Das Gewaltpotenzial der Religionen -  - E-Book

Das Gewaltpotenzial der Religionen E-Book

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Beschreibung

Die abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum und Islam, nach eigenem Bekunden Religionen des Friedens, stehen gerade auch heute wieder in Zusammenhang mit brutalen Kriegszügen und Terrorakten im Fokus des medialen Interesses. Es liegt daher nahe zu fragen, ob den monotheistischen Religionen neben dem Friedens- auch ein Gewaltpotenzial gemeinsam ist: So haben nicht nur Kreuzzüge und Türkenkriege auf den Seiten aller Beteiligten Spuren hinterlassen, die bis heute Denken und Verhalten prägen; bereits in den Heiligen Schriften der drei großen monotheistischen Religionen finden sich Passagen, die ohne die notwendigen hermeneutischen Kenntnisse den Anderen zu diffamieren scheinen oder angeblich gar zu seiner Vernichtung aufrufen. Angesichts einer Entwicklung, in der gesellschaftliche und politische Konflikte zunehmend unter Zuhilfenahme religiöser Argumente ausgetragen werden, ist eine interdisziplinäre Auseinandersetzung mit dieser Thematik dringend geboten.

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Religionsforum

 

Herausgegeben von

 

Urs Altermatt

Mariano Delgado

und Guido Vergauwen

 

Band 11

Ina WunnBeate Schneider (Hrsg.)

Das Gewaltpotenzial der Religionen

Verlag W. Kohlhammer

 

 

 

1. Auflage 2015

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Satz: Andrea Siebert, Neuendettelsau

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-025643-9

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-025644-6

epub:    ISBN 978-3-17-025645-3

mobi:    ISBN 978-3-17-025646-0

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Inhalt

 

Vorwort der Herausgeberinnen

Vorwort des Niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil

 

Gerard Tlali Lerotholi, OMI

Religion als Ursache von Frieden und Konflikt

Margot Käßmann

Reformation und Toleranz

Reza Ramezani

Der Islam – Eine Religion der Spiritualität, Ethik, Vernunft, Gerechtigkeit und Toleranz

Omar Hamdan

Zur Gewaltdebatte in der klassischen und modernen Koranexegese

Frederek Musall

L’havdil oder von der Ambivalenz der Unterscheidung

Mariano Delgado

Das Lamm ist stärker als der Drache Überlegungen zur Gewalt aus christlicher Sicht

Ina Wunn

Religion, Gewalt und der Kampf um Territorien oder: Was kann man vom Ochsen anderes erwarten als Rindfleisch?

Constantin Klein

Wer mein Nächster ist, entscheide ich! Zur Psychologie des Verhältnisses von Religiosität und Vorurteilen

Wilhelm Heitmeyer

Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit Religiös implizierter gesellschaftlicher Abwertungsvorrat zur Legitimation von Gewalt

Dan Diner

Judentum und Islam Affinitäten und Differenzen im Zeichen des Monotheismus

Sudhir Kakar

Psychologische Mechanismen religiöser Gewalt

Bertram Schmitz

Strukturelle interreligiöse Gewalt? Eine Gegenlese aus den Schriften für das Verhältnis von Judentum, Christentum und Islam

Martin Leiner

Religionen als Sündenböcke und Hoffnungsträger Die Ambivalenz von Religionen in Gewaltkonflikten

Charlotte Knobloch

Deutschland – feindlich Vaterland? Von altem und neuem Antisemitismus

Theo Zwanziger

Die Rolle des Sports im Kampf gegen Diskriminierung

Bibliographie

Vorwort der Herausgeberinnen

 

Religiös motivierte Gewalt ist ein drängendes Problem unserer Zeit. Terrorgruppen wie Boko Haram, Al Qaida oder in jüngster Zeit ISIS begründen ihre mörderischen Angriffe auf Staaten und vor allem auch auf die Zivilbevölkerung mit einer angeblichen Legitimierung durch die Religion. Auch in Deutschland finden heute Bücher und Texte, die die Anhänger des Islam pauschal diffamieren, hohe Zustimmung, und in den USA können christliche Prediger, die mit öffentlichen Koranverbrennungen auf sich aufmerksam machen, nicht nur mit Tolerierung, sondern mit großer Akzeptanz rechnen.

