DAS GEHEIMNIS IM EIS - Nick Thacker - E-Book

DAS GEHEIMNIS IM EIS E-Book

Nick Thacker

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Beschreibung

In der Abgeschiedenheit der Antarktis arbeiten eiskalte Geschäftsleute an einem ebenso eiskalten Geheimnis. Unter einer dichten Eisdecke entwickelt Draconis Industries eine neuartige und mächtige Technologie. Harvey Bennet und sein Team werden ausgesandt, sie aufzuhalten, doch das, was sie im Inneren der Anlage finden, ist noch weitaus teuflischer, als sie es sich hätten vorstellen können. Und zu allem Überfluss ist ihnen auch noch eine ganze Armee chinesischer Soldaten auf den Fersen, welche diese Technik an sich reißen wollen … Dieser Roman ist ein temporeicher SciFi-Thriller, der actionreich die Themen künstlicher Intelligenz und konzernweiter Verschwörungen verbindet. Für Fans von James Rollins, Dan Brown und Clive Cussler ein absolutes Muss!

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Das Geheimnis im Eis

Harvey Bennett 3

Nick Thacker

This Translation is published by arrangement with Nick Thacker. Title: THE ICE CHASM. All rights reserved. First Published by Turtleshell Press, 2016

Impressum

Deutsche Erstausgabe Originaltitel: THE ICE CHASM Copyright Gesamtausgabe © 2023 LUZIFER Verlag Cyprus Ltd. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert Übersetzung: Madeleine Seither

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2023) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-734-1

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

Inhaltsverzeichnis

Das Geheimnis im Eis
Impressum
Prolog
Prolog 1
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Eine kurze Anmerkung
Über den Autor

Prolog

Allein war er früher schon gewesen, aber noch nie in seinem Leben war er der extremen Isolation des enormen, gefrorenen Nichts ausgesetzt gewesen, das sich in allen Richtungen um ihn erstreckte. Die Eiseskälte durchfuhr ihn wie Kugeln, Miniaturdolche, die als eine Million Nadelstiche aus gefrorener Luft auf seiner Haut explodierten.

Roald Montgomery nestelte am Reißverschluss seines Canada Goose Expedition Parkas, um ihn die übrigen fünf Zentimeter bis zur Unterkante seines Kinns hinaufzuzwingen. Selbst mit den Finger-Skihandschuhen, die eine größere Beweglichkeit erlaubten, war es nahezu unmöglich, den kleinen Schieber zu fassen zu bekommen.

Er hielt inne. Seine Stiefel traten die weiche Schneeschicht zu einem komprimierten Block unter seinen Füßen fest. Wohlweislich langsam atmete Roald die eisige Luft durch die schützenden Schichten von Skimaske und Halswärmer, welche er über seinem Gesicht trug, ein.

Er überprüfte den Thermometer auf seiner Armbanduhr.

Minus achtunddreißig Grad.

Sein Körper benötigte keine Erinnerung daran, wie kalt es draußen war, aber die Zahl zu sehen, schien ihm einen zusätzlichen Energieschub zu verleihen, und Roald zog den Reißverschluss endlich bis ganz nach oben zu. Zufrieden bewegte er sich weiter.

Stapfen war ein besseres Wort. Er war nur etwa hundertachtzig Meter weit gegangen und schon fing er an, die Strapaze der Anstrengung zu spüren. Ein Teil des Problems war der Wind. Der mörderische Wind, wie die anderen in der Station immer sagten. Er hätte nie gedacht, dass es so kompliziert sein könnte, in einer geraden Linie zu gehen, aber andererseits war er noch nie in der Antarktis gewesen.

Bis jetzt.

Erst vor einem Monat hatte sich Roald seinem älteren Bruder, Scott, in der Forschungsstation angeschlossen und eine sechsmonatige Anstellung angenommen, um die er mit allen Mitteln gekämpft hatte. Einen Job am unteren Ende des Planeten zu bekommen war schwer, und noch unwahrscheinlicher war es, dass zwei Geschwister zur selben Zeit dort stationiert waren. Es bedeutete nichts, außer, dass sich Roald aufgrund dessen noch genauer beobachtet fühlte – er durfte es nicht vermasseln. Man würde von ihm erwarten, dass er seinen Job außergewöhnlich gut machte.

Und das hatte er auch vor. Er hatte den Motor des Mars-1-Humvees angelassen, ganz nach Protokoll, es aber in der Mitte des 100-Meter-Radius seiner kreisförmigen Route geparkt. Sein Auftrag war simpel: Herumlaufen und alles aufzeichnen, was er sah.

Das war zugegebenermaßen eine der banaleren Aufgaben, die die Wissenschaftler auf ihrer täglichen To-do-Liste abzustreichen hatten, aber er hatte heute den Kürzeren gezogen. Suche einen Ort aus, fahr das Humvee hin, parke und geh in einem vordefinierten Radius um das Fahrzeug herum. Dann beobachte die Umgebung – Wetter, Schneewehen, alles, was Aufmerksamkeit erregt – und zeichne die Daten verbal auf einem Rekorder in der Jackentasche auf.

Er hatte bereits Messungen des Luftdrucks, der Temperatur, der Windgeschwindigkeit und des Schneefalls seit dem gestrigen Tag gemacht, und nichts davon würde sich bis zu dem Zeitpunkt, an dem er seinen Kreis zu Ende beschrieben hätte und zu dem riesigen Fahrzeug zurückkehren würde, ändern. Er freute sich schon auf die Wärme der Humvee-Kabine und seiner Koje darin. Morgen würde er zurückkommen, direkt in der Früh, weil er den gleichen Rundgang um das Fahrzeug genau zwölf Stunden später noch einmal durchführen musste.

Roald legte einen Zahn zu. Die Sache in die Länge zu ziehen brachte keine Vorteile, und je früher er zum Mars-1 zurückkehrte, desto früher konnte er sich bis auf die untersten Kleidungsschichten ausziehen und sich in das Strategiespiel am Computer stürzen, nach dem er neuerdings so verrückt war.

Er konzentrierte sich auf das Knirschen des Schnees. Es war ein schöner Tag – die Sonne stand am Himmel, keine Wolken waren zu sehen, und der Wind blies relativ gleichmäßig. Kein schwacher Wind, aber gleichmäßig. Er bemerkte, dass er im Tempo des Spielsoundtracks ging, während er unentwegt dem Knirsch, Knirsch jedes aufsetzenden Stiefels lauschte.

Klonk.

Diesmal war das Geräusch anders. Sein linker Stiefel hatte mit einem Knirschen aufgesetzt, aber ein tieferer Klang war damit verbunden. Ein dumpfer Klang. Roald runzelte die Stirn.

Er sah auf seine Füße, einer vor dem anderen, und hob seinen rechten Stiefel wieder an. Er trat auf, schneller diesmal, und das Klonk ertönte erneut, noch deutlicher.

»Was zum …«

Der Datenlogger würde die Sprache, die nichts mit den Witterungsbedingungen der Antarktis zu tun hatte, ausfiltern müssen, aber das war ihm egal. Wie sonst sollte er auf dieses Geräusch reagieren?

Er stampfte noch zweimal auf, nur um sicher zu sein, dann bückte er sich und begann, die oberste Schneeschicht wegzuwischen. Binnen weniger Sekunden hatte er den festgetretenen Schnee darunter erreicht und kniete sich hin, um ihn abzutragen.

Er arbeitete stumm. Sein Atem und die Kratzgeräusche waren die einzigen Laute in Hörweite. Er hatte ein fast dreißig Zentimeter tiefes Loch gegraben, als er es sah.

Etwas Dunkles.

Im Eis, direkt unter dem Schnee.

Roald stand wieder auf und fühlte in seinen Taschen nach dem Messer, das er bei sich trug. Es hatte eine kurze Klinge, aber es musste genügen. Er steckte die Spitze ins Eis und fuhr damit fort, die Schichten abzutragen. Er fiel auf die Knie, ganz in seine Aufgabe vertieft.

Das Logbuch kann warten.

Ihm bliebe ausreichend Zeit, um eine Analyse dessen, was er hier tat, aufzunehmen und zu besprechen, aber jetzt musste er sich darauf konzentrieren, das Objekt, das unter dem Eis lag, zu befreien.

Fünfzehn Minuten vergingen, dann dreißig, und Roald fand sich schließlich auf eine große, rechteckige Metallplatte hinabstarrend wieder. Ihren Rand hatte er noch immer nicht erreicht, also arbeitete er noch eine Stunde weiter, bis die Sonne tiefer am Horizont zu sinken begann.

Ihm blieb nur noch eine Stunde, und es wirkte nicht so, als machte er Fortschritte. Er grub, stemmte und brach Eisbrocken heraus und hob Berge von Schnee von der Platte, und noch immer fühlte es sich an, als wäre das Metallstück ein nicht enden wollender Teil des Bodens selbst.

Er plagte sich im schwindenden Licht ab und sah dabei alle paar Minuten nach, um sicherzugehen, dass sich sein Humvee nicht unerklärlicherweise allein aus dem Staub gemacht hatte. Es war eine nervöse Reaktion auf die Isolation und die Kälte, das war ihm klar, aber er konnte nicht anders. Die Antarktis brachte oft die versteckten Angewohnheiten und Marotten ihrer Bewohner zum Vorschein, zum Besseren und zum Schlechteren.

