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Tief im Regenwald des Amazonas verbirgt sich ein Geheimnis. Ein Geheimnis, welches die Welt verändern könnte. Ein Geheimnis, um dafür zu morden … Als Dr. Amanda Meron unverhofft auf eine bedeutsame versteckte Botschaft in den träumenden Gehirnen ihrer Testsubjekte stößt, führt sie die Spur an einen der unzugänglichsten Orte auf dieser Welt – den Regenwald im Amazonas. Und auch Harvey »Ben« Bennett stößt auf Hinweise, dass die von ihm gesuchte, ruchlose Organisation in Brasilien aufgetaucht ist. Zusammen mit seiner Freundin Juliette Richardson begibt er sich auf einen Wettlauf in den Dschungel, um herauszufinden, was diese dort zu finden beabsichtigt … und sie hoffentlich aufzuhalten. Vom Mythos der vergessenen Stadt Eldorado bis zu neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen – dieser Roman bietet ein actionreiches Abenteuer vor exotischer Kulisse. ★★★★★ »Dieser Roman ist ein unglaublich guter, die Fantasie anregender Thriller.« - Amazon.com ★★★★★ »Nicht vielen Autoren gelingt es, den Leser mit dem ersten Wort zu packen und die Spannung bis zum letzten Kapitel aufrecht zu erhalten. Diesem hier schon.« - Amazon.com
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Seitenzahl: 417
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This Translation is published by arrangement with Nick Thacker. Title: THE AMAZON CODE. All rights reserved. First Published by Turtleshell Press, 2016
Diese Geschichte ist frei erfunden. Sämtliche Namen, Charaktere, Firmen, Einrichtungen, Orte, Ereignisse und Begebenheiten sind entweder das Produkt der Fantasie des Autors oder wurden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, lebend oder tot, Ereignissen oder Schauplätzen ist rein zufällig.
überarbeitete Ausgabe Originaltitel: THE AMAZON CODE Copyright Gesamtausgabe © 2024 LUZIFER Verlag Cyprus Ltd. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Cover: Michael Schubert Übersetzung: Markus Müller Lektorat: Manfred Enderle
Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2024) lektoriert.
ISBN E-Book: 978-3-95835-692-4
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Welt ist für einen derartigen Durchbruch noch nicht bereit, dachte Doktor Amanda Meron. Und auch ich bin für einen derartigen Durchbruch noch nicht bereit.
Sie raste durch die Flure des Forschungszentrums und wich dabei Metallwägelchen aus, auf denen sich Testgeräte, Computer und Bildschirme stapelten. Normalerweise liebte sie solche Momente, denn genau jene waren es, denen sie ihr gesamtes Dasein gewidmet hatte. Und sie wollte diese Augenblicke um keinen Preis missen.
Amandas Antrieb lag nicht in der Forschung. Natürlich übte die Forschungsarbeit eine gewisse Faszination auf sie aus, allerdings war diese zweitrangig gegenüber der unbändigen Lebendigkeit, die sie beim Erzielen eines wissenschaftlichen Durchbruchs durchströmte.
Wie müssen sie sich gefühlt haben?, rätselte Amanda. Einstein, Newton, Bohr. Die Helden ihrer Kindheit, mit denen sie sich nun im Rahmen eines freundschaftlichen Wettstreits verbunden fühlte.
»Da kommt Doktor Meron. Gerade noch rechtzeitig«, sagte jemand in einem Zimmer, an dem sie fast vorbeigerannt wäre.
Sie kannte diesen Ort besser als jeder andere und doch hatte ihre Aufregung für eine momentane Desorientierung gesorgt. Sie bremste ab und betrat den Raum, wo sie von ihren Kollegen mit einem freundlichen Lächeln begrüßt wurde. Die Wissenschaftler saßen rund um einen Computermonitor in der Mitte des Zimmers.
»Wir sind so weit, wenn Sie es sind«, sagte Doktor Henry Wu, dessen Stimme sie vom Flur aus gehört hatte. Die Leihgabe von der Stanford Universität machte seiner Chefin Platz.
Amanda holte tief Atem und setzte sich neben ihn. Sie nickte und auf dem Bildschirm erschien nach einem kurzen Flackern ein Strudel aus Farben mit einem strahlenden Licht im Zentrum.
»Wir haben seit der Entdeckung der ersten neuralen Brücke über zehntausend weitere Ansatzpunkte gefunden«, erklärte Doktor Wu. »Die Abbildung nähert sich einer relativen Exaktheit von vierzig Prozent.«
Vierzig Prozent. Sie konnte es fast nicht glauben. Fast.
Seit Jahren, selbst ohne die Zeit ihrer universitären Ausbildung mitzurechnen, hatte sie auf dieses Ereignis hingearbeitet. Die Mehrheit in ihrem Fachbereich hatte an der Durchführbarkeit ihrer Idee gezweifelt. Doch die theoretischen Entwürfe, die sie für die Modellrechnung in ihrer Doktorarbeit verwendet hatte, beruhten auf mehr als auf einem verschrobenen Einfall.
Sie hatte gewusst, dass es möglich war.
Sie hatte gewusst, dass sie ihre Theorie in die Praxis überführen konnte. Wenn es jemand konnte, dann sie.
»Die Datenübertragung ist jetzt aktiviert«, verkündete Wu. »Die Testperson nähert sich der REM-Phase. Das Stammhirn sendet elektrische Impulse in einer rapiden, unregelmäßigen Reihenfolge aus.«
Amandas Zuversicht wuchs. Endlich ist es so weit. Sie griff nach etwas, an dem sie sich festhalten konnte. Ihre Hände fanden die kalte Stahlkante des Tisches, auf dem der Monitor stand.
Die Testperson, ein Mister Ricardo Herrera, schlief im Raum nebenan. Der Siebenundsechzigjährige stammte aus einem Dorf in der Gegend und hatte sich freiwillig für die Arbeit im Forschungszentrum gemeldet. Er und seine Familie wurden für die Teilnahme fürstlich entlohnt und da keine Nebenwirkungen zu befürchten waren, war es das am leichtesten verdiente Geld seines Lebens.
»Zeichnen wir auf?«, fragte Amanda.
Ein junger Techniker antwortete: »Ja, natürlich. Digital und analog.« Er deutete auf einen rechteckigen Kasten neben dem Computer.
Ein Videorecorder. Amanda lächelte. Ich habe seit Jahren keinen mehr gesehen.
Nach dem Ärger mit einem Computervirus vor einigen Monaten, hatte sie die Techniker beauftragt, zusätzlich der – wie sie es nannte – Alten Schule zu vertrauen und analoge Aufnahmetechniken parallel zur digitalen Ausrüstung einzusetzen. Die analogen Geräte funktionierten langsamer, waren unhandlicher und verursachten im täglichen Gebrauch massenhaft Probleme, aber sie waren weitreichend sicher, was Hackerangriffe betraf. Jemand, der auf die darauf enthaltenen Daten zugreifen wollte, müsste schon persönlich hier erscheinen.
»Testperson tritt in den REM-Schlaf ein«, sagte der Techniker.
In einer Dialogbox auf einem kleineren Monitor erschienen die Worte: REM-S positiv.
Auf dem Hauptmonitor gewann das Leuchten im Zentrum an Intensität und der Strudel aus Farben änderte seine Drehrichtung. Kleine Lichter, die Sternschnuppen ähnelten, tanzten um die Ränder des Farbwirbels.
»Das sieht aus wie aus einem Science-Fiction-Film«, flüsterte einer der Anwesenden ergriffen.
»Das ist aus einem Science-Fiction-Film«, befand ein anderer.
Die Sternschnuppen wuchsen, schrumpften und wuchsen erneut, ehe sie erloschen und von einem tiefen Schwarz übertüncht wurden. Dann explodierte das Monitorbild in einem Meer aus Farben.
»Ist das ein Traum?«, fragte jemand.
»Nein«, widersprach Doktor Wu. »Die Testperson tritt gerade erst in die REM-Phase ein, also hat sie bisher nicht geträumt. Glauben Sie mir, es wird nicht mehr lange dauern.«
»Was werden wir dann sehen?«
Doktor Wu lächelte vieldeutig.
