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In der weißen Hölle des Winters Nach einem schweren Autounfall ist ein junger Mann gezwungen, auszuharren: in einem Dorf, das durch einen landesweiten Stromausfall und unaufhörlich fallenden Schnee immer mehr von der Außenwelt abgeschnitten wird, und bei einem älteren, hier ebenfalls nur gestrandeten Mann. Der nimmt ihn bloß auf, weil die Dorfgemeinschaft ihm im Gegenzug die Versorgung mit Lebensmitteln verspricht sowie einen Platz im einzigen Bus, der im Frühjahr Richtung Stadt aufbrechen wird. Während das Dorf immer tiefer im Schnee versinkt, schwanken die beiden vom Zufall zusammengezwungenen Männer zwischen Mitleid und Misstrauen, Hilfsbereitschaft und Hass. Werden sie durchhalten bis es taut? Sprachlich präzise und lyrisch zugleich erzählt Christian Guay-Poliquin einen ungewöhnlichen Pageturner, dessen dramatische Intensität seinesgleichen sucht und der vielfach preisgekrönt wurde.
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Seitenzahl: 246
Christian Guay-Poliquin
Das Gewicht von Schnee
Roman
Aus dem kanadischen Französisch von Sonja Finck und Andreas Jandl
Hoffmann und Campe
Für André B. Thomas
heute Morgen
hat der Tag den Schnee metallisiert
und die Stille freut sich
weiße Striche stürzen zu Boden
nur um dort zu verschwinden
Berge klammern sich
an die Borke der Bäume und lasten
auf dornigen Armen
alles Grün ist verschwunden
alles Blau schimmert opalen
alles Braun und Rot ist
ohne Kontur
hin und wieder
zieht ein Vogel einen schwarzen Strich
durch den beschleunigten Raum
J.-N. Poliquin, Winter 1984
Sieh dich um. Dieser Ort ist größer als jedes Menschenleben. Wer versucht zu fliehen, kehrt unweigerlich zurück. Wer glaubt, geradeaus zu laufen, läuft in Wahrheit im Kreis. Hände und Augen finden nirgendwo Halt. Das Vergessen der Außenwelt ist stärker als die Erinnerung. Sieh dich noch mal um. Aus diesem Labyrinth gibt es kein Entkommen. Wohin wir auch schauen, es ist überall. Sieh dich ganz genau um. Kein Ungeheuer, keine hungrige Bestie lauert in seinen Gängen. Doch wir sitzen in der Falle. Entweder wir warten, bis die Tage und Nächte uns den Rest geben. Oder wir bauen uns Flügel und fliegen davon.
Der Schnee beherrscht alles. Er dominiert die Landschaft, erdrückt die Berge. Die Bäume geben nach, krümmen das Rückgrat, neigen sich zu Boden. Nur die hohen Fichten halten stand. Aufrecht und schwarz. Wo sie wachsen, ist das Dorf zu Ende und beginnt der Wald.
Vor meinem Fenster fliegen Vögel hin und her, picken nach Futter, streiten sich. Manchmal legt einer misstrauisch den Kopf schief, beäugt das stille Haus.
Draußen am Fenster dient ein entrindeter, waagerecht angebrachter Zweig als Barometer. Zeigt er nach oben, bleibt es sonnig und trocken; zeigt er nach unten, wird es schneien. Im Moment sind die Wetteraussichten unklar, er steht genau in der Mitte.
Es muss schon spät sein. Der Himmel ist bedeckt, eintönig grau. Die Sonne lässt sich nicht ausmachen. Einzelne Schneeflocken wirbeln durch die Luft, klammern sich an jede Sekunde. Hundert Meter vom Haus entfernt rammt Matthias eine Stange in den Schnee. Sie erinnert an einen Bootsmast. Nur ohne Fähnchen und Segel.
An der Dachtraufe sammeln sich Wassertropfen, rinnen die Eiszapfen herab, bleiben an ihren Spitzen hängen. Wenn die Sonne herauskommt, glänzen die Zapfen wie scharfe Klingen. Hin und wieder bricht einer ab, bohrt sich in den Schnee. Ein Dolchstoß ins unermessliche Weiß. Doch der Schnee ist unbesiegbar. Nicht mehr lang, und er reicht bis zum Fensterbrett. Bis zur Dachkante. Dann werde ich nichts mehr sehen können.
Es ist Winter. Die Tage sind kurz und kalt. Der Schnee zeigt seine Zähne. Die Weite ist geschrumpft.
Der Fensterrahmen ist feucht. Das schimmelnde Holz schillert in verschiedenen Farben. Wird es sehr kalt, bilden sich kleine Kristalle, Raureif. Wie Flechten.