Die großen Religionen, ursprünglich angetreten, um einer zerrissenen und zerstrittenen Welt den Frieden zu bringen, sind heute selbst Auslöser oder zumindest Brandbeschleuniger in sozialen, nationalen und internationalen Konflikten, die dadurch an Heftigkeit, Intensität, Brutalität bis hin zu menschenverachtender Grausamkeit zunehmen. Das steht ganz im Gegensatz zu den Lehren, die eben diese Religionen am Sonntag in der Kirche, am Shabat in der Synagoge und zum Freitagsgebet in den Moscheen verkündigen.

Dieses Gewaltszenario wirft Fragen auf: Woher kommt diese Gewalt? Sind es nur die Menschen, die im Sinne des homo homini lupus (Titus Maccius Plautus, ca. 254 bis 184 v. Chr.) allem Fremden und Unbekannten zunächst einmal aggressiv begegnen? Handelt es sich um eine auf Unkenntnis und Unsicherheit beruhende Aggressivität? Ist es das Ergebnis einer Negativbewertung, die im Rahmen von kognitiven Prozessen über zunächst Kategorisierung und dann Stereotypisierung entsteht (→Constantin Klein)? Sind es bestimmte historische Konstellationen (Folgen von Kriegen oder Wirtschaftskrisen) oder gesellschaftspolitische Versäumnisse (etwa mangelnde Bildungsangebote oder z. B. das Leugnen der Tatsache, dass Deutschland und andere europäische Länder schon längst Einwanderungsländer sind), die dann dazu führen, dass eine Minderheit zum Sündenbock für die Missstände in einer Gesellschaft verantwortlich gemacht wird? Oder sind es gar bestimmte politische Parteien oder Persönlichkeiten, die aus Kalkül polemisieren?

Diesen Fragen ging eine Gruppe von religiösen Würdenträgern, d. h. offiziellen Repräsentanten der Religionen, und Wissenschaftlern mit dem Ziel nach, die Ursachen religiös motivierter Gewalt nicht nur aus der Perspektive ihrer Disziplin bzw. Religion zu ergründen und darzustellen, sondern auch Stellung zu beziehen und mögliche Wege aus der Gewaltspirale zu zeigen (→Theo Zwanziger).

Das internationale Symposium „Das Gewaltpotenzial der Religionen“ im Oktober 2013 in Hannover erfüllte die Erwartungen der Initiatoren: Es ist gelungen, die Ursachen und die Entstehung religiöser Gewalt von ihren ersten Anfängen über die Schreckensszenarien der Religionskriege bis hin zur Rolle der eigentlich friedlichen Mehrheitsgesellschaft nachzuzeichnen. Die Dokumentation dieses Symposiums bietet umfassende Antworten auf die zentrale Frage nach den Ursachen religiös motivierter Gewalt.

Eröffnet wird die Reihe der Beiträge durch eine Diskussion des Religionsbegriffs durch →Erzbischof Gerard Tlali Lerotholi. Er macht deutlich, dass Religion zur menschlichen Natur gehört, aber gerade deshalb auch ein „zweischneidiges Schwert“ sei. Oft genug nämlich werde Religion entgegen Gottes ausdrücklichen Geboten zur Durchsetzung individueller, eigennütziger Interessen missbraucht. Inwiefern Religion, und hier vor allem das Christentum, tatsächlich auch in ihrer Geschichte dieses zweischneidige Schwert war und ist, machen die Ausführungen →Margot Käßmanns, EKD-Ratsvorsitzende 2009 bis 2010 und aktuell Botschafterin des Rates der EKD für das Reformationsjubiläum 2017, deutlich. So hat gerade auch Luthers Ringen um den rechten Glauben in den christlichen Kirchen zunächst zu Intoleranz und damit Gewalt gegen Andersdenkende geführt. Letztlich aber habe das Christentum über die Betonung der Freiheit des Einzelnen in Glaubensfragen den Weg zur Anerkennung religiöser Pluralität geebnet. Diesen Gedanken nimmt →Ayatollah Reza Ramezani, Oberhaupt der shiitischen Muslime in Europa, auf. Auch für den Islam sei unstrittig, dass die abrahamitischen Religionen über ihre von Gott gesandten Propheten den Menschen zu Milde, Güte und vor allem Gerechtigkeit aufrufen, und zwar in Form einer Einladung. Es seien letztlich „Machtgier und Arroganz“ des Menschen, die zu Ungerechtigkeit und damit Gewalt führten.

