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Dieser Sammelband erschließt Texte Leo Tolstois (1828-1910) über die Weisung "Bekämpft nicht Böses mit Bösem", die er neben dem grundlegenden Werk "Das Reich Gottes ist in euch" und im Anschluss an dieses verfasst hat - darunter auch den "Brief an einen Hindu" (1908) sowie seinen Austausch mit Mahatma Gandhi (1909/10). Den ethischen Traktaten (Sprache der Moral) ist die "Sprache der Weisheit" zur Seite gestellt: "Jede Gewalt widerstrebt der Vernunft und der Liebe. Nehme keinen Anteil an ihr." Die Kritiker werfen dem Liebhaber der Bergpredigt vor, sich hinsichtlich der Verbrechen und Leiden in der Geschichte bequem auf eine Zuschauerrolle zurückzuziehen (Tatenlosigkeit, Weltflucht etc.). Im Fall von Tolstoi wirkt ein solcher Vorwurf geradezu absurd, wenn man bedenkt, wie dieser sich über Jahrzehnte hin - förmlich bis hin zum letzten Atemzug - gegen Todesstrafe, Krieg, Hungersnot, Repressionsapparate und soziales Unrecht engagiert hat. Die Anhänger des Gewalt-Aberglaubens müssen sein Verständnis des "Nichtwiderstrebens" mutwillig verzerren, um von Passivität und fehlender Anteilnahme sprechen zu können. Im April 1890 schreibt Tolstoi darüber: "Man verwechselt (absichtlich, wie es mir scheint) das Wort 'Widersetze dich nicht dem Bösen durch Böses' mit 'Widersetze dich nicht dem Bösen', d.h. mit 'Sei gleichgültig dem Bösen gegenüber'. Während der Kampf gegen das Böse das einzige Ziel des Christentums ist, und das Gebot vom 'dem Bösen nicht widerstreben' als das wirksamste Kampfmittel gegeben ist." Ohne Hinwendung zur Gewaltfreiheit gibt es Tolstoi zufolge für die menschliche Familie keine Zukunft: "Begreift, dass die Erfüllung des von uns erkannten höchsten Gesetzes der Liebe, das die Gewalt ausschließt, zu unserer Zeit für uns ebenso unvermeidlich ist, wie es für die Vögel unvermeidlich ist, umherzufliegen und Nester zu bauen." Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe B, Band 5 (Signatur TFb_B005) Herausgegeben von Peter Bürger
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Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe B | Band 5
Herausgegeben von Peter Bürger
„Jede Gewalt widerstrebt der Vernunft und der Liebe“
Vorwort des Herausgebers
I.
DEM BÖSEN NICHT MIT GEWALT WIDERSTEHEN!
Aus: Worin besteht mein Glaube? (1884)
Leo N. Tolstoi
II.
BEKÄMPFT NICHT BÖSES MIT BÖSEM
Brief an einen Revolutionär – Lasarew (1886)
Leo N. Tolstoi
III.
DIE CHRISTLICHE LEHRE VON DER WEHRLOSIGKEIT
Briefwechsel zwischen Graf Leo Tolstoi von Rußland und Prediger Adin Ballou von Amerika (1889/1890)
Ediert von Lewis G. Wilson – übersetzt von J. G. Ewert
IV.
DEM BÖSEN DURCH VERWEIGERUNG WIDERSTEHEN
Drei kurze Auszüge aus dem Werk
„Das Reich Gottes ist in Euch“
(Carstvo Božie vnutri vas, 1890-1893)
Leo N. Tolstoi
V.
BRIEF AN DEN AMERIKANER ERNEST CROSBY
(12. Januar 1896)
Leo N. Tolstoi
VI.
DER CHRIST UND DER STAAT
Zwei Briefe Leo Tolstois aus dem Jahr 1896
1. Brief an einen Redakteur einer deutschen Zeitschrift
2. Brief an die Liberalen
VII.
ÜBER DEN SELBSTMORD
(Brief an Sinaida Ljubotschinskaja, 25. August 1899)
Übersetzt von Dr. Nathan Syrkin
Leo N. Tolstoi
VIII.
WAS MUß JEDER MENSCH TUN?
Ein Kapitel über den zivilen Ungehorsam aus dem Essay „Die Sklaverei unserer Zeit“
(Rabstvo našego vremeni, 1900)
Leo N. Tolstoi
IX.
AUS DEM LESEZYKLUS FÜR ALLE TAGE
(Krug čtenija, 1904-1906)
Von Leo Tolstoi ausgewählte und selbst verfasste Texte
X.
DAS GESETZ DER GEWALT UND DAS GESETZ DER LIEBE
(Zakon nasilija i zakon ljubvi, 1908)
Autorisierte Übersetzung von A. Steinberg
Leo N. Tolstoi
XI.
BRIEF AN EINEN HINDU
(Letter to a Hindoo | Pis'mo k indusu, 1908/09)
Leo N. Tolstoi
XII.
BRIEFWECHSEL MIT GANDHI 1909/10
Zusammengestellt und übersetzt von Pavel Birjukov
Mohandas Karamchand Gandhi / Leo N. Tolstoi
XIII.
NICHT TÖTEN
Zwei Texte Tolstois aus dem letzten Lebensjahr
1. Du sollst nicht töten („Ne ubij“, Januar 1910)
2. Ein wirksames Mittel (Dejstwitelnoje sredstwo, Oktober 1910)
XIV.
GEWALT
Ein Kapitel aus dem Werk
„Der Weg des Lebens“ (Put' žizni, 1910), ins Deutsche übertragen von Dr. Adolf Heß
Leo N. Tolstoi
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XV.
REDE ZUR HUNDERTJAHRFEIER VON TOLSTOIS GEBURT
Ashram der Ahmedabad Youth Association, Indien – 10. September 1928
Mahatma Gandhi
ANHANG
Gesamtübersicht und Anmerkungen zu den neu edierten Texten
Ausgewählte Literatur (mit Kurztiteln)
Leo N. Tolstoi – Porträt aus dem Jahr 1910 (Aufnahme von W. G. Tschertkow)
Vorwort des Herausgebers
Insofern sie sich selbst als ‚Ungeliebte‘ erfahren und verstehen, müssen Menschen unter bestimmten Bedingungen zwangsläufig versuchen, mit mannigfach ausgeformten Aufrüstungen der Gewalt ihre Angst zu beruhigen. Die ‚Angst der Ungeliebten‘ ist eine letztlich grenzenlose Angst der eigenen Nichtigkeit und Verwundbarkeit. Sie führt beim Individuum zu einem Lebensprogramm voller Gewalt gegen die eigene Person und andere Menschen. Auch hier, bei den Folgen, wird eine Dynamik ins Grenzenlose entfesselt. Im Gattungsmaßstab bringen analoge – kollektive – Muster der Aufrüstung wider die Angst eine Zivilisation der Gewalt und (Selbst-)Zerstörung hervor. Die Gewalt ist somit Ausdruck bzw. ‚Symptom‘ eines heillosen Zustandes, einer leidvollen wie erbarmungsbedürftigen inneren Verfasstheit. Sie kann leider nicht überwunden werden durch Gesetz, Verurteilung des Aggressors oder Moralpredigt. Einen Ausweg aus der Gewalt eröffnen allein solche Erfahrungen, die dem Menschen ein anderes Selbstverstehen ermöglichen.1
Die Lebenskrise, die LEO N. TOLSTOI (1828-1910) in den 1870er Jahren durchlitten hat, wurde gelöst durch eine heilende Erfahrung und ein daraus folgendes neues Selbstverstehen. Dies war ein inneres Geschehen, welches gleichwohl nicht losgelöst vom sozialen Beziehungsgefüge jenes Lebensabschnitts (Begegnungen mit Menschen aus einer anderen sozialen Klasse) betrachtet werden sollte. TOLSTOI bezeichnete dieses neue Selbstverstehen als ‚Glauben‘ und ordnete es der Religion zu – nicht der Philosophie oder einer sonstigen Disziplin des Denkens. Bis zum Ende seines Lebens wird er fortan daran festhalten, dass es – bezogen auf den Einzelnen und die Gemeinschaft – ohne Religion ein Gutsein des Menschen nicht geben könne: Nur die Religion vermag die Gewalt zu überwinden. Die klarste Ausformung der universell verstandenen Religion ist in TOLSTOIS Augen die Religion Christi. Da jedoch ihm zufolge das verfasste, real existierende Kirchentum im wesentlichen auf eine Verfälschung der Religion in ihr genaues Gegenteil hinausläuft2, kommt gerade die sogenannte christliche Welt als Urheberin einer abgründigen Gewalt ins Blickfeld: „Die sich immer mehr vervollkommnenden Mittel […], die zur Vertilgung der Menschen dienen und die den Massenmord ohne eigene Gefahr immer mehr erleichtern, zeigen mit steigender Deutlichkeit, daß die Lebensweise der christlichen Völker unmöglich in der Richtung fortgesetzt werden kann, in welcher sie sich jetzt entwickelt“ (→S. →). Dass wenige Jahrzehnte nach seinem Tod ausgerechnet ein sich christlich nennender Kulturkreis die Atombombe hervorgebracht hat, wäre ihm eine erschütternde Bestätigung für seine Sicht der Dinge gewesen.
