2,99 €
Als der zwölfjährige Dee mit seiner Familie an die Küste nach Südengland umzieht, kann er nicht ahnen, in welches Abenteuer er geraten wird. Denn der ehemalige Fischerort Cornish Cove bewahrt ein dunkles Geheimnis. Ein leuchtender Nebel treibt dort sein Unwesen und lässt Menschen spurlos verschwinden. Während die Bewohner hilflos sind, gerät Dee, durch die besondere Gabe einer blühenden Phantasie, unausweichlich in die Fänge des Nebels. Doch was kann Dee, was niemand vor ihm konnte? Mit seinen neuen Freunden stellt er sich dem NEBEL, der eigentlich immer nur ein Ziel hatte, nämlich zu LEBEN. Das Geheimnis von Cornish Cove beinhaltet die neu bearbeiteten Romane: Der Nebel- und Der Fluch von Cornish Cove.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 206
Veröffentlichungsjahr: 2022
Oliver Erhardt
Das Geheimnis von Cornish Cove
Auflage 1.0
Copyright © 2022 Oliver Erhardt
© 2022 Oliver Erhardt
1. Auflage
Geschichte:
Oliver Erhardt
Mit der freundlichen Unterstützung von:
Lisa & Martina Erhardt und Elke Armborst
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN Softcover: 978-3-347-77732-3
ISBN Hardcover: 978-3-347-77733-0
ISBN e-Book: 978-3-347-77734-7
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Druck & Distribution im Namen des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
KAPITEL EINS
Phantasie ist etwas Wunderbares. Wenn man viel Phantasie besitzt, kann man in Sekundenschnelle aus der realen Welt entfliehen. Man kann sich an andere Orte denken, die spannendsten Abenteuer erleben und da alles in der Phantasiewelt geschieht, kann einem dort auch nichts passieren, oder?
Cornish Cove
Das Unwetter, das den kleinen Küstenort Cornish Cove den ganzen Tag heimgesucht hatte, zog nun endlich auf den offenen Atlantik weiter. In dieser Jahreszeit war es normal, dass es öfter stürmte und kräftiger regnete, dafür war das Klima hier im Südwesten Englands sehr mild, sogar im November, sodass hier auch Palmen und Oleander wuchsen. Jetzt gegen Abend - so war es komischerweise meistens - lockerte sich die Wolkendecke auf und die letzten Sonnenstrahlen tauchten den ehemaligen Fischerort in ein warmes Licht.
Mit dem Licht kam auch wieder Leben in den Hafen. Geschäfte öffneten ihre Türen und es wurden Schilder mit Sprüchen wie „Der beste Cornish Cove Cake, nur bei uns“ aufgestellt. Ein älterer Mann, der schwerfällig ein Bein nachzog überprüfte die wenigen Fischerboote, die im Hafenbecken vor Anker lagen, auf Sturmschäden. Die Fischerei hatten die Menschen von Cornish Cove allerdings schon vor Jahren aufgegeben. Seitdem bekamen sie ihren frischen Fisch aus Plymouth. Dort war die größte Fischerverwertungsanlage Englands errichtet worden und die Seeleute gingen mit modernsten Booten auf Fischfang. Nur der Touristen wegen, von denen Cornish Cove mittlerweile lebte, hielt man eine Handvoll Fischerboote in Schuss. Sie machten sich gut auf Fotos und Postkarten und regelmäßig fuhr der alte Scott McCanzie, ein kauziger Seemann mit Kapitänsmütze und weißem Vollbart, die Touristen hinaus auf die See. Mit seiner tiefen Stimme erzählte er von den Sagen, die sich um diese Gegend rankten. Wie die von Merlin und König Artus, der der Geschichte nach hier gelebt hatte und am Totenbett versprach eines Tages hierher zurückzukehren. Oder er berichtete vom Fischfang vergangener Tage. Das mochten die Besucher am liebsten. Wie die Kinder hingen sie an Scotts Lippen und ihre Phantasie erwachte bei den alten Seefahrergeschichten, die von riesigen Meeresungeheuern, gefundenen Goldmünzen oder Begegnungen mit Gespenstern auf offener See handelten. Seemannsgarn nannte man diese Geschichten und mit ihnen zog Scott McCanzie seine Zuhörer immer in den Bann.
