dass das genügen würde. Das Weinen kam so unerwartet. Sie weinte, und er tröstete wortlos. Habe ich dir etwas getan? Er vermochte die Frage nicht zu stellen und erhielt keine Antwort – jedenfalls noch nicht da.
Gegen Morgen war er anscheinend eingeschlafen, und als er erwachte, stellte er fest, dass sie nicht mehr neben ihm im Bett lag. Ihr Duft war noch in den Laken. Draußen war es hell, aber es war erst viertel nach sechs. Die Tür zur Toilette war verschlossen, und er hörte, dass sie da drinnen würgte und sich übergab.
»Geht es dir nicht gut, Angela?« Er hörte sie gellend und hohl lachen, und dann kam das Schluchzen. »Was ist denn? Kann ich irgendetwas tun? Angela, mach doch auf!«
»Geh nach Hause, ich will meine Ruhe!« Und wieder begriff er gar nichts, bis später am Abend seine Mutter Siv ihn beiseite nahm, um ihm zu sagen, was gesagt werden musste. Sie hatte sich das Haar aus dem Gesicht gestrichen, ihre Schürze geglättet und sich ganz gerade aufgerichtet, wie sie es immer zu tun pflegte, wenn sie sich für etwas Schwieriges sammeln musste. Ihre Miene war so ernst, dass er es mit der Angst bekam, und die Stimme war spröde und trocken wie Reisig vom Vorjahr.
»Ich habe mit Angelas Mutter gesprochen.«
»Und?« Irgendetwas in ihrem Blick ließ ihn seine Augen senken.
»Wie du sicher weißt, ist Angela schwanger.«
»Was?« Ihn schwindelte. Das war doch nicht möglich, sie hatten doch nur ...
»Angela reist mit der Abendfähre aufs Festland. Zu Erik. Erik ist der Vater des Kindes. Es ist bei einem Unfall am Mittsommerabend zustande gekommen. Aber Erik muss trotzdem für das einstehen, was er getan hat, und sich darum kümmern.«
»Verdammt noch mal!« Ruben war so heftig vom Stuhl aufgesprungen, dass der umfiel. »Dieser verdammte Kerl!« Seine Gehirnerschütterung war also nicht so schlimm gewesen, dass er sich nicht an Angela hatte ranmachen können. »Ich bringe ihn um. Ich schlage ihn zu Brei..
»Jetzt komm wieder zu dir, Ruben. Angela war schließlich auch mit dabei, und sie hat sich entschieden, zu ihm aufs Festland zu fahren. Ich habe schon geahnt, dass du dir andere Hoffnungen gemacht hast, aber es kommt im Leben nicht immer so, wie man möchte. Du wirst bald ein anderes nettes Mädchen finden ...«
Mehr hörte er nicht, ehe er gezwungen war, aus dem Zimmer zu rennen, damit sein Kopf nicht platzte. Er musste allein sein. Musste weg von ihrem mitleidigen Blick, der den Schmerz noch schlimmer machte. Er war durch den Ort gerannt, an der Kirche vorbei, und hatte nicht angehalten, bis er auf einem Pfad im Buttlewald war. Dort sackte er auf dem Moos zusammen und zog die Beine an den Körper, um den Krampf im Bauch zu lindern. Er versuchte, klar zu denken. Angela würde mit der Abendfähre fahren. Noch konnte er es verhindern. Noch konnte er sie vielleicht dazu überreden hierzubleiben. Wollte er denn, dass sie blieb, nach dem, was sie getan hatte? Ja, wenn sie es bereute und nicht zu Erik aufs Festland fuhr, dann würde er ihr verzeihen und sie und das Kind annehmen. Aber nur, wenn sie sich dafür entschied, dazubleiben und Erik nie wieder zu treffen. Er musste es schaffen, mit ihr zu reden, ehe das Schiff ablegte. Das musste er. Doch der Buttlewald ist nicht wie andere Wälder. Wen er in seinem grünen Schoß gefangen hat, den lässt er so schnell nicht wieder heraus. Er wusste nicht mehr, wie lange er herumgeirrt war und versucht hatte, den Weg zu finden. Als er ein paar Stunden später auf die Straße bei Alskog kam, fiel schon die Dämmerung, und alle Hoffnung war verloren. Übrig waren nur noch der Zorn und dann die Verbitterung.