Um die Wende hin zu einem neuen Selbstverstehen als Mensch zur Sprache zu bringen, kann TOLSTOI im April 1881 schreiben, er sei vor zwei Jahren Christ geworden und seitdem erscheine ihm alles, was er höre, sehe und erlebe in einem ganz neuen Licht.3 Die eigene Bibelarbeit hat ihn bereits zu einer Wiederentdeckung der Bergpredigt geführt. Noch ohne vertieftes Studium der chinesischen und indischen Überlieferungen glaubt er, in der ‚Lehre vom Nichtwiderstreben‘ geradezu ein Alleinstellungsmerkmal der – ansonsten mit allen Religionen doch so harmonisch zusammenklingenden – Botschaft Christi zu erblicken. Das entsprechende Schrifttum der 1880er Jahre (→I-III) wird dann überboten durch das eigenständige Werk „Das Reich Gottes ist in euch“4 (1893) über die Unvereinbarkeit von Christsein und Soldatenhandwerk. Schon etwa acht Jahre zuvor hatte TOLSTOI begeistert eine Edition zur Kritik von Kriegskirchentum und Staatsgewalt des Tschechen PETR CHELČICKÝ (ca. 1390-1460) studiert. Jetzt kann er Mitteilung machen auch über christliche Pioniere des ‚Nicht-Widerstrebens‘ in Nordamerika5, die ihm seit Erscheinen seines Buches ‚Worin mein Glauben besteht‘ (1884) bekannt geworden sind: neben den Quäkern vor allem WILLIAM LLOYD GARRISON (1805-1879), dessen ‚Declaration of sentiments adopted by the Peace Convention‘ (1838) ihm gar als ein ‚Meilenstein der Menschheitsgeschichte‘ erscheint, und ADIN BALLOU (1803-1890), Autor eines ‚Non-Resistant Catechism‘ aus dem Jahr 1844 (→ S.31-46, 55, 97-99, 115, 122, 300, 303).
Der vorliegende Sammelband erschließt vor allem Texte LEO TOLSTOIS, die er neben dem grundlegenden Werk ‚Das Reich Gottes ist in euch‘ und im Anschluss an dieses über die Weisung „Bekämpft nicht Böses mit Bösem“ verfasst hat. Gegen das Totmachen war der Verfasser schon vor seiner ‚Christwerdung‘ positioniert. Wir erwarten nun im Licht des neuen Sehens hilfreiche Überlegungen zur Frage, woraus oder wie das „Böse“ (bzw. das „Übel“) entsteht und wie man ihm denn – anders als mit Bösem (Gewalt) – entgegnen soll.
Doch den ‚alten Menschen‘ hat TOLSTOI um 1879 nicht einfach begraben. Er lebt fort vor allem da, wo in den Traktaten die „Sprache der Moral“ dominiert. Treffliches schreibt L. TOLSTOI, wenn es gilt, die heuchlerische – auf Käuflichkeit basierende – Kollaboration der „Liberalen“ mit den staatlichen Gewaltapparaten zu beleuchten (→VI.2). Berechtigt sind seine Verweise auf jene fiktionalen Szenarien über die Vergewaltigung von Schutzlosen und das Abschlachten von Kindern, welche fast gleichlautend zu allen Zeiten von den Parteigängern des Krieges mit triumphierender Miene vorgetragen werden. Weniger gelungen erscheinen mir indessen Versuche, das ‚Nichtwiderstreben‘ als ein ausnahmslos geltendes Prinzip so weit zu treiben, dass auch eine nichttödliche physische Kraftanstrengung unterbleiben soll, die etwa einen Psychiatriepatienten vor der Tötung eines Mitmenschen bewahren könnte (→III). Wer die entsprechenden Überlegungen des Jahres 1889 anführt, sollte allerdings auch folgenden Tagebucheintrag TOLSTOIS vom 26. Oktober 1907 zitieren: „Das Gesetz [dem Übel nicht mit Gewalt zu widerstreben] ist, wie jedes Gesetz, ein Ideal, dem alles Lebendige von selbst unbewusst zustrebt und jeder einzelne Mensch zustreben muss. Falsch erscheint dieses Gesetz nur, wenn es als eine Forderung hingestellt wird, die uneingeschränkt zu erfüllen ist, und nicht wie es verstanden werden muss als immerwährendes, ständiges und bewusstes Streben nach seiner Verwirklichung.“6
Der Theologe und Slawist Holger Kuße verweist angesichts der so unterschiedlichen Segmente in LEO TOLSTOIS Gesamtwerk auf „die schmerzliche Reibung von unmittelbarer Gotteserfahrung und moralischer Doktrin“7. Auch den kundigen Freundinnen und Freunden der von interessierter Seite gerne als ‚moralistisch‘ verlästerten Schriften könnte mitunter der Gedanke kommen, dass die Weisung ‚Dem Bösen nicht mit Bösem zu widerstreben‘ etwa in TOLSTOIS Legende „Der Taufsohn“ (Крестник – Krestnik, 1886)8 nicht nur schöner, sondern auch klarer vermittelt wird als in manchem seiner Traktate zum Thema. In dieser Legende wird anschaulich, was der dem Dichter nahestehende ALEXANDER IWANOWITSCH ARCHANGELSKI (1857-1906) ersehnt, dass nämlich menschliches Leben durch die „Erweckung des Lebens eines geistigen Wesens im Missetäter“ beschützt wird9. TOLSTOI selbst spürte wohl die eigenen Grenzen auf dem Feld einer „Sprache der Moral“. Er folgte einer anderen Spur etwa in seinem populären Lesewerk „Für alle Tage“, worin treffliche Texte befreundeter oder verehrter Autoren den eigenen Sentenzen zur Seite gestellt werden (→IX), oder dem im letzten Lebensjahr abgeschlossenen „Weg des Lebens“ (→XIV).
Holger Kuße deutet an, wie die besagte „schmerzliche Reibung“ erträglicher oder vielleicht sogar aufgehoben werden könnte. Den ‚ethischen Werkteilen‘ wäre – auch zwecks gegenseitiger Beleuchtung – stets jenes Schrifttum von LEO TOLSTOI zur Seite zu stellen, das einer „Sprache der Weisheit“ folgt. Das hieße nun freilich, dass eine Darstellung darüber, wie TOLSTOI den ‚Nichtwiderstand gegen das Böse‘ versteht, nicht nur auf der Grundlage eines Klassikers wie „Das Reich Gottes ist in euch“ (1893) und der im vorliegenden Sammelband neu edierten Traktate geschrieben werden kann. Einen solchen Weg hat TOLSTOI selbst gewiesen, als er den Traktat-Kapiteln auf Schritt und Tritt ‚weisheitliche Zitate‘ voranstellte.