Nach ungefähr einer Minute verblasste der Farbstrudel und die Wissenschaftler starrten ein leeres Display an. Amanda verstärkte ihren Griff um die Tischkante, bis das Weiße in ihren Fingerknöcheln durchschimmerte. Dann ließ sie los. Haben wir die Verbindung verloren? Sie durchdachte sämtliche Möglichkeiten und versuchte, sich die hypothetischen Zeitfenster, die sie für die ersten Praxistests anberaumt hatten, zu vergegenwärtigen …
Plötzlich erwachte der Monitor wieder zum Leben.
Verschwommene Formen nahmen Gestalt an, einige davon waren als Körper identifizierbar. Sie bewegten sich und interagierten, verschmolzen miteinander und wechselten das Aussehen.
Oh mein Gott!
Amanda musste schlucken und unterdrückte ein Blinzeln, da sie keine Sekunde verpassen wollte.
»Wir befinden uns jetzt in einem Traum. Die Testperson träumt relativ luzid und strebt danach, sich auf einen der Körper zu fokussieren.«
Die Aufregung überwältigte Amanda beinahe. Auch ohne in ihren Aufzeichnungen nachzuschlagen, wusste sie, was das bedeutete. Die Antwort lag ihr auf der Zunge. Wenn sie nicht persönlich für die Ausbildung jedes einzelnen ihrer Mitarbeiter hier in diesem Raum verantwortlich gewesen wäre, hätte sie in diesem Augenblick eine kurze Vorlesung zum Thema Traumzustand abgehalten. Traumzustand war ihre Bezeichnung für das mittlere Stadium des REM-Schlafs einer Testperson. Und Körper nannten sie alle physischen Elemente des Traums, die der Träumende unbewusst heraufbeschwor, wie Menschen, Orte und Dinge.
Von ihrem ersten Versuch, einen Traum zu visualisieren, waren bis zum heutigen Tag zwei anstrengende Jahre verstrichen. Und nun funktionierte es endlich.
Die Testperson – Mister Herrera – richtete ihre Aufmerksamkeit auf einen der Körper. Er war kleiner als die übrigen, jedoch schärfer umrissen und kontrastierte stark zu dem bunten, wirbelnden Hintergrund.
Ein Mensch.
»Testperson fokussiert sich auf Erinnerungen.«
Das Bild wurde zunehmend genauer und der Körper manifestierte sich anhand der Erinnerungen kontinuierlich.
Ein jüngerer Herrera befand sich in einem Zimmer, das anstelle von Wänden von vertikalen und horizontalen Lichtstrahlen begrenzt wurde. Er bewegte sich und hantierte mit Objekten, die zu verschwommen waren, um ihre Identität zu erfassen.
Amanda unterbrach ihre steife Konzentration auf das Bild, um voreingenommene, unweigerlich aufkommende Interpretationen, worum es sich bei den Objekten handeln mochte, zu unterbinden. Ihre Absicht dabei lautete, eine genauere Wahrnehmung der verschwommenen Objekte zu bewerkstelligen.
Und es gelang ihr.
Jetzt konnte sie die Erinnerungen der schlafenden Testperson besser verstehen. Herrera ging durch ein Haus, erst durch ein Wohnzimmer, dann durch ein Esszimmer. Die Farben und Schatten an den Wänden wurden immer konkreter.
Er jagte einen kleinen Schatten.
Herrera verfolgte ein lachendes Kind durch das Haus. Das Kind stoppte ab und drehte sich zu Herrera um. Nachdem sie eine visuelle Operationslinie etabliert hatte, konnte Amanda die Schlieren und unsauberen Silhouetten der Körper interpretieren und vor ihrem geistigen Auge entstand das grobe Bild eines Kindergesichts.
Es handelte sich um Herreras ältesten Sohn, der inzwischen in seinen Zwanzigern war. Auf dem Display lag sein Alter irgendwo zwischen drei und acht Jahren.
Amanda hielt die Hand vor den Mund. Wir haben es tatsächlich geschafft.
Die Unschärfe der Visualisierung konnte zweifelsfrei behoben werden, ebenso die Schwankungen in der Helligkeit. Dazu bedurfte es lediglich einer spezifischeren Technik der Kartografie und vielleicht einiger zusätzlicher Elektroden am Gehirn. Danach würden sie mittels Bildbearbeitung und eines verbesserten Video-Renderings eine akkuratere Darstellung erhalten. Unweigerlich dachte die Wissenschaftlerin an die Kreise, die ihre Entdeckung ziehen würde, und versuchte zu kalkulieren, wie viel Zeit ihrem Team blieb, um ein fertiges, praxistaugliches Produkt zu entwerfen.
»I… ich kann es kaum glauben«, stammelte Doktor Wu. »Das Bild ist so … lebensecht. Ich hätte nie gedacht …« Seine Stimme versiegte, als Herrera dem Kind in ein weiteres Zimmer nachging.
»Wir sind … dort. In seinem Kopf«, staunte einer der Techniker. »Und wir können die Bildqualität steigern, indem wir den Output der einzelnen Elektroden erhöhen. Außerdem können wir ihre Anzahl vervierfachen und …«
»Gehen Sie zurück!«, unterbrach ihn Doktor Wu.
»Sir?«
»Gehen Sie zurück«, wiederholte Wu. »Der aktuelle Vorgang wird doch aufgezeichnet, oder?«
»J… ja, aber …«
»Die aktuelle Übertragung ist gerade unwichtig. Spulen sie drei Sekunden nach hinten.«
»Doktor Wu«, intervenierte Amanda. »Wir wollen nichts verpassen.«
»Das kann ich verstehen, aber ich habe etwas bemerkt …«
Amanda nickte und der Techniker am Monitor fing an, auf der Tastatur des Computers zu tippen. Der Bildschirm zeigte kurz den Desktop, dann führte er einen Doppelklick auf einen Ordner aus und startete das darin gespeicherte Video. »Ich wechsele jetzt von der Liveübertragung zur Aufzeichnung.«
Das Video startete wieder mit einem leeren Display, gefolgt von dem Wirbel aus Farben. Der Techniker zog den Cursor auf die Bedienleiste und »spulte« das Video bis kurz vor Schluss.
»Was hast du gesehen, Henry?« Amandas Stimme klang ruhig, obwohl darin eine gewisse Besorgnis mitschwang. Doktor Wu war niemand, der aus einem nichtigen Grund heraus aus der Haut fuhr, besonders während eines laufenden Testversuchs.
»I… ich weiß es nicht. Ich bin mir nicht sicher. Da! Sofort anhalten und ein paar Frames zurückgehen!«
Die Erinnerung, die sie betrachteten, war die gleiche wie zuvor. Herrera scheuchte seinen ältesten Sohn durch das Haus. Doktor Wu schien jedoch auf etwas im Hintergrund fixiert zu sein.
Die Perspektive schwenkte nach links, als Herrera versuchte, mit dem Kind Schritt zu halten. Es wirkte, als renne Herrera an einem Fenster vorbei.
»Stopp«, ordnete Wu an. »Dort draußen, außerhalb des Fensters. Das ist doch ein Fenster, korrekt?«
Alle nickten.
Amanda hatte keine Ahnung, was das gesteigerte Interesse ihres Kollegen provoziert hatte.
»Draußen, direkt vor dem Fenster, leicht nach rechts versetzt«, leistete er Hilfestellung.
Amanda lockerte ihre Konzentration erneut und fixierte diese anschließend wieder. Als sie den Körper entdeckte, schnürte es ihr die Kehle zusammen. »Was zur Hölle? Ist das ein Mensch?« Kaum, dass sie die Frage formuliert hatte, war sich Amanda dessen gewiss.
Trotz der geringen Größe war er klar sichtbar – erschreckend klar.
Es handelte sich um einen Mann, der wirkte, als hätte ihn jemand mit Goldfarbe angestrichen.
»Könnte eine Statue sein …«
»Aber die Details …«
Amanda schüttelte den Kopf. »Das ist doch ein Scherz. Richtig, Doktor Wu?«
Ihr Kollege runzelte die Stirn. »Der Mann – oder die Statue – ist vollkommen fokussiert.«
Tatsächlich war die goldene Gestalt innerhalb ihrer verschwommenen Umgebung perfekt definiert. Aufgrund ihrer geringen Größe konnte sie leicht übersehen werden, dennoch war sie ganz erkennbar.