Einen Ausweg stellt nach Auffassung Ramezanis die Rückkehr der Gesellschaft zu den „religiösen Wahrheiten“ dar. Damit berührt Ramezani eine Problematik, die von →Dan Diner ausführlich diskutiert wird: Gerade weil das auf göttliche Stiftung zurückgeführte sakrale Gesetz, dessen Einhaltung nach Ramezani den Frieden und ein brüderliches Miteinander garantieren könnte, in den säkularen Staaten Europas notwendigerweise in einen Gegensatz zu der säkularisierten christlichen Umwelt gerät, erwüchsen daraus Spannungen, die nach →Wilhelm Heitmeyer nicht durch Toleranz, sondern nur durch das Aushandeln von Positionen bei gegenseitiger Anerkennung gelöst werden könnten.

Inwieweit Religionen tatsächlich entsprechend den Ausführungen Lerotholis zweischneidig sein können und der Ausübung von Gewalt Vorschub leisten, verdeutlicht der Tübinger Islamwissenschaftler und Leiter des dortigen Zentrums für islamische Theologie →Omar Hamdan in Zusammenhang mit der Frage der Abrogation im Rahmen der Koranexegese. Wie das Neue Testament enthält auch der Koran solche Verse, die „von Krieg und Gewalt berichten“. Hamdan erklärt in seinem Beitrag, wie solche Verse zu verstehen sind und welche Rolle sie bei der Koranexegese gespielt haben. Auf keinen Fall legitimierten sie allgemeine Aufrufe zu Gewalt im salafistischen Sinne, sondern würden lediglich als Rechtfertigung eines Aktes der Selbstverteidigung in einer eindeutigen und historisch einmaligen Situation gelten.

Konkrete Einzelaussagen der jeweiligen heiligen Schriften können also je nach dem historischen und gesellschaftlichen Kontext unterschiedlich ausgelegt werden, eine auch im Judentum bekannte Problematik, derer sich die Rabbinen stets deutlich bewusst waren, wie der Heidelberger Judaist →Frederek Musall darlegt: „Wie kann auf der einen Seite im Rahmen des sogenannten Dekalogs ein Gebot formuliert werden, welches die Ermordung eines Menschen eindeutig verbietet, während Gott auf der anderen Seite von den Israeliten verlangt, ihre Feinde rücksichtslos und vollständig zu vernichten?“ Nach rabbinischer Theologie müsse deswegen der Mensch Verantwortung für die heiligen Texte übernehmen, indem er sie im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext interpretiere und aktualisiere.

Während Hamdan und Musall in erster Linie die sich widersprechenden Aussagen zur Gewalt in Koran und Torah problematisieren und die Notwendigkeit einer verantwortungsbewussten Exegese betonen – wieder im Sinne von Religion als „zweischneidiges Schwert“ –, legt der Schweizer katholische Theologe →Mariano Delgado den Schwerpunkt auf die christliche Anthropologie. Er nimmt dabei Bezug auf die bereits von Lerotholi angesprochene Natur des Menschen, die gerade auch in der Geschichte des Christentums zu Gewaltpathologien geführt habe, obwohl große Theologen von Augustinus über die Scholastiker bis zu den Theologen der Reformationszeit immer wieder die Gewalt im Namen Gottes anprangerten: „Einen Menschen töten heißt nicht, eine Lehre verteidigen, sondern einen Menschen töten.“

Die Analyse der heiligen Schriften der abrahamitischen Religionen vonseiten ihrer offiziellen Repräsentanten und maßgeblichen Theologen hat gezeigt: Religion ist ein ambivalentes Phänomen; die heiligen Schriften enthalten zumindest Passagen, die schwer nachvollziehbar, missverständlich und interpretationsbedürftig sind und daher einer missbräuchlichen Deutung Tür und Tor öffnen. Es gibt Passagen in Torah, Bibel und Koran, die als Aufforderung zur Gewalt gegen Andersgläubige, gegen Feinde oder den jeweiligen politischen Gegner verstanden werden können. Allerdings wird eine solche Auslegung weder von den offiziellen Repräsentanten der abrahamitischen Religionen noch von den jeweiligen Theologen im offiziellen akademischen und öffentlichen Diskurs gestützt. Die Ansichten regionaler Gruppierungen wiederum können hier durchaus massiv divergieren.