Dem Liebhaber des Nichtwiderstrebens gemäß der Bergpredigt wird von den Kritikern aller Epochen vorgeworfen, sich hinsichtlich der Verbrechen und Leiden in der Geschichte bequem auf eine Zuschauerrolle zurückzuziehen (Tatenlosigkeit, Weltflucht etc.). Im Fall von TOLSTOI wirkt ein solcher Vorwurf geradezu absurd, wenn man bedenkt, wie dieser sich über Jahrzehnte hin – förmlich bis hin zum letzten Atemzug – gegen Todesstrafe10, Krieg11, Hungersnot, Repressionsapparate und soziales Unrecht engagiert hat. Die Apologeten einer ‚rettenden Gewalt‘ müssen vor allem sein Verständnis des ‚Nichtwiderstehens‘ mutwillig verzerren, um von Passivität und fehlender Anteilnahme sprechen zu können. Dirk Falkner verweist in diesem Zusammenhang auf TOLSTOIS Briefzeilen an WILLIAM L. KANTOR vom 9. April 1890: „Man verwechselt (absichtlich, wie es mir scheint) das Wort ‚Widersetze dich nicht dem Bösen durch Böses‘ mit ‚Widersetze dich nicht dem Bösen‘, d. h. mit ‚Sei gleichgültig dem Bösen gegenüber‘. Während der Kampf gegen das Böse das einzige Ziel des Christentums ist, und das Gebot vom ‚dem Bösen nicht widerstreben‘ als das wirksamste Kampfmittel gegeben ist.“12 Die mit TOLSTOI verbundene Bewegung einer Verweigerung des Tötens13 war das genaue Gegenteil von Gleichgültigkeit, Bequemlichkeit und Ergebung unter das Übel. In den Traktaten des Russen werden die Menschen ermutigt, aufzuwachen und den zivilen Ungehorsam einzuüben (→IV, VIII). Schließlich lag ihm nichts ferner als das Ideal einer ‚Gemeinde der Reinen‘, die sich fein sauber von den Kloaken der Welt abschirmt.14
LEO TOLSTOI war – wie im vorliegenden Band an vielen Stellen nachzulesen ist – zutiefst von der Irrationalität des Gewaltglaubens überzeugt. „Violence doesn't work“, diesem Diktum der irischen Friedensnobelpreisträgerin MAIREAD CORRIGAN-MAGUIRE hätte er seine Zustimmung wohl kaum versagt. Die Gewalt kann nicht schützen, bessern oder heilen, wie es die Priester der Kriegsreligion verkünden. Deren lautstarke Heilsversprechen werden nie eingelöst. Denn wo das Böse mit dem Bösen bekämpft wird, wächst es ins Grenzenlose – statt zu verschwinden. Diesem Abgrund können die Menschen nur entkommen, wenn sie sich auf den Weg der Bergpredigt begeben und der Gewalt nunmehr wirksam entgegentreten, indem sie ihr mit dem Guten antworten – statt mit ‚gleicher Münze‘. Gewaltfreiheit funktioniert. Nicht die militärische Heilslehre, die stets Öl ins Feuer gießt, sondern die Bergpredigt gründet auf Realismus.
Auch um diesen Aspekt hervorzuheben, habe ich für den Titel des vorliegenden Sammelbandes u a. den Ausdruck „Vernunft der Liebe“ gewählt, obwohl dieser in den neu edierten Texten so gar nicht auftaucht. Für TOLSTOI ist ‚Vernunft‘ das Gegenteil eines korrumpierten rationalistischen Denkens und aufs engste mit der Religion verbunden.15 Sie ist das Vernehmen einer Güte, durch welches wir selbst gut werden können. Diese Erfahrung verhilft uns zur Klarsichtigkeit und befähigt überhaupt erst zu einem guten Handeln. Es gilt: „Jede Gewalt widerstrebt der Vernunft und der Liebe. Nehme keinen Anteil an ihr“ (→S. →).
Nicht ohne einen gewissen Selbstwiderspruch stellt TOLSTOI im 4. Anhang zur Schrift „Das Gesetz der Gewalt und das Gesetz der Liebe“ (→X) klar, dass der Gewaltverzicht für ihn keine pragmatische Strategie ist, deren Einsatz womöglich von Fall zu Fall und zwar abhängig von Nützlichkeit und Erfolgsaussichten zu entscheiden wäre: „So sonderbar mir aber die Verblendung der Menschen auch erscheinen mag, die an die Notwendigkeit und Unvermeidlichkeit der Gewalt glauben, es sind doch nicht Vernunftgründe, die mich von der Richtigkeit des Nichtwiderstrebens gegen das Böse überzeugen und auch die Menschen unwiderstehlich davon überzeugen müssen, sondern einzig und allein die innere Selbsterkenntnis des Menschen, die vor allem in der Liebe zum Ausdruck kommt. Die Liebe jedoch, die wahre Liebe, die das Wesen der menschlichen Seele ausmacht, die Liebe, die in der Lehre Christi offenbart wurde, diese Liebe schließt die Möglichkeit irgendwelcher Gewaltanwendung völlig aus.“ (→S. →)
Man kann sich auf das Experiment der Bergpredigt einlassen, Formen des gewaltfreien Widerstehens und Strategien der Entfeindung einüben … und wird zweifellos einen großen praktischen Nutzen der Weisungen Jesu bestätigt finden (womöglich gar eine ‚Rettung der Welt‘ bewerkstelligen, wie 1962 bei der Kubakrise). Das verbleibt aber dennoch an der Oberfläche. Nur wer befreit ist, kann befreien.16 Der Gewalt kann nur wehren, wer selbst nicht mehr dem Zwang zur Gewalt unterworfen ist. Wo im Inneren eines Menschen die Angst der eigenen Nichtigkeit – die Wurzel der Gewalt – durch die Erfahrung einer unzerstörbaren Güte überwunden werden kann, wird es aufgrund eines geschenkten neuen Selbstverstehens überhaupt erst möglich, dem Bösen wirklich als Liebender entgegenzutreten und Feinde zu verwandeln. Deutlicher oder anders noch als TOLSTOI müssten wir deshalb sagen, dass Jesus zwar den Vorschlag macht, endlich einen anderen Weg auszuprobieren als den der Klugen und Mächtigen eines blutgetränkten Erdballs, hierbei aber im strengen Sinne kein neues Moralgesetz verkündet. Gezeigt wird in der Bergpredigt, wie anders die Geliebten in einer gewalttätigen Welt der Ungeliebten zu leben und zu handeln vermögen. Deshalb ist es überaus bedeutsam, das Herz des ‚Nichtwiderstrebens‘ als „Gütekraft“17 zu beleuchten.
Mit zunehmenden Alter erkannte TOLSTOI, dass die Wegweisung ‚Dem Bösen nicht mit Bösem (Gewalt) widerstehen‘ mitnichten nur dem noch unverfälschten Christentum zugehört, sondern vielmehr in allen Kulturen durch Überlieferungen und Weisheitslehrer enthüllt wird. 1908 erhielt er eine Zuschrift des im Exil lebenden bengalischen Revolutionärs TARAKNATH DAS (1884-1958), der seinen Blick auf das Massenelend in Indien lenken wollte. Dort hatte eine ‚christlich-europäische‘ Kolonialmacht nichts dabei gefunden, dem Hungertod von sehr vielen Millionen Menschen wie einem Naturereignis zuzuschauen und gleichzeitig die eigenen Unternehmen die nötigen Lebensmittel außer Landes schaffen zu lassen. TOLSTOI versuchte, sich kundig zu machen und eine angemessene Antwort zu formulieren. In seinem „Brief an einen Hindu“ (→XI) führt er viele Passagen aus indischen Überlieferungen an, die seinem Votum für einen gewaltfreien Widerstand und der Warnung vor einer Angleichung an die sich christlich nennenden Europäer Nachdruck verleihen sollen. 1909-1910 kommt es dann zu einem Briefwechsel zwischen MOHANDAS KARAMCHAND GANDHI und LEO N. TOLSTOI (→XII). GANDHI hatte bereits 1894 die englische Übersetzung eines grundlegenden Werkes des Russen gelesen, worüber er in seiner Autobiographie rückblickend mitteilt: „Tolstois Das Reich Gottes ist inwendig in euch überwältigte mich.“18 Zu diesem Zeitpunkt gehörten gewaltlose Widerstandsformen schon zu seinen Überlegungen; insbesondere hatte er sich bereits ein Lehrgedicht ‚Böses mit Gutem vergelten‘ von SHAMAL BHATT (1684-1769) zum Leitsatz gewählt.19 Der in Selbstzeugnissen so nachdrücklich hervorgehobene Einfluss TOLSTOIS ist also nicht als ‚Offenbarung‘ einer vollständigen Neuigkeit misszuverstehen, sondern war 1894 der entscheidende Impuls, eine eigene Wegfährte wieder aufzunehmen, die ganz verloren zu gehen drohte. Zum 100. Geburtstag des Russen sagte GANDHI 1928: „Als ich nach England ging, war ich ein Anhänger der Gewalt, ich glaubte an sie und nicht an die Gewaltlosigkeit [nonviolence]. Nachdem ich dieses Buch [The Kingdom of God is Within You] gelesen hatte, löste sich der Mangel an Vertrauen in die Gewaltlosigkeit auf.“ (→XV)
TOLSTOIS Botschaft richtet sich an ein Zeitalter, in welchem sich nunmehr – angesichts der zivilisatorischen Entwicklungen im dritten Jahrtausend nach Christus – das Geschick der menschlichen Gattung entscheiden wird: „Begreift, dass die Erfüllung des von uns erkannten höchsten Gesetzes der Liebe, das die Gewalt ausschließt, zu unserer Zeit für uns ebenso unvermeidlich ist, wie es für die Vögel unvermeidlich ist, umherzufliegen und Nester zu bauen“ (→S. →). Es ist zu spät auf der Erde, um die Menschen weiterhin nach Maßgabe der Mächtigen in ‚Gute‘ und ‚Böse‘20 aufzuspalten, da sie doch alle eine Schicksalsgemeinschaft bilden und nur gemeinsam überleben können.
