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"Warum ausgerechnet nach Cornish Cove?" Der zwölfjährige Dee konnte es nicht fassen, dass seine Familie in dieses Kaff am südwestlichsten Punkt Englands umziehen musste. Obwohl sich geheimnisvolle Sagen und Legenden um den alten Fischerort rankten, lockte dies vielleicht Touristen, aber den Jungen mit der blühenden Phantasie überhaupt nicht. Da ist doch nichts los, dachte er. Doch schon bald musste er feststellen, dass in diesem Ort seltsame Dinge geschahen, wovor sich die Menschen nicht nur insgeheim fürchteten, sie hatten sich längst ihrem Schicksal ergeben. Doch davon konnte Dee nichts wissen. Er hätte auch nicht geahnt, dass seine Phantasie eine besondere Begabung war, die ihn unaufhaltsam in die Fänge eines mächtigen Gegners trieb: Den Nebel von Cornish Cove.
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Seitenzahl: 107
Veröffentlichungsjahr: 2020
Oliver Erhardt
Der NebelvonCornish Cove
Auflage 1.0
Copyright © 2020 Oliver E rhardt
© 2020 Oliver Erhardt
1. Auflage
Geschichte:
Oliver Erhardt
Mit der freundlichen Unterstützung von:
Lisa Erhardt (Lektorat)
Elke Armborst (Umschlaggestaltung)
Verlag: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN Hardcover: 978-3-347-08026-3
ISBN e-Book: 978-3-347-08287-8
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Phantasie ist wunderbar. Wenn man viel Phantasie besitzt, kann man in Sekundenschnelle aus der realen Welt entfliehen. Man kann sich an andere Orte denken, die spannendsten Abenteuer erleben und da alles in der Phantasiewelt geschieht, kann einem dort auch nichts passieren… oder?
Cornish Cove
Das Unwetter, das den kleinen Küstenort Cornish Cove den ganzen Tag heimgesucht hatte, zog nun endlich auf den offenen Atlantik weiter. In dieser Jahreszeit war es normal, dass es öfter stürmte und kräftiger regnete, dafür war das Klima hier im Südwesten Englands sehr mild, sogar im November, sodass auch Palmen und Oleander wuchsen. Jetzt gegen Abend (so war es komischerweise meistens) lockerte sich die Wolkendecke auf und ein paar letzte Sonnenstrahlen tauchten den ehemaligen Fischerort in ein warmes Licht.
Mit dem Licht kam auch wieder Leben in den Hafen. Geschäfte öffneten ihre Türen und es wurden Schilder mit Sprüchen wie: „Der beste Cornish Cove Cake, nur bei uns“, aufgestellt. Ein älterer Mann, der schwerfällig ein Bein nachzog überprüfte die wenigen Fischerboote, die im Hafenbecken vor Anker lagen, auf Sturmschäden. Die Fischerei hatten die Menschen von Cornish Cove allerdings schon vor Jahren aufgegeben. Seitdem bekamen sie ihren frischen Fisch aus Plymouth. Dort war die größte Fischerverwertungsanlage Englands errichtet worden und die Seeleute gingen mit modernsten Booten auf Fischfang. Nur der Touristen wegen, von denen Cornish Cove mittlerweile lebte, hielt man eine Handvoll Fischerboote in Schuss. Sie machten sich gut auf Fotos und Postkarten und regelmäßig fuhr der alte Scott McCanzie, ein kauziger Seemann mit Kapitänsmütze und weißem Vollbart, die Touristen hinaus auf die See. Mit seiner tiefen Stimme erzählte er eine der unzähligen Sagen, die sich um diese Gegend rankten. Wie die von Merlin und König Artus, der der Sage nach hier gelebt hatte und am Totenbett versprach eines Tages hierher zurückzukehren. Oder er berichtete vom Fischfang vergangener Tage. Das mochten die Besucher am liebsten. Wie die Kinder hingen sie an Scotts Lippen und ihre Phantasie erwachte bei den alten Seefahrer Geschichten, die von riesigen Meeresungeheuern, gefundenen Goldmünzen oder Begegnungen mit Gespenstern auf offener See handelten. Seemannsgarn nannte man diese Geschichten und mit ihnen zog Scott McCanzie seine Zuhörer immer in den Bann.