Im Ofen knacken die Scheite. Vom Bett aus sehe ich durch den Luftschlitz die Glut. Der Ofen ist alt und schwer. Seine Klappen quietschen. Und dieser bullernde schwarze Koloss bildet den Mittelpunkt unseres Lebens.
Ich bin allein in der Veranda. Alles ist still. Alles ist an seinem Platz. Der Hocker neben der Tür, der Schaukelstuhl, die Küchensachen. Nur auf dem Tisch liegt ein seltsamer Gegenstand, länglich, rund, golden. Heute Morgen war er noch nicht da. Matthias muss nach drüben gegangen sein. Auch wenn ich davon nichts mitbekommen habe.
Der Schmerz gönnt mir keine Pause. Er lässt nicht los, hat mich fest im Griff, füllt mich aus. Um ihn zu ertragen, schließe ich die Augen und stelle mir vor, ich sitze im Auto. Wenn ich mich konzentriere, höre ich sogar den Motor. Ich sehe die Landschaft vorbeiziehen, starre auf den Punkt, wo Straße und Horizont verschmelzen. Wenn ich dann die Lider öffne, überwältigt mich die Wirklichkeit. Ich bin ans Bett gefesselt, meine Beine in Schienen. Mein Auto ist nur noch ein Schrotthaufen irgendwo unter dem Schnee. Ich bin meinem Schicksal ausgeliefert.
Mein knurrender Magen durchbricht die Stille. Ich habe Hunger. Ich fühle mich schwach, meine Gelenke sind steif. Auf dem Nachttisch die Reste der letzten Mahlzeit, ein paar Krumen Schwarzbrot, ein letzter Schluck öliger Kaffee. Matthias sollte jeden Moment zurückkommen.
Die Tür geht auf, ein Schwall kalter Luft dringt herein. Matthias trägt den Arm voller Holz, wirft die Scheite neben den Ofen. Sie prallen gegeneinander, Borkenstücke lösen sich.
Matthias zieht die Jacke aus, geht auf die Knie, schürt mit dem Haken das Feuer. Hinter ihm schmelzen die Spuren seiner Stiefel, rinnen über den leicht abschüssigen Boden.
Kalt ist es nicht, sagt er und streckt die Hände zum Ofen hin, aber feucht. Das geht in die Knochen.
Als die Flammen fauchend an die Ofenwände schlagen, schließt Matthias die Klappe, setzt einen Topf Suppe auf, dreht sich zu mir um. Mit den buschigen Augenbrauen, dem weißen Haar und den Furchen auf der Stirn sieht er aus wie ein verrückter Wissenschaftler.
Ich hab was für dich.
Ich hebe eine Braue. Matthias nimmt den goldenen Gegenstand vom Tisch und hält ihn mir hin. Sein Mund formt ein Lächeln. Der Gegenstand ist schwer und lässt sich ausziehen. An beiden Enden sind Gläser eingesetzt. Ich drehe und wende ihn. Es ist ein Fernrohr. Eines, wie Seeleute es früher hatten, um nach fernen Küsten Ausschau zu halten oder nach feindlichen Schiffen.
Sieh hinaus.
Ich richte mich im Bett auf, ziehe das Teleskoprohr auseinander, halte es mir ans Auge. Plötzlich ist alles ganz nah und gestochen scharf. Als wäre ich draußen vor dem Fenster. Die schwarzen Striche der Vögel am Himmel, die Fußstapfen im Schnee, das verstörend stille Dorf, der Waldrand.
Sieh noch einmal hin.
Eigentlich kenne ich jedes Detail dieser Landschaft. Ich schaue schon so lange aus diesem Fenster. An den Sommer erinnere ich mich wegen des Fiebers und der Medikamente kaum, aber im Herbst sah ich die Landschaft sich allmählich verändern, den Himmel grau werden, die Bäume rötlich leuchten. Ich sah, wie der Frost den Farn fraß, wie das hohe Gras beim kleinsten Windstoß umknickte, wie die ersten Schneeflocken den frostigen Boden bestäubten. Ich sah die Spuren der Tiere, die im ersten Schnee die Umgebung erkundeten. Seitdem hört der Himmel nicht auf, das Land zu begraben. Die Welt steht still. Wartet auf den Frühling.
Von hier gibt es keinen Ausweg. Die Berge zerschneiden den Horizont, der Wald umzingelt uns von allen Seiten, das Weiß sticht ins Auge.
Sieh genauer hin, sagt Matthias.
Ich mustere den Pfahl, den Matthias auf der Lichtung in den Boden getrieben hat. Mir fallen feine Kerben auf.
Eine Messlatte. Damit wir wissen, wie hoch der Schnee ist, sagt er triumphierend.
Durchs Fernrohr sehe ich, dass der Schnee bereits die einundvierzig Zentimeter erreicht hat. Eine Weile betrachte ich die weiße Landschaft, lasse mich dann zurück aufs Bett sinken, schließe die Augen.