Endlich erreichte er den Rand des Metallrechtecks. Sein Messer hob eine große Eisplatte an und enthüllte eine gerade, menschengemachte Kante. Einen Augenblick lang hielt er inne, um sich an seiner Arbeit zu erfreuen. Seine Finger schwitzten in den Skihandschuhen, doch trotzdem konnte er die extreme Kälte jenseits des Stoffs spüren, als er die metallene Oberfläche sauber wischte. Er änderte die Richtung, entschied sich, der Kante des Metallrechtecks von sich aus nach oben zu folgen.

Weitere Minuten vergingen, dann erreichte er eine Ecke. Nach wieder einigen Minuten noch eine Ecke.

Er stand auf und sah auf seine Arbeit hinunter.

Das ist eine …

Er wollte es nicht denken, weil es absolut keinen Sinn ergab, aber er konnte nicht anders.

Das ist eine Tür.

Prolog 1

Dort, vor Roald Montgomery, am Rand des antarktischen Kontinents am unteren Ende des Planeten, lag eine Metalltür.

Er entdeckte einen riesigen Scharniermechanismus, der an der Seite der Tür befestigt war, wo er aus einem Bereich aus Eis und Schnee hervorlugte, den er noch nicht freigelegt hatte. Aber dieses Scharnier – und die beiden anderen, baugleichen – aus dem gefrorenen Boden zu befreien war leicht.

Die Tür war jetzt vollständig freigelegt, eine komplette ein mal zwei Meter große Metallplatte. Eine kleine Tür im Vergleich mit einem ›typischen‹ Türrahmen, aber dennoch eine Tür. Abgesehen von den Scharnieren an einer Seite befand sich nichts auf der Metalloberfläche. Keine Beschriftungen, Bezeichnungen oder sonst etwas, das erkennen ließe, warum sich hier eine Tür befand.

Er stand weitere zwei Minuten lang am Fuß der Tür, ehe ihm ein merkwürdiger Gedanke kam:

Türen führen irgendwo hin. Das ist eine Tür.

Kurz fragte er sich, warum er nicht schon früher daran gedacht hatte, aber das war zweifelsfrei eine Tür und das bedeutete, dass sich etwas auf ihrer anderen Seite befand.

Er kniete sich wieder hin und machte sich daran, die Seiten der Tür aufzustemmen. Bestenfalls, das war ihm klar, wäre sie zugefroren. Ich hab so viel Zeit investiert, warum sollte ich nicht nachsehen, ob sie aufgeht?

Wieder warf er einen raschen Blick hinter sich auf das Mars-1-Humvee. Das Fahrzeug stand brav im Leerlauf, die weiße Dampfspur stieg im Dämmerlicht nach oben. Er drehte sich wieder zur Tür um und bewegte seine Finger weiter um die Seiten der schweren Platte herum.

Er hörte ein Klick. Es war lauter als die Geräusche, die er gemacht hatte, und am verstörendsten war, dass er wusste, dass es nicht von ihm gekommen war. Roald hörte einige Sekunden lang auf, zu arbeiten, und wartete.

Das Klicken wurde von einem leisen, zischenden Geräusch abgelöst und er spürte, wie sich die Tür bewegte.

Er wusste, dass sie sich bewegte, aber er zweifelte sofort daran, als ihm der Gedanke in den Sinn kam. Die Tür hat sich nicht bewegt. Du musst dich bewegt haben. Vielleicht bist du …

Sein innerer Monolog wurde von einem eindeutigen Gefühl der Erschütterung unter seinen Knien und Händen unterbrochen. Das Zischen wurde lauter und endete dann mit einem lauten Plopp. Er hielt den Atem an.

Entgegen jeder Vernunft und logischen Erklärung, die er aufbrachte, öffnete sich die Tür.

Sie schwang nach außen und er musste die Hände wegnehmen und sich zurücklehnen, damit die Metallplatte an ihm vorbei konnte. Die Tür war automatisch. Ein riesiges Getriebe darunter, das er jetzt sehen konnte, erzeugte die nötige Hebelkraft, um das riesige Objekt zu bewegen. Es erreichte einen Neunzig-Grad-Winkel zum Boden und blieb stehen.

Unsicher, welche Reaktion er haben sollte, blinzelte Roald.

Er blickte in einen dunklen, rechteckigen Schacht hinab. Für sich genommen hätte ihn diese Tatsache sich zum Humvee zurückziehen und seinen Fund pflichtbewusst für die Auswertung in der Station aufzeichnen lassen.

Doch momentan lag der Schacht nicht im Mittelpunkt von Roalds Aufmerksamkeit.

Stattdessen war sein Blick auf den Lauf einer Waffe geheftet, die direkt auf ihn gerichtet war und von einem Mann gehalten wurde, der Parka und Hosen in weiß trug. Sein Gesicht war vollständig von einer schneeweißen Skimaske und Skibrille vermummt.

»Nicht reden«, sagte der Mann. Sein Ton war direkt und er sprach auf eine Weise, die Aufmerksamkeit verlangte. »Wenn Sie reden, schieße ich.«

Roald schluckte, dann nickte er.

»Kommen Sie jetzt mit.«

Kapitel 1

»Monsieur Valére«, sagte die Stimme mit ihrem computersimulierten Stimmprozessor. »Der Test der Datengruppe hat 95% Genauigkeit erreicht.«

Francis Valére sah von seinem Laptop auf und starrte direkt geradeaus auf den leeren Fernsehbildschirm an der Wand gegenüber seines Schreibtischs. Es gab nichts zu sehen, denn SARAs Stimme erklang aus hunderten nadelstichkleinen, in den umliegenden Wänden installierten Lautsprechern. Das Simulated Artifical Response Array war das beste seiner Art – das einzige seiner Art – und es verfügte über die zu seiner futuristischen Soft- und Firmware passenden Hardwareverbesserungen.

»Sehr gut, SARA.« Er nickte ein Mal, verzog das Gesicht und griff nach einem Tablettenfläschchen mit dem Logo von Frontier Pharmaceuticals auf der Schreibtischecke. Es war praktisch, dass er in einem Büro arbeitete, das von der Präsenz eines riesigen Pharmaunternehmens dominiert wurde, aber noch praktischer war es, dass die Firma, für die er arbeitete, dieses Pharmaunternehmen besaß. Frontier Pharmaceuticals belegte zwölf der Stockwerke im Bürogebäude, aber Francis hatte die oberste Etage für sich selbst reserviert. Vor Jahren, als er die Firma gekauft hatte und eingezogen war, hatte ihn der Generalunternehmer, den seine Firma eingestellt hatte, gefragt, ob er die Beschriftung »13« für sein Stockwerk behalten oder sie überspringen und stattdessen die »14« nutzen wolle.

Der Mann hatte behauptet, dass viele Bauprojekte von Hotelketten und Konzernbüros es vorzogen, die »Unglückszahl« völlig zu überspringen, eine Praktik, die mittlerweile als Standard in der Baubranche galt. Der Aberglaube über die Zahl war anscheinend weit in der amerikanischen Bevölkerung verbreitet, und obgleich das Gebäude auf kanadischem Boden stehen würde, war es eine Frage, die zu stellen, eine Gewohnheit des Generalunternehmers war.

Francis erinnerte sich daran, die Frage ignoriert zu haben. Er war er zu beschäftigt für Aberglaube. Nach diesem Moment war er jeden Tag an denselben Schreibtisch gekommen, auf derselben »Unglücksetage«, in demselben Gebäude. Und jeden Tag war er wieder gegangen, absolut sicher und unversehrt.

So viel zum Aberglauben.

Francis glaubte an die Wissenschaft, nicht an Religion oder dämlichen Aberglauben. Er verachtete jeden, der nicht das nötige Denkvermögen besaß, um anzuerkennen, dass die Wissenschaft die einzig wahre Religion war, die der Mensch brauchte. Man schrieb das 21. Jahrhundert, und die Menschen beteten immer noch einen Geist an, der in den Wolken lebte.

Er zwang seine Gedanken in die Gegenwart zurück und hoffte, SARA hätte sein Nicken mittlerweile korrekt interpretiert.

Das hatte sie.

Als er genickt hatte, hatte er dem Computerprogramm, das die gesamte Etage inklusive seines eigenen Büros kontrollierte, mitgeteilt, dass er nicht nur die von ihm gelieferten Ergebnisse bestätigte, sondern auch beabsichtigte, dass es die letzte Testphase einleitete.

Auf dem Fernseher vor ihm materialisierte sich ein Gesicht.

»Monsieur«, sagte der Mann. »Ich hoffe, Sie sind wohlauf. Ich vermute, Ihr Anruf zeigt an, dass Sie wünschen, zur Endphase vorzurücken?«

Francis war ein Mann weniger Worte, und dieser Aspekt seines Charakters erstreckte sich auch auf seine Geschäftsbeziehungen. Selten verschickte er E-Mails oder begann Telefonate, außer, wenn es absolut nötig war.

Heute war es natürlich absolut nötig. Dieses Projekt hatte viel zu lange an Geld, Zeit und anderen Ressourcen der Firma gezehrt. Die Rückschläge im Yellowstone-Nationalpark und im Amazonas-Regenwald vier Monate zuvor waren überwunden worden, aber noch zutiefst in der Organisation zu spüren. Francis’ eigene Finanzierung war bereits mehr als einmal gefährdet worden, eine Tatsache, die seine chronische Nervosität außer Kontrolle geraten ließ, wenn er daran dachte, wenngleich sein Griff über die Firma in letzter Zeit nahezu absolut geworden war.