Wie wäre – wider allen Augenschein – eine sich in globaler Verbundenheit und Kooperation vollziehende Revolte für das Leben noch rechtzeitig vorstellbar, gleichsam ein neues Selbstverstehen der gesamten Gattung? LEO N. TOLSTOI vermochte nur eine einzige Revolution anzuerkennen und zwar jene innere, die sich im Herzen jedes einzelnen Menschen ereignen kann. Sie ist allerdings kommunizierbar und wirkt sogar ‚ansteckend‘. Auch TOLSTOIS ‚Kunsttheorie‘21 könnte uns – nach einer Abrüstung der moralgläubigen Anteile – hinführen zu einer ‚Kultur des Friedens und der Gewaltfreiheit‘. Wie anders – als durch ein kulturell vermitteltes Beziehungsgeschehen – wäre dem Aberglauben an eine „rettende Gewalt“ in unserer Zivilisation ein Ende zu bereiten und andererseits dem beseelten Bewusstsein von der einen, unteilbaren Menschenfamilie (humani generis unitas) zum Durchbruch zu verhelfen …
pb
1 Vgl. zu dieser Betrachtungsweise im Licht der Theologie Eugen Drewermanns: BÜRGER 2020*. (Alle in diesem Vorwort verwendeten Kurztitel beziehen sich auf das Literaturverzeichnis im Anhang des vorliegendes Bandes →S. 309-312.)
2 TOLSTOI 2023d.
3 TOLSTOI 2023a, S. 11.
4 TOLSTOI 2023b.
5 Vgl. FALKNER 2021, S. 31-36. Auch die nordamerikanischen ‚Klassiker‘ des zivilen Ungehorsams – Ralph Waldo Emerson (1803-1882) Henry David Thoreau (1817-1862) – wurden von Tolstoi sehr geschätzt.
6 Zitiert nach FALKNER 2021, S. 184 (Einschub in Klammern von dort übernommen).
7 KUßE 2010 (dieser Band sei nachdrücklich allen empfohlen, die bei ihrer Tolstoi-Lektüre die Spannungen zwischen einer „Sprache der Moral“ und einer „Sprache der Weisheit“ als schmerzlich empfinden).
8 Vgl. zu diesem Text auch: FALKNER 2021, S. 173-174 (dieser Autor bezieht sich in seiner Studie zu Tolstois ‚Straftheorie‘ fast durchgehend auch auf die dichterischen Werke). Den Legenden werden wir uns später in der Reihe C der Tolstoi-Friedensbibliothek zuwenden.
9 Nachzulesen im vorliegenden Band unter →IX.D. – Dirk Falkner übersetzt eine Tagebuchpassage Tolstois vom 15. September 1907, die diesem Gedanken entspricht, folgendermaßen: „Den bösen Menschen zu lieben, scheint unmöglich. Man darf und soll aber nicht jeden Menschen selbst lieben, sondern einen unterdrückten, mundtot gemachten Gott in diesem Menschen – und in Liebe zu diesem Gott soll man ihm zur Befreiung verhelfen. Und es ist nicht nur möglich, sondern auch mit Freude machbar“ (FALKNER 2021, S. 164).
10 TOLSTOI 2023c
11 TOLSTOI 2023d; TOLSTOI 2023f.
12 FALKNER 2021, S. 163.
13 TOLSTOI 2023e. – Insbesondere die Duchoborzen zeigten Tolstoi, dass ein Festhalten am ‚Nichtwiderstreben‘ Akte des zivilen Ungehorsams erfordert.
14 Hierzu führt FALKNER 2021, S. 169 folgenden Tagebucheintrag Tolstois vom 22. April 1889 an: „Die Flucht in die Gemeinde, die Bildung einer Gemeinde, ihre Reinhaltung, all das ist Sünde, Irrtum. Kein Einzelner und keine Gruppe kann sich allein rein erhalten; wenn Reinhaltung, dann für alle; sich isolieren, um sich nicht zu beschmutzen, ist die größte Unfreiheit, vergleichbar der Sauberkeit der Damen, die durch die Arbeit anderer erzielt wird. Das ist, als wolle man nur am Rande säubern oder graben, wo es schon rein ist. Nein, wer arbeiten will, muss mitten hineinsteigen in den Schmutz, tut er es nicht, darf er zumindest diese Mitte nicht verlassen, wenn er einmal hineingeraten ist.“
15 KUßE 2010, S. 78 schreibt, es sei „für Tolstoi die vernünftige Religion erstens eine Erfahrungsevidenz inneren Erlebens, die zweitens durch die Übereinstimmung aller ‚wahren Lehrer‘ der Menschheit bestätigt wird und sich drittens im guten und richtigen Leben der einfachen Bauern als wahr erweist.“
16 Die Kehrseite: Eine äußere Revolution, durchgeführt von unerlösten Revolutionären mit den gleichen destruktiven Antrieben und Vorgehensweisen des alten Systems, das doch überwunden werden soll (Böses mit Bösem bekämpfen), reproduziert nur Machtverhältnisse, Gewalt und Unrecht. Das hat Tolstoi klarsichtig erkannt, obwohl er namentlich den ‚Stalinismus‘ noch nicht kannte.
17 ARNOLD 2011*.
18 GANDHI 2001, S. 125. – Im Jahr 1928 wird M. K. Gandhi ausdrücklich zu erkennen geben, dass er bezogen auf Tolstois Biographie und Werke nicht zu den ausgewiesenen Experten in Indien gehört (→XV). Der russische Denker bot ihm eine Möglichkeit zu ‚Spiegelung‘ und ‚Projektion‘, insbesondere auch hinsichtlich des Vorsatzes, Lehre und Leben in Einklang zu bringen.
19 Vgl. UDOLP 2015, S. 690 (dort Anmerkung 8); siehe zu Taraknath Das und Gandhi auch: BIRUKOFF 1925, BARTOLF 1993*, BARTOLF 1997*, BARTOLF 2006.
20 Der L. N. Tolstoi verbundene Alexander Iwanowitsch Archangelski (Pseudonym: Buka) schrieb: „Das Gebot vom Nichtwiderstreben dem Bösen gegenüber hebt die begriffliche Trennung von vollkommen guten und vollkommen schlechten Menschen auf und bezeichnet nur die zwei entgegengesetzten Wege“ (→S. →).
21 Vgl. KUßE 2010, S. 70-73. – Tolstoi betrachtete freilich als grundlegend die Religion, ohne die es für eine wirkliche Moral keine Grundlage geben könne (ebd., S. 76-79). Ob seine Fährte einer Religion, die die Menschen verbindet statt aufzuspalten, vielleicht Wege in eine Zukunft jenseits der sich abzeichnenden Barbareien weisen kann? – Die Kirchentümer vermochten es, vielen Generationen eine kollektive Ehrfurcht vor toten Bildwerken, verstaubten Textilresten oder imaginären Gegenständen einzuflößen. Sollte da nicht erst recht eine ‚Katechese‘ zur Beförderung der Liebe unter den Menschen und der Ehrfurcht vor dem Leben möglich sein: „Falls man Achtung zu vermeintlichen Heiligtümern … einflößen kann und auch einflößt, um wie viel nötiger ist es da, … Achtung einzuflößen, nicht zu etwas Erdichtetem, sondern zu dem echtesten und allen verständlichen und freudigen Gefühle der Liebe des Menschen zum Menschen“ (→S. →).
Aus: Worin besteht mein Glaube?22(1884)
Leo N. Tolstoi
[II.] Als ich begriff, daß die Worte: Widerstehe nicht dem Bösen23, bedeuten: Widerstehe nicht dem Bösen, änderte sich plötzlich meine ganze frühere Vorstellung von dem Sinn der Lehre Christi, und ich entsetzte mich vor jenem nicht so sehr Unverständnis, als einem gewissen seltsamen Verständnis der Lehre, in dem ich mich bisher befunden hatte. Ich wußte, wir alle wissen es, daß der Sinn der christlichen Lehre in der Liebe zu den Menschen besteht. Sagt man – die Wange hinhalten, die Feinde lieben – so bedeutet das, das Wesen des Christentums ausdrücken. Ich wußte das von Kindheit an, aber weshalb verstand ich denn nicht diese einfachen Worte einfach, sondern suchte in ihnen irgendeinen allegorischen Sinn? Widerstehe nicht dem Bösen, bedeutet: Widerstehe niemals dem Bösen, d. h. verrichte niemals eine Gewalttat, d. h. eine Handlung, die stets der Liebe entgegengesetzt ist. Und wenn man dich hierbei beleidigt, so ertrage die Beleidigung und tue trotzdem den andern nicht Gewalt an. Er hat das so klar und einfach gesagt, wie man es klarer nicht sagen kann. Wie konnte da ich, der ich doch glaube oder mich bemühe zu glauben, daß derjenige, der dies gesprochen hat, Gott ist, sagen, es sei unmöglich, dies aus eigener Kraft zu erfüllen! Der Hausherr sagt zu mir: Geh, haue Holz, und ich soll sagen: Ich kann aus eigener Kraft dies nicht erfüllen. Wenn ich dies sage, sage ich eins von beiden: entweder daß ich nicht an das glaube, was der Hausherr sagt, oder daß ich das nicht tun will, was der Hausherr befiehlt. Von einem Gebot Gottes, das Er uns zur Erfüllung gegeben hat, von dem Er gesagt hat: Wer es erfüllt und lehret so, der wird der Größte genannt werden usw., von dem Er gesagt hat, daß nur diejenigen, die es erfüllen, das Leben erhalten werden, einem Gebote, das Er selbst erfüllt und das Er so klar, einfach ausgedrückt hat, daß an seinem Sinne kein Zweifel sein kann, von diesem Gebote nun sagte ich, obgleich ich mich niemals bemüht hatte, es zu erfüllen: seine Erfüllung ist einzig aus meiner Kraft nicht möglich, sondern übernatürlicher Beistand ist erforderlich.