Amanda starrte auf den goldenen Mann und er starrte zurück. »Doktor Wu, haben Sie das hier wirklich nicht in die Übertragung eingefügt?«
»Nein, Doktor Meron«, antwortete er leise. »Ich habe nichts damit zu tun. Was wir hier sehen, gehört zu dem Traumzustand, den Mister Herrera unbewusst erschaffen hat. Der goldene Mann ist ein Teil von Herreras Gedächtnisinhalt.«
»Aber wie kann er so klar, so perfekt fokussiert sein?«
Wu schüttelte den Kopf. »Das wissen wir noch nicht. Am besten schauen wir, was passiert, wenn wir mehrere Frames auf einmal vor und zurück springen.«
Der Techniker, der den Computer bediente, justierte die Einstellungen neu. Der Frame auf dem Monitor sprang ein gutes Stück vor. Herreras Blickwinkel war nun vom Fenster weg nach links gerichtet, da er seinen Sohn suchte.
Alle Augen ruhten auf dem mit Gold überzogenen Mann, der jetzt in der unteren rechten Ecke des Displays stand.
Der Techniker sprang einen einzelnen Frame weiter nach vorn.
»Da!«, rief jemand.
Amanda zuckte zusammen. Der Mann auf der anderen Fensterseite hatte sich bewegt. Er hatte sich zur Seite gedreht und sein Blick folgte Herrera in dessen Erinnerung. Amanda konnte seine Augen erkennen, die pechschwarz in tiefen Höhlen lagen. Sein Gesicht und sein Körper wurden von einem schimmernden Licht umrahmt.
Der Mann blickte Amanda direkt an.
»Wie konnte er mich anschauen?«, fragte Amanda ihren Kollegen Doktor Wu auf dem Weg durch den Flur, der zum Konferenzraum führte.
»Das hat er nicht. Er hat in die Kamera gestarrt.«
»Welche Kamera?«
»Na ja, Sie wissen, was ich meine. Die Projektion des Gedächtnisinhalts unserer Testperson. In diesem Fall die Erinnerung an ein Fangspiel durch das Haus mit seinem ältesten Sohn, die aus der Ich-Perspektive wiedergegeben wurde.«
»Der Mann sah also Herrera an? Unsere Testperson?«
»Das müssen wir erst beweisen. Aber ich halte es für die logischste Schlussfolgerung. Der goldene Mann wäre wohl kaum in dem Traum aufgetaucht, wenn die Testperson keine signifikante Erinnerung an ihn hätte, auch wenn diese vielleicht unterdrückt ist. Als Nächstes müssen wir Mister Herrera fragen, wer dieser Mann ist und weshalb er in seinem Traum erscheint?«
»Nur, warum war dieser Mann derart fokussiert? Sobald wir ihn lokalisiert hatten, war sein Abbild so scharf wie eine hochauflösende Fotografie. Ich dachte …«
»… dass alle Projektionen verschwommen sein müssten«, vollendete Wu den angefangenen Satz. »Ursprünglich war ich der gleichen Meinung wie Sie. Doch aus irgendeinem Grund muss diese Erinnerung so stark, so verfestigt sein, dass mittels der Elektroden innerhalb der Übertragung ein fast perfektes Abbild erschaffen wurde.«
»Fast perfekt?«, fragte einer der Techniker, der gerade zu den beiden Wissenschaftlern auf ihrem Weg stieß. Es war derjenige, der zuvor die Computerkontrollen bedient hatte. »Mir erschien er rundum perfekt.«
»Fast richtig«, relativierte Wu, ohne in seinem schnellen Schritt innezuhalten. »Allerdings war der Goldüberzug des Manns absolut gleichmäßig. Die Erinnerung wies nicht die nötige Konsistenz auf, um Einzelheiten sichtbar zu machen, wie etwa verschiedene Farbschattierungen. Trotz dieser Ungenauigkeit glaube ich, dass er eine besondere Bedeutung hat.«
»Welche könnte das sein?«, fragte Amanda.
»Weshalb war dieser Mann der einzige fokussierte Körper? Zwar mangelt es uns bisher an den Möglichkeiten, scharfe Bilder zu erzeugen, aber wir haben schon vor Beginn des Praxistests die Hypothese aufgestellt, dass die stärksten Erinnerungen beziehungsweise die wichtigsten Elemente einer Erinnerung am klarsten wiedergegeben werden.«
»Das heißt also, dieser Mann ist der fundamentalste Teil dieses spezifischen Gedankeninhalts?«
»Das liegt nahe.«
Amanda hatte bereits zuvor denselben Schluss gezogen. Es ermutigte und motivierte sie, eine Bestätigung ihrer Überlegung aus dem Mund eines guten Freundes und geschätzten Mitarbeiters zu hören. Ich bin also nicht verrückt, dachte sie. »Nur warum trifft das auf genau diesen Mann zu? Und nicht auf seinen Sohn oder sein Haus?«
»Diese Frage müssen wir unbedingt klären, Doktor Meron.«
Im Konferenzraum angekommen, dachte Amanda, dass dieser wegen seiner geringen Größe besser als Abstellkammer geeignet sei. Sie verkniff sich eine entsprechende Bemerkung und schob mehrere Stühle an den Lehnen zur Seite, um einen Sitz in einer der Ecken des Zimmers zu ergattern. Denn um ehrlich zu sein, lag die räumliche Ausstattung der Einrichtung in ihrer eigenen Verantwortung, da sie selbst die Inhaberin der Firma war, die diese betrieb. Und bei der Planung hatte sie die Meinung vertreten, geräumige, schicke Konferenzzimmer seien pure Geldverschwendung.
Ein Techniker namens Johnson und zwei Forscher – Guavez und Ortega – waren bereits anwesend und saßen an der gegenüberliegenden Tischseite. Wu und Nichols, ein weiterer Techniker, nahmen neben Amanda Platz.
Ohne Zeit zu verschwenden und ohne einleitende Floskeln eröffnete Amanda die Besprechung: »Wie Sie wissen, war heute unser erstes neurologisches Experiment an einem voll funktionsfähigen menschlichen Gehirn erfolgreich. Wir werden unmittelbar nach dem Ende dieses Meetings mit der Auswertung des bisherigen Projektverlaufs beginnen und entsprechend den Ergebnissen ein hypothetisches Modell skizzieren.«
Bei ihrer Zusammenfassung des Experiments ließ Amanda keine Zwischenfragen zu. Erst als sie nach mehreren Minuten fertig war, durften Anmerkungen vorgebracht werden.
»Okay, wer will zuerst?«
Alle Anwesenden hoben im Gleichklang die Hand.
»Lassen Sie mich raten?«, schlug Amanda lächelnd vor. »Sie möchten wissen, wer dieser goldene Mann sein konnte und weshalb er so fokussiert war?«
Alle nickten.
»Das frage ich mich selbst auch.«
Plötzlich schwang die Tür auf und eine kleine Frau quetschte sich in den verbliebenen Freiraum im Konferenzzimmer. Dann schob sie Amanda eine Aktenmappe zu.
»Danke, Diane.« Wieder an die versammelten Techniker und Forscher gerichtet, fuhr Amanda fort: »Wie schon früher, soll uns dieser Raum hier ein Forum für einen offenen und ehrlichen Austausch bieten. Wir alle haben an dem Versuch teilgenommen und wir alle sind Zeugen seines Resultats geworden.«
Amanda schlug die Mappe auf und las laut vor: »Nachdem der Patient um 9:00 Uhr geweckt wurde, wurden ihm verschiedene Fragen gestellt. Eine vollständige Transkription des Interviews, inklusive der Antworten, liegt bei.«
Amanda blätterte eine Seite weiter. »Eins: War Ihr Schlaf erholsam? Antwort: ja. Zwei: Erinnern Sie sich an ihren Traum? Antwort: ja.«
Sie blickte auf und verkündete: »Ich werde ein Stückchen vorspulen.«
Einige der Anwesenden kicherten nervös.