»Ja«, sagte Francis Valére. »SARA informierte mich gerade darüber, dass wir 95% Genauigkeit erreicht haben. Die Endphase soll sofort beginnen, aber wie es im Protokoll steht, müssen Sie die Menschenversuche so bald wie möglich starten.«

Der Mann auf dem Bildschirm stockte. Emilio Vasquez, ein Selfmade-Millionär, der derzeit in Puerto Rico wohnte, starrte Valére an. Francis wusste, dass der Mann ihn nicht falsch verstanden hatte. Sein Akzent war frankokanadisch, allerdings hatte er seine englische Aussprache so weit perfektioniert, dass viele Menschen nicht merkten, dass es eine Zweitsprache für ihn war.

Nein, Vasquez zögerte.

»Mr. Vasquez, verstehen Sie, welche Erwartungen die Firma für die Endphase an sie stellt?«

»Ja, natürlich. Es tut mir leid, ich …«

»Wir stehen mit diesem Projekt an einem kritischen Punkt. Genauer gesagt nähern wir uns dem Ende dieses Projekts und dem Beginn einer neuen Ära für das menschliche Leben auf der Erde.«

»Natürlich, Francis. Bitte vergeben Sie mir mein …«

»Ich muss Sie nicht daran erinnern, dass ich der Direktor bin, und dass mir die Verantwortung übertragen wurde, das Projekt zu seinem Abschluss zu bringen. Daher muss ich sicherstellen, dass Sie sich auf jedem Schritt dieses Weges ebenfalls diesem Ziel verschrieben haben.«

Emilio Vasquez nickte auf dem Bildschirm. Hinter ihm konnte Francis sich sanft wiegende Palmen sehen, die das Anwesen des Mannes seitlich streiften, ein ausladendes Herrenhaus, das in einer Hügellandschaft errichtet war, die sich von der Küste her erhob. Francis Valére war nie dort gewesen, aber SARA hatte eindrucksvolle Dossiers über jeden zusammengestellt, der in die Firma investiert oder mit ihr Geschäfte gemacht hatte, einschließlich Emilio Vasquez. Vasquez war ein ehrlicher Geschäftsmann, der in jungen Jahren einige glückliche Investitionen getätigt hatte. Schließlich hatte er sein Arbeitsfeld darauf ausgedehnt, sich mit den Firmen in der »Grauzone« zu beschäftigen, die ihn schon lange fasziniert hatten.

Nachdem er das erforderliche Investment von fünf Millionen Dollar in die Kontrolle von Francis Valére und der Firma transferiert hatte, hatte Valére Vasquez als persönlichen Berater für dieses Projekt angefragt. Er hatte seinen Nutzen als ein Mann, der die inneren Abläufe der Technologiebranche kannte, bewiesen; diese wichtige Position war in Valéres Projekthierarchie unbesetzt gewesen.

Beide Männer starrten einander für weitere dreißig Sekunden an. Valére wusste, dass SARA damit beschäftigt war, dem Mann in Puerto Rico terrabyteweise verschlüsselte Videodateien zu schicken, die sie aus dem Hauptquartier des Projekts erhalten hatte, und dass diese Dateien auf dem Bildschirm des Mannes abgespielt wurden, jede einzelne davon auf den wichtigsten Abschnitt zugeschnitten, um einen raschen Überblick über die Ergebnisse zu liefern. Valére beobachtete Vasquez’ Augen, während diese auf seinem Fernsehbildschirm von links nach rechts wanderten und den Inhalt konsumierten.

»Nun denn«, sagte Vasquez und sah endlich wieder zu Valére. »Wenn diese Vorschau eine Momentaufnahme laufender Versuche ist, muss ich zugeben, dass die Ergebnisse besser sind als erwartet.«

Endlich öffnete Valére das Fläschchen mit den Tabletten und holte zwei mit dem Zeigefinger heraus. Er steckte sie in den Mund und wartete ungeduldig darauf, dass das zittrige Gefühl in seinen Gliedern nachließ. »Diese Ergebnisse sind genau das, was ich erwartet hatte.«

»Richtig. Nun, ich habe zu arbeiten. Brauchen Sie sonst noch etwas von mir?«

Francis Valére starrte weiter unverändert auf den Fernsehbildschirm. »Ja, Mr. Vasquez. Eine Sache noch.«

Vasquez zog eine Augenbraue in die Höhe.

»Sie müssen ein zweites Sicherheitsteam anheuern und es in die Antarktis schicken.«

Vasquez runzelte die Stirn und sein Blick huschte kurz nach links. »Eine beträchtliche Sicherheitstruppe ist dort bereits stationiert …«

»Ich bin mir der Qualität der Sicherheitskräfte, die wir derzeit vor Ort einsetzen, sehr bewusst. Aber diese letzte Phase ist die wichtigste von allen. Ohne diese Ergebnisse haben wir gar nichts. Und nach den Ereignissen der letzten Monate liegt es in unserem besten Interesse, den Erfolg dieser Ergebnisse sicherzustellen.«

Vasquez nickte wieder, als ob er verstünde.

Es gibt so vieles, das Sie nicht verstehen, Vasquez. Vieles, das sie nicht verstehen können.

SARA, stets im Raum präsent, beendete das Telefonat und meldete sich bei ihrem Chef. »Ich bereite jetzt eine Abschrift vor«, sagte sie. »Möchten Sie, dass ich die Antarktis über das zusätzliche Sicherheitsteam informiere?«

Francis lehnte sich in seinem Stuhl zurück, die Augen geschlossen, während er darauf wartete, dass die Wirkung der Tabletten einsetzte. Er schüttelte den Kopf. »Nein, wir müssen die Kommunikation auf einem Minimum halten, und es gibt keinen Grund, sie zu alarmieren. Das neue Sicherheitsteam wird mit eigener Ausrüstung und Vorräten reisen, und die Anlage bietet genug Raum für zusätzliche Gäste.«

SARA, die die Körpersprache und nonverbalen Kommunikationscues ihres Chefs las, bestätigte den Befehl nicht hörbar. Sie unterbrach schlicht ihren Software-Link mit dem Raum, zog sich in den lautlosen Sog im Inneren des weit entfernten Serverraums zurück, in dem sie untergebracht war, und machte sich an die Arbeit.

Kapitel 2

»Ben, das wird langsam lächerlich«, sagte Juliette Richardson. Sie drehte sich um und starrte den großen Mann neben sich an.

»Jules, hör auf, die Augen vom Ziel zu nehmen.« Harvey Bennet erwiderte ihren Blick, doch kurz bevor sie sich wieder abwandte, um in Schussrichtung zu sehen, zwinkerte er. Er beobachtete, wie sie vorsichtig den Zeigefinger auf den Abzug legte, dann blickte er hinter sich.

Der Mann, der hinter ihnen beiden stand, nickte ein Mal, ohne seine hinter einer Sonnenbrille verborgenen Augen von der Bahn des Outdoor-Schießstands zu lösen. »Denk daran, den Moment des Abdrückens nicht zu erwarten. Wenn du schussbereit bist, überrasche dich selbst.«

Julie stand kerzengerade da. Das einzige Anzeichen dafür, dass sie keine Statue war, war das leichte Auf und Ab ihrer Schultern, während sie ein- und ausatmete. Ben wartete. Er selbst machte einen kläglichen Versuch, den Schuss nicht zu erwarten. Er zuckte zusammen, als sie die Sig Sauer abfeuerte.

Alle drei kniffen die Augen zusammen und versuchten, zu erkennen, wo der Schuss gelandet war. Die Entfernung war relativ kurz, das Ziel, auf das Julie angelegt hatte, nur auf halber Strecke zwischen ihr und dem hinteren Erdwall des Schießstands.

Trotzdem war es eine schwierige Entfernung für eine schlichte Handfeuerwaffe, und Julie hatte das Ziel beinahe ins Schwarze getroffen.

»Tja«, sagte Ben. »So viel muss ich dir lassen, Reggie, du bist ein guter Lehrer.«

»Heißt das, du wirst von jetzt an ohne Fragen auf mich hören?«

Ben lächelte den großen, schwarzen Mann nur an. »Du bist also in der Lage, ein Gefühl für unsere Körperhaltung zu entwickeln, indem du einfach so hinter uns stehst?«

Reggie schob seine Sonnenbrille auf die Nasenspitze hinunter und sah Ben und Julie an, während er gleichzeitig das Gesicht verzog. »Klar, ja, deswegen steh ich da hinten rum.«

Ben sah von Julie zu Reggie, dann wieder zurück. Er drehte sich ganz zu Reggie um. »Ich mag dich, aber bring mich nicht dazu, dich umzuhauen.«

Mit einem Lachanfall warf Reggie den Kopf in den Nacken. Sein charakteristisches, riesiges Grinsen verwandelte sich in ein ähnlich riesiges Schmunzeln. Julie hatte das Ende ihres Magazins erreicht und begann, ihre Waffe auseinanderzunehmen und sie zu reinigen, genau wie Reggie es ihnen beigebracht hatte.

Ben ging zu Reggie und tat so, als würde er zum Schlag ausholen. Im letzten Moment stoppte er den Arm, öffnete die Hand und tätschelte die Seite von Reggies Gesicht leicht mit der Handfläche.

»Wenn du so zuschlagen willst, dann scheint mir, wir müssen auch noch ein bisschen Faustkampf-Training machen«, sagte Reggie. »Komm her, Mann. Lass uns reden.« Er hob die Stimme, damit Julie ihn auch hören konnte. »Komm zum Tisch rüber, wenn du fertig bist, Jules.«

Den Männern weiterhin den Rücken zugedreht, nickte Julie. Ben folgte Reggie zum Picknicktisch einige Schritte weit entfernt und setzte sich.