Wunderbar, denke ich. Jetzt können wir unsere Misere messen.
Matthias backt Schwarzbrot. Steinharte Fladen aus Buchweizenmehl und Melasse. Er sagt, das mache satt und sei nahrhaft. Die beste Art, unsere Vorräte einzuteilen. Bis zur nächsten Lieferung sei es noch eine Weile hin.
Wie ein alter Schamane mischt, knetet und walzt er den Teig, mit erstaunlich sparsamen Bewegungen. Dann klopft er seine Kleider ab, in einer Wolke aus Mehlstaub, und backt mehrere Brote direkt auf dem Ofen.
Das Wetter hat sich aufgeklart. Ich beobachte das Dorf hinter den Bäumen, die Häuser unten am Hang. In den meisten rührt sich kein Leben, doch aus einigen Schornsteinen dringt dichter Rauch. Graue Säulen steigen senkrecht zum Himmel, als weigerten sie sich, mit der unendlichen Weite zu verschmelzen. Zwölf an der Zahl. Mit unserer dreizehn. Durch das Fernrohr wirkt das Dorf ganz nah, aber das ist eine Täuschung. Zu Fuß dauert der Weg über eine Stunde. Und ich kann nicht mal aus dem Bett aufstehen.
Ich glaube, die Wintersonnenwende liegt bereits hinter uns. Zwar zeigt sich die Sonne nur kurz am Himmel, aber kaum merklich werden die Tage länger. Auch Silvester ist bestimmt längst gewesen. Genau weiß ich es nicht. Es ist auch nicht mehr wichtig. Mein Zeitgefühl habe ich schon lange verloren. Das Interesse an Gesprächen auch. Niemand widersteht dem Schweigen, vor allem niemand, der mit einem doppelten Beinbruch ans Bett gefesselt ist, im tiefsten Winter, in einem Dorf ohne Strom.
Noch haben wir einen guten Holzvorrat, aber er wird schnell kleiner. In unserer Veranda zieht es durch alle Löcher und Ritzen, und Matthias muss mehrmals in der Nacht aufstehen, um Holz nachzulegen. Wenn Wind weht, hat die Kälte uns fest im Griff.
In ein paar Tagen bekommen wir Nachschub an Holz und Lebensmitteln. Damit tröste ich mich. Ich habe zwar einen schrecklichen Autounfall überlebt, bin ansonsten aber ganz und gar hilflos.
Eine Mondsichel wiegt den Himmel in den Schlaf. Der Schnee hat eine Kruste gebildet. Die Nacht spiegelt sich darin, ein glattes, schillerndes Meer.
In der Veranda erhellt die Öllampe die Wände, zeichnet goldene Schatten. Matthias kommt auf mich zu, mit einer Schüssel Suppe und einem Stück Schwarzbrot. Wir essen nichts anderes. Jeder Rest Suppe ist die Grundlage für die Suppe des nächsten Tags. Sobald wir den Topfboden erreichen, gibt Matthias Wasser hinzu und alles, was ihm in die Finger kommt. Wenn wir Fleisch haben, kocht er die Knochen und das Fett aus. Gemüse, altes Brot, alles wandert in die Suppe. Jeden Tag, zu jeder Mahlzeit, löffeln wir unsere Endlossuppe.
Während sich Matthias an den Tisch setzt und still die Hände zum Gebet faltet, esse ich bereits los. Oft bin ich fertig, bevor er überhaupt zum Löffel greift.
Anfangs musste Matthias mich fast zum Essen zwingen, aber das war nötig, damit ich kräftiger wurde und wieder etwas Farbe bekam. Er half mir, mich im Bett aufzurichten, und fütterte mich mit einem Löffel wie ein kleines Kind. Heute kann ich mich selbst aufsetzen und mir ein Kissen in den Rücken schieben. Die Schmerzen und die Erschöpfung sind immer noch da, aber ich habe wieder Appetit. Wenn Matthias ein paar Liter Milch bekommt, macht er mit dem Lab, das er im Stall in der Melkkammer gefunden hat, Käse. Manchmal gibt er den Leuten im Dorf etwas davon ab, aber oft ist der Käse so lecker, dass wir ihn in wenigen Tagen selbst aufessen, direkt aus dem Seihtuch, in dem er zum Abtropfen hängt.
Die Wundheilung kostet mich große Kraft. Das Einschätzen, wie viel Zeit vergeht, auch. Vielleicht sollte ich es wie Matthias machen und einfach vor oder nach dem Schnee sagen. Aber das wäre zu einfach.
