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Das Geld beherrscht sein Leben. Wilhelm Holzboer hat sich aus kleinen Verhältnissen zu einem erfolgreichen Geschäftsmann emporgearbeitet. Er steht mit seiner Firma auf der Höhe der Macht – und ist doch bei allem Reichtum zu einem geizigen Tyrannen seiner Familie geworden. Solange seine Frau lebt, scheint die Familie zu funktionieren, doch mit ihrem Tod ändert sich alles. Jedes seiner drei Kinder lebt den Schein, den jeder auf seine Art um den Vater aufbaut. Die Wahrheit ist, dass sie alle den alten, eigenwilligen Mann hassen und dass jeder nur seinen Vorteil und seine Freiheit und erlangen will, und natürlich seinen Anteil am Vermögen. Es ist dies einer der dramatischsten und konfliktreichsten Romane von Marie Louise Fischer.Marie Louise Fischer wurde 1922 in Düsseldorf geboren. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lektorin bei der Prag-Film. Da sie die Goldene Stadt nicht rechtzeitig verlassen konnte, wurde sie 1945 interniert und musste über eineinhalb Jahre Zwangsarbeit leisten. Mit dem Kriminalroman "Zerfetzte Segel" hatte sie 1951 ihren ersten großen Erfolg. Von da an entwickelte sich Marie Louise Fischer zu einer überaus erfolgreichen Unterhaltungs- und Jugendschriftstellerin. Ihre über 100 Romane und Krimis und ihre mehr als 50 Kinder- und Jugendbücher wurden in 23 Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Gesamtauflage von über 70 Millionen Exemplaren. 82-jährig verstarb die beliebte Schriftstellerin am 2. April 2005 in Prien am Chiemsee.-
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Seitenzahl: 515
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Marie Louise Fischer
Roman
SAGA Egmont
Das goldene Kalb
Das goldene Kalb (Vergib uns unsere Schuld)
Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof A/S
Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de) represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)
Originally published 1962 by Bach Verlag, Germany
All rights reserved
ISBN: 9788711718490
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com
Der Schnee war krank.
Dort, wo die Trauergemeinde stand – dicht aneinander gedrängt wie eine Herde Schafe bei Gewitter, dachte Eduard Lechner, Redakteur des „Volksblattes“ – war der Schnee unter den schweren, trampelnden Füßen zerstampft, es war nichts mehr übriggeblieben als ein trüber, graugelber Matsch.
Der Vergleich mit der Schafherde gefiel Lechner – schade, daß er ihn in seinem Artikel über die Beerdigung von Luise Holzboer nicht gebrauchen konnte. Unauffällig streiften seine Augen über die Gesichter der Begräbnisteilnehmer; sie alle zeigten denselben leeren Schafsausdruck. Der Choralgesang des Kirchenchors, die Blasmusik der Feuerwehrmusikanten, die psalmierenden Worte des Pfarrers hatten sie eingelullt, ihren Verstand augeschaltet, und da niemand Trauer oder überhaupt ein Gefühl für die Tote aufbringen konnte, spiegelten ihre Gesichter nur die eigene gähnende Leere.
Der Pfarrer schwieg. Plötzlich waren die hellen Stimmen, das Jubeln und Kreischen der Kinder sehr nahe, die auf dem Hügel hinter dem Friedhof rodelten oder ihre Skier ausprobierten.
Eduard Lechner bemerkte, wie Bürgermeister Rollman unruhig wurde, seinen Kopf in Richtung des Geschreis drehte. Viele folgten seinem Blick. – Ein unverzeihlicher Organisationsfehler, dachte Lechner, typisch für unsere Stadt.
Vier schwarz gekleidete Männer hoben den Eichensarg an, sie schwankten kaum merklich unter der Last.
Die Gemeinde begann zu beten.
Ledmer blickte in den Sucher seiner Kamera, der Sarg war drin. Er drückte auf den Auslöser, einmal, noch einmal und noch einmal. Eines der Bilder würde wohl werden. Er formulierte im Geiste die Unterschrift: „Der kostbare Eichensarg mit den irdischen Überresten von Frau Luise Holzboer wird, über und über mit Kränzen und Blumen beladen, in die Tiefe gesenkt.“
Die Gemeinde betete noch immer.
Der Meßner reichte Pfarrer Scheurer eine Schaufel voll Erde hin. Der Pfarrer warf mit feierlicher und segnender Gebärde drei kleine Siandgaben auf den Sarg, der schon in der Tiefe der Gruft verschwunden war.