»Ben, hör zu.«

Ben spürte den Wandel in der Stimme des Mannes augenblicklich. Reggies Blick veränderte sich, wurde irgendwie intensiver. Er hatte seine Sonnenbrille vor sich auf den Tisch gelegt und seine Hände spielten jetzt mit einer unverschossenen Patrone, die er aus einem Ladestreifen auf dem Tischrand geholt hatte.

Julie kam gerade zu ihnen an den Tisch, als Reggie zu sprechen begann.

»Ich bin nicht nur hergekommen, um euch zu besuchen«, sagte er. »Euer Chili ist super und ich bin natürlich froh, dass wir uns treffen konnten, aber da gibt es noch etwas.«

Ben warf einen Blick zu Julie, die die Augenbrauen hochzog.

»Ihr beide habt schon durchschaut, dass etwas im Busch ist, was?«, fragte Reggie.

Ben und Julie nickten. »Es ist ja nicht so, als wäre eine Reise von Brasilien nach Alaska einfach nur eine Art ›Wochenendausflug‹«, sagte Julie. »Wir sind froh, dass du hergekommen bist, aber wir hatten so eine Ahnung, dass du uns was mitteilen würdest.«

Ben übernahm das Wort. »Hast du sie gefunden?«

Reggie schüttelte den Kopf. »Leider nein. Nach dem Amazonaszwischenfall sind sie quasi in Funkstille gegangen, was wir alle hätten vorhersehen können. Die meisten Hinweise, denen Joshua folgte, verliefen sich oder endeten in Sackgassen, und er kann seinen Vater noch immer nicht erreichen.«

Ben verspürte einen Stich des Bedauerns. Die Erinnerung an seinen eigenen Vater drängte sich in den Vordergrund, als er an seinen neuen Freund, Joshua Jefferson, und dessen Bemühungen, mit seinem Vater in Kontakt zu treten, dachte. Beide Männer hatten für eine Firma gearbeitet, deren Spur Ben sechs Monate lang gefolgt war, und seine Suche hatte ihn und Julie in den Amazonas-Regenwald geführt – wo sie beinahe in einer Katastrophe geendet hatte.

Nach einer grauenhaften Reise in einen abgelegenen Teil eines der tödlichsten geographischen Gebiete der Welt waren sie gerade so mit dem Leben davongekommen. Die Geheimnisse, die sie entdeckt, und das Wissen, das sie bei dieser Reise gesammelt hatten, waren beachtlich, aber Ben war aus einem bestimmten Grund mitgegangen, und dem war er nicht näher gekommen. Bei der gefährlichen Reise war es einzig darum gegangen, ans Licht zu bringen, welche Organisation hinter den tödlichen Angriffen im Yellowstone-Nationalpark weniger als ein Jahr zuvor gestanden hatte, und das war ein Reinfall geworden.

Er fühlte sich kein bisschen näher an der Erkenntnis, wer hinter all dem steckte, und ihm war klar, dass die Fährte mit jedem verstreichenden Tag kälter wurde.

»Du bist also den ganzen Weg hierhergekommen, um uns was zu sagen?«, fragte Ben.

Reggie seufzte, dann sah er sich um. Der Schießstand war weitgehend leer, abgesehen von einigen Angestellten und einem Paar am anderen Ende. Er sah wieder zu Ben und Julie und spielte immer noch mit der Patrone. »Erinnert ihr euch an Dr. Archibald Quinones?«, fragte er.

Überrascht runzelte Ben die Stirn. »Natürlich. Wie könnten wir den vergessen?« Archie Quinones war mit ihnen durch den Dschungel marschiert. Sein Wissen über Geschichte und Anthropologie der Gegend sowie seine draufgängerische Einstellung waren ein großer Moralbooster gewesen.

»Richtig, ja«, sagte Reggie. »Tja, erinnert ihr euch an seine Reaktion, als alles vorbei war?«

Julie übernahm das Wort. »Er wirkte … reserviert, schätze ich. Als würde er alles noch auf sich wirken lassen.«

»Das tat er bestimmt. Das taten wir alle.«

Ben überlegte kurz, dann fügte er hinzu: »Es wirkte, als dachte er über etwas nach … Warte – das Erbe!«

Reggie lächelte. »Genau. Er erwähnte ein ›Erbe‹, das er hatte. Viel mehr weiß ich nicht, aber er neigt nicht zu Übertreibungen, also kann ich mir vorstellen, dass es ziemlich groß ist. Und erwähnte, dass er Amanda Meron half, ihre Forschung zu finanzieren.«

Dr. Merons Firma hatte vor und nach dem Zwischenfall vor einigen Monaten bedeutende Schritte in der neurologischen Forschung gemacht, und als Draconis Industries die Bildfläche betreten hatte, hatte das die Forschung beinahe vollständig entgleisen lassen. Stattdessen hatte es Dr. Meron geschafft, ihre Forschung und Ergebnisse woanders hinzubringen und – dank des von Dr. Archibald Quinones zur Verfügung gestellten Geldes – neu zu beginnen.

»Es überrascht mich, dass sie wieder eingestiegen ist, nachdem …« Julie ließ den Satz auf ihrer Zungenspitze verklingen. Sie musste ihn offensichtlich nicht beenden.

»Es bedurfte guten Zuredens, um sie wieder ins Spiel zu holen«, sagte Reggie. »Und außerdem wurde die Hälfte des Geldes, das er ihr gab, für Sicherheit und Verschlüsselung ihrer cloudbasierten Datensharingsysteme ausgegeben. Was immer das bedeutet.«

Ben lachte leise, dann wartete er darauf, dass Reggie ihm wieder in die Augen sah. »Im Ernst, Reggie, was ist los? Wenn es etwas mit Archies Geld und Amandas Forschung zu tun hat …«

Reggie nickte, dann beendete er den Satz für ihn. »… dann muss es auch etwas mit Draconis Industries zu tun haben.«

Ben wartete, und ihm fiel auf, dass Julie sich etwas auf der Bank aufrichtete.

»Das tut es. Es ist die letzte Spur, die wir haben, aber sie ist gut. Ich erwähnte, dass wir sie noch nicht gefunden haben, und dass sich die meisten von Joshuas Hinweisen verlaufen haben, aber nicht alle. Letzte Woche kam etwas auf, von dem ich denke, dass ihr davon erfahren solltet.«

Kapitel 3

Auch ohne genau zu wissen, wovon Reggie sprach, versuchte Ben, seine Gedanken zu ordnen. Er hatte diese Firma ein halbes Jahr lang gejagt, aber alles, was er unternommen hatte, hatte in Fehlschlägen geendet. Jedes Mal, wenn er aufgetaucht war, um nach der Organisation zu suchen, waren Menschen gestorben. Er hätte beinahe komplett aufgegeben, aber erstaunlicherweise hatte Julie ihn aufs Ziel konzentriert gehalten.

Nach Brasilien hatte sie ihn gedrängt, eine offizielle Meldung bei der Central Intelligence Agency zu machen. Sie hatte eine Zeit lang im Regierungssektor gearbeitet, den Centers for Disease Control geholfen, ihr Biological Threat Resistance Team aufzubauen und dann mit den Auswirkungen umzugehen, nachdem die Situation in Yellowstone schlecht für die BTR-Gruppe ausgegangen war. Sie hatte einen Job in Bens Park angenommen, wo sie IT-Support machte, half aber weiterhin den CDC und anderen US-Organisationen auf Vertragsbasis.

Wie sie es gerne ausdrückte, wurde sie nicht gebeten, das öffentliche Gesicht der amerikanischen Krisenentschärfung zu sein, sondern leistete richtige Arbeit, indem sie der US-Regierung half, die nächste mögliche Bedrohung gegen die amerikanischen Bürger zu entdecken.

Auf diese Weise hatte sie ein offenes Ohr bei der CIA gefunden, die es bislang nicht geschafft hatte, etwas Nützliches über die Organisation aufzudecken, die sich selbst »Draconis Industries« nannte. Die Gruppe war in Tochtergesellschaften aufgegliedert, einschließlich Pharmakonzernen, medizinischer und technologischer Forschungsunternehmen und einer Unmenge anderer kommerzieller Firmen in verschiedenen Branchen. Ihr gemeinsamer Nenner lag nur im Namen: Die meisten der kleineren Betriebe benutzten eine Version des Wortes »Drache«, in verschiedenen Sprachen. Drache Global, Drage Medisinsk und Dragonstone waren alles Firmen, über die sie Nachforschungen angestellt hatten. Sie alle hatten sich als sauber erwiesen. Der Weg an die Spitze des Mutterkonzerns war übersät von Papierspuren, falschen Bankkonten und juristischen Schlupflöchern, die es unmöglich machten, die tatsächlichen Anführer festzunageln.

Ben hatte widerstrebend zugestimmt, und das Treffen war arrangiert worden. Er hatte einen billigen Anzug angezogen, den Julie ausgesucht hatte, sich aber geweigert, eine Krawatte zu tragen. Der Mann, mit dem er sich getroffen hatte, war leger gewesen, hatte Jeans und ein eingestecktes Langarmshirt getragen, und hatte ein paar Fragen über ihre Reise nach Brasilien gestellt. Ben hatte alles ehrlich, wenngleich knapp, beantwortet und war dann weniger als eine Stunde später wieder gegangen.