Es hatte niemals eine andere als Angela gegeben. Und es kam auch niemals ein anderes nettes Mädchen vorbei, wie die Mutter es in ihrem hilflosen Versuch, ihn zu trösten, prophezeit hatte. In den fünfzig Jahren, die vergangen waren, hatte er ein einziges kurzes Gespräch mit seinem Bruder geführt. »Wenn du nach Hause kommst, schlage ich dich zu Brei, Erik. Nur dass du es weißt.«
Gerüchten zufolge hatte Erik eine eigene Anwaltskanzlei eröffnet, und es hieß, es gehe ihm gut. Siv reiste ein paar Mal im Jahr aufs Festland und besuchte die beiden und ihre kleine Enkelin Mikaela. Die Gerüchte sagten auch, Angela sei wegen ihrer Nerven in einer Klinik, sie habe Elektroschocks bekommen und würde sich weigern zu reden. Sonja Cederroth behauptete das. Aber man konnte nicht wissen, ob das nun die Wahrheit war oder nicht. Ruben hatte ihr sehr deutlich gezeigt, dass er kein weiteres Wort über Angela hören wollte, und dann war sie klug genug gewesen zu schweigen. Es wurde schon genug geredet. Ruben hatte sich zurückgezogen, als ob er die Scham auf sich nehmen müsse, wenn niemand anders da war, der das tat. Wenn er ein richtiger Mann gewesen wäre, dann hätte sich Angela ja wohl nicht nach einem andern umschauen müssen, oder?
»Natürlich habe ich Erik vermisst, Mama. Natürlich habe ich das. Schließlich habe ich sie alle beide verloren. Aber wenn ich sie auf die Insel eingeladen hätte, als ob nichts geschehen wäre, dann hätte ich den Verstand verloren. Wäre das nun besser gewesen?«
Als Ruben aus dem Auto steigen wollte, das er auf dem Hof unter der Eiche geparkt hatte, hatte er plötzlich das Gefühl, als hätte ihn alle Kraft verlassen. Er blieb eine Weile mit offener Autotür sitzen und musste dann mit dem Gesicht auf dem Lenkrad eingenickt sein, denn er erwachte von einem lauten Hupen. Als er verschlafen aufschaute, sah er Berit Hoas auf der anderen Seite des Zaunes winken. Offenbar hatte sie gemeint, das Hupen habe ihr gegolten. Sollte sie doch.
Ruben schauderte, als er zum Schuppen ging, um die Tauben zur Nacht zu versorgen. Es war noch etwas früh, aber er musste sehen, dass er ins Bett kam. Die Treppe zum Taubenschlag nahm ihm den Atem. Einen Schritt nach dem anderen, während er sich am Geländer festhielt. Auf der obersten Stufe musste er lange stehen bleiben und nach Atem ringen. Es schmerzte in der Brust. Die Schaufel für das Futter war weg. Sie hätte eigentlich in dem Sack liegen müssen, aber das tat sie nicht. Ruben formte die Hände zu einer Schale, füllte sie mit Weizenkörnern und ging dann zum ersten Verschlag, den er für den Weißrussen eingerichtet hatte. Da lag die Schaufel. Er hatte die tote Taube unter dem Fenster entdeckt, dann die Schaufel fallen lassen und den Vogel hinuntergetragen. So war es.
Mit vollen Händen näherte er sich Sir Toby und sah sogleich, dass der Tauber nicht gesund war. Die Augen waren matt, das Federkleid ungepflegt und zerrupft. Genau so war es mit Panik. Er sah auch nicht gut aus, und zudem hatte er Durchfall. Ruben zog sein zerknittertes Taschentuch aus der Tasche und putzte sich die Nase. Das hier war nicht gut. Der größte Jungtaubenwettkampf des Jahres, und in seiner Mannschaft grassierte eine Krankheit. Dabei waren sie doch geimpft, aber er konnte aus dem Kopf nicht genau sagen, wogegen. Cederroth war es gewesen, der die Flasche dabei gehabt hatte. Die Spritzen und Nadeln lagen immer noch in der Kommodenschublade neben den Käfigen. Das hier war wirklich übel. Wenn er sich jetzt beim Tierarzt meldete, dann würde sich das sofort unter den anderen Männern im Club verbreiten, und man würde ihm die Teilnahme am Wettkampf verbieten. Es musste also auf andere Weise geregelt werden. Mit Diskretion.