»Sieben: Innerhalb Ihres Traums erschien ein Objekt, ein Mann, um exakt zu sein. Der Mann wirkte, als sei er mit goldener Farbe lackiert worden. Wer ist dieser Mann? Antwort: Es tut mir leid, aber ich kann mich nicht erinnern, einen Mann gesehen zu haben. Acht: Dieser Mann stand im Freien vor einem der Hausfenster. Erinnern Sie sich an das Fenster? Antwort: ja. Ich war in unserem Haus. Im Haus meiner Familie. Es müsste ein Fenster zur Front hin gewesen sein. Mit Blick auf die Straße. Neun: Trotzdem fehlt ihnen die Erinnerung an den Mann vor dem Fenster? Antwort: Da war mit Sicherheit kein Mann.«
Amanda schluckte und klappte die Mappe zu. Sie deponierte die Mappe stumm auf dem Tisch und legte ihre Hände darauf. Was zur Hölle geschieht hier? Amanda kochte innerlich fast vor Wut. Meine Forschung, meine Firma … irgendwer sabotiert sie.
Sie behielt diesen Gedanken für sich. Ihre nächste emotionale Reaktion konnte sie dagegen nicht verbergen, denn der Schock, der plötzlich ihren Zorn verdrängte, stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.
»Doktor Meron, geht es Ihnen gut?«, fragte Wu.
Die Gedanken purzelten in Amandas Kopf durcheinander. Zittere ich? Sie hielt sich an der Tischplatte fest und nickte ihrem Kollegen zu.
»Ich bin mir sicher, dass es eine logische Erklärung für die Vorkommnisse gibt. Vielleicht hat Mister Herrera einfach Bruchstücke des Traums vergessen«, vermutete Wu.
»Nein. Wir müssen einen zweiten Test anberaumen. Diane, bitte bereiten Sie eine Testperson auf einen zweiten REM-Schlaf vor. Wir müssen das Tempo forcieren, damit wir heute Abend einen zweiten Test durchführen können.«
Die anderen nickten zustimmend. Amanda hörte Doktor Wu sprechen, aber seine Worte drangen nicht zu ihr durch, während sie dachte: Wir wurden sabotiert. Das Ganze ist ein Witz. Ein gottverdammter Witz.
»Haben wir eine zweite Testperson, die für eine REM-Schlaf-Analyse bereitsteht?«, fragte Doktor Wu.
»Ja, Doktor Wu. Der Cousin von Mister Herrera ist ebenfalls hier. Sie haben einen Vertrag für die gleiche Forschungswoche unterzeichnet.«
»Ausgezeichnet.« An die Techniker gewandt, sagte er: »Bereiten Sie sofort den Computer und das fMRI-System vor.«
Doktor Wu gab Amanda keine Schuld an ihrem Zustand. Sie hatte Jahre darauf verwendet, dieses Projekt aufzubauen, in denen sie rastlos auf das Ziel hingearbeitet hatte, menschliche Träume aufzuzeichnen. Die Tatsache, dass sie momentan von der Situation überfordert wurde, überraschte ihn nicht. Solange, bis sie sich gedanklich wieder sortiert hatte, konnte er die Leitung übernehmen. So wie er sie kannte, würde sie nur ein wenig Zeit und Ruhe benötigen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
Er selbst war vor einigen Jahren zu ihrem Team gestoßen. Obwohl ihre Karrieren bis dahin einen ähnlichen Verlauf genommen hatten und ihre Qualifikationen etwa gleich hoch waren, war Amanda die entscheidende Führungspersönlichkeit, was die kreativen Aspekte ihrer Forschung betraf. Er dagegen steuerte alles an Logik und nüchterner Analytik bei, die das Projekt erforderte. Auch charakterlich harmonisierten sie ausgezeichnet miteinander. Vom ersten Tag an hatten sich ihr Esprit und ihr Charme und seine Ernsthaftigkeit ergänzt.
Während seiner wissenschaftlichen Laufbahn hatte Wu hauptsächlich Typen kennengelernt, die es in erster Linie auf möglichst viele Veröffentlichungen in wichtigen Publikationen und auf hochdotierte Stellungen an Universitäten abgesehen hatten. Hier bei NARATech, kurz für Neurological Advanced Research Applications, bot sich ihm ein gänzlich anderes Bild. Die Mitarbeiter strebten gemeinsam nach einem Ziel, das alle teilten. In ihrem engen Konferenzzimmer spielten politische und bürokratische Überlegungen schlichtweg keine Rolle.
Anfangs hatte Wu geglaubt, Amanda würde NARATech aus ihrem Privatvermögen finanzieren, da er sich keine andere Konstellation vorzustellen vermochte, in der eine solche Firma existieren könnte. Nachdem er sie besser kennengelernt hatte, ließ sie gelegentlich Bemerkungen über Investoren und Kapitalgeber fallen. Er rätselte bis heute, wo seine Kollegin das Geld aufgetrieben hatte, um eine wissenschaftliche Einrichtung dieses Kalibers aus dem Boden zu stampfen? Normalerweise war niemand bereit, größere Summen in eine riskante Marktnische zu stecken, vor allem ohne gleichzeitig auf massive Eingriffsmöglichkeiten auf das Unternehmen zu pochen.
Doch NARATech schien es gelungen zu sein, derartigen Verpflichtungen auszuweichen. Die Firma, mit Sitz im brasilianischen Marabá, verfügte über eine Forschungsstation, deren Bau Millionen Dollar verschlungen hatte und die vergleichbaren Unternehmen im Silicon Valley jederzeit das Wasser reichen konnte.
Amanda leitete die Firma und Wu fungierte als Chefwissenschaftler. Das war alles. Eine einfache und elegante Lösung, die es ihnen erlaubte, ungestört zu agieren.
Wu hoffte für Amanda, dass der nächste Versuch glatter vonstattenginge. Genaugenommen hoffte er, auf ein Verschwinden des seltsamen Phänomens aus dem ersten Anlauf.
Mit einem Wink bedeutete er dem Techniker, anzufangen. Wieder waren alle vor dem Monitor versammelt, lediglich Amanda fehlte. Der Techniker schickte eine Mitteilung an Diane im Nebenraum, die besagte, sie solle den fMRI-Scanner einschalten, der die Elektroden auf der Innenseite des Helms, den die Testperson trug, aktivierte.
Wie beim ersten Mal tanzte ein Wirbel aus Farben auf dem Bildschirm, den schließlich Eruptionen strahlenden Lichts umgaben. Diesmal dauerte es länger, bis die Testperson den Traumzustand erreichte. Erst nach zehn Minuten erteilte er die Anweisung: »Beginn der Aufzeichnung.«
Das Geschehen auf dem Monitor war wieder von erstaunlicher Schönheit. Die anfänglichen Schwierigkeiten, das Geschehen zu interpretieren, schwanden, je mehr Einzelheiten deutlich hervorstachen.
Der aktuelle Traumzustand wies wesentlich weniger Struktur auf, als der von Mister Herrera. Abstrakte, unruhige Linien und Formen bildeten den Hintergrund für die zerfaserten Erinnerungen aus der Vergangenheit von Mister Herreras Cousin. Davor bewegten sich bisher undefinierte Körper vor und zurück. Es wirkte fast, als würde das Display selbst auf und ab hüpfen, während die Körper nach rechts und links steuerten.
Zum Glück bin ich nicht empfänglich für Krampfanfälle, dachte Wu.
»Wo ist das?«, fragte Johnson.
»Keine Ahnung«, erwiderte Gauvez. »Aber es scheint ein lustiges Ereignis zu sein.«
»Könnte ein Tanz auf einer Party sein«, schlug jemand vor und einige kicherten.
Wie aus heiterem Himmel verstand Wu den Kontext und den Bezugsrahmen. Es ist tatsächlich ein Tanz. Die Testperson träumte von einem glücklichen Moment voller Freude.
Menschen beziehungsweise deren Umrisse tanzten und dann umarmte einer der Körper einen anderen und sie verschmolzen zu einem Farbklecks. Der Klecks huschte auf den Monitorrand zu und die Testperson folgte ihm mit dem Blick an eine andere Örtlichkeit. Nach zwei Minuten trennten sich die beiden Körper und gingen ein Stück auf Distanz.
Und da war er wieder, mitten auf dem Monitor – der goldbedeckte Mann.
Er wartete.
Er schaute sich um.
Er blickte Doktor Wu direkt in die Augen.
Mit gutem Plan ein Edelmann in der Sonne und im Schatten ist lang geirrt, und hat ein Lied gesungen, auf der Suche nach El Dorado.