Zuhause hatte Julie ihn aufs Neue befragt, und er hatte nur mit den Schultern gezuckt, als sie wissen wollte, ob er glaubte, die CIA könne bei den Nachforschungen helfen.

Seiner Meinung nach war die Regierung in etwa so nutzlos wie ein Nierenstein. Er liebte die Ironie, für einen Nationalpark zu arbeiten, als lebte er in seinem eigenen verqueren Scherz.

Reggie starrte Ben über den Tisch hinweg an. Das Geräusch von Helikopterrotoren in der Ferne drang plötzlich an seine Ohren und half ihm, sich wieder auf den Mann zu konzentrieren, der mit ihm und Julie zusammensaß.

»Da gibt es jemanden, den ich euch vorstellen möchte.«

Der Helikopter wurde lauter, und sowohl Ben als auch Julie sahen auf, um eine Bell zu sehen, die tieffliegend auf sie zukam.

Ben hob die Stimme, um dem Lärm entgegenzuwirken. »Reggie, du bist sehr vage. Wenn du von mir erwartest, in ein Flugzeug zu steigen und Gott weiß wohin zu fliegen, um irgendwen zu treffen …«

Reggie hielt eine Hand hoch und sein Lächeln wurde noch breiter. »Gute Neuigkeiten, Ben! Es ist kein Flugzeug – zumindest nicht für diesen Abschnitt der Reise. Siehst du?«

Ben folgte Reggies Finger, während der Helikopter langsam absteigend den Schießstand umkreiste.

Julies Mund öffnete sich.

Bens Mund schloss sich, fest verkrampft. Er zwang seine Worte durch die kleine Lücke zwischen seinen Lippen hindurch. »Reggie, ich hasse Fliegen. Es spielt keine Rolle, mit welcher Form von Luftfahrzeug.«

Reggie tat so, als wäre er gekränkt. »Ben, ich habe diese Reise nach deinen exakten Vorgaben geplant.«

Ben verdrehte die Augen, während der Helikopter einen vernünftigen Landeplatz einige hundert Meter vom Hauptgebäude des Schießstands entfernt fand. Sie alle sahen zu, als der Hubschrauber auf dem Gras aufsetzte, aufgewühlter Schmutz hochflog und um ihn herum wirbelte.

»Hört zu, ihr zwei«, fuhr Reggie fort. »Es tut mir leid, dass es so kurzfristig ist, aber ich wollte unsere gemeinsame Zeit nicht ruinieren. Ich weiß, wir wollten in der Stadt zu Abend essen, aber da, wo wir hingehen, werdet ihr mit Kost und Logis sehr zufrieden sein.«

Julie kniff die Augen zusammen und Ben beobachtete ihren Ausdruck. Ihm ging es genauso. Ich kann nicht sagen, ob er sarkastisch ist.

»Ihr müsst diesen Mann kennenlernen. Er bestand darauf, dass ihr beide kommt.«

Reggie stand vom Tisch auf und Ben ertappte sich dabei, wie er ihm folgte, wieder besseren Wissens. Julie nahm Bens Hand und stand ebenfalls auf, und alle drei begannen, auf den Hubschrauber zuzugehen.

»Reggie, wohin gehen wir?«, fragte Julie. »Wieder zu dir nach Hause in Brasilien?« Reggie hatte ihnen in Brasilien das Leben gerettet, indem er sie auf seinem Land, zu dem ein Schießstand, ein Survival-Camp und sein Zuhause – genauer gesagt ein Betonbunker, den er Zuhause nannte – gehörten, versteckt hatte. Sie waren einem Angriff knapp entkommen, indem sie in den Dschungel hinter seinem Grundstück gerannt waren, aber die Explosionen und Granaten hatten seinen Gebäuden und seinem Grund und Boden übel mitgespielt.

»Nein. Ich versuche immer noch, das zu verkaufen. Ich war in den letzten Monaten gewissermaßen ein Nomade. Die Range war lustig, brachte aber nicht viel ein. Ich kann fast überall Überlebenstraining und Selbstverteidigung lehren, also dachte ich nach dem Angriff, es sei leichter, sie wie sie ist zu verkaufen, anstatt mich mit dem Versuch rumzuschlagen, die Versicherungsgesellschaft davon zu überzeugen, dass ich dort keinen Krieg geführt habe. Ich bekam einen netten Vergleich angeboten, also nahm ich ihn an und habe nicht mehr von ihnen gefordert. Tatsächlich denke ich darüber nach, wieder in die Staaten zu ziehen. Ein kalter Ort wäre eine nette Abwechslung.« Er zwinkerte Ben zu.

»Ja, du solltest eine schicke Hütte neben unserer bauen«, sagte Ben. »Aber so ungefähr zehn Meilen weit entfernt, sonst verfehlt die Sache ihren Zweck.«

Sie lachten, dann brachte Julie das Gespräch aufs aktuelle Thema zurück. »Ernsthaft, wohin gehen wir?«

Reggie grinste und zuckte mit den Schultern. »Letztendlich? Ich habe überhaupt keine Ahnung. Aber in dieser ersten Phase … um Mr. E zu treffen, gehen wir nach Colorado.«

»›Mr. E?‹«, fragte Ben. »Wer ist das, eine Art Möchtegern-Comicbuch-Superheld?«

Reggie lachte schnaubend auf. »Das wäre tatsächlich einfacher zu glauben. Aber nein, ich denke, das ist nur der erste Buchstabe seines Namens. Er hat nicht viel Sinn für Humor und ist ein noch paranoiderer Freak, als ich es bin.«

Und das will was heißen, dachte Ben.

»Und wo in Colorado will sich dieser ›Mr. E‹ uns treffen?«, fragte Julie.

Reggie blieb abrupt stehen, was Ben überraschte. Er drehte sich zu ihnen um, noch immer hundert Meter vom wartenden Helikopter entfernt.

»Ich bin froh, dass du fragst«, sagte er. »Wart ihr jemals im The Broadmoor?«

Kapitel 4

Julie kam sich vor wie ein Schulmädchen auf dem Abschlussball, das sich am Arm des Mannes, den es liebte, festhielt. Sie hatte ein riesiges Grinsen im Gesicht, und obwohl sie wusste, dass sie lächerlich aussah, weigerte sie sich, es zu zügeln.

Sie und Ben waren herausgeputzt. Ben trug Khakis und ein seidenes Oxford-Hemd und sie ein hinreißendes, kastanienbraunes Herbstkleid, das sie im Souvenirladen des Broadmoors gekauft hatte, nachdem sie am Flughafen von Colorado Springs gelandet waren. Die ganze Zeit über, während sie sich fertig gemacht hatte, hatte Ben sich beschwert, sich dann aber mitten im Satz unterbrochen, als sie aus dem riesigen Hotelbadezimmer gekommen war. Sie hatte das rückenfreie Kleid getragen, keine Schuhe, und die Ohrringe, zu denen sie ihm den Link geschickt und die er ihr zum Geburtstag gekauft hatte.

Julie hatte nicht bedacht, dass sie sich möglicherweise zweimal anziehen müssten, aber als sie es endlich auf die Brücke hinaus geschafft hatten, die die beiden Seiten des Sees auf dem Hotelgelände miteinander verband, war sie regelrecht ausgelassen.

»Ben, dieser Ort ist sensationell.«

Ben zuckte nur mit den Schultern, aber sie blieb stehen und sah zu ihm auf, bis er in Gelächter ausbrach.

»Ja, ist ganz nett, schätze ich«, sagte er.

Sie überquerten die Brücke und hielten an einer der Bänke an, die das Geländer säumten. Sie holte ihr Handy aus ihrer Clutch – die zufällig perfekt zum Kleid passte – und machte ein paar Selfies.

The Broadmoor war in den sanften Schein Tausender Glühbirnen, die in den Bäumen hingen, und historischer Straßenlampen, die über die Gehwege auf dem Gelände verteilt waren, getaucht. Paare und Familien spazierten gemütlich umher, auf dem Weg zum oder vom Abendessen oder einer der vielen Bars und Veranstaltungsorte, die das Resort zu bieten hatte.

Nach dem besten italienischen Essen, das Julie je gekostet hatte – täglich aus Parma in Italien eingeflogener Prosciutto, unter vielen anderen Spezialitäten des Küchenchefs – im Restaurant an der Westseite des Sees, sollten sie sich mit Reggie in einem der Festsäle im klassischen Ostflügel treffen. Julie wusste, dass Ben Reggie warten lassen wollte, damit sie aufs Zimmer zurückgehen und sich »noch mal umziehen« konnten, aber Julie war felsenfest entschlossen, pünktlich zum Treffen zu erscheinen.

Der Bankettsaal passte zum kunstvollen Alte-Welt-Dekor des restlichen Geländes, und als sie eintraten, fiel es Julie schwer, sich auf die Anwesenden zu konzentrieren. Hohe Gewölbebögen teilten den Raum in kleinere Abschnitte, und jeder Bogen wurde von händisch verzierten Wandleuchtern erhellt, die ein sanftes, gleichmäßiges Gelb auf das kunstvolle Kranzprofil warfen. Die malerischen Bogengänge lenkten ihren Blick zur Decke hinauf, ein weiteres, sorgfältig handgefertigtes Designelement des Saals. Kleine, eingelassene Deckenleuchten versorgten den Rest des Raums mit dem, was das abendliche Mondlicht, das durch eine Wand hereinströmte, nicht vermochte. Hinter einer massiven Glaswand bot ein Innenspringbrunnen den Hintergrund zu einer umwerfenden Szenerie.