Seit drei Monaten haben wir keinen Strom mehr. Man hat mir erzählt, dass der Strom im Dorf vorher immer mal wieder ausgefallen sei. Nichts Beunruhigendes. Die Leute hatten sich fast daran gewöhnt. Sie wussten, nach ein paar Stunden kommt der Strom wieder. Bis er eines Morgens nicht mehr wiederkam. Weder hier noch anderswo. Das war im Sommer. Die Leute nahmen es leicht. Doch als es Herbst wurde, begriffen sie, dass sie Vorbereitungen treffen mussten. Als wäre das nicht absehbar gewesen. Jetzt ist es Winter, und alle müssen sich mit der Lage abfinden. In den Häusern versammelt man sich um die Öfen und um ein paar rußige Töpfe.
Matthias leert seine Schüssel, schiebt sie zur Tischmitte.
Einen Moment lang passiert nichts. Ich mag diese Stille nach dem Essen.
Leider hält sie nie lang an.
Matthias steht auf, räumt die Teller ab, spült sie in der Plastikwanne. Dann packt er die Brotfladen in eine Tüte, nimmt die Kleider von der Leine über dem Ofen, faltet sie, stellt den Docht der Öllampe höher, holt das Verbandszeug, rückt einen Stuhl heran.
Matthias räuspert sich, als wollte er mir etwas vorlesen. Aber er sagt nichts, lässt nur die Halswirbel knacken, einmal rechts, einmal links, und zieht die Patchworkdecke von meinen Beinen.
Ich wende den Kopf ab. Matthias glaubt vielleicht, ich schaue nach draußen, aber ich beobachte ihn in der dunklen Scheibe. Er löst die Gurte der rechten Schiene. Schiebt eine Hand unter meine Ferse, hebt das Bein an.
Mein Puls beginnt zu rasen. Der Schmerz zeigt seine Krallen wie ein wildes Tier und wirft mich nieder.
Geduldig rollt Matthias die Mullbandagen ab. Seine Bewegungen sind langsam, methodisch. Bei der letzten Schicht klebt der Stoff an meiner nässenden Haut. Matthias schneidet den Verband mit der Schere ab und entfernt den Rest mit einem wohlkalkulierten Ruck. Ich atme scharf ein und konzentriere mich auf die Luft in meinem Brustkorb. Matthias lehnt sich zurück. Wahrscheinlich begutachtet er die Entzündung, die Schwellung, den Bruch.
Bald können wir die Fäden ziehen, sagt er, während er die Wunde desinfiziert.
Das Brennen ist schier unerträglich. Als würde das Fleisch an meinen Knochen schmelzen.
Halt still!, donnert Matthias. Lass mich machen.
Ich wende den Blick ab, starre zu den beiden Türen am anderen Ende des Raums, der Tür nach draußen und der, die nach drüben führt. Zum schweren Ofen, zum Krimskrams auf den Regalen. Zur Decke mit ihren grob gehauenen Balken. Von den Balken hängen zwei nackte Glühbirnen wie Dinosaurierskelette in einem Museum.
Matthias holt eine Salbentube aus dem Verbandskasten und versucht, die Aufschrift zu entziffern. Seufzend zieht er seine Brille aus der Hemdtasche, setzt sie auf.
Die sollte helfen.
Bevor er den Verband erneuert, streicht er meine Wunde dick ein. Die Salbe ist kühl. Einen Moment lang bringt sie Erleichterung. Doch als Matthias die Gurte an den Schienen festzurrt, pocht mir das Herz in den Schläfen. Ich kralle die Hände ins Bettzeug und verfluche mein Schicksal. Matthias sagt etwas. Seine Lippen bewegen sich, aber ich höre nichts. Wahrscheinlich sagt er nur, dass er fertig ist. Nach ein paar Sekunden lässt der Schmerz nach, und ich höre seine Stimme wie aus weiter Ferne.
Halt durch, sagt er, halt durch. Jetzt kommt das andere Bein dran.
Über Nacht muss es geschneit haben, doch heute Morgen ist der Himmel hart und blau. Die Eiszapfen an der Traufe glitzern.
Auf dem Ofen steht ein großer Topf voll Schnee. Im Herbst hat Matthias das Wasser direkt aus dem Bach geschöpft, der zum Dorf hinunterfließt. Es war kristallklar und schmeckte nach Kieseln und Wurzeln. Manchmal musste er morgens eine Eisschicht entfernen, um den Eimer zu füllen. Anfangs ließ sie sich noch leicht zerbrechen, später musste er einen Ast zu Hilfe nehmen, noch später ein Beil. Eines Tages war ihm der Aufwand zu groß, seitdem schmilzt er Schnee. Das Wasser schmeckt anders, aber ich kann mich nicht beschweren. Matthias kümmert sich um alles. Er heizt den Ofen, kocht das Essen, leert den Kloeimer. Er trifft alle Entscheidungen, er trägt die Verantwortung. Er ist der Herr über Zeit und Raum.