Cornish Cove lag in einer sichelmondförmigen Bucht an der südwestlichsten Spitze Englands. Der Ort besaß einen breiten Sandstrand und war umgeben von einer immergrünen Landschaft und steilen felsigen Klippen, die das Bild dieser Gegend prägten. Auf der linken Seite der Bucht streckte sich langsam ansteigend, Lands End, eine Landzunge weit ins Meer. An deren Spitze stand das Wahrzeichen des Ortes, der schneeweiße Leuchtturm mit dem kupfernen Dach, das jetzt im Licht der untergehenden Sonne hellgrün schimmerte. Unterhalb des Leuchtturms fielen die Klippen fast senkrecht ins Meer, das sich nach dem Sturm langsam zu beruhigen schien. Auch die 100 Meter lange Kaimauer, die von Lands End aus parallel zum Strand verlief, musste den Wassermassen nicht mehr trotzen, die den ganzen Tag über gegen sie geschlagen waren. Die Bewohner von Cornish Cove hatten sie zum Schutz der Bucht und ihrer Häuser gebaut. Diese lagen teilweise direkt am Strand oder waren kreuz und quer in der Bucht verteilt. Zwischen ihnen waren im Lauf der Zeit unzählige verwinkelte Gassen entstanden.
In mehreren Reihen zog sich eine Spur von kleinen, einstöckigen Steinhäusern am feinsandigen Strand entlang. Sie führte im Bogen um das kleine Hafenbecken herum bis zur rechten Seite der Bucht, wo ein Haufen von herabgefallenen Felsbrocken den Strand bedeckte. Dort endete die Häuserreihe und auch Cornish Cove. Nur ein einziges Haus folgte noch, das von Scott McCanzie. Eine Metalltreppe führte, an den ineinander verkeilten Felsstücken hinauf, zu dem Haus, das er sich dort oben gebaut hatte.
Der nächstgelegene Ort war St. Ives. Eine einspurige Straße, die sich durch die einsame und stets windige Hochebene schlängelte, brachte einen von Cornish Cove nach sechs Kilometern Fahrt dorthin. Diese Route war bei den Touristen sehr beliebt, denn sie führte an endlosen, saftig grünen Weiden entlang und die Besucher bekamen den besonderen Charme dieser Gegend zu spüren, wenn sie urwüchsige Hecken, knorrige, vom rauen Wetter geformte Bäume und verwitterte Holzzäune, die die grasenden Schafe von der Straße fernhielten, zu sehen bekamen. Die Touristen gewannen schnell den Eindruck, dass das Leben so einfach sein konnte und vielen kam der Gedanke, was ein Mensch eigentlich wirklich benötigte um glücklich zu leben. Die Menschen aus Cornish Cove schienen jedenfalls sehr zufrieden zu sein.
Es gab allerdings auch eine zweite Möglichkeit nach St. Ives zu kommen. Hatte man es eilig und war mutig genug, konnte man auch dem geschlängelten Pfad auf den steilen Klippen entlang der Küste folgen. Dann erreichte man St. Ives schon nach vier Kilometern Fußweg. Allerdings taten das die wenigsten, denn in dieser Gegend hatte es erstens niemand wirklich eilig und zweitens wollte keiner ein Unglück heraufbeschwören. Es gab nämlich Geschichten von Menschen, die sich auf den Klippen Richtung St. Ives aufgemacht hatten, dort jedoch niemals angekommen waren. Sie verschwanden im Nebel, wie es hieß und wurden nie wieder gesehen. Nur im Geräusch des Windes will so mancher eine Stimme der Vermissten gehört haben oder des Nachts, wenn die dichten, seltsam leuchtenden Nebelschwaden lautlos vom Meer kommend auf den Ort zuwanderten und sich langsam in die verwinkelten Gassen bohrten, glaubten einige einen menschlichen Umriss darin erkannt zu haben. Solche Erlebnisse wurden dann aufgeregt im Pub erzählt und man konnte sich einer gespannten Zuhörerschaft sicher sein, denn dieser Nebel war das Einzige, wovor sich die Menschen von Cornish Cove insgeheim fürchteten.