Ruben setzte sich auf einen Hocker am Fenster, lehnte die Stirn an die Wand und dachte nach. Draußen im Garten ging Berit Hoas herum und sammelte ihre Wäsche ein. Unter den Küchenhandtüchern hatte sie ihre Unaussprechlichen in Lachsrosa aufgehängt, damit niemand sah, dass sie die gewaschen hatte. Was für eine scheußliche Farbe, Lachsrosa. Ruben kicherte ein wenig. Berit war auch nicht verheiratet. Kein Wunder bei derart rekordverdächtiger Unterwäsche. Da war kein Platz für Leichtsinn und schamloses Flirten. Von seinem Aussichtsplatz im Taubenschlag hatte er schon Hemden und Korsetts im Wind wehen sehen, und die waren mindestens ebenso furchterregend wie die lachsrosa Hosen mit Bein. Aber natürlich hatte Berit auch ihre guten Seiten. Sie rannte nicht herum und tratschte, und sie war hilfsbereit. Wenn er Berit um Rat fragen würde? Ruben holte sein Handy heraus. Er benutzte es nicht oft, und die Knöpfe waren für ihn immer noch ungewohnt. Eigentlich hatte er es vor allem deshalb, weil die anderen Kerle im Brieftaubenclub alle ein Handy hatten.
»Berit Hoas«, meldete sie sich, und Ruben brachte sein Anliegen vor.
»Ich glaube, dass sie Medizin brauchen, aber ich denke, es wäre nicht so günstig, mit dem Tierarzt zu reden. Du hast nicht zufällig irgendetwas zu Hause? Was Starkes?«
»Du meinst Penizillin? Ich glaube, ich habe noch ein klein wenig in einer Flasche von damals, als meine Schwester Angina hatte. Sie kann keine Tabletten schlucken, und deshalb hat sie flüssige Medizin bekommen, aber die schmeckte so widerwärtig, dass sie die Kur nach der Hälfte abbrach, als sie sich besser fühlte. Ich durfte den Rest behalten, für den Fall, dass ich mich angesteckt hätte, als ich dort war. Aber ich habe es nie gebraucht.«
Ruben lächelte und fühlte sich trotz des Fiebers durch die gute Nachricht gestärkt. »Wenn du diesen Rest entbehren könntest, werde ich dir ewig dankbar sein.
»Bist du sicher, dass es so gut ist, den Tauben Penizillin zu geben? Ich meine, kann man Menschen und Tieren dieselbe Medizin geben?«
Da war eine neue Schärfe in ihrer Stimme, das war die Lehrerinnenstimme, die er gar nicht mochte und die eine Antwort verlangte.
»Das ist gar kein Problem. Könntest du vielleicht mit der Medizin zu mir raufkommen? Ich bin im Taubenschlag.«
Wenn man die Medizin auf eine Spritze zog und dann die Nadel abnahm, würde man sie den Tauben direkt in den Schnabel spritzen können, genau wie Angela es gemacht hatte, als sie die Taube gefüttert hatte, die der Habicht in die Krallen gekriegt hatte. Angela, Angela, Angela. Das ging nicht mehr so weiter. Er musste mit den Dummheiten aufhören und an etwas anderes denken. Ruben rieb sich die Bartstoppeln. Bestimmt hatte er vergessen, sich zu rasieren.