Gott ist auf die Erde herabgekommen, um den Menschen die Rettung zu geben. Die Rettung besteht darin, daß die zweite Person der Dreieinigkeit, Gott der Sohn, für die Menschen gelitten hat, vor dem Vater ihre Sünde gebüßt und den Menschen die Kirche gegeben hat, in der die Gnade, die den Gläubigen überliefert wird, bewahrt wird; doch außer allem diesem gab dieser Gott der Sohn den Menschen auch eine Lehre und das Beispiel des Lebens zur Rettung. Wie konnte ich da sagen, die Vorschriften des Lebens, die von Ihm so einfach und klar für alle ausgedrückt sind, seien so schwer zu erfüllen, daß es selbst bei übernatürlichem Beistand unmöglich sei? Er hat das nicht nur nicht gesagt, Er hat bestimmt gesagt: erfüllt es unbedingt, und wer es nicht erfüllt, der wird nicht ins Reich Gottes eingehen. Und Er hat niemals gesagt, daß die Erfüllung schwer sei; Er hat im Gegenteil gesagt: „Mein Joch ist sanft, und Meine Last ist leicht“; Johannes, sein Evangelist, hat gesagt: „Seine Gebote sind nicht schwer.“ Wie konnte ich da sagen, das, was zu erfüllen Gott befohlen hat; das, dessen Erfüllung Er so genau bestimmt hat, und von dem Er gesagt, es zu erfüllen sei leicht; das, was Er selbst als Mensch erfüllt hat, und was Seine ersten Nachfolger erfüllt haben; wie konnte ich da sagen, es zu erfüllen sei so schwer, daß es ohne übernatürlichen Beistand sogar unmöglich sei? Wenn ein Mensch alle Kräfte seines Verstandes darauf verwenden wollte, ein gegebenes Gesetz zu vernichten, – was könnte zur Vernichtung dieses Gesetzes dieser Mensch Wirkungsvolleres sagen, als daß dies Gesetz seinem Wesen nach unerfüllbar sei und der Gedanke des Gesetzgebers selbst über sein Gesetz der sei, dies Gesetz sei unerfüllbar und zu seiner Erfüllung sei übernatürlicher Beistand erforderlich? Aber gerade dies dachte ich in bezug auf das Gesetz von dem Nichtwiderstehen dem Bösen. Und ich begann zu erinnern, wie und wann mir dieser seltsame Gedanke in den Kopf gekommen war, das Gesetz Christi sei göttlich, aber es sei unmöglich, es zu erfüllen. Und als ich meine Vergangenheit durchprüfte, begriff ich, daß dieser Gedanke mir niemals in seiner ganzen Nacktheit überliefert worden ist (er hätte mich abgestoßen), sondern daß ich ihn, ohne es selbst zu merken, mit der Muttermilch schon von der frühesten Kindheit an eingesogen, und daß mein ganzes folgendes Leben in mir diesen seltsamen Irrtum nur befestigt hatte.
Von Kindheit an hatte man mich gelehrt, Christus ist – Gott und Seine Lehre göttlich, hatte mich aber zugleich gelehrt, jene Institutionen zu verehren, die meine Sicherheit vor dem Bösen garantieren, hatte mich gelehrt, diese Institutionen für heilige zu halten. Man hatte mich gelehrt, dem Bösen zu widerstehen, und mir eingeblasen, es sei erniedrigend und schändlich, sich dem Bösen zu fügen und von ihm zu dulden, aber löblich, sich ihm zu widersetzen. Man hatte mich gelehrt, zu richten und zu strafen. Dann lehrte man mich, Krieg zu führen, d. h. durch Mord dem Bösen entgegenzuwirken, und das Heer, dessen Glied ich wurde, nannte man das christusliebende Heer; und seine Tätigkeit weihte man mit christlichem Segen. Außerdem lehrte man mich von der Kindheit an bis zur Mannbarkeit, das zu achten, was dem Gesetze Christi direkt widerspricht. Dem Beleidiger Widerstand zu leisten, eine Kränkung der Person, der Familie, des Volkes mit Gewalt zu rächen; alles das verneinte man nicht nur nicht, sondern man blies mir ein, alles dies sei sehr schön und dem Gesetze Christi nicht zuwider.
Die ganze mich umgebende Ruhe, meine Sicherheit und die meiner Familie, mein Eigentum, alles war aufgebaut auf einem von Christus verworfenen Gesetz, auf dem Gesetz: Zahn um Zahn.
Die kirchlichen Lehrer lehrten mich, die Lehre Christi sei göttlich, doch ihre Erfüllung sei bei der menschlichen Schwachheit unmöglich, und nur die Gnade Christi könne bei ihrer Erfüllung mitwirken. Die weltlichen Lehrer und die ganze Ordnung des Lebens erkannten schon direkt die Unerfüllbarkeit, die Schwärmerei der Lehre Christi an und lehrten mit Worten und Taten, was dieser Lehre zuwider war. Diese Anerkennung der Unerfüllbarkeit der Lehre Gottes ging mir allmählich, unmerklich so sehr in Fleisch und Blut über und wurde mir gewohnt und fiel so sehr mit meinen Lüsten zusammen, daß ich früher nie den Widerspruch bemerkte, in dem ich mich befand. Ich sah nicht, daß es unmöglich ist, gleichzeitig Christus – Gott zu bekennen, dessen Lehre das Nichtwiderstehen dem Bösen zur Grundlage hat, und bewußt und ruhig für die Institution des Eigentums, der Gerichte, des Staates, des Heeres zu arbeiten, ein der Lehre Christi widersprechendes Leben einzurichten und diesen Christus bitten, es möge unter uns das Gesetz des Nichtwiderstehens dem Bösen und des Verzeihens erfüllt werden. Mir kam es nicht in den Sinn, was jetzt so klar ist: daß es bedeutend einfacher gewesen wäre, das Leben nach dem Gesetze Christi zu ordnen und einzurichten und dann erst zu bitten, es möge Gerichte, Strafen, Kriege geben, wenn sie für unser Bestes so notwendig sind.
Und ich begriff, woher mein Irrtum kam. Er kam von dem Bekenntnis Christi mit Worten und seiner Verleugnung mit der Tat.
Die Bestimmung von dem Nichtwiderstehen dem Bösen ist eine Bestimmung, welche die ganze Lehre zu einer Einheit verbindet; aber nur dann, wenn sie kein Ausspruch ist, sondern eine für die Erfüllung verbindliche Vorschrift, wenn sie ein Gesetz ist.
Sie ist gleichsam der Schlüssel, der alles öffnet, doch nur dann, wenn man diesen Schlüssel ins Schloß hineinsteckt. Die Anerkennung dieser Bestimmung als eines Ausspruches, dessen Erfüllung ohne übernatürlichen Beistand unmöglich ist, ist eine Vernichtung der ganzen Lehre. Wie anders als unmöglich muß denn den Menschen eine Lehre erscheinen, aus der die grundlegende, alles verbindende Bestimmung herausgenommen ist? Den Ungläubigen aber muß sie geradezu als dumm erscheinen und kann ihnen nicht anders erscheinen.
Eine Maschine aufstellen, den Dampfkessel heizen, sie in Gang bringen, aber nicht den Treibriemen umlegen – genau dasselbe tut man mit der Lehre Christi, wenn man lehrt, man könne ein Christ sein, ohne die Bestimmung von dem Nichtwiderstehen dem Bösen zu erfüllen.