Es stellt sich daher folgerichtig die Frage, wie die zu Gewalt aufrufenden Passagen – so wenig bedeutend sie für heutige akademisch geschulte Exegeten sein mögen – Eingang in die heiligen Schriften von Muslimen, Juden und Christen gefunden haben. Dieser Frage widmet sich der Beitrag von →Ina Wunn, die, ausgehend von genetisch fixierten Verhaltensdispositionen des Menschen, im menschlichen Territorialverhalten nicht nur die Ursache der Religionsentstehung sieht, sondern die Verknüpfung von Sicherung des Territoriums einerseits und dessen Legitimierung durch Vertreter der Anderswelt andererseits als den roten Faden ausmacht, der sich durch die gesamte Religionsgeschichte bis in die großen monotheistischen Religionen ziehe. Unterstützt werde dieses zunächst aggressive Verhalten gegenüber allem Fremden durch die menschliche Wahrnehmung, wenn über die Stufen der Kategorisierung, Stereotypisierung und Bewertung letztlich Vorurteile entstünden. Die Religion kommt, wie der Bielefelder Psychologe →Constantin Klein darlegt, dann ins Spiel, wenn über eine Ideologie der Ungleichwertigkeit eine soziale Dominanzordnung gerechtfertigt werde, die ihr Überlegenheitsgefühl auch aus der Orientierung an einer richtigen und nicht weiter hinterfragbaren Norm beziehe – und das ist Religion. Religionen enthalten also Gewaltpotenzial, weil, so der Bielefelder Soziologe →Wilhelm Heitmeyer, immer auch „Ideologien der Überlegenheit und Ungleichwertigkeit eingebaut sind“. Damit aus einer latenten Gewaltbereitschaft aber ein Klima der Gewalt entsteht, in dem dieses Potenzial manifest wird, komme es auf bestimmte gesellschaftliche Konstellationen an. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, die auf dichotomem Denken beruht, sei geeignet, potenzielle Gewalt zu legitimieren.

Nicht Toleranz zeigt hier einen möglichen Ausweg, denn Toleranz bedeutet nach Heitmeyer immer auch „Ungleichwertigkeit der anderen in großherziger Verkleidung“. Unabdingbar sei das Aushandeln von Modalitäten des Miteinanders bei gleichzeitiger voller Anerkennung des anderen als gleichwertigem Partner, um so zu „geregelten Konflikten“ zu gelangen. Dass und inwieweit ein solcher Weg erfolgreich sein kann, belegt der in Leipzig und Jerusalem lehrende Historiker →Dan Diner, der zunächst einmal deutlich macht, dass sowohl das Judentum als auch der Islam als Gesetzesreligionen aufgrund der jeweiligen Entstehungsgeschichte religiöse Gebote formuliert haben, die die Grundlage des gesellschaftlichen Miteinanders bildeten. Erst als sich diese Religionen in einer Diasporasituation wiederfanden, ergab sich die Notwendigkeit, die eigenen religiösen Gesetze mit den abweichenden Gesetzen des Gastlandes in Übereinstimmung zu bringen. Während der Islam dabei über wenig Erfahrung verfüge, befinde sich das Judentum seit 2000 Jahren in dieser Diasporasituation und handele nach dem Prinzip, das Gesetz des Gastlandes wie das eigene Gesetz zu achten. Dass dies zeitweilig auch schmerzhafte Eingriffe in eigene Überzeugungen und Gewohnheiten notwendig gemacht habe, legt Diner eindrücklich dar: Als im Zuge der napoleonischen Reformen auch den Juden in Frankreich die volle Staatsbürgerschaft zuerkannt werden sollte, mussten sie sich in Fragen der Eheschließung mit Nichtjuden oder der Loyalität zu Frankreich von alten halachischen Vorschriften trennen.

Dass es bei Gewalt zwischen unterschiedlichen Religionsgruppen weniger um Glaubensfragen, sondern mehr um Gruppenidentitäten ganz im Sinne der von Heitmeyer thematisierten gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit handelt, macht der Beitrag des Psychologen →Sudhir Kakar deutlich. Konflikte zwischen Muslimen und Hindus in Indien entstünden, indem Negativbilder des jeweils anderen zunächst in verbalen Diskriminierungen manifest werden und in einem nächsten Schritt der andere dann nur noch als Stereotyp wahrgenommen werde. Komme es dann noch zu gezielten Provokationen, auch vonseiten gewissenloser Politiker, sei ein Ausbruch physischer Gewalt kaum noch zu vermeiden. Es ist also neben der Religion immer auch die Gesellschaft, und es ist das Dominanzstreben bestimmter gesellschaftlicher Gruppen, das neben einem den Religionen inhärenten Gewaltpotenzial dann letztlich die Gewalt ausbrechen lasse.