»Was meinen Sie mit ergebnislos?«, fragte Amanda. Sie wollte nicht anklagend klingen, aber es misslang ihr, da die letzten Wochen ein einziger Albtraum gewesen waren.
»Es … es tut mir leid, Doktor Meron«, bat Doktor Juan Ortega um Verzeihung. Vor ihm türmte sich ein Berg aus Aktenmappen und Papieren, hinter dem er plötzlich zu versinken schien.
Doktor Wu saß neben Amanda an der jenseitigen Tischseite und zusammen hatten sie ihren Mitarbeiter in den letzten Minuten regelrecht mit Fragen bombardiert.
»Ich meine nur, unsere bisher gesammelten Daten sind zu unvollständig, um fundierte Schlüsse zu ziehen.«
»Ich bin mit den Daten vertraut, Doktor Ortega«, sagte Amanda. »Ich möchte von Ihnen lediglich eine professionelle Einschätzung der Sachlage. Sie waren doch bei jedem der Versuche anwesend, wenn ich mich nicht irre.«
»Das war ich.«
»Gut. Und jetzt möchte ich von Ihnen hören, was sie glauben, womit wir es zu tun haben könnten. Warum taucht immer wieder dieser eine präzise umrissene Mann auf? Und weshalb ist er mit Gold überzogen? Warum zeigte er sich nur in den Erinnerungen von sechs Prozent unserer Testpersonen statt bei allen? Welche Idee für eine Erklärung haben Sie, die wir bisher vielleicht vernachlässigt haben?«
Doktor Ortega presste betreten die Lippen zusammen.
Amanda wusste, dass er zu den Menschen gehörte, die erst spät mit ihrer eigenen Meinung herausrückten. Er war ein ruhiger, reservierter Geselle, der oft erst in letzter Sekunde einen Entschluss traf, der dann jedoch häufig für Klarheit sorgte oder eine Diskussion auf die richtige Spur brachte.
Mit anderen Worten, er war ein essenzieller Bestandteil ihres Teams.
»Ich bin mir noch nicht sicher. Ich habe sämtliche Aspekte, die wir bereits debattiert haben, mehrfach abgewogen. Wir haben unsere Ausrüstung überprüft und wir können einen Hackerangriff oder sonstige Manipulationen ausklammern. Wir haben die Daten wieder und wieder studiert …«
»Kommt Ihnen vielleicht eine andere Erklärung in den Sinn. Eine, äh, nichtwissenschaftliche.«
Doktor Wu musste bei dieser Frage Amandas lächeln. Sie scherte sich nicht darum, was andere über sie dachten, und ihre Außenwirkung war ihr egal. Für sie zählten einzig Resultate. Und deshalb schätzte er sie.
»Na ja, äh … wir könnten uns stärker vorhandenen Ähnlichkeiten im soziokulturellen Umfeld der Testpersonen widmen, wie dem Bildungsgrad und ihrem Lebensstil.«
»Das sind wir doch schon durchgegangen. Vor ihrer Teilnahme mussten die Testpersonen einen Fragebogen zu diesen Themen ausfüllen. Daher wissen wir, dass es diesbezüglich keine statistisch auffälligen Ähnlichkeiten gibt.«
»Das ist mir auch klar. Sonst fällt mir leider keine Erklärung ein, außer der Existenz eines kollektiven Unbewussten.«
Amanda hob die Augenbrauen. »Fahren Sie fort.«
»Die Theorie des Kollektiven Unbewussten stammt aus der Psychoanalyse und fußt auf dem Vorhandensein gemeinsamer Erinnerungen innerhalb einer Spezies. Aus dieser Annahme resultierten später verschiedene Schulen, die davon ausgehen, dass instinktives Verhalten genetisch von einer Generation an die nächste weitergegeben wird.«
»Glauben Sie, unsere Testpersonen hätten übersinnliche Fähigkeiten?«
»Nein. Es ist Menschen biologisch unmöglich, nonverbale oder nonvisuelle Kommunikation zu betreiben. Das Konzept des Kollektiven Unbewussten reicht tiefer als die Ebene der Kommunikation. Es ist ein gemeinsames Band, das Menschen mit anderen Säugetieren verbindet, ebenso wie Tiere untereinander. Doch woher stammen unsere Instinkte? Woher weiß eine Mutter, wie sie sich um ihr Kind kümmern muss? Wo kommen die daran beteiligten Emotionen ursprünglich her?«
»Das sind interessante Fragen, aber wie können wir sie klären?«
»Das habe ich bereits probiert. Aber die bisherige Feldforschung ist dabei alles andere als hilfreich.«
»Wie meinen Sie das?«
»Fakt ist, dass von unseren vierundziebzig Testpersonen lediglich die Erinnerungen von drei Versuchsteilnehmern den Goldenen Mann beinhalten. Sie alle wirken verwirrt, sobald wir sie darauf ansprechen.«
»Und sie identifizieren ihn nicht wieder, wenn wir ihnen die Aufzeichnungen vorspielen.«
»Richtig. Also kann man nicht mit Gewissheit sagen, ob es sich um eine instinktive Reaktion handelt. Dennoch verfügen alle betreffenden Testpersonen möglicherweise über eine gemeinsame Abstammungslinie. Was spräche dagegen?«
Amanda überlegte einen Moment lang. »Hm. Der Stammbaum.« Sie sah Doktor Wu an, um eine Bestätigung zu erhalten, ob sie diesem Gedankengang weiter folgen sollte. Das hypothetische Konstrukt, das sie gerade innerlich durchdeklinierte, war absurd, und man könnte es mit Fug und Recht als Quacksalberei bezeichnen.
Er nickte, also redete sie weiter.
»Tatsächlich existiert der von Doktor Ortega vermutete Zusammenhang. Alle drei sind miteinander verwandt.«
Ortegas Miene spiegelte kurz seine Verblüffung wider.
»Richtig, das sind sie«, bekräftigte Amanda. »Die zwei Männer sind Cousins und die Frau ist die Schwester eines der beiden. Alle drei haben sich für die gleiche Testwoche angemeldet und alle drei haben verschiedene Träume, in denen der Goldene Mann vorkommt. Da er anscheinend weder Bestandteil ihres Kollektiven Bewusstseins noch ihres Kollektiven Unbewussten ist, müssen wir tiefer graben, um den Ursprung dieser Erinnerung zu ermitteln.«
»Was schlagen Sie vor?«
»Wir müssen uns vorübergehend auf diese drei speziellen Testpersonen konzentrieren. Wir sollten alle Teilnehmer, die eine andere Abstammung als die Herreras aufweisen, eine Weile von den Tests ausschließen.
»Wie soll das funktionieren?«, wandte Wu ein. »Solange wir keinen DNA-Strang definieren können, der eine Verwandtschaft bestätigt oder ausschließt, mangelt es uns an einer überprüfbaren Hypothese. Darüber hinaus würde dieses Vorgehen viel Zeit beanspruchen, ehe wir Resultate erhalten.«
»Ich wollte nicht auf DNA-Tests hinaus«, sagte Ortega.
Deshalb haben wir ihn hier, dachte Amanda. Sie hatte ihren Kollegen nicht nur wegen seiner Erfahrungen in Genetik, Psychologie und im Umgang mit Computern angestellt. Es war seine Fähigkeit, außerhalb ausgetretener Pfade zu denken, die ihn so wertvoll machte.
»Ich komme hier aus der Gegend. Ebenso Guavez. Viele Brasilianer können ihren Familienstammbaum sowohl bis zu den europäischen Konquistadoren und ihren Truppen zurückverfolgen, als auch bis zu den regionalen Stämmen, die früher hier siedelten.«
Amanda nickte. Wu schien leicht verwirrt.
»Ich würde darauf wetten, dass die Herreras uns ihre Familiengeschichte zumindest in groben Zügen erzählen können. Viele der regionalen Bevölkerungsgruppen in Mittel- und Südamerika sind in ehemaligen Stämmen verwurzelt, die geografisch gesehen wesentlich größere Gebiete bewohnten. Daher sind sie historisch miteinander verknüpft, auch wenn es in der späteren Entwicklung Nuancierungen gab.«
Nun verstand Wu. »Mit Informationen zu ihrem familiären Background könnten wir weitere Testpersonen mit der gleichen Abstammung finden. Diane …«
»Ist schon in Arbeit, Doktor Wu«, sagte die Angesprochene.