Ich las neulich mit einem Rabbiner das 5. Kapitel des Matthäus. Fast bei jedem Ausspruch sagte der Rabbiner: „Das steht in der Bibel, das steht im Talmud“ und wies mir in der Bibel und im Talmud Aussprüche nach, die den Aussprüchen der Bergpredigt sehr nahe stehen. Aber als wir an den Vers vom Nichtwiderstehen dem Bösen kamen, sagte er nicht: „Auch das steht im Talmud“, fragte mich jedoch nur mit einem Lächeln: „Und die Christen, erfüllen sie dies? halten sie die andere Wange hin?“ – Ich konnte nichts antworten, um so mehr, als ich wußte, daß zu eben dieser Zeit die Christen nicht nur nicht die Wange hinhielten, sondern die Juden auf die hingehaltene Wange schlugen. Aber mich interessierte es, zu erfahren, ob etwas Ähnliches in der Bibel oder im Talmud stehe, und ich fragte ihn danach. – Er sagte: „Nein, das nicht; aber sagen Sie mir, erfüllen die Christen dies Gesetz?“ Durch diese Frage gab er mir zu verstehen, daß das Vorhandensein einer solchen Vorschrift im christlichen Gesetze, die nicht nur von niemand erfüllt wird, sondern die die Christen selbst als unerfüllbar anerkennen, die Anerkennung der Unvernünftigkeit und Unnötigkeit dieser Vorschrift ist. Und ich konnte ihm nichts antworten.
Jetzt, nachdem ich den direkten Sinn der Lehre verstanden habe, sehe ich klar jenen seltsamen Widerspruch mit mir selbst, in dem ich mich befand. Indem ich Christus als Gott anerkannte und Seine Lehre als göttlich und dabei doch mein Leben dieser Lehre zuwider einrichtete, was blieb mir anders übrig, als die Lehre für unerfüllbar zu erklären? Mit Worten erkannte ich die Lehre Christi als heilig an, mit der Tat bekannte ich eine ganz und gar nicht – christliche Lehre und erkannte die nicht – christlichen Institutionen, die von allen Seiten mein Leben umfassen, an und verehrte sie.
Das ganze Alte Testament sagt, das Unglück des jüdischen Volkes käme daher, daß es an falsche Götter, nicht an den wahren Gott glaubte. Samuel, im 1. Buche, Kapitel 8 und 12, beschuldigt das Volk, es habe allen seinen früheren Handlungen des Abfalls von Gott noch eine neue zugefügt: an die Stelle Gottes, der ihr König war, hätten sie einen menschlichen König gesetzt, der sie, nach ihrer Meinung, retten werde. Glaubt nicht an das tohu, das Eitle, sagt Samuel zum Volk, Kap. 12, 12. Es wird euch nicht helfen und euch nicht retten, weil es tohu, Eitles, ist. Um nicht mit eurem König umzukommen, haltet euch an den alleinigen Gott.
Der Glaube an diese tohu, diese eitlen Götzen, verdeckte auch vor mir die Wahrheit. Auf dem Wege zu ihr standen, ihr Licht versperrend, jene tohu vor mir, von denen mich loszusagen ich nicht die Kraft hatte.
Kürzlich ging ich durch das Borowizkische Tor; im Tor saß ein Greis, ein bettelnder Krüppel, der einen Lappen um die Ohren gebunden hatte. Ich zog die Börse heraus, um ihm etwas zu geben. In diesem Augenblick lief von oben aus dem Kreml ein braver, junger, rotwangiger Bursche heraus, ein Grenadier im Militärpelz. Als der Bettler den Soldaten erblickte, sprang er erschrocken auf und humpelte eilig hinunter zum Alexandrowskij-Garten. Der Grenadier verfolgte ihn; aber als er ihn nicht einholen konnte, blieb er stehen und begann den Bettler zu schelten, weil er auf das Verbot nicht gehört und sich im Tor hingesetzt hatte. Ich wartete auf den Grenadier im Tor. Als er an mich herangekommen war, fragte ich ihn, ob er lesen könne.
„Ja, was denn?“ – „Hast du das Evangelium gelesen?“ – „Ja.“ – „Und hast du gelesen: ,Und wer einen Hungrigen speist?‘ ...“ Ich sagte ihm diese Stelle. Er kannte sie und hörte sie an. Und ich sah, daß er verwirrt wurde. Zwei Vorübergehende blieben stehen, als sie dies hörten. Für den Grenadier war es augenscheinlich ein peinliches Gefühl, daß er, der vortrefflich seine Pflicht erfüllte – indem er das Volk von dort verjagte, von wo wegzujagen ihm befohlen war –, plötzlich als ungerecht erschien. Er wurde verwirrt und suchte offenbar eine Ausrede. Plötzlich glänzte in seinen klugen, schwarzen Augen ein Licht auf, er wandte sich mit der Seite nach mir um, als wolle er fortgehen. – „Und haben Sie das Militär-Reglement gelesen?“ fragte er. Ich sagte, ich hätte es nicht gelesen. – „Dann rede auch nicht!“ sagte der Grenadier, schüttelte triumphierend den Kopf, schlug die Schöße seines Mantels übereinander und ging forsch auf seinen Posten.
Das war der einzige Mensch in meinem ganzen Leben, der streng logisch diese ewige Frage löste, die bei unserer Gesellschaftsordnung vor mir stand und die vor jedem Menschen steht, der sich Christ nennt.
22 Textquelle dieser Übersetzung | L. N. TOLSTOJ: Dem Bösen nicht mit Gewalt widerstehen. In: L. N. Tolstoj: Ausgewählte Werke, herausgegeben von W. Lüdtke. Band XII.: Weltanschauung. Auswahl von W. Lüdtke. Wien / Hamburg / Zürich: Gutenberg-Verlag Christensen & Co. 1929, S. 94-99.
23 Manche Ausleger fassen das Adjektivum in Matth. 5, 39 als Neutrum, so auch Luther: „ Widerstrebt nicht dem Übel.“ Gemeint ist der böse Mensch. – Vgl. Joh. ACKERMANN, Tolstoj und das Neue Testament, Leipzig 1927 (auch als Dissertation erschienen).
(Brief an einen Revolutionär – Lasarew, 1886)
Leo N. Tolstoi24
Die lange und peinlich-mühselige Erfahrung hat mich zu der Überzeugung gebracht, wie unnütz es ist, mit Leuten zu diskutieren, die das nicht sehen was sie nicht sehen können, weil sie an ihren Ansichten festhalten, aber nicht etwa aus Liebe zur Wahrheit, sondern um nicht ihrer Stellung, ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft zu schaden. Mit solchen Mitteln zu streiten, ist dasselbe, als wenn man einen Architekten, der seinen ganzen Stolz und sein ganzes Leben auf die Erbauung eines Hauses gesetzt hat, nun davon überzeugen wollte, daß die Winkel dieses Hauses nicht gerade sind. Er will, der Winkel, den er für gerade gehalten, soll gerade sein; das heißt, er, der verständige und ernsthafte Mann will und kann die Qualität des geraden Winkels nicht begreifen. Ebenso steht es mit den Widersprüchen, die ich stets unter zwei entgegengesetzten Parteien, der konservativen Regierung und der revolutionären Partei wahrnehme; sie kämpfen gegen die unbestreitbare Wahrheit, daß man dem Bösen nicht mit Gewaltthat entgegentreten darf.
Die eine Partei hat angefangen, einen stumpfen, die andere einen spitzen Winkel zu bauen, und beide entrüsten sich gegenseitig über einander und über das Winkelmaß, das ihnen zeigt, daß keiner von beiden gerade ist. Ihr verteidigt diesen Winkel gegen die Wahrheit und gegen Euch selbst; Ihr verteidigt diesen Winkel, den Ihr erbaut habt und der mit dem richtigen Winkel, den Ihr sehr wohl kennt, nicht übereinstimmt; darum werde ich Euch nicht beweisen, was Ihr, ebenso gut wie ich, wißt; für den Augenblick will ich Euch nur bitten, nicht alles, was ihr gethan habt, gerade für das zu halten, was Ihr hättet thun sollen; ich bitte Euch ferner, glaubt nicht, daß das, was Ihr zu thun die Absicht habt, gerade das ist, was gethan werden muß, und betrachtet die Dinge von diesem Gesichtspunkte aus.
Eurer Meinung nach kann und darf der Mensch im Namen der Nächstenliebe Menschen töten, weil gewisse, für mich geheimnisvolle Gründe existieren, in deren Namen die Menschen sich stets gegenseitig getötet haben. Es sind dieselben Gründe, nach denen Caïphas lieber Christus allein tötet, als daß er ein ganzes Volk zu Grunde richtet; und das Ziel aller dieser Gründe ist der zum Gesetz erhobene Mord. Ihr entrüstet Euch sogar darüber, daß es Menschen giebt, die behaupten, man dürfe niemals töten, ebenso wie ich solche kennen gelernt habe, die sich darüber entrüsten, wenn gewisse Leute behaupteten, man dürfe Frauen und Kinder nicht mißhandeln.