Ich hingegen bin nutzlos, schwach und kann mich kaum bewegen. Mir fehlt sogar die Kraft, zu reden, mich zu unterhalten. Und auch die Lust. Stattdessen brüte ich stumm vor mich hin. Anfangs verstand Matthias mein Schweigen nicht. Mit der Zeit hat er sich offenbar daran gewöhnt.
Ich weiß nicht genau, was seit dem Unfall alles passiert ist. Vor Schmerzen, Fieber und Erschöpfung kommt es mir vor, als hätte der Schnee in seiner Unrast die gewohnte Länge der Tage und Wochen aufgehoben. Alles scheint mir sehr schnell gegangen zu sein. Der Unfall, die Patrouille, die Operation, und dann war ich plötzlich hier, bei Matthias. Ich weiß, dass er mich nicht haben wollte. Dass meine Anwesenheit ihn stört, ihm ungelegen kommt. Dass er andere Pläne hatte. Seit dem Stromausfall läuft nichts, wie er sich das vorgestellt hat.
Als die Patrouille mich unter dem umgedrehten Auto fand, sahen die Männer gleich, wie schwer ich verletzt war. Sie dachten, sie könnten nichts mehr für mich tun. Meine Beine waren bei dem Aufprall zerquetscht worden, und ich hatte viel Blut verloren. Zum Glück leuchteten sie mir ins Gesicht, und einer der Männer meinte, mich zu erkennen. Er überredete die anderen, mich ins Dorf zu tragen.
Es war ein Regentag. Wie aus Kübeln ergoss sich das Wasser auf den Wald. Ich weiß noch, dass die Männer, die mich trugen, durch tiefen Schlamm waten mussten. Im Dorf gab es keinen Arzt. Nur eine Tierärztin und einen Apotheker. Seit dem Stromausfall waren sie es, die Kranke und Verletzte behandelten. Sie kümmerten sich auch um die schweren Fälle, bei denen wenig Hoffnung bestand.
Ich erwachte in einem dunklen Raum. Meine Beine steckten in dicken Verbänden, und ich war mit Handschellen ans Bett gefesselt. Das Fenster hatte man zugenagelt, nur durch die Ritzen fiel etwas Licht. Immer wenn ich den Kopf hob, um zu verstehen, wo ich war, durchfuhr mich ein stechender Schmerz.
In regelmäßigen Abständen kam jemand an mein Bett. Brachte mir was zu essen. Gab mir Tabletten. Stellte Fragen. Wie ich hieß? Wo ich herkam? Wie es zu dem Unfall gekommen war? Ich hatte Schmerzen, schlimme Schmerzen, und meine Welt bestand nur noch aus Schatten, die sich über mich beugten wie über einen Brunnenschacht. Wieder und wieder dieselben Fragen. Doch obwohl ich nach Leibeskräften schrie, schien keiner meine Antworten zu hören. Wahrscheinlich überlegten sie hin und her, ob sie mein Leiden beenden oder versuchen sollten, mich gesundzupflegen.
Wenn sie mich dann endlich allein ließen, spitzte ich die Ohren. Kommen und Gehen im Nebenzimmer. Manchmal hörte ich laute Stimmen, konnte den Gesprächen folgen. Manchmal flüsterten sie, und ich verstand kein Wort.
Der Unfall war heftig gewesen. Ich war verwirrt, träumte von meinem Auto. Suchte nach meinem Vater. Meine Erinnerungen gerieten durcheinander. Ständig wiederholten sich dieselben Szenen vor meinem inneren Auge. Die Tage und Nächte am Steuer. Der Stromausfall, die geplünderten Tankstellen, die bewaffneten Gruppen am Straßenrand, die Panik in den Städten. Und dann plötzlich, wenige Kilometer vor dem Dorf, im müden Licht der Scheinwerfer, zwei zum Himmel erhobene Arme. Reifenquietschen. Ich reiße das Lenkrad herum. Ein dumpfer Aufprall. Blut. Das Bersten der Windschutzscheibe. Überschläge. Mein Körper wird aus dem Wagen geschleudert. Dann das Gewicht des umgedrehten Autos auf meinen Beinen.
Ich war vor zehn Jahren aus dem Dorf weggegangen. Hatte seitdem so gut wie nichts von mir hören lassen. Ich hatte die Vergangenheit begraben und nie hierhin zurückgewollt. Trotzdem glaubte einer der Patrouillenmänner zu wissen, wer ich war, und bestand darauf, dass man mich versorgte. Seine Stimme drang laut und klar aus dem Nebenzimmer.
Schluss jetzt. Wir können ihn nicht einfach sterben lassen. Erkennt ihr ihn nicht? Das ist der Sohn vom Automechaniker. War lange nicht mehr hier. Er steht unter Schock, gebt ihm eine Chance. Sein Vater ist tot, aber er hat noch Familie im Dorf. Seine Onkel und Tanten wohnen oben am Weg zur Mine. Ich gehe sie holen.