Auf einen weiteren Konfliktfaktor macht der Jenaer Religionswissenschaftler →Bertram Schmitz aufmerksam: Nicht nur die Tatsache, dass Religionen in Ausnahmefällen und unter einschränkenden Bedingungen Gewalt gestatten, sei das Problem bei Konflikten zwischen den abrahamitischen Religionen, sondern die Tatsache, dass die aus einer gemeinsamen Wurzel stammenden abrahamitischen Religionen als Offenbarungsreligionen den Anspruch stellten, dass die jeweils jüngere Offenbarung die ältere aufhebe – dass also beispielsweise das Judentum im Christentum und das Christentum einschließlich dem Judentum wiederum im Islam hätten aufgehen müssen, eine Erwartung, die sich nicht erfüllt habe und die die Anhänger der jeweiligen Religion vor große Herausforderungen stellt.

Dass allein die Religionen oder ihre Konfessionen für alles Leid der Welt verantwortlich seien, wird von dem Jenaer Theologen →Martin Leiner relativiert. Bei allem Unglück, das religiöse Auseinandersetzungen über die Menschheit gebracht hätten, seien es letztlich doch die Auseinandersetzungen zwischen den säkularen Nationalstaaten gewesen, die den höchsten Blutzoll gefordert hätten. Stereotypisierungen können also auch die Religionen selbst betreffen, indem sie pauschal für Auseinandersetzungen verantwortlich gemacht werden.

Die Problematisierung der Verhältnisse in Deutschland ließ die theologischen und wissenschaftlichen Überlegungen konkret werden. Auch hier sind Diskriminierungen religiöser Minderheiten alltäglich, wie →Charlotte Knobloch, ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, darlegt. Die Brisanz wird deutlich, denn Charlotte Knobloch zeigt aus einer ganz persönlichen Perspektive, was es immer noch heißt, zu einer Bevölkerungsgruppe zu gehören, die beargwöhnt, gelegentlich ausgegrenzt, immer wieder diskriminiert und gelegentlich physisch angegriffen wird. Sie hat schließlich selbst erlebt, wie rasch aus einer latenten gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit blanker Hass und mörderischer Vernichtungswille entstehen kann. Auch hier wird wieder im Zusammenhang mit der in Deutschland vehement und sehr unglücklich geführten Beschneidungsdebatte die Frage nach der Toleranz angesprochen. Im Unterschied zum von Heitmeyer geforderten Ausdiskutieren der verschiedenen Standpunkte flüchtet sich – so die Kritik der Symposiumsteilnehmer – die Politik in die herablassende Großzügigkeit der Toleranz und setze damit kein gutes Zeichen für ein zukünftiges gleichberechtigtes Miteinander.

Einen Weg der kleinen Schritte in Richtung auf ein gleichberechtigtes Miteinander zeigt der ehemalige Präsident des Deutschen Fußballbundes (DFB) und Mitglied im FIFA-Exekutivkomitee →Theo Zwanziger. Gerade als Jurist, bekennender leidenschaftlicher Fußballfan und engagierter Sportfunktionär sieht er im Sport, besonders im Fußball, eine große Chance, vor allem die Jugend gegen jede Form von Rassismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zu immunisieren. Längst laufen auch auf den Rasenflächen in deutschen Stadien kleine und große Sportler aller Hautfarben, jeder Herkunft und Religionszugehörigkeit. Für alle gelten dieselben Regeln, und wer dagegen verstößt, bekommt die rote Karte und fliegt vom Platz. So weit sind bislang weder die Politik noch die Anhänger der hier angesprochenen Religionen.