Ansonsten waren sie rundum glücklich. Sie liebten die Natur, glaubten an das Übernatürliche und sprachen neben dem englischen auch einen keltischen Dialekt (wenn sie mal unter sich sein wollten), doch für gewöhnlich waren sie äußerst gastfreundlich und gesellig. Sie liebten ihr Land mit den sagenhaften Geschichten, lebten gern in und glücklicherweise auch von der Vergangenheit oder einfach so in den Tag hinein. Andererseits waren sie auch offen für neue, moderne Techniken. Sie hatten zum Beispiel im Landesinneren einige Windräder aufstellen lassen, die genug Strom für den kleinen Ort lieferten, was sie ein Stück weit unabhängig machte.
In einem Vorort von London
Unabhängigkeit hätte sich auch der zwölfjährige Dee gerne gewünscht. Er lebte mit seiner Familie fünfhundert Kilometer entfernt in einem Haus, in dem sich die Umzugskartons stapelten. Mal wieder. Sein Vater war abhängig von seinem Arbeitgeber und der hatte ihn überraschend in eine andere Stadt versetzt. Das war schon öfter vorgekommen und jedes Mal ist die Familie mit ihm umgezogen. Nicht immer war der Umzug eine Verbesserung gewesen, aber als sein Vater vor zwei Jahren nach London versetzt wurde, dachten alle, sie hätten das große Los gezogen.
Sie lebten zwar außerhalb der großen Stadt, weil die Mieten in London einfach nicht bezahlbar waren, doch Dee fuhr mit seinem Bruder Mick mit dem Schulbus nach London und ging dort zur Schule. Benny, der Jüngste, ging noch in den Kindergarten. Sie fühlten sich in dem Vorort recht wohl, denn die große Stadt bot ihnen alles, was sie sich wünschen konnten, auch für ihre Zukunft. Dee dachte schon über seine Zukunft nach, denn er war reifer als andere Jungen in seinem Alter. Er wollte später unabhängig sein, dazu musste er studieren, glaubte er.
Weil sein Vater selten zu Hause war oder erst spät abends nach Hause kam, war Dee als der Älteste der Geschwister zum Ersatzvater für seine kleineren Brüder geworden. Oft half er Mick bei den Hausaufgaben oder tröstete Benny wenn dieser Kummer hatte. Dann erzählte Dee ihm eine phantastische Geschichte, die er sich spontan ausdachte. Das konnte er besonders gut, denn er hatte eine lebhafte Phantasie. Manchmal schrieb er seine Geschichten auch auf und las sie in der Schule vor. Seine Klassenkameraden und auch seine Klassenlehrerin, die immer meinte er würde einmal ein Schriftsteller werden, mochten sie. Zum Schreiben brauchte er allerdings etwas Zeit, Zeit zum Träumen. Doch im Moment hatte er keine Zeit. Alle fünf Minuten stürmte jemand in sein Zimmer, denn einer von beiden Geschwistern hatte immer ein Problem oder seine Mutter rief nach ihm, wenn sie Hilfe brauchte. Vielleicht würde es besser werden, wenn sie umgezogen waren. Aber ausgerechnet dorthin? Dee machte seinem Unmut Luft.
„Warum ausgerechnet nach Cornish Cove?“, er konnte es wirklich nicht fassen, dass sie von London weg, in dieses kleine Kaff am Ende der Welt zogen. Er saß beim Frühstück mit seinen beiden jüngeren Brüdern, die sich, so wie jeden Morgen, mit Müsli bewarfen, wenn der andere gerade nicht hinsah.