»Jules«, sagte Ben, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sie kehrte ins Jetzt zurück und realisierte, dass alle im Raum sie anstarrten.

Reggie, natürlich mit einem Lächeln, saß neben Joshua Jefferson, dem Mann, der sie durch das Amazonasgebiet gejagt hatte, bis er von seinem eigenen Team, seiner Firma und – vielleicht – seinem eigenen Vater verraten worden war. Joshua saß kerzengerade auf seinem Stuhl, die Arme auf dem Tisch, und er wirkte stoisch. Sein sandbraunes Haar und jungenhaftes Gesicht verbargen eine Härte, die Julie aus erster Hand erlebt hatte, sowie eine Schläue, die ihnen mehr als ein Mal das Leben gerettet hatte.

Joshua gegenüber, neben Reggie, stand die größte Frau, die Julie je gesehen hatte. Julie fand, dass sie eher in den Amazonas-Regenwald passte. Ihre Haare waren zu einem strengen Zopf zurückgebunden, und der Anblick allein verursachte Julie beinahe Kopfschmerzen. Ihre Augen waren von der gleichen Farbe wie ihr dunkelbraunes Haar, und neben ihnen zogen sich die winzigsten Anzeichen von Altersfalten nach unten. Ihr Ausdruck war unbeschwert und lässig, beinahe das perfekte Gegenteil von Joshuas, aber ihre Arme – stark und muskulös – waren vor ihrer Brust verschränkt.

Reggie sprang auf, als sie sich dem Tisch näherten. »Ben, Julie, ich möchte euch Mrs. E vorstellen.« Er ließ seinen Blick von einer Seite zur anderen huschen und wartete darauf, dass sich alle drei die Hände schüttelten. »Sie ist im Auftrag von Mr. E, ihrem Ehemann, hier.«

Julie beobachtete Bens Gesicht und bemühte sich, nicht zu lachen. Sie hatten ihre Versionen davon, wie der enigmatische und paranoide »Mr. E« wohl sein mochte, miteinander geteilt, aber jede Schilderung hatte nur in eine ausgelassene Scharade geendet, in der sie sich wie ihre liebsten Filmbösewichte aufgeführt hatten.

Mrs. E leibhaftig zu sehen, machte es nicht leichter, keine Miene zu verziehen. Die Frau war wie eine echte Wonder Woman. Julie glaubte sogar, Adern auf ihren kräftigen Armen hervortreten zu sehen.

In einem letzten Versuch, nicht durchzudrehen, senkte Julie den Blick zu Boden.

»Bitte, setzt euch«, sagte Reggie mit einer Geste auf zwei leere Stühle am Tisch. Ben wartete auf Julie, zog den Stuhl für sie vor, dann setzte er sich neben sie. Mrs. E blieb stehen. Sie ging zu einem Fernseher auf einem Rollwagen, der am Zimmerrand bereitstand, und zog ihn näher zum Tisch.

Bis jetzt hatte sie kein Wort gesprochen, und so war Julie von der tiefen Stimme und dem leicht exotischen Akzent der vor ihr stehenden Frau überrascht. »Bitte vergeben Sie meinem Mann den Unwillen, zu reisen. Er bevorzugt ein exklusiveres Arrangement.«

Alle nickten, und Mrs. E fuhr fort. »Mein Name ist Mrs. E. Mein Mann, Mr. E, und ich sind die alleinigen Besitzer eines großes, multinationalen Kommunikationskonzerns. Unser Interesse gilt vielen Sektoren, aber unsere lukrativste Unternehmung ist derzeit im Technologiesektor.«

Julie warf Ben einen Blick zu, konnte seine Miene aber nicht deuten. Ergibt das für dich Sinn?, fragte sie sich.

»Mr. E hat auf Ihre Ankunft gewartet. Bitte erlauben Sie meinem Mann, alles Weitere zu erklären.«

Mrs. E trat von der Kopfseite des Tischs zurück und hielt inne, als ob sie Applaus erwartete. Schließlich setzte sie sich neben Reggie. Der Fernseher erwachte zum Leben.

»Hallo«, sagte ein Mann. Seine Stimme klang so leblos wie die Kiste, aus der sie drang, und er hörte sich an, als ob er von einem Script ablas. »Wie meine Frau gesagt hat, mein Name ist Mr. E. Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen.« Wieder eine Pause, diese viel zu lang.

War das ein Witz?, fragte sich Julie. Sie runzelte die Stirn.

»Danke, dass Sie hierher gereist sind, um mich zu treffen. Ich hoffe, die Unterkunft entspricht Ihrem Geschmack. The Broadmoor ist seit Jahren einer unserer Favoriten. Wenn Sie etwas brauchen, zögern Sie nicht, das Personal zu fragen.«

Der Mann, der zu ihnen sprach, wirkte doppelt so alt wie Mrs. E, aber er sah nicht zwingend alt aus. Er zeigte mehr Falten, kurzgeschnittenes, graues Haar, und einen Kleidungsstil, der aussah, als passte er besser ins Mittelalter als in die moderne Gesellschaft. Er blinzelte zu viel, was ihm den Anschein verlieh, unschlüssig zu sein, unsicher.

»Ich bat Sie, heute hierherzukommen, weil ich Ihre Hilfe brauche. Wie meine Frau erklärte, besitzen wir einen großen Telekommunikationskonzern und viele kleinere Tochtergesellschaften, einschließlich Start-ups und mittelgroße Kommunikationsbetriebe.

Wir haben Ihren jüngsten Ausflügen in Brasilien verfolgt und ich las mich außerdem in den Yellowstone-Vorfall ein. Ich weiß, dass Sie einer Firma her sind, die sich ›Draconis Industries‹ nennt, und ich glaube, ich kann dabei helfen, sie aufzuspüren.«

Reggie sah zu Julie, dann zu Ben. Sie konnte seine Miene nicht deuten, aber sie schien eine Mischung aus »ich hab‘s euch doch gesagt« und »jetzt geht das wieder los« zu sein.

Mr. E fuhr mit seinem Monolog fort. »Ich habe mich ebenfalls persönlich dafür engagiert, die Hintermänner und Führungsriege der Firma ausfindig zu machen, und ich habe einige meiner klügsten Köpfe darauf angesetzt, sie aufzuspüren.«

Er öffnete den Mund, um weiterzureden, aber Ben drehte ruckartig den Kopf zur Seite. »Ja? Was springt dabei für Sie raus?«, sagte er im Flüsterton zu Julie, Joshua und Reggie.

Der Mann auf dem Bildschirm hielt inne und räusperte sich. Mrs. E erklärte. »Das ist ein Digitalrekorder und Ein-Weg-Telefon«, sagte sie und stieß einen kleinen, rechteckigen Gegenstand auf dem Tisch vor ihnen an. »Sie können die Stimme meines Mannes hören, und er kann Ihre hören.«

Bens Augenbrauen zogen sich in die Höhe, als Mr. E seine Frage beantwortete. »Vor zwei Tagen fing meine Firma eine Nachricht ab, von der wir glauben, dass sie von Draconis Industries stammt. Der Grund, warum mich das interessiert – um Ihre Frage zu beantworten – ist, dass sie meine Kommunikationstechnologie gekapert und ihre Nachrichten damit verschlüsselt haben. Es sollte Sie nicht überraschen, dass sie die Dienste meiner Firma nutzen, ohne dafür zu bezahlen.«

»Was meinen Sie damit, dass sie ›unsere Technologie nutzen‹?«, fragte Joshua.

Der Mann schüttelte rasch den Kopf. Es gefiel ihm eindeutig nicht, unterbrochen zu werden. »Was ich damit meine, ist, dass sie meinen Satelliten verwenden.«

»Ihre Firma besitzt einen Satelliten?«, fragte Julie.

»Nein«, sagte Mrs. E. »Wir besitzen einen Satelliten.«

»Wir erhielten den Auftrag, die Kommunikation, einschließlich Telefon und Internetzugang, für den gesamten Betrieb der US-basierten Antarktis-Forschungsstationen bereitzustellen.«

Julies Augen wurden groß. Wie viel Geld haben diese Typen?

»Wir erwarben den Satelliten vor Jahren von Lockheed Martin, hielten aber die gleiche Beziehung mit den US-Forschungsstationen aufrecht, insbesondere mit den Stationen Amundsen-Scott und McMurdo.«

Reggie atmete hörbar aus. »Sie glauben, Draconis Industries befindet sich auf Antarktika?«

Kapitel 5

Einige Sekunden lang sagte niemand etwas. Schließlich drehte sich Mr. E leicht zur Seite, den Blick weiter in die Kamera gerichtet. »Ich weiß, dass sie auf Antarktika sind. Wir kennen den Ursprungspunkt des Primärsignals, und das kommt von der McMurdo-Station.«

»Sie wollen also sagen, Sie glauben, dass Draconis Industries seinen Firmensitz im Inneren einer Forschungsstation der Vereinigten Staaten hat?«, fragte Ben.

»Nicht wirklich«, sagte Mrs. E. »Wir glauben, sie benutzen das bestehende Netzwerk der Station, um verschlüsselte Signale über unseren Satelliten zu senden und zu empfangen, aber die Station selbst weiß nichts davon. Wir sind noch auf der Suche nach dem Ursprung. Obwohl McMurdo der Ursprungs- und Endpunkt zu sein scheint, gehen wir davon aus, dass das Signal auf eine andere Route weitergeleitet wird, sobald es den Kontinent erreicht hat.«

»Ja«, fuhr Mr. E fort. »Wir haben außerdem damit begonnen, uns die Transportaufzeichnungen anzusehen, deren Fälschung schwieriger wäre. Wenn dort unten jemand unseren Satelliten zur Kommunikation verwendet, muss er schließlich auch seine Grundbedürfnisse decken – Benzin, Nahrungsmittel und so weiter.«

»Und haben Sie etwas entdeckt?«, fragte Julie.