Religionen haben, da sind sich auch die Theologen einig, ein Gewaltpotenzial oder sind zumindest ein „zweischneidiges Schwert“ (unterschiedliche Aspekte bei →Gerard Tlali Lerotholi, →Margot Käßmann, →Omar Hamdan, →Mariano Delgado, →Frederek Musall, →Bertram Schmitz). Während ihr Konflikt- bzw. Gewaltpotenzial einerseits auf den Ursprung von Religion in Zusammenhang mit menschlichem Territorialverhalten (→Ina Wunn) und die psychologischen Mechanismen hinsichtlich der Wahrnehmung des anderen beziehungsweise der Fremdgruppe (→Constantin Klein, →Sudhir Kakar) zurückzuführen sei, verstärkten andererseits gesellschaftliche Faktoren wie das Denken in Dichotomien sowie eine in vielen europäischen Gesellschaften verbreitete gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (→Frederek Musall, →Wilhelm Heitmeyer, → Sudhir Kakar, →Charlotte Knobloch) diesen Effekt und ließen aus latenter Feindlichkeit massive Gewalt werden. Allerdings ist nicht allein die Religion/sind nicht allein die Religionen für die mörderische Gewalt auf dieser Welt verantwortlich (→Martin Leiner). Religionen hätten nicht nur negative Effekte für das menschliche Miteinander; wir verdankten viele positive Entwicklungen, wie z. B. die Menschenrechte, gerade auch den Religionen (→Gerard Tlali Lerotholi, →Margot Käßmann). Zu Recht werden Religionen nicht nur als Konfliktfaktor, sondern im Gegenteil auch als Heilmittel gegen die Übel dieser Welt gesehen (→Reza Ramezani), wobei dann eine mögliche Konfliktlinie zwischen der (Gesetzes-)religion mit ihrem Anspruch auf universelle Gültigkeit und dem Säkularstaat verliefe – ein Szenario, das aus historischer Perspektive von →Dan Diner beschrieben wird.

Religionen sind immer wieder zweischneidig, auch wenn sich Theologen und Vertreter der Religionsgemeinschaften sowohl in ihren schriftlichen Beiträgen als auch auf dem Symposium selbst eindrücklich gegen jede Form von Gewalt ausgesprochen haben. Niemand, der die Lehren seiner Religion ernst nimmt und sich um eine verantwortungsvolle Exegese bemüht, kann heute Gewaltakte religiös legitimieren. Andererseits, so hat das Symposium gezeigt, sind wir von einem klaren Regelwerk des Miteinanders, wie es der Fußball hat, noch weit entfernt.

Immerhin – das Symposium, dessen Ergebnisse hiermit schriftlich vorliegen, hat Türen aufgestoßen. Maßgebliche und hochrangige Repräsentanten der christlichen Kirchen, der Muslime und der Juden haben ebenso miteinander wie mit hochkarätigen Wissenschaftlern diskutiert – und sie haben zu einem großen Publikum gesprochen. So manches Vorurteil konnte ausgeräumt werden, manche stereotype Vorstellung von „den Muslimen“ oder „den Juden“ erwies sich als nicht haltbar. Ein großes Verdienst kommt in diesem Zusammenhang auch den Medien, allen voran der Mediengruppe Madsack als Mitveranstalter, zu, die dazu beigetragen haben, den Beteiligten eine öffentliche Plattform zu bieten und damit eine bisher vorwiegend akademische Diskussion aus dem unzugänglichen Elfenbeinturm der Wissenschaft heraus in die Mitte unserer Gesellschaft zu holen. Diese Zielsetzung wurde von den Religionsgemeinschaften großzügig unterstützt: der Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen, die Schura Niedersachsen, die evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers, das Bistum Hildesheim. Dafür und für die konstruktive Zusammenarbeit bedanken wir uns herzlich. Unseren aufrichtigen Dank möchten wir gegenüber der Deutsche Bank AG, der Sparkasse Hannover, der NORD/LB und der Hannoversche Volksbank genauso zum Ausdruck bringen wie gegenüber den Stiftungen, die uns gefördert haben: Das sind die Stiftung Niedersachsen, die Klosterkammer und die Dr. Buhmann Stiftung für interreligiöse Zusammenarbeit. Der Kunstverein Hannover im Künstlerhaus mit seinem Direktor René Zechlin und seiner Vorstandsvorsitzenden Ellen Lorenz war uns ein engagierter und mehr als aufmerksamer Gastgeber: Auch hierhin geht unser Dankeschön. Nicht zuletzt fühlen wir uns dem Präsidenten der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover, Prof. Dr. Ing. Erich Barke, der das Zustandekommen des Symposiums von Beginn an nach Kräften unterstützt hat, sowie der Philosophischen Fakultät verpflichtet; auch sie seien herzlich bedankt.

Wir bedanken uns vielmals bei Corinna Kastner für das sorgfältige Lektorat und die Umsetzung der vielfältigen Manuskripte.