Diane war weit entfernt vom Klischee der hübschen Assistentin, deren Aufgaben sich darauf beschränkten, gut auszusehen und Notizen fürs Protokoll anzufertigen. Ihre Tätigkeiten waren für den reibungslosen Ablauf des Tagesgeschäfts bedeutender als die eines jeden anderen. Mit Ausnahme von Doktor Wu und Amanda war das kaum einem bewusst. Diane hatte einen Universitätsabschluss in Verwaltungsorganisation. Ihr Tätigkeitsfeld erstreckte sich praktisch auf jeden operativen Bereich des Unternehmens, angefangen vom Personalmanagement über die Finanzen bis hin zur Durchführung von Doppelblindstudien mit Placebos. Sie ergriff ihr Klemmbrett, auf dem sich drei von oben bis unten beschriebene Seiten befanden, stand auf und verließ den Raum.
»Doktor Ortega, wären Sie so freundlich und könnten ihr bei der Erforschung der Familienbande der Testpersonen helfen«, sagte Amanda.
Als sich der Doktor Ortega erhob, ergänzte sie: »Eine Sache noch: Normalerweise achten wir nicht besonders auf Diskretion. Persönlich ist mir das so lieber und Ihnen sicher auch. In dieser Angelegenheit sollten wir jedoch die Techniker instruieren, auf den wöchentlichen Upload unserer Daten ins Internet zu verzichten – zumindest bis wir sinnvolle Ergebnisse präsentieren können.«
Wu und Ortega runzelten die Stirn.
»Ich erwähne unsere außenstehenden Investoren nur selten. Ich bin unseren Geldgebern dankbar für die fortwährende Unterstützung, die sie leisten, ohne uns in unsere Forschung zu pfuschen. Solange wir nicht exakt wissen, was die Resultate unserer Versuche bedeuten, empfehle ich uns allen dringlich, die Klappe nicht zu weit aufzureißen.« Sie hoffte, dass ihre Angestellten die Warnung kapiert hatten.
»Wie Sie wünschen, Boss«, antwortete Ortega. »Wir sind auf Ihrer Seite, egal wobei.«
Sie nickte mit einem Lächeln. »Abgesehen von den Daten, die schon online sind, decken wir ab jetzt über alles den Mantel des Schweigens, bis wir etwas Vorzeigbares haben.« Amanda legte den Kopf schief. »Der nächste Versuch kann heute Abend stattfinden?«
»Ähm, ja«, antwortete Ortega gedehnt. »Wir haben den zeitlichen Ablauf bereits im letzten Monat um zwölf Stunden vorverlegt. So ist es für unsere IT-Berater einfacher, da sie am anderen Ende der Welt sitzen.«
Wie konnte ich das vergessen?, fragte sich Amanda beschämt.
»Entsteht dadurch ein Problem?«, hakte Wu nach.
»Nein«, meinte Amanda. »Mir war die Änderung des Zeitplans nur kurz entfallen. Wir alle haben eine anstrengende Woche hinter uns …«
»Kein Thema« tröstete Ortega sie. »Und wir halten alles offline, bis wir Ihr Okay kriegen. Ich werde mich auch darum kümmern, herauszufinden, woher die regelmäßige Datenabfrage kommt. Ich halte Sie auf dem Laufenden.«
»Datenabfrage? Jemand hatte Zugriff auf die Daten?«
»Ja. Jemand greift immer direkt nach dem Upload auf die Daten zu. Wenigstens ist es so, seit ich hier bin. Die Abfrage geht jedes Mal auf die gleiche IP-Adresse zurück. Vielleicht ist es unser geheimnisvoller Investor.« Er zwinkerte Amanda zu.
Wenn sie die Daten bereits haben … Amanda gefror das Blut in den Adern. Sie stand auf. »Sehr gut. Ich danke Ihnen allen für Ihre harte Arbeit. Wir warten jetzt das Ergebnis der Befragungen ab, die Diane und Doktor Ortega durchführen werden und treffen uns morgen früh zur gleichen Zeit wie heute.«
Während Amanda aus dem Zimmer trat, dachte sie: Es ist an der Zeit, einen alten Freund anzurufen.
»Amanda Meron«, sprach Paulinho in das Mobiltelefon in der Halterung auf seiner Schulter. Gleichzeitig Fahrrad zu fahren und zu telefonieren, war keine einfache Leistung. Davon unbeeindruckt, tat er es gewohnheitsmäßig dennoch. »Pass doch auf!«, schrie er auf Portugiesisch einem knapp vorbeirauschenden Taxi zu. Der Fahrer hupte zur Antwort, ohne Paulinho eines Blickes zu würdigen.
»Paulinho, bist du das?«, fragte die Frau am anderen Ende der Leitung.
»Ja. Wie geht’s dir?«
»Gut. Schön, mal wieder mit dir zu reden. Können wir uns kurzfristig treffen?«
Paulinho konsultierte seine Armbanduhr. »Ja, das geht. Ich muss in einer halben Stunde zu einem Meeting, aber ich bin schon in der Innenstadt.« Seine nachmittäglichen Fahrradtouren waren nur eine Art des Trainings, mit der sich Paulinho fit hielt. Ansonsten zählten Felsenklettern, Gewichtheben, Joggen, Schwimmen und Racquetball im Fitnessstudio neben dem Verwaltungsgebäude, in dem er arbeitete, dazu.
»Okay. Ich habe später ebenfalls eine Besprechung. Wollen wir uns auf eine Tasse Kaffee verabreden? Ich kann zu dir kommen.«
Paulinho stimmte zu, lenkte sein Rad auf den Gehsteig, stellte es vor einem Café zwischen zwei Einzelhandelsgeschäften ab und schickte Amanda eine SMS mit der Adresse.
Zehn Minuten später, in denen noch nicht einmal ein Tisch im Außenbereich des Cafés freigeworden war, eilte Amanda auf die umzäunte Terrasse. Sie tauschten Höflichkeiten aus, bestellten die Getränke und nahmen am ersten freien Tisch Platz.
»Was musst du mir so dringend mitteilen?«, fragte Paulinho und nippte an seiner Tasse.
»Ich will dir nichts sagen, ich möchte dich etwas fragen. Genaugenommen muss ich dich um einen Gefallen bitten.«
Er versuchte vergeblich, ihren Gesichtsausdruck zu interpretieren. »Ist mit dir alles in Ordnung?«
»Wahrscheinlich schon, aber da bin ich mir nicht hundert Prozent sicher. Es geht jedoch nicht um mich, sondern um NARATech.«
»Deine Firma?«
»Ich mache mir Sorgen um unsere Investoren, besonders darum, wer sie wirklich sind. Wir erzielen momentan Fortschritte – beachtliche Fortschritte. Wir gönnen uns den Luxus stiller Teilhaber. Ich hätte gern, dass du etwas über sie ausgräbst.«
»Ausgräbst?«
Amanda nickte.
»Amanda, ich bin kein Spion. Ich bin im Finanzamt angestellt. Als Rechnungsprüfer.«
»Du bist mein einziger Kontakt im staatlichen Verwaltungsapparat. Du bist smart und du könntest die Informationen aufstöbern, auf die ich angewiesen bin – wie Kontobewegungen und Verbindungen zu anderen Personen und Firmen.«
Endlich konnte Paulinho ihre Miene deuten. Sie ist verzweifelt. Seine Freundin tat ihm plötzlich leid. Amanda Meron hatte eine zerbrechliche Persönlichkeit. Sie war das Musterbeispiel eines introvertierten Genies und üblicherweise kam sie nicht auf Knien gekrochen, um aus einem Bekannten einen Gefallen herauszuleiern. Sie hatten sich erst vor einem Jahr kennengelernt und auf Anhieb blendend verstanden. Paulinho war extravertiert und gesellig. Er hatte sie auf einer Dinnerparty angesprochen, bei der sie beide die einzigen Singles gewesen waren. Ihre ruhige Zuversicht, ihre präzise Ausdrucksweise und die Kraft ihrer Worte hatten ihn sofort beeindruckt. Dazu kam ihre atemberaubende Schönheit.