»Haben wir. Der McMurdo – South Pole Highway von McMurdo nach Amundsen-Scott befördert Kolonnen mit Ausrüstung, Vorräten, Öl und allem anderen von einer US-betriebenen Basis zur anderen, aber manche dieser Kolonnen sind in der Zeit, in der wir sie beobachteten, ›verloren gegangen‹. Sie erscheinen nicht im Annahmeprotokoll, und sie sind einzig in McMurdos verschlüsselten Protokollen über entsendeten Verkehr aufgezeichnet.«

»Moment mal«, sagte Reggie. »Es gibt eine Schnellstraße in der Antarktis?«

»Ja. Sie wurde 2006 fertiggestellt und ist im Prinzip ein Streifen eingeebneten Schnees, der Transportfahrzeuge 1600 Kilometer weit zum Südpol und zurück führt. Jedenfalls ist es kein Leichtes, diese Kolonnen zu verlieren – die Fahrzeuge sind üblicherweise selbstfahrend und folgen einer vorherbestimmten Route und GPS-Koordinaten. Aber es bräuchte nur jemanden vor Ort in McMurdo, der die Aufzeichnungen ändert, damit einigen woanders hingeleitet werden können.«

»Wer würde denn die Aufzeichnungen ändern? Wir reden von Wissenschaftlern, richtig?«

»Genau genommen nicht. Die meisten Mitarbeiter in diesen Stationen arbeiten in Support-Teams, nicht als Wissenschaftler und Fachspezialisten. Sie werden nicht annähernd auf diesem Level bezahlt, was sie zu der Sorte Mensch macht, den man leicht ›in die Tasche stecken‹ kann. Es wäre überhaupt nicht viel Geld nötig, um jemandem aufzutragen, einige selbstfahrende Fahrzeuge zu einem anderen Ziel umzulenken, insbesondere wenn diese Kolonne nach McMurdo zurückkehrt, leer und pünktlich. Diese ganze Vereinbarung braucht nicht viele Beteiligte, und sie würde eine beinahe unbegrenzte Materiallieferung ermöglichen.

Darüber hinaus hat die US-amerikanische Verlust-Richtlinie für Antarktisstationen einen riesigen Spielraum: Die Erwartung, dass Teile der Ausrüstung verschwinden, ist einbezogen, und selbst wenn das nicht so wäre, könnte jemand mit etwas Erfahrung in Sachen Lieferkettenlogistik – oder selbst ein vernünftiges Computerprogramm – einen glaubhaften Strom von Transportpannen erzeugen.«

Reggie kniff sich in die Nasenwurzel. »Okay, gut. Sie erwähnten, dass denen ein paar Männer auf der McMurdo-Seite helfen, aber das müssten weit mehr sein, alleine schon, um diese ›Geheimbasis‹ zu bauen, und es müsste einen Weg geben, sie auf den Kontinent zu bringen.«

Mrs. E nickte schon, bevor Reggie die Frage zu Ende gestellt hatte. »Ja, und die Hercules LC-130 fliegt regelmäßig dorthin und kann auf Kufen landen. Wenn man jemandem im richtigen Flugsicherheitsjob dazu bringt, zu ›vergessen‹, den Abflug aufzuzeichnen, hat man ein Flugzeug voller Vorräte und Mitarbeiter, das überall landen kann, wo es flach und schneebedeckt ist. Und in der Antarktis gibt es jede Menge Orte, die flach und schneebedeckt sind.«

»Und woher wissen Sie, dass Draconis hinter all dem steckt?«, fragte Ben.

Mrs. E drehte sich um, um auf Bens Frage einzugehen. »Die entdeckten Nachrichten, die von dort ausgingen, nutzten den Namen ›Dragonstone‹.«

»… Und Dragonstone scheint die Ansprüche Ihres mysteriösen Konzerns zu erfüllen«, fügte Mr. E hinzu. »Rätselhaft, daran interessiert, ungesehen zu bleiben, und mit einem Namen, der mit dem Wort ›Dragon‹ verwandt ist.«

Ben musste ihm zustimmen. Falls die Firma wirklich ›Dragonstone‹ hieß, klang sie genau nach der Art von Organisation, der er nachgejagt war.

»Sie sind es«, sagte Joshua. Selbst der Mann auf dem Fernsehbildschirm schien sich umzudrehen, um Joshua anzusehen. »Mein Vater hat von einem Projekt gesprochen, das sie in der Antarktis vorangetrieben haben. Sie hatten dort eine Tochtergesellschaft mit Fokus darauf, eine Geschäftsbeziehung mit zahlreichen US- und europäischen Stationen auf dem Kontinent zu etablieren. Ich kannte keine Details, aber es scheint so, als hätten sie die ›Geschäftsbeziehungen mit anderen Stationen‹ möglicherweise komplett umgangen. Ich habe keine Ahnung, was die da unten machen, aber ich zweifle nicht daran, dass es dieselbe Firma ist.«

»Also, was wollen Sie von uns?«, fragte Reggie Mr. E.

»Sie müssen hingehen und nachsehen, was die bauen«, sagte er.

Kapitel 6

»Ich weiß ganz genau, was ›hingehen und nachsehen‹ mit sich bringt«, sagte Reggie, »und ich bin mir nicht sicher, ob ich daran interessiert bin.«

Reggie trug ein kleines Lächeln im Gesicht: Eine Seite seines Munds zog sich leicht nach oben, was den Eindruck erweckte, dass er selbstsicher, aber beunruhigt war. Er beobachtete Mr. E’s Reaktion auf dem Bildschirm, während der sich Reggies Antwort anhörte. Statt auf Reggies Zögern zu reagieren, machte er eine längere Pause.

Ben fing Reggies Blick auf und starrte seinen Freund über den Tisch hinweg an.

»Okay«, sagte Reggie. »Na schön. Ich bin interessiert, aber das heißt nicht, dass ich hingehen werde. Und ich spreche dabei für uns alle.« Er sah zum Fernsehbildschirm. »Wenn Sie mir das gesagt hätten, bevor ich nach Alaska geflogen bin, um die Turteltäubchen zu holen, hätte ich die Reise einfach sein lassen und Ihnen geraten, jemand anderen zu finden. Außerdem, warum schicken Sie eigentlich nicht jemand anderen hin? Ich meine – nichts für ungut, Leute –, wir können wohl nicht das Beste sein, was Sie zu bieten haben.«

»Sind Sie auch nicht«, sagte Mr. E ohne Zögern. »Ich schicke auch einen privaten Sicherheitstrupp hin: acht gut ausgebildete, sehr gut ausgerüstete Soldaten. Wir überprüften ein Gebiet in hundertsechzig Kilometern Entfernung von McMurdo, nachdem Spannungsspitzen dort unsere Aufmerksamkeit erregt hatten, und wir halten es für möglich, dass es noch andere Gruppen gibt, die an dem, was da draußen ist, interessiert sein könnten. Wir betrachten alle Bedrohungen als feindlich, also liegt es in unserem besten Interesse, einen Alternativplan zu haben, falls die Lage ungemütlich wird. Aber ich brauche mehr, als nur Soldaten – ich brauche Spezialisten. Und ich kann nicht einfach anfangen, in meinem eigenen Netzwerk herumzufragen. Es ist schwer, in der echten Welt jemanden zu finden, der wirklich glaubt, dass diese Organisation existiert, und wenn ich versuche, Menschen dazu zu überreden, am Südpol einem Phantom nachzujagen, wird es mit meinem Ruf rapide abwärts gehen.

Also liegt es an Ihnen. Sie sind nicht mit der Geografie vertraut, aber einer meiner Männer schon, und er wird Sie nach Bedarf informieren. Allerdings will ich etwas von jedem von Ihnen.«

Reggie wartete darauf, dass er sich erklärte.

»Julie, Sie sind IT- und Kommunikationsspezialistin. Sie müssen herausfinden, warum – und wie – die so viele Daten verbrauchen, und dann werden Sie versuchen, sie aufzuhalten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie etwas Legales damit anstellen. Und selbst wenn, werde ich dafür nicht bezahlt.

Joshua, Sie werden diese Gruppe anführen. Sie werden sich Ihre Aufgaben mit Red teilen, aber sobald Sie in der Luft sind, haben Sie die Leitung der Operation. Wir werden nicht die Möglichkeit haben, zuverlässig zu kommunizieren, also überlasse ich die Entscheidungen vor Ort Ihnen.«

Ben runzelte die Stirn. »Wer ist Red?«

Er sah sich in der Gruppe um und sein Blick landete auf Reggie, der von einem Ohr zum anderen grinste. »Ich hatte gehofft, ihnen diese Nachricht persönlich mitzuteilen, E.«

Mr. E nahm Reggie nicht einmal zur Kenntnis. Er antwortete, als würde er von einem Script ablesen. »Red, Gareth. Gareth Red war früher bei den Special Forces, Army …«

»Schon gut, schon gut, wir haben’s kapiert«, sagte Reggie. »Sie kennen meine Vorgeschichte.« Er wandte sich an die Gruppe. »Man nannte mich ein paar Mal ›Red, G‹, und ›Reggie‹ ist hängengeblieben. Tut mir leid, es ist eben einfacher, mich Reggie zu nennen.«

Julie verdrehte die Augen und Ben und Joshua schüttelten die Köpfe.