 

Hannover, im August 2014

 

Ina Wunn, Beate Schneider

Vorwort des Niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil

Die Frage nach dem Gewaltpotenzial der Religionen ist ein aktuelles und hochbrisantes Thema, das über Fach-, Kultur- und Landesgrenzen hinweg eine der großen Herausforderungen der Menschheit darstellt. Der Teilnehmerkreis des Symposiums macht deutlich: Eine gerechte und friedliche Zukunft kann nur gemeinsam von allen Menschen und Religionsgemeinschaften mit Respekt und Toleranz gestaltet werden.

Das Bild von Religionen in der Öffentlichkeit ist ambivalent. Einerseits stehen Religionen für ein Friedenspotenzial. Anderseits spielt Religion aber auch bei gewalttätigen Auseinandersetzungen eine nicht unwesentliche Rolle; Religion in Gestalt von Terror und Angst oder sogar als Rechtfertigung für Gewaltanwendungen. Diese Ambivalenz ist in vielen Veröffentlichungen, auf Tagungen und Veranstaltungen problematisiert worden. Forschungsdisziplinen wie die Sozialwissenschaften oder auch die Geschichtswissenschaft fragen nach dem Verhältnis von Religion und Gewalt. Innerhalb der Politikwissenschaft ist sogar ein eigener Bereich entstanden, die Religionspolitologie.

Jährlich am 11. September wird an die zahlreichen Opfer der Anschläge von New York gedacht. Die Bilder des Tages erschüttern noch heute, auch wenn er schon mehr als zwölf Jahre zurückliegt. Seitdem vergeht kaum ein Tag, an dem die Medien nicht von Gewalt, Konflikten oder gar Kriegen berichten, in die die „Religion“ in irgendeiner Weise involviert ist. Konkurrierende Wahrheitsansprüche, rivalisierende Glaubensgemeinschaften, fanatische Religionsvertreter: Sie prägten und prägen das Bild, das viele Menschen mit dem Wort „Religion“ oder „Religionen“ verbinden. Und für viele sind die Religionen dann auch die großen „Brandstifter“ der Weltgeschichte, ohne die die Welt erheblich friedlicher wäre. Der Zusammenhang von Religion und Gewalt ist jedoch nicht erst seit dem 11. September 2001 ein Thema. Bereits in der Christlichen Kirchengeschichte ist darüber viel zu lesen: Kreuzzüge, Inquisition und Hexenverbrennungen. Nimmt man dann noch die anderen Religionen hinzu, dann wird deutlich, dass die Zahl von Konflikten beträchtlich ist, in denen Religionen zumindest eine Rolle spielen. Das vorschnelle Urteil, Religion sei der Brandstifter der Weltgeschichte, ist dennoch fehl am Platz. Laut den Ergebnissen der umfassenden Studie der Bertelsmann Stiftung zu den kulturellen Konflikten im globalen Konfliktgeschehen seit 1945 sind bislang die meisten Konflikte in und zwischen Staaten auf politische und ökonomische Gründe zurückzuführen. Betrachtet man danach die Gesamtzahl der erfassten Auseinandersetzungen, haben nur elf Prozent aller Konflikte einen religiösen Hintergrund. Das unterstreicht: Religion hat im Laufe der Geschichte schon immer als Legitimation für Gewalt gedient und ist gegen ihren ureigenen religiösen Auftrag, gegen geltendes Recht oder schlicht gegen Prinzipien allgemeiner Menschlichkeit eingesetzt worden. Dieses gilt besonders für fundamentalistische Ausformungen von Religionen. Diese erschweren für viele den Zugang zur Wahrheit der Religion.

So deutlich man solchem Fundamentalismus entgegentreten muss, so klar muss man auch erkennen, dass religiöser Analphabetismus keine zureichende Antwort auf Fundamentalismus ist. Zureichend ist vielmehr allein eine Antwort, die eine geklärte religiöse Identität mit der Bereitschaft zu Frieden und Toleranz im Verhältnis der Religionen zueinander verbindet. In diesem Kontext muss das große Friedenspotenzial, mit dem die Religionen die Menschheit zu allen Zeiten auch zum Besseren verändert haben, in den Fokus genommen werden: Im Einsatz für Humanität und Menschenrechte, als Friedensvermittler bei Konflikten und Kriegen. Dabei denkt man an große Gestalten der Geschichte, wie beispielsweise an Franz von Assisi oder Mahatma Gandhi und natürlich auch an Jesus von Nazareth, der mit seiner Botschaft von der Nächsten- und Feindesliebe ohne Zweifel die Welt verändert hat.