Seine Mutter Margret, die alle nur Maggie riefen, stand am Ofen und machte Rührei. Sie pfiff so laut auf einem Finger, dass die Jungs zusammenzuckten.
„Hört jetzt auf damit!“, rief sie laut aber nicht genervt und stellte eine Schüssel mit dampfendem Rührei scheppernd auf den Tisch. Fassungslos starrte Dee auf das Display seines Handys. Er hatte Google Maps geöffnet und sich angesehen, wo Cornish Cove lag und was man über diesen Ort wusste. Klar, Dee liebte gruselige Seefahrer Geschichten und mysteriöse Orte und er kannte auch viele von den Sagen, wie die von König Artus oder Robin Hood, doch er bezweifelte, dass es hilfreich sein konnte an das äußerste Ende Englands zu ziehen, in einen Ort, der womöglich keine Schule hatte und wahrscheinlich auch kein Internet kannte.
„Gibt es denn überhaupt Schulen in Cornish Cove?“, überlegte Dee und wollte gerade die Suchfrage in sein Handy eingeben, als ihm seine Mutter das Gerät aus der Hand fischte.
„Schluss mit Surfen, mein Großer“, sagte sie gutgelaunt.
„Aber Ma“, rief Dee weinerlich. „Warum ausgerechnet Cornish Cove?“
„Weil dein Vater einen neuen Job in Plymouth bekommen hat. Das weißt du doch. In Plymouth sind die Mieten aber zu teuer und Tante Mimi wohnt in St. Ives und dort ist auch eure neue Schule, das ist doch recht praktisch.“
„Recht praktisch?“, murmelte Dee vor sich hin. „Jetzt müssen wir auch noch nach St. Ives fahren, um in die Schule zu gehen?“
„Leute, beeilt euch. Der Schulbus kommt in fünf Minuten“, rief Maggie und schob Mick und Dee ihre Schulbrottüten zu. Benny hatte Glück und durfte heute Zuhause bleiben, er hatte noch keine Ahnung wovon die anderen sprachen. Ihm gefiel es umzuziehen und er mochte auch die grüne Landschaft, durch die sie ein paar Wochen später fuhren, als sie dem Südwesten Englands zusteuerten.
Willkommen in Cornish Cove
Dees Familie fuhr in dem Volvo voraus und er saß auf dem Beifahrersitz des Lastwagens der Umzugsfirma. Die hatte bereits alle Möbel in das neue Haus gebracht und jetzt fehlten nur noch die Kartons mit Wäsche und dem anderen Kram. Am Morgen hatten sie das belebte London verlassen und fuhren nun durch die triste Hochebene Südenglands. Mit jedem gefahrenen Meter, so hatte Dee den Eindruck, reisten sie immer tiefer in die Vergangenheit. Schon seit einiger Zeit, hatte er kein Haus mehr gesehen und Strommasten konnte er auch keine entdecken, nur ein paar Wegweiser ließen vermuten, dass man auf diesem Weg noch irgendwann mit etwas Zivilisation rechnen konnte.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen sie endlich an einem Ortsschild vorbei. „Willkommen in Cornish Cove, hier ist die Zeit stehen geblieben“ stand darauf.
„Genau das habe ich erwartet“, murmelte Dee und der Fahrer sah ihn fragend an.
„Hast du was gesagt?“
„Ach, nein. Alles gut“, antwortete Dee, obwohl ihm spätestens jetzt klar wurde, dass sich seine schlimmsten Befürchtungen bestätigten. Dieser Ort besaß keine Zukunft, weil er in der Vergangenheit bleiben wollte.
Kaum hatten sie das hölzerne Schild passiert, wurde die Fahrt obendrein ungemütlich. Der LKW holperte über das unebene Kopfsteinpflaster und Dee und der Fahrer hatten große Mühe sich auf ihren Sitzen zu halten.