Meine Onkel und Tanten kamen. Erst glaubte ich, Geister zu sehen, doch dann hörte ich ihre Stimmen und mir schossen Tränen in die Augen.
Ja, bestätigten die Onkel, entsetzt über meinen Zustand, das ist er. Die Tanten ergriffen meine Hände und versuchten zu verstehen, was passiert war. Ich war so glücklich, sie zu sehen, dass ich kein Wort herausbrachte.
Die Handschellen, sagten meine Tanten, nehmt ihm die Handschellen ab. Sofort.
Man erklärte ihnen, dass mich die Nachricht vom Tod meines Vaters sehr aufgeregt habe und ich wegen meiner Verletzungen stillliegen musste. Meine Onkel und Tanten verschwanden im Nebenzimmer. Sie redeten über mich und meine Situation, das verstand ich, hörte aber nicht genau, was sie sagten. Die Stimmen klangen ernst.
Wenig später kamen die Tierärztin und der Apotheker herein. Sie traten an mein Bett. Die Tierärztin schaltete ihre Stirnlampe ein und schnitt meine Verbände auf. Ich beobachtete sie aus dem Augenwinkel, ihr Gesicht kam mir bekannt vor. Als sie die Schwere meiner Verletzungen sah, verhärteten sich ihre Züge. Sie wandte sich fragend an den Apotheker. Der nickte. Während die Tierärztin einen Mundschutz anlegte und sich Gummihandschuhe überzog, sah ich an ihrem Blick, dass sie mich ebenfalls erkannt hatte. Der Apotheker hielt mir einen Schwamm vor Mund und Nase, und die Tierärztin wies mich an, bis zehn zu zählen. Ihre Stimme. Ihre Stimme weckte Erinnerungen. Ja, ich kannte diese Stimme, aber ein Name fiel mir nicht ein. Der Strahl ihrer Lampe glitt durch den Raum. Dann wurde alles schwarz.
Als ich wieder zu mir kam, wusste ich nicht, wo ich war. Zum Glück waren meine Tanten da. Ich hörte sie miteinander flüstern. Ich hob den Kopf und sah, dass meine Beine mit Schienen fixiert waren. Sobald meine Tanten merkten, dass ich mich regte, kamen sie an mein Bett.
Mach dir keine Sorgen. Die Operation ist gut verlaufen. Das wird schon. Du schaffst das. Hier, trink was. Ruh dich aus. Du musst wieder zu Kräften kommen. Ja, ruh dich aus.
Ich war unendlich müde und dämmerte bald wieder weg. Träumte, ich würde verfolgt, träumte von einer zähnefletschenden Bestie, von einem Labyrinth.
Am nächsten oder übernächsten Tag, ich weiß es nicht genau, besuchte mich der Patrouillenmann, der mich erkannt hatte. Er nahm mir auch endlich die Handschellen ab. Und er brachte mir Wasser, ein Stück Brot, etwas Thunfisch aus der Dose. Dabei stellte er mir erneut eine Menge Fragen. Als ich nicht antwortete, schwieg er einen Moment und änderte dann seine Strategie.
Weißt du, auch wenn der Strom irgendwann wiederkommt, wird nichts mehr so sein wie zuvor. Alles, was seit dem Stromausfall passiert ist, hat unser Leben für immer verändert. Wir kommen vielleicht besser klar als die Leute in den Städten, aber leicht ist es auch hier nicht. Am Anfang haben sich alle zusammengerissen, aber nach einer Weile brach Panik aus. Manche verließen das Dorf, andere versuchten, die Situation auszunutzen. Wir mussten für Ruhe und Ordnung sorgen. Jetzt verteilen wir die Lebensmittel und machen Wachgänge durchs Dorf. Wir müssen aufpassen. Die Stimmung kann jederzeit wieder kippen.
Die Tierärztin und der Apotheker kamen ins Zimmer und unterbrachen den Patrouillenmann.
Wie geht’s ihm?
Ganz gut.
Während der Apotheker mir einen ganzen Tablettencocktail verabreichte, untersuchte die Tierärztin meine Beine und maß meine Temperatur.
Kein Fieber, sagte sie.
Aber nur, weil er was dagegen bekommt, entgegnete der Apotheker.
Die Tierärztin beugte sich über mich und erklärte, dass meine Knochen mehrfach gebrochen seien. Zwar habe sie schon ähnliche Fälle behandelt, aber nur bei Hunden, Kühen und Pferden.
Ich lächelte sie an.
Sie fuhr mir mit den Fingern durchs Haar.
Du schaffst das.
Die beiden verschwanden mit dem Patrouillenmann im Nebenzimmer. Die Stimme des Apothekers war durch die Wand zu hören.