Der Kapellmeister der Feuerwehrmusikanten hob beschwörend beide Hände, und nach einem Mißton der großen, Trompete setzten alle Instrumente fast gleichzeitig mit einem dröhnenden Choral ein.
Pfarrer Scheurer war zurückgetreten. Einen Augenblick stand der Meßdiener allein am Kopfende des Grabes, dann trat Wilhelm Holzboer, der für Lechner bisher nicht sichtbar gewesen war, ins Bild. Der Journalist stellte fest, daß er wie immer seinen dunkelgrauen, mit Pelz gefütterten Wintermantel trug; er hatte es also nicht für nötig gefunden, sich schwarz zu kleiden. Lechner ärgerte sich einen Augenblick, daß er sich darüber wunderte. Er hätte Holzboer doch zur Genüge kennen müssen, um zu wissen, daß in seinen Augen die Anschaffung eines schwarzen Mantels für eine Beerdigung hinausgeworfenes Geld war.
In der behandschuhten Linken hielt Wilhelm Holzboer seinen schwarzen Zylinder, mit der Rechten griff er jetzt mit der Hand in die Erde auf der Schaufel, warf mit einer Gebärde, die fast herausfordernd wirkte, seine drei Gaben in das Grab seiner Frau und wandte sich ab. Er trat zurück neben den Pfarrer, zögerte einen Augenblick, dann stülpte er seinen Zylinder auf den runden, kahlen Schädel, der von grauen Locken umkränzt war.
Ohne es zu wollen, war Eduard Lechner fasziniert von der starken Ausstrahlungskraft seiner Persönlichkeit. Wilhelm Holzboer hatte das feste, runde Kinn vorgeschoben, die vollen Lippen zusammengepreßt, die Nüstern seiner breiten, stumpfen Nase bebten. Der Aüsdruck seiner Augen, die starr geradeaus blickten, war nicht zu deuten. Die buschigen Augenbrauen, die an der Nasenwurzel zusammengewachsen waren, gaben seinem Gesicht etwas Gequältes, aber das konnte täuschen. Eduard Lechner wußte, daß alles an Wilhelm Holzboer täuschen konnte.
Zum Beispiel jetzt, was mochte in diesem Augenblick in Wilhelm Holzboer vor sich gehen? Bereute er seine Härte einer Frau gegenüber, die ihm jeden Wunsch von den Lippen abgelesen hatte, die ihm Sklavin, ja, willenloses Werkzeug gewesen war? Trauerte er um den Verlust seiner Lebensgefährtin, mit der er doch über dreißig Jahre Tag für Tag, im Haus und im Geschäft zusammen gewesen war? Klagte er sich an, daß er schuld an ihrem Tode war?
Eduard Lechner wußte, daß es so war. Doktor Vogelsang hatte es ihm in einer geschwätzigen Minute, erschüttert von dem Tod seiner Patientin, von einigen schnell hinuntergestürzten Schnäpsen gelockert, erzählt. Luise Holzboer hätte nicht zu sterben brauchen. Die Lungenentzündung, die ihren durch ununterbrochene Arbeit geschwächter Körper überfallen hatte, hätte nicht tödlich zu enden brauchen, wenn sie nicht vorzeitig auf gestanden wäre. Sie war schon auf dem Weg der Besserung gewesen, Doktor Vogelsang hatte sie über den Berg geglaubt, als er sie bei seinem nächsten Besuch mit hohem Fieber, fast schon in Agonie vorfand. Er hatte getobt – er behauptete jedenfalls, getobt zu haben, Lechner, der wußte, wie sehr Doktor Vogelsang vor Holzboer zitterte, bezweifelte es – er hatte erfahren, daß sie aufgestanden war. Wilhelm Holzboer hatte das nicht von ihr verlangt, das war wahr, aber sie wußte, daß er kranke Menschen haßte, und Luise Holzboer war es gewohnt, auch seinen unausgesprochenen Befehlen zu gehorchen. Das war ihr Tod gewesen.
Eduard Lechner schrak aus seinen Gedanken. Er hatte es versäumt, ein Bild von Wilhelm Holzboer am Grabe seiner Frau zu knipsen, und grade das war es, was seine Leser sehen wollten. Er blickte in seine Kamera. Eine schmale, schwarz gekleidete Gestalt, tief verschleiert, tastete sich sehr vorsichtig, Schritt für Schritt, über die aufgebrochene Erde zum Kopfende des Grabes: Juliane Holizboer. Er hob den Blick, ihr Gesicht war unter dem engmaschigen Schleier nicht zu erkennen.