Was für eine Straße, dachte Dee. Die ist wahrscheinlich so alt wie die Legenden dieser Gegend.
Zerknirscht blickte er nach draußen und sah nun auch erste Menschen auf der Straße. Doch niemand, auch keines der Kinder, hatte ein Handy in der Hand.
Keine Handys, kein Mobilfunknetz, kein Internet, folgerte Dee und seine Stimmung erreichte den Nullpunkt. Deshalb konnte er sich auch nicht für die Steinhäuser begeistern, die eigentlich recht urig aussahen. Sie waren klein, hatten alle nur eine Etage und standen nicht wirklich in einer geraden Reihe. Das schaffte Platz für Phantasie und Kreativität, die Dee an ihrem alten Wohnort so gefehlt hatte. In London war alles so gleich und grau gewesen. Sie hatten in einer Reihenhaussiedlung gewohnt, wo jedes Haus die exakte Kopie des anderen war. Das hatte Dee immer missfallen. Dort war es zwar belebter, aber auch bedrückend trist gewesen. Hier war alles ein bisschen schief und schräg, stellte Dee mit einem kleinen Grinsen fest, als ob die Menschen es nicht besser konnten, oder wollten?
Selbst das Schild, das den Hafen in einhundert Metern Entfernung ankündigte, kippte bedrohlich zur Seite und als sie daran vorbeifuhren sah Dee, wie sein Vater vor ihnen nach rechts abbog.
Mit beiden Händen griff der Fahrer des Umzugswagens ins Lenkrad und folgte dem Volvo. Sie fuhren eine leichte Steigung hinauf und schlängelten sich durch die verwinkelten Gassen. Jetzt konnte es nicht mehr weit sein, dachte Dee und schon hielten sie vor einem Haus, an dessen Fenstern keine Gardinen hingen. Das musste es sein, überlegte Dee, denn in dem kleinen Vorgarten stand ein Schild mit der Aufschrift „Zu vermieten“, die rot durchgestrichen war.
Neugierig erforschte Dee die neue Umgebung. Der Vorgarten, bestand aus einer grünen Wiese auf der eine ziemlich große und alte Eiche stand. An ihren kräftigen Ästen hingen nur noch wenige Blätter und hinter dem Baum entdeckte er eine große Garage, die bestimmt sein Vater in Beschlag nehmen würde. Das Haus selbst, war aus grauen Steinen erbaut und machte einen ebenso schiefen Eindruck, wie die anderen, die er schon gesehen hatte. Doch es besaß eine Besonderheit, in der ersten Etage sah er ein rundes Fenster, dass wie das Bullauge eines Schiffes aussah.
Als Dee das Fenster interessiert betrachtete, meinte er etwas hinter dem Fensterglas erkannt zu haben. Jemand schien in dem Haus zu sein und als sich kurz darauf die Haustür öffnete, konnte er kaum glauben, was er da sah.
Ein junges Mädchen mit langem rotbraunem Haar verließ das Haus und ging geradewegs auf den Volvo seiner Eltern zu. Mick und Benny, die es nicht mehr abwarten konnten, rissen die Autotüren auf. Schreiend rannten sie an dem Mädchen vorbei und stürmten ins offenstehende Haus.
Dees Eltern, die mittlerweile auch ausgestiegen waren, sprachen jetzt mit dem Mädchen, das ungefähr in Dees Alter sein musste. Sie reichte seinem Vater einen Schlüsselbund.
„Also Mr und Mrs Carpenter ich wünsche Ihnen dann einen guten Start in Cornish Cove. Wenn Sie noch Fragen haben sollten, meine Mutter, der das Haus gehört, betreibt das Café am Hafen. Vielleicht kommen Sie mal vorbei, bei ihr gibt es den besten Cornish Cove Cake.“
Sie lächelte und ihr Blick fiel auf Dee, der dazugekommen war. Sie schenkte ihm ebenfalls ein freundliches Lächeln, bevor sie schwungvoll auf ihr Rad stieg, das sie am hölzernen Gartenzaun angelehnt hatte. Dee spürte ein unbekanntes Kribbeln im Magen und sah dem Mädchen hinterher, das, ohne sich auf den Sattel zu setzen, davon radelte.