Er hat den Unfall überlebt und die Operation gut überstanden, aber seine Wunden werden sich entzünden. Das ist leider unvermeidlich. Er wird Antibiotika und Schmerzmittel brauchen, und unsere Vorräte sind begrenzt.
Sie überlegten, wer mich pflegen könnte. Meine Onkel und Tanten wahrscheinlich. Aber der Stromausfall überforderte sie alle. Es gab so viel zu tun. Wer hatte schon Zeit, sich um einen Schwerverletzten zu kümmern? Seine Wunden versorgen, ihn bekochen, ihn waschen?
Die Stimmen wurden leiser, ich verlor den Faden des Gesprächs.
Ein paar Tage später waren meine Beine geschwollen und die Wunden so empfindlich, dass ich kaum atmen konnte. Ich hatte Schüttelfrost und schwitzte. Nichts konnte ich ohne Hilfe tun. Die Leute wechselten sich an meinem Bett ab. Sie hielten sich die Ohren zu, um mein fiebriges Stöhnen und Wimmern nicht zu hören.
Zweimal am Tag kam die Tierärztin und gab mir eine Spritze. Dann hatte ich ein paar Stunden Ruhe, bevor der Schmerz mir wieder den Blick verschleierte.
Ich hab’s gewusst, seufzte der Apotheker, er wird all unsere Medikamente aufbrauchen.
Dank der Spritzen und Tabletten konnte ich schlafen. Doch beim Aufwachen wusste ich nie, ob ich wenige Minuten, ein paar Stunden oder mehrere Tage geschlafen hatte. Oft träumte ich, dass mich jemand zu Boden drückte und mir die Beine abhackte. Mit einer Axt. Das war kein schlimmer Traum, ich fühlte mich befreit.
Meine Onkel und Tanten kamen mich oft besuchen. Auch wenn ich alle um mich herum nur als Schemen wahrnahm, hörte ich sie reden, Geschichten und Witze erzählen. Eines Tages erklärten sie, dass sie nicht länger warten könnten. Die Jagdsaison hatte begonnen. Mehrere Familien waren schon in den Wald gegangen. Es gab immer noch keinen Strom, und sie mussten Vorräte für den Winter anlegen.
Wir ziehen in die Jagdhütte, verkündeten sie. In ein paar Wochen sind wir zurück, mit Fleisch, viel Fleisch. Wir hätten dich gern mitgenommen, aber das geht leider nicht. Mach dir keine Sorgen, du bist hier in guten Händen. Sie haben uns versprochen, dass sie sich gut um dich kümmern. Konzentrier du dich darauf, wieder gesund zu werden.
Sie verabschiedeten sich reihum von mir und verließen das Zimmer. Am liebsten hätte ich sie zurückgehalten.
Später kamen einige Leute zu mir. Der Patrouillenmann, die Tierärztin und der Apotheker waren auch dabei. Jemand ergriff das Wort und sagte, ich könne auf keinen Fall länger hierbleiben. Ich spürte ihre Blicke über die Wände huschen, zu Boden fallen, in den Ritzen verschwinden. Niemand wollte eine zusätzliche Bürde. Vielleicht hätte man mich besser unter dem Auto liegen gelassen. Die Tierärztin brach das Schweigen und sagte, sie könne sich bis zur Rückkehr meiner Verwandten um mich kümmern. Der Apotheker fiel ihr sofort ins Wort.
Wie stellst du dir das vor? Er kann nicht zu uns. Wir haben genug für ihn getan. Wir haben noch andere Patienten.
Der Patrouillenmann trat vor, als wollte er einen Gegenvorschlag machen. Sagte aber nichts.
Ich kann die Sache beenden, fuhr der Apotheker fort. Das wäre vielleicht für alle das Beste. Ihr seht doch, wie er leidet.
Schweigend suchte die Tierärztin den Blick des Patrouillenmanns, der immer noch mitten im Raum stand. Und daraufhin, glaube ich, kam ihnen die Idee mit dem Alten in dem Haus oben am Waldrand.
Ihr wisst schon, der Alte, der im Frühsommer bei uns aufgetaucht ist. Er hatte Probleme mit seinem Auto und war auf der Suche nach einer Werkstatt. Dann fiel der Strom aus, und er saß hier fest. Er ist in das leere Haus oben am Waldrand gezogen. Ab und zu, wenn er runter ins Dorf kommt, sage er, er müsse zurück in die Stadt. Seine Nachbarin komme ihn abholen. Aber sie ist nie aufgetaucht. Niemand glaubt ihm so richtig. Jedenfalls nimmt er die Lebensmittel, die wir ihm zuteilen, immer gern. Neulich bin ich ihm vor der Kirche begegnet. Wir haben uns kurz unterhalten. Sicher, er ist alt. Aber er wirkt kräftig und erstaunlich klar im Kopf.