Er dachte einen Moment über ihre Bitte nach, ehe er antwortete: »Amanda, ich würde dir gern helfen. Nur ich kann nicht. Ich habe keine Ahnung, wie ich das anstellen sollte.«
»Ich habe IP-Adressen und Kontonummern von Finanztransaktionen. Damit könnten wir anfangen.«
»Wie steht es mit einem Namen?« Er trank einen Schluck Kaffee. »Und weshalb bist du so besorgt?«
»Ich bin nicht besorgt … und nein, leider habe ich keine Namen. Das gehörte zu unserer Abmachung. Davon abgesehen haben wir es nicht mit Einzelpersonen, sondern mit einer Organisation zu tun, deren ganzer Stolz ihre Diskretion ist. Sie haben versprochen, das Projekt bis zum Ende zu finanzieren und uns die komplette Kontrolle darüber zu lassen. Die Bedingung dafür war die absolute Anonymität unseres stillen Teilhabers.«
»Wohl eher eures unbekannten Teilhabers.«
Amanda lächelte. »Wie auch immer. Bis jetzt haben sie sich nie eingemischt und auch wir haben uns an unseren Teil der Vereinbarung gehalten. Mein Team lädt unsere Daten einmal pro Woche hoch und jemand greift darauf zu, ohne je Fragen zu stellen.« Sie hielt kurz inne. »Gut. Um deine zweite Frage zu beantworten: Ich schätze, ich bin aktuell ein wenig … überfordert. Unser Projekt entwickelt sich schneller und schneller, und erst jetzt habe ich realisiert, dass ich keinen blassen Schimmer habe, für wen wir da überhaupt schuften.«
»Ich weiß immer noch nicht, wie ich dich unterstützen kann. Ich kann mich nach hilfreichen Hinweisen umsehen, aber so ganz ohne den Namen einer Firma oder einer Person …«
»Sie hat einen Namen. Sie haben ihn erwähnt, als ich das erste Mal von ihnen gehört habe.«
Paulinho hob eine Augenbraue.
»Sie nannten sich Dragonstone Corporation. Das ist mit Sicherheit die Dachfirma und ich erhalte die Zahlungen von einer ihrer Töchter. Eine davon heißt Drache Global.«
»Also eines dieser Konstrukte, um Steuern zu sparen. Weißt du, wo sich der Hauptsitz befindet?«
»Leider nein. Der Mann, mit dem ich damals vor sieben Jahren verhandelt habe, hatte einen französischen Akzent. Er könnte also auch ein Kanadier gewesen sein. Ich habe eine Online-Recherche durchgeführt und nichts über ihn gefunden.«
»Ich werde sehen, was ich bewerkstelligen kann. Ich hoffe, mit dir ist wirklich alles in Ordnung. Lass es mich wissen, sobald du Neuigkeiten hast.«
Amanda schickte sich an, aufzustehen. »Das werde ich. Und du gibst mir bitte sofort Bescheid, wenn du etwas herausgefunden hast.«
Als sie gegangen war, erhob sich Paulinho zunächst ebenfalls. Dann setzte er sich wieder, nahm sein Smartphone, öffnete einen Browser und suchte nach der Nummer einer alten Freundin. Ich würde mich wundern, wenn sie online auffindbar ist.
Er scrollte, bis er zu der gesuchten Telefonnummer kam, klickte sie an und wechselte zur Telefon-App. Er hielt das Handy ans Ohr, in der Hoffnung, ihre Privatnummer und nicht die Durchwahl einer Firmenzentrale gewählt zu haben.
Komm, heb ab.
Eine Frau nahm den Anruf an. »Juliette Richardson.«
»Julie? Hallo, hier ist Paulinho von der Uni.« Der Hochschulabschluss der beiden lag viele Jahre zurück. Damals waren sie eng befreundet gewesen. Ihre beruflichen Ambitionen hatten sie später getrennt, bis sich ihre Pfade vor einigen Monaten erneut kreuzten, als er in den USA reiste, um bei der Beseitigung des finanziellen Chaos mitzuwirken, den ein Virusausbruch im Yellowstone Nationalpark angerichtet hatte.
»Paulinho! Zweimal in einem Jahr. Das ist ja unglaublich.«
»Ja und es tut mir leid, dass ich mich nicht früher gemeldet habe. Und um ehrlich zu sein, rufe ich jetzt an, weil jemand anderes etwas braucht.«
»Und worum geht es dabei …«, antwortete Julie zögerlich.
Paulinho seufzte. »Na ja, ich denke da an die Ereignisse im Yellowstone-Park.«
Keine Antwort.
»Julie, mir ist klar, dass du etwas Ähnliches nicht wieder durchmachen willst. Aber mir ist auch klar, wie enttäuscht du und Harvey gewesen seid, weil ihr die Angelegenheit nicht zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht habt.«
Stille.
»Ich wurde gerade von einer Freundin kontaktiert, die in der neurologischen Forschung tätig ist. Sie kam zu mir, weil ich ihr dabei zur Hand gehen soll, Informationen über einen ihrer Investoren aufzutreiben. Sie wirkt verzweifelt, was kein bisschen zu der Frau passt, die ich bisher kannte. Ich mache mir wirklich Sorgen um sie. Ich werde ihre Bitte erfüllen und ich wollte dich vorher darüber informieren.«
Endlich sprach Julie. »Warum?«
»Na ja, der Firmennamen, den sie mir gegeben hat, lautet Drache Global.«
»Julie, ich habe dir mehrfach gesagt, dass ich keine Lust habe, mir den Hintern drei Wochen platt zu sitzen, während du über die Bordwand kotzt.«
Harvey »Ben« Bennett rechnete mit einer gepfefferten Retour. Als diese seltsamerweise ausblieb, widmete er sich wieder dem Buch, das er gerade las: Die Pflanzenwelt der Rocky Mountains. Las war vielleicht zu viel gesagt. Er blätterte durch die Seiten und hoffte, durch Querlesen darin etwas von Belang aufzustöbern.
Juliette dreht sich an der Tür des Wohnzimmers der kleinen Hütte, die sie zusammen bewohnten, um und sagte: »Ich habe nicht behauptet, in jedem Fall seekrank zu werden. Es könnte vielleicht so sein, da meine Mutter und meine Schwester darunter leiden.«
Ohne von seinem Buch aufzublicken, antwortete er: »Seekrankheit ist vererbbar.«
»Gleichermaßen ist es nicht prognostizierbar, ob ich sie auch bekomme. Und selbst wenn es so wäre, gibt es Medikamente und Armbänder dagegen.«
»Willst du mich veräppeln? Du glaubst doch nicht etwa ernsthaft an die Wirkung dieser Dinger?«
Julie trat einige Schritte auf ihn zu, bis sie direkt neben seinem Sessel stand, einem verlotterten alten Möbelstück, das sie am liebsten in den Müll werfen würde, wenn er es ihr gestatten würde. Man sitzt darauf so bequem, beharrte er jedes Mal, wenn sie ihn darum bat. Sie war diesbezüglich abweichender Meinung und bevorzuge das Zweiersofa als Sitzgelegenheit.
»Und du wirfst mir vor, ich sei diejenige, die immer aus allem ein Drama macht.«
»Das bist du auch.« Ben sah keine Sekunde von den Johannisbeeren auf, die er gerade in dem Kapitel über steinbrechartige Stachelbeergewächse studierte.
Julie schnaubte verärgert. »Natürlich. Ich bin jetzt also eine Drama-Queen, weil ich darüber nachdenke, ob ich auf einer mehrwöchigen Kreuzfahrt durch den Golf von Mexiko vielleicht seekrank werde. Und mit dir hat das Ganze nichts zu tun, obwohl du mich zu diesem Urlaub überreden willst.« Sie schwieg und erwartete seine Reaktion.
Lass dich nicht darauf ein, dachte er. Sobald du aufsiehst, hat sie gewonnen.
Er sah auf.
Verdammt, ist sie schön. Und jetzt?
Julie warf die Arme in die Höhe, ging aus dem Wohnzimmer und kehrte zu dem Topf mit Chili zurück, den sie gerade kochte; und den sie nach einem mündlich überlieferten Rezept zubereitete, das in ihrer Familie in jeder Generation von der Mutter an die Tochter weitergegeben wurde. Da Ben Chili für sein Leben gern aß, hatte er keinerlei Probleme damit, mehrmals im Jahr eine gigantische Portion davon zu verdrücken.