„Ein nettes Mädchen, nicht wahr Dee“, meinte Maggie zu ihrem ältesten Sohn, der die Stimme seiner Mutter nur gedämpft hörte, aber er spürte, dass seine schlechte Laune plötzlich verflogen war.
„Sehr reif für ihr Alter“, fand Dees Vater, John, der bester Laune war und seine Frau bei der Hand nahm. „Kommt, lasst uns unser neues Zuhause mal in Augenschein nehmen.“
Dee war wieder in der Realität angekommen und folgte seinen Eltern.
Eins für drei
Sie würden ab jetzt in einem dieser typisch englischen Häuser wohnen, die im Erdgeschoss nur drei Zimmer hatten, nämlich eine Küche im vorderen und einen Wohnraum im hinteren Bereich mit angrenzendem Arbeitszimmer. Über eine Treppe, die kurz hinter der Eingangstür gerade nach oben führte, gelangte man in die erste Etage. Dort befand sich auf der rechten Seite das Schlafzimmer der Eltern und ein kleines Gästezimmer. Ein Badezimmer lag gegenüber der Treppe und auf der linken Seite befand sich ein großer Raum mit Zugang zum Dachboden (den man mit einer Klappleiter in der Decke erreichen konnte). Dort würden die Jungs ein großes Kinderzimmer haben.
Dee stand in der Tür und betrachtete das fertig möblierte Zimmer, in dem sich meterhoch die Umzugskartons stapelten. Ein Anblick, der sich ihm leider schon viel zu oft geboten hatte. Doch dieses Mal traf ihn der Schlag.
„Nur ein Raum? Ich habe noch nicht einmal ein eigenes Zimmer?“
Dee kochte vor Wut, das hatte ihm noch niemand erzählt. Dann sah er seine kleineren Brüder, die schreiend durch die Betten tobten.
„Ich schlafe im Hochbett oben.“
„Nein, ich will oben schlafen.“
„Dafür bist du noch viel zu klein.“
„Ich will aber …“
„Hört auf!“
Dees laute Stimme unterbrach die Zankerei.
„Ich werde oben im Hochbett schlafen.“
Seine Brüder hielten kurz inne, schauten zu Dee, der mit grimmiger Miene und verschränkten Armen vor der Brust im Türrahmen stand. Mick und Benny begriffen, dass ihr Bruder es ernst meinte und änderten spontan ihre Taktik.
„Ich schlafe im Einzelbett.“
„Nein, ich werde da schlafen.“
„Nein, ich.“
Genervt verdrehte Dee die Augen, stellte seine Ohren auf Durchzug und fühlte sich nur noch müde. Langsam ging er an den wild tobenden Geschwistern vorbei, auf das Hochbett zu. Er stieg die Leiter hinauf und entdeckte zu seiner Überraschung, dass sich das runde Fenster hinter dem Kopfteil des Bettes befand. Dee legte sich bäuchlings hin und schaute hinaus.
Die Dämmerung setzte allmählich ein und sein Blick wanderte über die roten Häuserdächer von Cornish Cove hin zum Hafen, wo gerade die Laternen eingeschaltet wurden. Dann sah er zum hinteren Ende der Bucht. Dort streckte sich der weiße Leuchtturm auf Lands End dem Himmel entgegen und schickte kreisend sein wegweisendes Licht in die immer dunkler werdende Ferne. In regelmäßigen Abständen wanderte der Lichtstrahl über das Meer, die Bucht und auch in Dees Fenster.