Hannover, im Februar 2014

Stephan Weil

Niedersächsischer Ministerpräsident

Religion als Ursache von Frieden und Konflikt

Gerard Tlali Lerotholi, OMI

Abstract

Religion ist ein menschliches Phänomen, das von keiner Gesellschaft oder Regierung ignoriert werden kann und mit dem vorsichtig umgegangen werden muss, weil es dazu dienen kann, die Gesellschaft aufzubauen oder zu vernichten, menschliches Leben zu retten oder zu zerstören. Religion hat das Potenzial, in beide Richtungen eingesetzt zu werden, und wurde in beide Richtungen benutzt. Die Geschichte zeigt, dass mit religiöser Praxis oftmals Gewalt einhergeht. Alle großen Religionen sind trotz ihres Anspruchs, auf Frieden gegründet zu sein, und der Behauptung, Frieden zu predigen, mit Gewalt behaftet. Ihre jeweiligen Texte und Rituale stiften nicht nur Beziehungen zwischen ihren Anhängern und Gott, sie begründen auch Haltungen anderen Religionen gegenüber: Sie verpflichten ihre Anhänger zu einer Reihe von Glaubensinhalten und Dogmen, die andere Religionen ausschließen. Dadurch kann es zu religiöser Intoleranz und zu religiösem Extremismus kommen. Nicht Religion an sich ist der Grund für Konflikte, es sind diejenigen, die Religion für ihre eigenen Zwecke instrumentalisieren. Das Streben nach Weltfrieden ist die Aufgabe jedes Einzelnen: Entweder leben wir zusammen in Frieden und Harmonie, oder wir gehen gemeinsam im Streit unter. Aufgrund der Unwissenheit im Bezug auf andere Religionen ist es notwendig, die religiösen Lehren und Praktiken des anderen zu studieren. Von den Gläubigen muss eine bewusste Anstrengung unternommen werden, Liebe und Verständnis zwischen unterschiedlichen Menschen zu fördern. Sie müssen davon absehen, Religion politisch einzusetzen, um Feindschaft und Gewalt anzufachen. Letztlich müssen sie davon Abstand nehmen, ihre eigene Religion als anderen Religionen überlegen, als die einzig wahre oder endgültige zu bezeichnen. Religiöse Konflikte haben eine lange Geschichte. Wir können die Vergangenheit nicht ungeschehen machen, aber wir können die Zukunft gestalten.

1. Was ist Religion?

Bekanntermaßen gibt es keine allgemein anerkannte Definition von Religion, denn der Begriff Religion kann für verschiedene Menschen ganz unterschiedliche Bedeutung haben, und Menschen können völlig unterschiedliche Handlungen im Namen ihrer Religion und als essenziellen Bestandteil ihrer Religion ausführen. Was für den einen Religion ist, kann für den anderen bloßer Aberglaube sein, und was der eine als heilige Handlung vollzieht, ist für den anderen sinnloses Tun, bedeutungsloses Tun oder sogar ein krimineller Akt. Religion ist also ein schwieriges, aber nichtsdestoweniger mächtiges Phänomen, das mit Sorgfalt behandelt und betrachtet werden muss.

Wir sollten daher gar nicht erst versuchen, eine allgemein gültige Definition zu formulieren, denn wir würden unweigerlich scheitern. Wir werden uns stattdessen an die Wurzeln der Weltreligionen begeben und den Begriff zunächst einmal einer etymologischen Betrachtung unterziehen. Der Begriff „Religion“ lässt sich auf drei lateinische Worte zurückführen: auf „ligare“, binden; auf relegere mit der Bedeutung von wieder auflesen, wieder aufsammeln, bedenken und beachten; und zuletzt auf „religio“, Bedenken, Gewissenhaftigkeit, aber auch Bindung. Die etymologische Bedeutung des Begriffs „Religion“ macht also deutlich, dass Religion etwas ist, das Menschen aneinander bindet, das Menschen vereint und sie in eine Beziehung zueinander oder aber auch zu etwas bringt. Religion bindet in zweierlei Weise: mit Gott einerseits und mit den Mitgeschöpfen andererseits.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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