Cornish Cove lag in einer sichelmondförmigen Bucht an der südwestlichsten Spitze Englands. Der Ort besaß einen breiten Sandstrand und war umgeben von einer immer grünen Landschaft sowie steilen felsigen Klippen, die das Bild dieser Gegend prägten. Auf der linken Seite der Bucht streckte sich langsam ansteigend „Lands End“, eine Landzunge weit ins Meer. An deren Spitze stand das Wahrzeichen des Ortes: der schneeweiße Leuchtturm mit dem kupfernen Dach, das jetzt im Licht der untergehenden Sonne hellgrün schimmerte. Unterhalb des Leuchtturms fielen die Klippen fast senkrecht ins Meer, das sich nach dem Sturm langsam zu beruhigen schien. Auch die 300 Meter lange Kaimauer, die von Lands End aus parallel zum Strand verlief, musste den Wassermassen nicht mehr trotzen, die den ganzen Tag über gegen sie geschlagen waren. Die Bewohner von Cornish Cove hatten sie zum Schutz der Bucht und ihrer Häuser, die direkt am Strand lagen, gebaut. Sie waren ineinander verschachtelt und so entstanden zwischen ihnen, im Lauf der Zeit, unzählige verwinkelte Gassen. In mehreren Reihen zog sich eine Spur von kleinen, einstöckigen Häusern am feinsandigen Strand entlang. Sie führte im Bogen um das kleine Hafenbecken herum bis zur rechten Seite der Bucht, wo ein Haufen von herabgefallenen Felsbrocken den Strand bedeckten. Dort endete die Häuserreihe und auch Cornish Cove. Nur ein einziges Haus folgte noch, das von Scott McCanzie. Eine Metalltreppe führte an den ineinander verkeilten Felsstücken hinauf, auf dem sich sein Haus befand.
Der nächstgelegene Ort war St. Ives. Eine einspurige Straße, die sich durch die einsame und stets windige Hochebene schlängelte, brachte einen von Cornish Cove nach sechs Kilometern Fahrt dorthin. Diese Route war bei den Touristen sehr beliebt, denn sie führte an endlosen, saftig grünen Weiden entlang und die Besucher bekamen den besonderen Charme dieser Gegend zu spüren, wenn sie urwüchsige Hecken, knorrige, vom rauen Wetter geformte Bäume und verwitterte Holzzäune, die die grasenden Schafe von der Straße fernhielten, zu sehen bekamen. Die Touristen gewannen den Eindruck, dass das Leben so einfach sein konnte, und dachten darüber nach, was ein Mensch eigentlich wirklich benötigte um glücklich zu leben. Diese Menschen hier schienen jedenfalls sehr zufrieden zu sein.
Es gab allerdings auch eine zweite Möglichkeit nach St. Ives zu kommen. Hatte man es eilig und war mutig genug, konnte man auch dem geschlängelten Pfad auf den steilen Klippen an der Küste entlang folgen. Dann erreichte man St. Ives schon nach vier Kilometern Fußweg. Allerdings taten das die wenigsten, denn in dieser Gegend hatte es erstens niemand wirklich eilig und zweitens wollte keiner ein Unglück heraufbeschwören. Es gab nämlich Geschichten von Menschen, die sich auf den Klippen Richtung St. Ives aufgemacht hatten, dort jedoch niemals angekommen waren. Sie verschwanden im Nebel und wurden nie wieder gesehen. Nur im Geräusch des Windes will so mancher eine Stimme der Vermissten gehört haben, oder des Nachts, wenn die dichten, seltsam leuchtenden Nebelschwaden lautlos vom Meer her auf den Ort zuwanderten und sich langsam in die verwinkelten Gassen bohrten, glaubten einige einen menschlichen Umriss erkannt zu haben. Solche Erlebnisse wurden dann aufgeregt im Pub erzählt und man konnte sich einer gespannten Zuhörerschaft sicher sein, denn dieser Nebel war das Einzige, wovor sich die Menschen von Cornish Cove insgeheim fürchteten.