Der erste Kontakt
Das regelmäßig wiederkehrende Licht machte ihn schläfrig und seine Phantasie begann aktiv zu werden. Er stellte sich vor, mit einigen Seeleuten auf einem kleinen Fischerboot draußen auf offener See zu sein. Sie waren in einen Sturm geraten, der das Boot stundenlang hin und her schleuderte. Die Wassermassen brachen nur so über das Schiff herein. Sie hatten das Deck überflutet und die komplette Elektrik zerstört. Mittlerweile beruhigte sich die See wieder, doch es war dunkel geworden und sie trieben orientierungslos auf dem Meer, denn der Motor war ausgefallen und der Kompass war auch nicht mehr zu gebrauchen.
Dee stand an der Reling und starrte durch ein Fernglas. Er war auf der Suche nach Land oder dem Licht eines Leuchtturms, der ihnen den Weg weisen würde. Doch außer einer schwarzen Wand vor seinen Augen konnte er nichts erkennen. Unverdrossen hielt er gespannt Ausschau, während die Männer unter Deck versuchten den Motor wieder in Gang zu bringen. Dee schaute fieberhaft durch sein Fernglas, es musste doch irgendwo etwas zu sehen sein. Wenn aber nichts zu sehen war, überlegte er schließlich, konnte es dafür nur eine Erklärung geben, der Sturm hatte sie weit auf das Meer hinausgetragen, deshalb konnte er nichts erkennen. Doch zu seiner Überraschung sah er plötzlich doch etwas…
„Leute, da ist was!“, schrie er euphorisch, denn er sah etwas hell Schimmerndes auf dem Meer.
Ein rettendes Schiff?
Dee starrte aufgeregt durch das Fernglas und nahm es schon in der nächsten Sekunde enttäuscht von seinen Augen. So schnell, wie die Euphorie gekommen war, so schnell war sie auch wieder verflogen, denn was er gesehen hatte, war kein Schiff, auch kein zweites Fischerboot, es war nur eine Nebelbank gewesen.
„Und?“, fragte einer der Seemänner. „Was ist es?“
„Es ist nur eine gewöhnliche Nebelbank.“
Bekümmert schaute Dee in die weiße Wolke, die er eine Zeit lang beobachtete, weil es nichts anderes zu sehen gab. Dann stutze er, denn die Wolke schien sich ihnen zu nähern.
„Sie kommt auf uns zu!“
Die helle Nebelbank, bewegte sich lautlos und unaufhaltsam auf ihr Schiff zu. Mittlerweile waren alle Seeleute an Deck gekommen. Keiner sagte ein Wort. Alle starrten stumm in den seltsamen Nebel und diese drückende Stille machte Dee Angst. Schließlich erreichten sie die ersten Nebelschleier. Zuerst umhüllten sie das Fischerboot und Sekunden später verschwanden Boot und Besatzung im dichten Nebel.
Umgeben von der weißen Masse, die nach totem Fisch und Seetang roch, spürten sie, wie sich die übelriechende Feuchtigkeit langsam auf sie legte. Sie konnten kaum noch die Hand vor den Augen sehen, so dicht war der Nebel. Die Seeleute waren starr vor Angst und es entstand eine Stille, die immer unerträglicher wurde. Dees Herz schlug ihm bis zur Kehle.
„Was ist das nur für ein Nebel?“, flüsterte einer der Seemänner schließlich. Dee streckte tastend eine Hand in die feuchten, umherwabernden Dunstschwaden, die sich augenblicklich verdichteten. Er konnte seine Hand nicht mehr sehen und gleichzeitig strahlte ihnen ein grelles Licht aus dem Inneren des Nebels entgegen.
„Was ist das denn?“, fragte ein anderer leise. Hastig zog Dee seine Hand zurück und spürte wie die Angst in ihm hochkroch, als er plötzlich bei den Schultern gepackt und hin und her geschüttelt wurde.
„Dee!“, erklang eine entfernte Stimme.
Eine Zeit lang passierte nichts, bis er erneut geschüttelt wurde.
„Dee, du musst aufwachen“, hörte er die Stimme sagen. Dee bemühte sich etwas zu sehen. Er versuchte seine Augen aufzureißen und schaute nach vorne.