»Wie auch immer«, sagte Mr. E, der den Humor noch immer nicht bemerkte. »Meine Frau wird auch mit Ihnen gehen, und sie ist ganz genau so fähig, wie sie aussieht. Expertin in Krav Maga und russischem Systema, und sie kennt sich mit Waffen aus. Spielt keine Rolle, welcher Art.«

Im Wissen, dass Mr. E ihn als Nächstes ansprechen würde, wartete Ben.

»Harvey«, begann Mr. E, »obwohl die anderen am Tisch und mein eigenes Team den Großteil der notwendigen Fertigkeiten mitbringen, ist das hier Ihr Kampf. Falls Juliette sich dazu entscheidet, der Vereinbarung zuzustimmen, erwarte ich, dass Sie dazu tendieren werden, mitzukommen, und ich kann Sie nicht dazu überreden, zurückzubleiben. Aber Sie besitzen Zähigkeit und Schneid, und das ist etwas, das ich nicht kaufen kann. Tun Sie, was immer die Gruppe braucht, und helfen Sie Julie, den Auftrag zu erledigen.«

Reggie nickte, während er Bens Reaktion beobachtete. Besser als ›gehen Sie nach Hause und spielen Sie den Park Ranger‹, dachte er.

Ben lehnte sich auf dem Stuhl zurück, atmete kurz tief ein, verschränkte die Arme, dann nickte er.

Kapitel 7

Das wird nicht klappen, dachte er. Es klappt nie.

Er ließ die Subroutine erneut laufen, nahm einen Schluck Kaffee und wartete die zwei Minuten, die der kompilierte Code brauchte, um fertig zu werden.

Hat nicht geklappt.

Joshua Colson seufzte und schob sich die Brille wieder auf der Nase hoch. Sein Hemd war zerknittert, nach dem es für den Großteil des Tages fest zwischen seinen immer größer werdenden Bauch und den Schreibtisch gepresst gewesen war. Der Schreibtisch war einer dieser neumodischen ›Stehschreibtische‹, die bei einigen der jüngeren Angestellten auf den höheren Ebenen der letzte Schrei waren. Sie schworen, dass diese Tische ihnen dabei halfen, Gewicht zu verlieren und fit zu bleiben.

Colson war noch immer etwas übergewichtig, an all den falschen Stellen. Ohne Hemd sah er wie eine Birne aus: um die Hüfte schlagartig breiter und an den Schultern schmaler werdend. Mit Hemd sah er wie ein erwachsener Nerd aus, dessen Brille ihm andauernd im Gesicht nach unten rutschte und dessen kaum eingestecktes Oxford-Hemd weit genug war, um seinen obstförmigen Körper zufriedenstellend zu verbergen, und, dem Anschein nach, in Anwesenheit des anderen Geschlechts auch ihn selbst.

Er arbeitete seit einer Woche an dem Problem und nichts, was er ausprobiert hatte, hatte zu etwas geführt. Die Subroutine war eine von vielen, alle Einzelteile eines viel, viel größeren Netzwerks aus Subroutinen und Computerprogrammen, die alle kontextuell und dynamisch starteten, wenn sie angefragt wurden. Auf gewisse Weise war das Programm selbst nicht anders als ein modernes Videospiel: Der Benutzer verband sich mit dem Programm und wählte aus einer Reihe von Variablen, die zu unterschiedlichen Ergebnissen führten. Manche Spiele trieben das auf die Spitze und fügten ein Wähle-Dein-Eigenes-Abenteuer-Flair hinzu, was das Spiel organischer, lebendiger machte.

Für ihn folgten Spiele einem Handlungsbogen: Anfang, Mitte und Ende waren vordefiniert, und üblicherweise war es klar, wo in der Story er sich befand. Manche Spiele ließen den Spieler unvorhergesehenen Wendungen folgen, die in Sackgassen oder zu glücklichen Entdeckungen führten, während andere geradlinig danach verlangten, ›die bösen Jungs zu töten, bis der große böse Junge am Ende tot ist‹.

Jonathan Colson war mit Videospielen aufgewachsen, also passte die Analogie, aber irgendwann versagte sie. An einem gewissen Punkt waren seine Subroutinen auf eine solche Größe angewachsen, dass sie die gesamte Programmbibliothek des komplexesten Videospiels in den Schatten stellten, und trotzdem waren diese ›kleineren‹ Programme als Untergruppe des Ganzen gedacht. Das ›Ganze‹ war in diesem Fall etwas Vages, nicht Greifbares, das niemand, mit dem er je gesprochen hatte, verstand.

In der Station gab es noch einige andere Programmierer, aber er war der Teamleiter für eine kleine Bibliothek aus Subroutinen, die mit der Verarbeitung von etwas zu tun hatten, das nur als ›das weltgrößte Computerprogramm‹ bezeichnet werden konnte. Hunderte Fremdprogrammierer und -Entwickler – selbst Designer, hatte man ihm erzählt – waren herangezogen worden, um kreative Lösungen für die Probleme, derentwegen die Firma sie angeheuert hatte, zu scripten. Jonathans Job, wenn er nicht gerade mit Bugfixing beschäftigt war, bestand darin, die vielversprechenden Skripte aus dieser Datenbank auszuwählen und herauszuziehen.

Er griff nach dem Becher voll kalten Kaffees am Schreibtischrand, ohne vom Bildschirm aufzublicken. Seine Finger streiften den Becher und stießen ihn über den Rand zur Erde. Der glatte, harte Boden verwandelte den Styroporbecher voll kalter Flüssigkeit sofort in einen leeren Becher, aus dem der Kaffee heraus und auf zwei angrenzende Schreibtische schwappte.

Er fluchte, stand auf und verließ seinen Schreibtisch, um ein Mitglied des Support-Serviceteams zu finden. Die Firma hatte ihre Mitarbeiter angewiesen, sich auf ihre eigenen Fähigkeiten zu konzentrieren. Kein Führungsmitglied sollte mit Personalentscheidungen auf Management-Level belastet werden, kein Festangestellter sollte Sicherheitsfragen in die eigene Hand nehmen, und in Jonathans Fall, sollte kein Programmierer seinen eigenen verschütteten Kaffee aufwischen.

Colson beschrieb einen Bogen zur nächstgelegenen Sprechanlage und nahm den Hörer ab. Es war ein antiquiertes Kommunikationsgerät, ein Telefon, so alt, dass er überrascht war, dass er keine Wählscheibe drehen musste, um eine Nummer anzurufen.

Der Computertelefonist am anderen Ende antwortete sofort.

»Ja, hier spricht Jonathan Col… Entschuldigung, Mitarbeiter 739. Ich brauche eine Reinigung auf Level 7, Hauptfläche. Ja.«

Er legte auf, drehte sich zur offenen Tür gegenüber der Sprechanlage um, die zum Pausenraum führte, und hob den Fuß, um einen Schritt zu machen.

»Colson.«

Die Stimme schien seine Ohren zur gleichen Zeit zu erreichen, wie sein Unterbewusstsein den Sprecher deutete, das elektronische Signal übersetzte, die Sprache in verständliche Sprachmuster parste und das Ergebnis – ein einzelnes Wort – an den Teil seines Gehirns lieferte, das der Spracherkennung gewidmet war.

Gute Güte, das menschliche Gehirn ist komplex, dachte er.

Er drehte sich um und sah seine direkte Vorgesetzte, Angela Stokes, auf ihn zuhalten. Sie musste ihm von dem Augenblick an gefolgt sein, als er seinen Schreibtisch verlassen hatte. Ihr Büro befand sich am anderen Ende der riesigen Fläche nahe der schmalen Treppe, die nach oben und unten auf die anderen Ebenen führte. Sie bewegte sich schnell, nichts Ungewöhnliches, da ihr Auftreten typischerweise »erledige die Sache, egal, was es kostet« widerspiegelte. Im Moment war er sich über ihre Motivation im Unklaren, aber er hatte schon viele Male gesehen, wie sie andere in der Abteilung förmlich überrollt hatte.

Tatsächlich reagierte mit einem unfreiwilligen Schritt nach hinten auf ihre Geschwindigkeit. Er wusste nicht, ob sie wirklich mit ihm zusammenstoßen würde oder nicht, aber sein Körper schien es nicht darauf ankommen lassen zu wollen. Kurz bevor sie ihn berührt hätte, blieb sie stehen, aber sie beugte sich weiter vorgebeugt, weil sich ihr Oberkörper noch bewegte.

Sie war eine Frau, die, wie er und seine Kollegen es ausdrückten, gerne »nah redete«, jemand, der sich der unausgesprochenen Regel des Diskretionsabstands völlig unbewusst war. Ihr Atem war oft eine Mischung aus Kaffee, Pfefferminzkaugummi und dem, was sie kürzlich gegessen hatte. Es war nicht übel genug, um unter normalen Umständen negative Reaktionen auszulösen, aber wenn man jemandem beim Reden derart nahe kam, war es unmöglich, den Geruch zu ignorieren.

Heute Spaghetti, glaub ich,dachte er, als sie ihren Mund näher an sein Gesicht brachte. Für jemanden, der kleiner war als der Rest ihrer Angestellten, verblüffte es Colson stets, wie sie dennoch in der Lage war, von oben herab mit ihnen zu reden.

»Colson«, setzte sie erneut an, »haben Sie mich gehört?«

»Sorry. Was gibt’s?«