Ansonsten waren sie rundum glücklich. Sie liebten die Natur, glaubten an das Übernatürliche und sprachen neben dem englischen auch einen keltischen Dialekt (wenn sie mal unter sich sein wollten), doch für gewöhnlich waren sie äußerst gastfreundlich und gesellig. Sie liebten ihr Land mit den sagenhaften Geschichten, lebten gern in und glücklicherweise auch von der Vergangenheit oder einfach so in den Tag hinein. Andererseits waren sie aber auch offen für neue, moderne Techniken. Sie hatten zum Beispiel im Landesinneren einige Windräder aufstellen lassen, die genug Strom für den kleinen Ort lieferten, was sie ein Stück weit unabhängig machte.
In einem Vorort von London
Unabhängigkeit hätte sich auch der zwölfjährige Dee gerne gewünscht. Er lebte mit seiner Familie fünfhundert Kilometer entfernt in einem Haus, in dem sich die Umzugskartons stapelten. Mal wieder. Sein Vater war abhängig von seinem Arbeitgeber und der hatte ihn überraschend in eine andere Stadt versetzt. Das war schon öfter vorgekommen und jedes Mal ist die Familie mit ihm umgezogen. Nicht immer war der Umzug eine Verbesserung gewesen, aber als sein Vater vor zwei Jahren nach London versetzt wurde, dachten alle, sie hätten das große Los gezogen.
Sie lebten zwar außerhalb der großen Stadt, weil die Mieten in London einfach nicht bezahlbar waren, doch Dee fuhr mit seinem Bruder Mick mit dem Schulbus in die Stadt und ging dort zur Schule. Benny, der Jüngste, ging noch in den Kindergarten. Sie fühlten sich in dem Vorort von London sehr wohl, denn die Stadt bot ihnen alles, was sie sich wünschen konnten, auch für ihre Zukunft. Dee dachte schon über seine Zukunft nach, denn er war reifer als andere Jungen in seinem Alter. Er wollte später unabhängig sein, dazu musste er studieren, glaubte Dee.
Weil sein Vater selten zu Hause war oder erst spät abends nach Hause kam, war Dee als der Älteste der Geschwister zum Zweitvater für seine kleineren Brüder geworden. Oft half er Mick bei den Hausaufgaben oder tröstete Benny wenn er Kummer hatte. Dann erzählte Dee ihm eine phantastische Geschichte, die er sich spontan ausdachte. Das konnte er besonders gut, denn er hatte eine lebhafte Phantasie. Manchmal schrieb er seine Geschichten auch auf und las sie in der Schule vor. Seine Klassenkameraden und auch seine Klassenlehrerin, die immer meinte er würde einmal ein Schriftsteller werden, mochten sie. Zum Schreiben brauchte er nur etwas Zeit, Zeit zum Träumen. Doch im Moment hatte er keine Zeit. Alle fünf Minuten stürmte jemand in sein Zimmer, denn einer von beiden Geschwistern hatte immer ein Problem, oder seine Mutter rief nach ihm, wenn sie Hilfe benötigte. Vielleicht würde es besser werden, wenn sie umgezogen waren. Aber ausgerechnet dorthin? Dee machte seinem Unmut Luft:
„Warum ausgerechnet nach Cornish Cove?“, er konnte es wirklich nicht fassen, dass sie von London weg in dieses kleine Kaff am Ende der Welt zogen. Er saß beim Frühstück mit seinen beiden jüngeren Brüdern, die sich, so wie jeden Morgen, mit Müsli bewarfen, wenn der andere gerade nicht hinsah.
Seine Mutter Margret, die alle nur Maggie riefen, stand am Ofen und machte Rührei. Sie pfiff so laut auf einem Finger, dass die Jungs zusammenzuckten. „Hört jetzt damit auf!“, rief sie laut aber nicht genervt und stellte eine Schüssel mit Rührei scheppernd auf den Tisch. Fassungslos starrte Dee noch mal auf das Display seines Handys. Er hatte Google Maps geöffnet und sich angesehen, wo Cornish Cove lag und was man über diesen Ort wusste. Klar, Dee liebte gruselige Seefahrer Geschichten und mysteriöse Orte und er kannte auch viele von den Sagen, wie die von König Artus oder Robin Hood, doch er bezweifelte, dass es hilfreich sein konnte an das äußerste Ende Englands zu ziehen, in einen Ort, der womöglich keine Schule hatte und wahrscheinlich auch kein Internet kannte.