Zuerst sah er gar nichts, dann erschien ein verschwommenes Bild, auf dem es hin und wieder hell blinkte. Allmählich erkannte er genauere Umrisse und bemerkte, dass er auf seinem Bett lag und durch sein Fenster nach draußen schaute. Das blinkende Licht war das Licht des Leuchtturms, das kreisend seine Runde machte. Sein jüngster Bruder Benny saß auf seinem Rücken und trommelte wild mit den kleinen Fäusten auf seinen Schultern herum.
„Wach jetzt endlich auf, Dee. Du machst mir Angst.“
Angekommen
In den folgenden Tagen packten die Carpenters fleißig ihre Umzugskartons aus und machten das Haus schnell wohnlich. Dinge, die sie im Moment nicht brauchten, landeten auf dem Dachboden. Vater John verbrachte die meiste Zeit in der Garage. Er richtete sich im hinteren Teil eine kleine Werkstatt ein und schraubte platzsparende Fahrradhalterungen an die Decke. Die Stimmung war gut, denn sie fühlten sich in Cornish Cove auf Anhieb wohl. Das Haus war ideal, bis auf das Kinderzimmer (Dee hatte seinen Vater mehrmals darauf angesprochen und der fand auch, dass Dee unbedingt ein eigenes Zimmer haben sollte, doch er hätte im Moment einfach nicht die rechte Zeit für den Umbau) und die Menschen des Ortes zeigten sich gastfreundlich und hilfsbereit.
Maggie fand schnell Anschluss bei einer Frauengruppe in der Kirche und Mick und Benny entdeckten einen Spielplatz mit angrenzendem Fußballfeld. Dort verbrachten sie die meiste Zeit des Tages, worüber Dee sehr froh war. Seine anfängliche Abneigung Cornish Cove gegenüber verschwand allmählich. Dieser Ort hatte etwas Besonderes, Spezielles an sich. Deshalb setzte er sich auch gerne auf sein Fahrrad und erkundete die Gegend, die weitaus schöner war, als der Vorort von London, wo sie zuletzt gelebt hatten. Auch London vermisste er eigentlich nicht mehr, auch nicht die Chancen, die er dort gehabt hätte.
Sie lebten jetzt in Cornish Cove und vielleicht sollte es sogar so sein, dachte Dee.
Lizzy
Der Dezember war milder als gewöhnlich und die Weihnachtsferien hatten vor Tagen begonnen. Dee ging in die Garage um sein Fahrrad zu holen. Er wollte heute mal zum Leuchtturm raus nach Lands End. Vielleicht würde ihm das Mädchen vom Umzugstag wieder begegnen. Er hatte sie schon ein paar Mal im Ort gesehen und wenn sie ihn sah, hatte sie stets gelächelt. Dee schloss das Garagentor und fuhr am Hafen vorbei Richtung Lands End, als plötzlich jemand neben ihm herfuhr.
„Hey, Fremder, wohin des Weges?“
Dee schaute überrascht zur Seite und erkannte das Mädchen mit den rotbraunen Haaren, die mit einem Mal neben ihm her radelte.
„Ich wollte nach Lands End zum Leuchtturm raus.“
„Genau meine Richtung“, lachte sie. „Wie heißt du eigentlich?“
„Ich heiße David, aber alle nennen mich nur Dee.“
„Hi, Dee, ich bin Lizzy.“
„Hi, Lizzy!“
„Na dann mal los, Dee. Mal sehen, wer als Erster am Leuchtturm ist“, rief Lizzy und trat voller Energie stehend in die Pedale. Dee schaltete einen Gang runter und spurtete ihr nach. Sie rasten den ausgetrampelten Weg nach Lands End hinauf. Fast gleichzeitig kamen sie lachend am Wahrzeichen des Ortes an, als eine junge Frau gehetzt aus der Tür des Leuchtturms geschossen kam.