Die Humanität lebt, das Moralbewußtsein wird stärker und begreift zunächst die moralische Unmöglichkeit, seine Eltern aufzufressen, dann die überflüssigen Kinder zu töten, dann die Gefangenen umzubringen, dann Sklaven zu besitzen, die Ordnung in seinem Hauswesen mit Schlägen aufrecht zu erhalten, und endlich – das ist die Haupterrungenschaft der Menschlichkeit – kommt man zu der moralischen Überzeugung, daß man nicht durch Mord oder sonst eine Gewaltthat gegen das allgemeine Glück freveln darf. Es giebt Leute, die diesen Grad moralischer Auffassung erlangt haben; es giebt andere, die noch nicht so weit sind. Mit den einen oder den anderen zu streiten, um sie zu überzeugen, wäre unnütz. Mit welchen Gründen man mir auch beweisen möchte, ich thäte meinen Kindern und der ganzen Menschheit unendlich Gutes, wenn ich meinen Sohn mit einem Stocke schlüge, ich könnte es ebenso wenig thun, als ich ihn ermorden könnte; ich weiß, ich könnte ein Kind weder töten, noch schlagen; darüber giebt es kein Streiten. Ich kann nur eins sagen: den Leuten, die die Gewaltthat und vor allem den Mord zu einer gesetzlichen Einrichtung erheben wollen, darf man nicht von Liebe sprechen, ebenso wenig wie man den Leuten, die behaupten wollen, der spitze Winkel ihres Hauses sei gerade, von der Perpendikularität ihrer Seiten sprechen darf, denn sie würden sich selbst Lügen strafen oder sich selbst verleugnen, wenn sie diesen Winkel erklären wollten. Wenn man im Namen der Liebe spricht, so zeigt kein Mordbeispiel die Notwendigkeit von der Hinschlachtung eines andern. Es führt nur zu den einfachen, unvermeidlichen Konsequenzen der Liebe, daß der Mensch einen andern mit seinem Körper decken wird, daß er sein Leben für einen andern hingeben, aber nie einem andern das Leben nehmen wird. Ich wollte nicht beweisen, aber ich fange an, es zu thun; nun, meinetwegen! …
Ihr sagt sehr richtig, das Hauptgebot sei das Gebot der Liebe, doch Ihr irrt Euch, wenn Ihr sagt, jedes Gebot im besondern könnte die Verletzung derselben herbeiführen; hier verwechselt Ihr zwei ganz verschiedene Dinge. Nehmen wir die Gebote, nicht Schweinefleisch zu essen und nicht zu töten; das erste steht vielleicht nicht im Einklange mit der Liebe, weil es nicht die Liebe zum Gegenstand hat; doch das zweite ist nur der Ausdruck des Grades, den das Bewußtsein des Menschen in der Liebe erreicht hat. Die Liebe ist eine sehr gefährliche Bezeichnung; im Namen der Liebe zur Familie begeht man die grausamsten Handlungen; im Namen der Liebe zum Vaterlande thut man noch Schlimmeres, und im Namen der Liebe zur Menschheit kommt man zu den schrecklichsten Greueln. Die Liebe ist der Grund des menschlichen Lebens; das ist eine längst bekannte Sache; aber was ist die Liebe? Diese Frage beunruhigt den menschlichen Geist, stets und stets löst man sie mit einer Verneinung. Man beweist, daß das, was man mit diesem Namen belegt hat, was für Liebe galt, nicht Liebe ist. Die Menschen töten ist nicht Liebe, ihnen Leiden verursachen, sie im Namen von irgend etwas schlagen, die einen den andern vorziehen, ist auch nicht Liebe; und die Vorschrift, dem Bösen nicht mit der Gewalt entgegen zu treten, deutet die Grenzen an, hinter denen die Liebe aufhört. Es ist seltsam, daß Ihr anerkennt, der Grund des Lebens beruhe darauf, dem andern im Namen der Liebe zu dienen; doch Ihr entrüstet Euch über das sichere und unbestreitbare Mittel, das man Euch dazu angiebt. Das wäre dasselbe, als wolle man einem Manne, der über See fährt, einen sicheren Weg zwischen den Klippen angeben. – ,,Weshalb mich erst leiten? ich muß ja doch an den Klippen scheitern?“ Ist das nicht dasselbe, als wenn man sich darüber entrüstet, daß man einen Mörder nicht töten kann? – „Aber wenn man doch nicht anders handeln kann?“ – Nun, wenn das Schiff auf den Klippen scheitern muß, so werde ich vielleicht mit untergehen, aber ich muß mich doch freuen, daß ich den Weg kenne und muß mit allen Kräften meiner Seele wünschen, auf diesem Wege durchzukommen.
Man vergleiche diese Regel, dem Bösen nicht mit Gewalt entgegen zu treten, mit der andern, die Kinder nicht aus den Fenstern zu werfen, was manchmal notwendig sein kann, und ziehe daraus die Schlußfolgerung, daß die Vorschrift, die Kinder nicht aus dem Fenster zu werfen, absonderlich sei. Aber ganz im Gegenteil, dieser Syllogismus ist vollständig regelrecht und notwendig. Die Behauptung, man könne nicht verbieten, die Kinder aus den Fenstern zu werfen, weil das Bedürfnis danach sich bei einem Brande fühlbar machen kann, ist nur für den möglich, der derart gewöhnt ist, den Kindern Leiden zu verursachen und sich Handlungen überläßt, in deren Verlauf diese Notwendigkeit manchmal eintreten kann.
Die Gewaltthat und der Mord haben Euch empört, und darum stellt Ihr, von einem natürlichen Gefühl fortgerissen, der Gewaltthat und dem Morde die Gewaltthat und den Mord entgegen. Eine solche Handlung, ist, obwohl recht tierisch und wenig klug, an sich durchaus nicht blöd und widerspruchsvoll; doch sobald die Regierung und die Revolutionäre diese Handlung durch geistige Gründe rechtfertigen wollen, entsteht ein schrecklicher Gallimathias, und es bedarf einer Menge von Sophismen, damit man das Ungehörige eines solchen Versuchs nicht sieht.
Eine solche Rechtfertigung gründet sich stets auf die Hypothese eines eingebildeten Mörders, der nichts Menschliches an sich hat und die Unschuldigen tötet und leiden läßt; und dieses angebliche Vieh dient, wie es in den Mordprozessen der Unschuldigen stets vorkommt, den Gründen aller Anhänger der Gewaltthat als Basis. Doch einen solchen Mörder trifft man selten und viele Menschen könnten hunderte von Jahren leben, ohne ihn je sein Verbrechen vollbringen zu sehen. Warum also sollte ich die Regel meines Lebens auf dieser Fiktion basieren?
Wenn wir über das wirkliche Leben und nicht über die Fiktion Betrachtungen anstellen, so sehen wir etwas ganz Verschiedenes. Wir sehen die andern Menschen, sehen uns selbst die grausamsten Verbrechen begehen, aber nicht vereinzelt wie der angebliche Mörder, sondern in Gemeinschaft mit den andern Menschen; und das nicht, weil diese Menschen Bestien sind, die nichts Menschliches an sich haben, sondern weil sie sich auf falschen Wegen befinden und falsch urteilen. Wenn wir über das Leben Betrachtungen anstellen, so bemerken wir im Gegenteil, daß die grausamsten Dinge, der Mord, das Dynamit, die Guillotine, die Zellen, die Galgen, die Gerichte, die Gefängnisse und ihre Folgen, daß das alles nicht von dem angeblichen Mörder, sondern von den Menschen kommt, die ihre Lebensregel auf die lächerliche Fiktion dieses angeblichen Mörders basieren.
So muß der Mensch, der über das Leben nachdenkt, sehen, daß die Ursache für das Unglück der Menschen nicht auf dem angeblichen Mörder, sondern auf vielen Irrtümern der andern Menschen beruht, deren grausamstes darin besteht, aus einem eingebildeten Übel ein wirkliches zu machen. Darum wird dieser Mann, wenn er seine Bemühungen gegen die Ursache des Übels, gegen seine eigenen Irrtümer und die der andern richtet, und diesen Bemühungen alle seine Kräfte widmet, ein großes und furchtbares Resultat erzielen. Er wird dann nicht mehr begreifen, warum er als Leitstern durchs Leben der Fiktion eines Mörders bedarf, dem er wahrscheinlich nie begegnen wird. Und selbst wenn er ihm begegnete, so würde er gegen diesen Mörder wahrscheinlich ganz anders handeln, als der Mensch, der schon von vornherein gegen ihn erbittert ist, ohne ihm je begegnet zu sein.