„Gibt es denn überhaupt Schulen in Cornish Cove?“, überlegte Dee und wollte gerade die Suchfrage in sein Handy eingeben, als ihm seine Mutter das Handy aus der Hand riss.
„Schluss mit surfen, mein Großer“, sagte sie gutgelaunt.
„Aber Ma“, rief Dee weinerlich. „Warum ausgerechnet Cornish Cove?“
„Weil dein Vater einen neuen Job in Plymouth bekommen hat. Das weißt du doch. In Plymouth sind die Mieten aber zu teuer und Tante Mimi wohnt in St. Ives und dort ist auch eure neue Schule, das ist doch recht praktisch.“
„Recht praktisch“, murmelte Dee vor sich hin. „Jetzt müssen wir auch noch nach St. Ives fahren, um in die Schule zu kommen.“
„Leute, beeilt euch. Der Schulbus kommt in fünf Minuten“, rief Maggie und schob Mick und Dee ihre Schulbrottüten zu. Benny hatte Glück und durfte heute zu Hause bleiben, er hatte noch keine Ahnung wovon die anderen sprachen; ihm gefiel es umzuziehen und er mochte auch die grüne Landschaft, durch die sie ein paar Wochen später fuhren, als sie dem Südwesten Englands zusteuerten.
Willkommen in Cornish Cove
Dees Familie fuhr in dem Volvo voraus und er saß auf dem Beifahrersitz des Lastwagens der Umzugsfirma. Die hatte bereits alle Möbel in das neue Haus gebracht. Jetzt fehlten nur noch die Kartons mit Wäsche und dem anderen Kram. Dee hatte den Eindruck, dass sie mit jedem gefahrenen Meter weiter, immer tiefer in die Vergangenheit zurückreisen würden. Er hatte schon seit einiger Zeit kein Haus mehr gesehen, Strommasten konnte er auch keine entdecken, nur ein paar Wegweiser deuteten darauf hin, dass man auf diesem Weg noch irgendwann mit etwas Zivilisation rechnen konnte.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen sie an einem Ortsschild vorbei: „Willkommen in Cornish Cove, hier ist die Zeit stehen geblieben.“
„Genau das habe ich erwartet“, murmelte Dee und der Fahrer sah ihn fragend an.
Kaum hatten sie das hölzerne Schild passiert, wurde die Fahrt richtig ungemütlich. Der LKW holperte über das unebene Kopfsteinpflaster. Dee und der Fahrer hatten Mühe sich auf ihren Sitzen zu halten. Was für eine Straße, dachte Dee. Die ist wahrscheinlich so alt wie die Legenden dieser Gegend. Er blickte zerknirscht nach draußen und sah nur wenige Menschen auf der Straße. Niemand, auch keines der Kinder hatte ein Handy in der Hand. „Keine Handys, kein Mobilfunknetz, kein Internet“, folgerte Dee und seine Stimmung erreichte den Nullpunkt und so konnte er sich auch nicht für die Häuser begeistern, die eigentlich recht schnuckelig aussahen. Sie waren klein, hatten alle nur eine Etage und standen kreuz und quer verteilt, sodass es keine lange gerade Straße gab. Ein Schild kündigte den Hafen in einhundert Metern Entfernung an, doch Dees Vater bog vor ihnen nach rechts ab.
Sie folgten dem Wagen und fuhren eine leichte Steigung hinauf und schlängelten sich durch die verwinkelten Gassen. Jetzt konnte es nicht mehr weit sein, dachte Dee und kurz darauf blieben sie vor einem leerstehenden Haus stehen, das auf der rechten Seite eine Garage besaß. Das musste ihr neues Zuhause sein.