Der?, fragte der Apotheker erstaunt. Vor einiger Zeit wollte der einen Transporter stehlen. Ich habe ihn dabei erwischt, wie er sich an der Tür zu schaffen machte. Er hat so getan, als ob nichts wäre. Ziemlich durchtrieben, der Alte. Aber warum nicht? Soll er sich um den Verletzten kümmern.
Heute Morgen macht Matthias wie immer seine Übungen. Mit der Konzentration eines Hexenmeisters vollführt er eine Abfolge ruckartiger Bewegungen und ausladender Dehnungen. Manchmal verharrt er mehrere Minuten in einer bestimmten Position. Seine Ruhe ist kraftvoll, tief. Aber meist reiht er unter lautem Atmen eine Bewegung an die andere. Er beugt sich vor, richtet sich auf, verdreht sich. Seine Gesten sind groß und geschmeidig. Im Ausatmen tönt die Kraft seines Zwerchfells. Er sieht aus, als kämpfte er in Zeitlupe, gegen einen Fremden, einen Bären, ein Monster. Irgendwann, unvermittelt, beendet er die Übungen, richtet sich triumphierend auf, beginnt den Tag.
Es ist schon seit einer ganzen Weile hell, aber die Sonne lugt kaum über die Baumwipfel. Nur hier und da dringen Lichtstrahlen durchs Unterholz. Mit dem Fernrohr suche ich die Umgebung ab. Im Schnee gibt es, abgesehen von Matthias schweren Abdrücken und den Hüpfern eines Eichhörnchens, keine Spuren. Die anderen Tiere haben sich in den Wald zurückgezogen. Führen dort, abseits der menschlichen Blicke, ihren Überlebenskampf.
Matthias kocht Kaffee. Weil das Pulver langsam zur Neige geht, mischt er unter jeden Löffel frischen Kaffee zwei Löffel Kaffeesatz.
Als man mich hierhergebracht hat, war er auch gerade dabei, Kaffee zu kochen. Meine Erinnerung an den Duft, der den Raum erfüllte, ist seltsam eindringlich. Als Matthias die Tür öffnete, stand vor ihm im Regen die Tierärztin. Dahinter der Patrouillenmann und der Apotheker mit der Bahre, auf der ich lag. Matthias bat sie alle herein und servierte Kaffee.
Das Fieber und die Antibiotika hatten mich in eine Lethargie versetzt. Kein Schlaf, aber ein Dämmerzustand irgendwo zwischen Wachtraum und Koma. Ich konnte mich nicht bewegen, nichts sagen, aber alles hören.
Wer ist das?, fragte Matthias und beugte sich über mich.
Der Sohn des Automechanikers, antwortete die Tierärztin. Er hatte einen Unfall.
Der Patrouillenmann sah sich im Raum um. Ein Holzofen, ein Schaukelstuhl, ein Tisch, ein Sofa. Vor dem Fenster ein schmales Bett.
Sie haben es ja gemütlich hier, bemerkte er.
Als ich hier ankam, stand das Haus leer. Ich bin in die Veranda gezogen, so lange bis …
Bis was?
Matthias zögerte.
Bis meine Nachbarin mich abholt, sagte er schließlich. Es dauert, aber sie wird kommen. Ganz sicher. Sie weiß, dass ich zurück in die Stadt muss. Sie versteht meine Lage.
Der Patrouillenmann rieb sich das Kinn.
Das sagen Sie schon eine ganze Weile, oder? Warum wollen Sie denn unbedingt zurück in die Stadt? Schon unter normalen Umständen dauert die Fahrt acht Stunden, aber jetzt, wo der Strom ausgefallen ist, kann man nicht einfach ins Auto steigen und losfahren. Überall sind Straßensperren. Kriminelle und bewaffnete Gruppen machen die Gegend unsicher. Ich habe gehört, in der Stadt herrscht Chaos, kaputte Autos stehen auf den Kreuzungen, Geschäfte werden geplündert, die Leute fliehen aufs Land. Vielleicht hat etwas oder jemand Ihre Nachbarin aufgehalten, sagte der Patrouillenmann. Er wog seine Worte sorgfältig ab.
Sie wird kommen, beharrte Matthias. Sie wird kommen.
Und was, wenn nicht? Was haben Sie dann vor? Vielleicht einen Transporter stehlen?
Matthias starrte in seine Tasse.
Es gibt nirgends mehr Sprit, das dürfte Ihnen doch klar sein.
Ich muss zurück in die Stadt, wiederholte Matthias.
Dann schwiegen sie, glaube ich, eine ganze Weile, als hätten sie einander nichts mehr zu sagen. Schließlich ergriff der Patrouillenmann noch einmal das Wort.