24 Textquelle dieser Übersetzung | Leo N. TOLSTOI: Bekämpft nicht Böses mit Bösem. In: Graf Leo Tolstoi: Muß es denn so sein? [Sammelband]. Deutsch von Dr. N[athan]. Syrkin. Berlin: Hugo Steinitz Verlag 1901, S. 97-108. [Untertitel zu Adressat und Jahreszahl – unter Vorbehalt – redaktionell hinzugesetzt nach den anderen im →Anhang aufgeführten Übersetzungen, pb.]
Briefwechsel zwischen Graf Leo Tolstoi von Rußland und Prediger Adin Ballou von Amerika25(1889/1890)
Ediert von Lewis G. Wilson – übersetzt von J. G. Ewert
Folgender Briefwechsel zwischen Graf Leo Tolstoi und Prediger Adin Ballou ist in gegenwärtiger Zeit von ungewöhnlichem Interesse. Manch einer hat vielleicht gemeint, daß der russische Graf, der auf dem Gebiete der Litteratur und der Reform so viel geleistet hat, allein stehe als Verteidiger der Wehrlosigkeitslehre nach neutestamentlichem Standpunkte. Solchen wird es interessant sein, zu erfahren, daß auch hier in Amerika ein solcher gewirkt hat bis zu dem hohen Alter von siebenundachtzig Jahren. Herr Ballou ist über sechzig Jahre lang im Interesse der Wehrlosigkeit thätig gewesen. Er stützte sich auch auf das Neue Testament und verteidigte seine Ansichten ungefähr auf derselben Weise wie gegenwärtig der große russische Schriftsteller und Asket. Eine interessante Thatsache ist es, daß kurz vor Herrn Ballous Tode diese beiden großen Geister persönlich miteinander verkehrt und die Hauptpunkte ihrer respektiven Ansichten über die Wehrlosigkeit ausgetauscht haben.
Zwei außergewöhnliche Männer behandelten hier dieselbe Frage; aber der eine ist ein Produkt Neuenglands und der andre steht unter russischen Verhältnissen. Ballou war einer alten Hugenottenfamilie entsprossen, die schon mehrere Jahrhunderte hindurch für politische und religiöse Freiheit gekämpft hatte. Graf Tolstoi repräsentiert die extreme Reaktion gegen den Druck des russischen Civil- und Militärwesens. Diese beiden Männer vergleichen hier ihre Ansichten über die Wehrlosigkeit, und es wird dem Leser überlassen, zu entscheiden, ob nicht der eine das reife und nüchterne Urteil zeigt, das sich im Laufe der Zeit bei ruhiger Überlegung gebildet hat, während der andre unter weniger günstigen Umständen binnen kurzer Zeit seine Ansichten bildete. Damit der Leser besser wissen möge, mit wem er es hier zu thun hat, soll hier ein kurzer Bericht über Ballous Wirksamkeit folgen.
Schon im Jahre 1830 nahm Ballou die Lehre von der christlichen Wehrlosigkeit an und verfocht dieselbe mit seinen außergewöhnlichen Geistesgaben. Im Jahre 1841 gründete er mit ungefähr dreißig Anhängern etwa dreißig Meilen westlich von Boston eine Musteransiedlung, die er „Hopedale Community“ (deutsch Hoffnungsthaler Gemeinschaft) nannte. Der Raum gestattet es uns nicht, einen längeren Bericht über die hohen Bestrebungen, erfreulichen Erfolge und endlichem Untergang dieser Gemeinschaft abzugeben. Nach den Worten ihres Gründers wurde sie nach den folgenden Grundsätzen geleitet.
„Die Absicht war, daß Hopedale nicht einer politischen Körperschaft einverleibt werden sollte und nicht unter einer menschlichen Regierung stehen, die es von ihren Unterthanen verlangt, daß sie im Kriege ihre Mitmenschen niedermetzeln oder sich zu diesem Zwecke im Heer, in der Marine oder in der Miliz einüben, oder Verbrecher mit dem Tode bestrafen oder sonst tödliche Gewalt gegen Missethäter zu gebrauchen, oder unter irgend einem Vorwande einem Menschen etwas zuzufügen, daß man sich nicht selber wünschen würde, oder in irgend einer Hinsicht den klaren Worten und dem Beispiele Jesu Christi zuwider zu handeln. Es war eine praktische, christliche Bestrebung, die nur das leibliche und geistliche Wohl eines jeden einzelnen und der ganzen Gemeinschaft im Auge hatte.“
Adin Ballou (1893-1890), Prediger und Gründer der christlich-pazifistischen Gemeinschaft ‚Hopedale Community‘ (Bild commons.wikimedia.org)
Man stützte sich auf die Lehren des Neuen Testamentes, wie sie in der Bergpredigt und anderswo aufgezeichnet sind, und versuchte im Umgang mit den Mitmenschen solche Worte Jesu wie die folgende buchstäblich auszuführen. „Alles, das ihr wollt, daß euch die Leute thun sollen, das thut ihr ihnen auch!“ „Ihr habt gehört, daß da gesagt ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn; ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel.“ „Ihr habt gehört, daß gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen; ich aber sage euch: Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; thut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen, auf daß ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel.“ „Stecke dein Schwert an seinen Ort; denn wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen.“ „Die weltlichen Könige herrschen, und die Gewaltigen heißet man gnädige Herren; ihr aber nicht also, sondern der Größte unter euch soll sein wie der Jüngste, und der Vornehmste wie ein Diener,“ u.s.w.
Vierzehn Jahre lang gedieh diese Gemeinde. Sie nahm allmählich zu an Zahl und Reichtum, trotz mancherlei Hindernisse, bis sie endlich dreihundert Glieder zählte, die in fünfzig Häusern wohnten und über fünfhundert Acker Land und mehrere einfache aber gute Mühlen und Werkstätten besaßen. Sie hatten auch eine Schule, eine Kapelle und eine Bibliothek von einigen hundert Bänden. Sie hatten ein schön angelegtes Dorf mit guten geebneten Straßen, und das Gesamtkapital betrug schließlich neunzigtausend Dollars.
Ohne weiter die Einzelheiten der Geschichte dieser Gemeinschaft zu verfolgen, möge es genügen zu berichten, daß sie sich im Jahre 1856 infolge finanzieller und moralischer Verwickelungen gänzlich auflöste. Das Eigentum blieb in den Händen der reicheren Glieder, und das Dorf wurde bald zu einem gewöhnlichen Städtchen. Der Gründer überlebte die Geschichte seines Unternehmens und fuhr fort, in seinem Umgange mit den Menschen die Grundsätze festzuhalten, auf die er sich gestützt hatte. Er war mit der Feder thätig und gab einige Bücher heraus, – unter andern: ,,Christliche Wehrlosigkeit“, „Praktisches christliches Gesellschaftsleben“, „Das ursprüngliche Christentum und seine Ausartung“. Diese sind jetzt jedoch alle vergriffen. Im Juni des Jahres 1889 schickte der Schreiber dieses Artikels einige von den obigen Büchern an Graf Tolstoi, zusammen mit einem Porträt des Verfassers und einem erklärenden Briefe, in der Hoffnung, daß es dem einsamen dastehenden Grafen zur Freude gereichen würde, zu erfahren, daß auf dieser Seite des Ozeans jemand mit·ihm sympathisiere und schon jahrelang dieselben Wahrheiten verteidigt hatte, für die er eintrat. Daß der Schreiber sich nicht geirrt hatte, zeigt der folgende Brief zur Genüge, den er im Juli 1889 erhielt.
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Werter Herr!
Ich habe selten in meinem Leben mich so freuen dürfen als beim Lesen von Herrn Ballous Schriften. Ich kann mit denjenigen nicht übereinstimmen, die da meinen, daß Herrn Ballous Name nicht auf die Nachwelt übergehen wird. Er ist einer der ersten wahren Apostel der ,,neuen Zeit“ gewesen und wird in Zukunft anerkannt werden als einer der größten Wohlthäter der Menschheit. Wenn er in seinem langen und scheinbar fruchtlosen Wirken zu Zeiten niedergedrückt gewesen ist, da er keinen Erfolg sehen konnte, so hat er nur das Los seines und unsers Meisters geteilt.
Bitte ihm zu sagen, daß sein Bestreben nicht umsonst gewesen ist. Andre sind dadurch gestärkt worden, wie ich selbst bezeugen kann. In seinen Traktaten fand ich all die gewöhnlichen Einwürfe gegen die Wehrlosigkeit in meisterhafter Weise beantwortet, und sah auch, daß der Verfasser seine Lehre auf dem wahren Grunde aufgebaut hatte. Ich werde es versuchen, dieselben zu übersetzen und so viel wie möglich zu verbreiten, und ich hoffe, ja ich bin davon fest überzeugt, daß die Zeit da ist, ,,wo die Toten werden die Stimme des Sohnes Gottes hören; und die sie hören werden, die werden leben.“