»Gestern war ein Maler hier, der seine Bilder verkaufen wollte«, sagte Berit, während sie sich die Treppe raufquälte. »War der auch bei dir?«
»Nein.« Ruben hatte den ganzen Tag keinen Menschen gesehen. Am Vormittag war er am Hafen gewesen und hatte Fisch gekauft. Aber danach war er die ganze Zeit zu Hause geblieben. »Das gefällt mir gar nicht, wenn hier Leute rumschleichen. Vielleicht sollte man doch besser die Tür abschließen.«
»Er tat mir so leid«, sagte Berit. »Er konnte kein Schwedisch, hatte aber einen Zettel dabei, auf dem auf Englisch stand, dass er Geld sammeln müsse, weil sein Sohn eine neue Niere bräuchte. Kidney heißt doch Niere, oder?«
»Keine Ahnung. Ich mag das nicht, wenn die um Geld betteln. Hat er denn keine Arbeit?« Ruben murmelte einen langen Fluch vor sich hin, während er darauf wartete, dass sie die Treppe raufkommen möge.
»Er malt Bilder. Richtig schöne Bilder, mit dem Meer drauf und Schilf und Booten und ...«
»Hast du ihm ein Bild abgekauft? Dann werden wir den jetzt dauernd hier haben, da kannst du Gift drauf nehmen.«
»Er tat mir leid. Stell dir vor, du hättest einen Jungen, der krank wäre und eine neue Niere bräuchte, Ruben. Da würde man doch alles Mögliche tun, um das Geld für die Operation zusammenzukriegen.«
Am nächsten Tag wachte Ruben erst um elf Uhr auf. Eine Fliege wanderte stur über seinen Nasenrücken. Er vermochte sie nicht zu verscheuchen. Die Laken rochen säuerlich nach Schweiß und hatten sich um seine Beine gewickelt. Der Durst war es schließlich, der ihn aus dem Bett trieb. Die Zunge fühlte sich im Mund wie ein Stück Holz an, und ihm war so schwindelig, dass er sich am Bücherregal festhalten musste, das beängstigend schwankte und fast auf ihn fiel. Als er das Wasser direkt aus dem Wasserhahn getrunken hatte, sah er ein, dass er es niemals schaffen würde, die Treppe zum Taubenschlag hinaufzusteigen und den Tieren Futter zu geben. Tatsache war, dass er es nicht einmal ins Bett zurück schaffte. Das letzte Stück kroch er auf allen vieren, während sich sein Brustkorb wie ein Blasebalg hob und senkte. Und dennoch war es, als würde er nicht genug Luft bekommen. Jeder Atemzug schmerzte, und die Muskeln taten weh.
Als er sich über die Bettkante zog, tat er es wie ein Ertrinkender, der die Reling des Bootes zu greifen bekommt und sich unter Aufbietung seiner letzten Kräfte hochzieht. Ruben musste Berit bitten, nach den Tauben zu sehen. Vielleicht würde er, wenn ein Wunder geschah und er gesund wurde, morgen an der Auflassung der Brieftauben teilnehmen können. Ruben beschloss, Cederroth nicht anzurufen, ehe er wirklich gezwungen wäre abzusagen. Er würde Berit anrufen, das würde er jetzt gleich tun. Er legte den Kopf aufs Kissen und glitt weg. Berit, er würde Berit anrufen. Bald. Erst ein wenig ausruhen und wieder zu sich kommen. Ein wenig die Augen schließen, erst ein klein wenig ...
Als er erwachte, war es drei Uhr nachmittags. Ruben setzt sich mit einem Ruck auf und fiel dann wieder ins Kissen zurück. Der Kopf drohte ihm zu zerspringen, als er hustete, und es rasselte in seiner Brust. Berit. Er musste jetzt sofort anrufen. Jemand musste nach den Tauben sehen. Sein Arm kam ihm bleischwer vor, als er ihn hob, um an das Handy zu kommen. Es war eine große Erleichterung, dass sie gleich beim ersten Klingeln ranging. Natürlich würde sie den Tieren Wasser und Futter geben. Nicht sofort, aber etwas später am Abend. Wenn er nur sagte, was die Tiere brauchten. Nachbarn sollten sich helfen. Zum Glück hatte er den Schuppen nicht abgeschlossen und musste jetzt nicht aufstehen, um ihr den Schlüssel zu geben. Jetzt war alles geregelt, jetzt konnte er noch ein wenig schlafen. Loslassen und sich mit der Welle hinaustragen lassen.