Julie wohnte erst seit wenigen Monaten »offiziell« mit ihm zusammen in seiner Hütte in Alaska und keiner von ihnen trug sich mit dem Gedanken, an diesem Arrangement in naher Zukunft etwas zu ändern. Allenfalls würde ihre Beziehung noch enger und ernsthafter werden. Unterdessen mühte sich Ben nach Leibeskräften ab, in Gegenwart seiner Park Ranger Kollegen nicht allzu verliebt zu wirken. Seit sie gemerkt hatten, dass seine Tage als Single gezählt waren, hatten sie ihn damit aufgezogen und ihm Spitznamen wie Romeo verpasst. In ihren Hänseleien waren seine Kollegen im Denali Nationalpark genauso einfallslos wie seine früheren Mitarbeiter in Yellowstone.
Nach seinem Umzug hierher waren er und Julie mit offenen Armen als Vollzeitmitarbeiter des Parks begrüßt worden. Julie besetzte die Stelle der Koordinatorin der IT-Abteilung und des Technischen Supports. Nebenbei arbeitete sie weiterhin in Teilzeit für das CDC, die Gesundheitsbehörde der USA. Ihre ehemalige Abteilung, die Biological Thread Research, war wegen des Mordverdachts gegen den Leiter der Abteilung und der Infiltration durch Terroristen suspendiert worden. Indem sie sowohl im Denali Nationalpark als auch bei der Gesundheitsbehörde der USA beschäftigt war, verdiente sie eine ganze Stange Geld. Als Ben endlich das Grundstück in Alaska gekauft hatte, auf das er schon lange ein Auge geworfen hatte, bot er ihr an, bei ihm einzuziehen. Zusammen verwandelten sie die alte Trapperbehausung auf dem Gelände in ein gemütliches Heim.
Julie kehrte ins Wohnzimmer zurück, nachdem sie den Topf mit dem Chili umgerührt hatte und ihn guten Gewissens für fünf Minuten unbeaufsichtigt lassen konnte. Ben blickte bei ihren Kochgewohnheiten einfach nicht durch. Sie beide liebten Kochen und er ging dabei meistens genau nach Rezept vor. Julie widmete sich dem in Zubereitung befindlichen Gericht permanent, selbst wenn das Rezept verlangte, zwanzig Minuten zu warten. Spätestens nach einer Minute stocherte und rührte sie darin herum. Ben dagegen ließ statt zwanzig eher dreißig Minuten verstreichen, bevor er eines der Kochutensilien anrührte.
»Worauf ich hinauswill, ist«, sagte Julie, »dass du dich weigerst zu fliegen. Mit dem Flugzeug könnten wir in ein paar Stunden im Abfahrtshafen sein und hätten vor Beginn der Kreuzfahrt noch einige Stunden zur freien Verfügung.«
»Ein paar Stunden? Ist das dein Ernst? Der Flug von Anchorage dauert neun Stunden. Dazu kommt die Fahrt zum Flughafen. Wir wären drei Tage unterwegs und müssten zwei Hotelübernachtungen bezahlen. Ich werde es nicht tun. Basta.« Ben hatte versucht, so endgültig wie möglich zu klingen, um seine Partnerin von der Ernsthaftigkeit seiner Entscheidung zu überzeugen. Tatsächlich hatte er sich ziemlich unentschlossen angehört. Wenn er ehrlich zu sich selbst sein sollte, musste er sich eingestehen, dass er sich einen Urlaub wünschte. Zwar liebte er den Sommer in Alaska, aber die Vorstellung auf einem Schiffsdeck zu sitzen, in der Sonne zu baden und einen Cuba Libre zu schlürfen, gefiel ihm besser. Nicht zu vergessen, Julies Bekleidung. Sie hatte einiges an Badezeug online bestellt, da sie sicher war, in dieser Diskussion am Ende siegreich vom Platz zu gehen.
Und das würde sie auch. Ben zögerte seine Kapitulation nur ein bisschen hinaus, damit sie nicht auf die Idee käme, ihn allzu leicht um den kleinen Finger wickeln zu können. Wenn er ein wenig Widerstand leistete, würde sie umso erfreuter sein, sobald er zustimmte.
Julie stapfte zurück in die Küche, um das Chili umzurühren.
Als sie kurz darauf wieder bei ihm war, sagte sie: »Ich habe mir Bademode im Internet gekauft. Das meiste davon ist heute Morgen mit der Post geliefert worden. Soll ich mit meinen Neuerwerbungen eine kleine Modenschau für dich veranstalten?« Julie hob eine einzelne Augenbraue, da sie dachte, dies sähe sexy aus. Tatsächlich sah es dämlich aus, was wiederum in Bens Augen auf eine andere Art sexy wirkte.
Ben grinste. »Gern. Dafür lege ich sogar das Buch weg.«
Julie eilte ins Schlafzimmer, das neben der Küche und hinter dem Wohnzimmer lag.
Ben schlug das Buch zu und platzierte es auf dem Tisch. Er hörte den schrillen Klingelton ihres Smartphones, den sie nicht ändern oder leiser stellen wollte, egal, wie sehr er ihn nervte. Sie hatte das Ding vierundzwanzig Stunden am Tag dabei, da sie fürchtete, sonst einen Notruf zu verpassen, falls dringend ein Passwort geändert werden musste oder ein Computer abgestürzt war.
Als Julie ins Wohnzimmer zurückkam, trug sie die gleiche Kleidung wie vor wenigen Minuten.
»Alles okay?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. Konzentration und Geschäftigkeit hatten den fröhlichen und verspielten Ausdruck in ihrer Miene verdrängt.
»Was ist los, Jules?« Ben stand auf und ging zu ihr.
»Wir müssen nach Brasilien.«
Ben fehlten für einen Moment die Worte. Dann sagte er: »Entschuldigung? Brasilien? Brasilien in Südamerika?«
»Ein alter Freund von der Uni hat angerufen. Drache Global sind dort unten aktiv. Anscheinend hecken sie wieder etwas aus.«
Ben gefror das Blut in den Adern. Drache Global. Nachdem er zwei Monate darauf verwendet hatte, aufzudecken, woran diese Firma arbeitet – und wer dahintersteckt – hatte er frustriert aufgegeben. Aus Regierungskreisen hatte er keine Unterstützung erhalten, egal, ob sie etwas darüber wussten oder nicht. Und Julies Position innerhalb des CDC war zu niedrig, um von dort Informationen abzuzapfen.
Alles, was er eruieren konnte, war, dass es sich dabei um eine Tochterfirma unter dem Dach eines Konsortiums handelte. Und diese mysteriöse Organisation hatte die Ereignisse vor einem halben Jahr im Yellowstone Nationalpark zu verantworten. Obwohl sie einen Terrorangriff durchgeführt hatten, waren sie im Großen und Ganzen ungeschoren davongekommen. Niemand außer Ben und Julie hatten realisiert, wie knapp die USA der totalen Zerstörung entronnen war. Deshalb hatte er nach der Beinahe-Katastrophe Nachforschungen angestellt. Es existierte eine ganze Reihe von Unterorganisationen wie Dragonstone und Drage Medisinsk, über die er nicht mehr herausfand als öffentlich zugängliche Firmenporträts und einige Geschäftsverbindungen in den Ländern, in denen sie operierten. Darunter war nichts Illegales gewesen und nichts, mit dem er ihre Verstrickung in den Terroranschlag beweisen konnte. Egal, wie viele Stunden er mit seinen Recherchen zubrachte, auf Verwertbares stieß er nicht.
Nun, wo er schon fast resigniert hatte, reichte ihm jemand eine helfende Hand. Er wollte verdammt sein, wenn er sie nicht ergriff.
Juliette Richardson starrte aus dem kleinen, ovalen Fenster der Boeing 737, während diese den Karibischen Ozean überflog. Sie sehnte sich danach, dort unten auf dem blauen Wasser zu sein und auf einem luxuriösen Schiff mit der Ausstattung eines Fünf-Sterne-Hotels von Mexiko nach Jamaika zu kreuzen. Die Reise, die sie gebucht hätte, machte in drei Häfen Stopp: Cozumel, Grand Cayman und Port Royal.