Jetzt warf sie ihre drei Gaben Erde auf den Sarg. Ihre Bewegungen wirkten eckig, verkrampft.
Lechner glaubte förmlich zu spüren, wie sie litt, weil sie ihre Schwäche vor all den kalten, ausdruckslosen Augen preisgeben mußte: ihr steifes Bein, das ihren Gang schmerzhaft und mühselig machte.
Jetzt trat sie vom Grabe zurück, einen Augenblick sah es aus, als würde sie stolpern – Eduard Lechner war schon auf dem Sprung, ihr zur Hilfe zu eilen, obwohl das ganz unsinnig war, weil er viel zu weit vom Grabe entfernt stand – dann aber hatte sie sich wieder gefangen, tat noch einen Schritt zurück, stand jetzt wieder an der Seite des Vaters. Es ging wie ein Keuchen durch die Menge, die sich um eine Sensation geprellt sah.
Mit raschen, gewandten Schritten trat Christiane Holzboer an das Grab. Auch sie war tiefschwarz gekleidet, aber ihr Gesicht war nicht verschleiert. Ihr helles, blondes Haar leuchtete unter dem schwarzen Hut, ihre Lippen glühten, obwohl sie sich offensichtlich nicht geschminkt hatte. Ihre langen Wimpern waren schwarz getuscht und ließen ihre hellen, blauen Augen ausdrucksvoller erscheinen.
Es war ein hübsches Bild, wie sie da am Grabe ihrer Mutter stand, und einen Augenblick stieg in Lechner der Verdacht hoch, daß sie wußte, wie hübsch dieses Bild war. Rasch und anmutig warf sie ihre drei Gaben Erde ins Grab, und Lechner knipste, noch bevor sie zu ihrem Vater und ihrer Schwester zurücktrat. Sie holte ein blütenweißes Tüchlein aus ihrer schwarzen Handtasche, betupfte sich sehr vorsichtig und anmutig die Augenwinkel.
Dann kam Wilhelm Holzboer junior. Lechner hatte ihn lange Zeit nicht gesehen, und er staunte, wie ähnlich der Junge seinem Vater geworden war – dieselbe kräftige, etwas gedrungene Figur, dasselbe runde, entschlossene Kinn, derselbe volle Mund, dieselbe starke Nase, ja, selbst die Augenbrauen schienen buschig zu werden wie die des Vaters. Das glatt zurückgebürstete blonde Haar, das unter dem Einfluß der feuchten Luft und des Windes schon wieder in seine natürlichen Wellen fiel, ließ dierunde, kindliche Stirn frei. Auch Holzboer junior zeigte keine Trauer, eher schien es Zorn, der ihn erfüllte, als er jetzt die drei Handvoll Erde in die Grube warf. Auf wen mochte er zornig sein? Auf seinen Vater? Auf die Tote? Auf Gott, der ihm die Mutter genommen hatte?
Er trat zurück und stellte sich in eine Reihe mit seiner Familie.
Da standen sie, die vier Holzboers, die Dynastie der kleinen süddeutschen Stadt Leuchtenberg. Man hätte erkennen können, daß sie von einem Fleisch waren, auch ohne ihre Gesichter zu sehen – sie hatten alle die gleiche charakterstische, sehr aufrechte Haltung, den gleichen steifen Nacken. Nebeneinander standen sie am Grab ihrer Mutter und ihrer Frau, ungebeugt und ohne sichtbare Trauer. Keiner von ihnen zeigte das leiseste Anzeichen von Schwäche.
Lechner, der die ganze Zeit durch den heißen Atem seines Hintermannes im Nacken irritiert worden war, wandte sich um, murmelte ein Wort der Entschuldigung und stieß sich durch die dichte Menge ein paar Schritte zurück, hielt seine Kamera hoch über dem Kopf, um sie alle vier auf das Bild zu bekommen.
Die Feuerwehrmusikanten hatten den Choral beendet, der Kapellmeister gab ein Zeichen, sie begannen ihre Instrumente wieder einzupacken. Die Menge geriet in Bewegung, die einen drängten zum Ausgang des Friedhofs, die anderen drängten nach vorne, zum Grabe. Langsam gingen sie an den Holzboers vorbei, drückten einem nach dem anderen die Hand, der Bürgermeister, der Justizrat Dr. Bayer, der Arzt Dr. Vogelsang, der Apotheker, jeder einzelne der Stadtbeamten, jeder einzelne der angesehenen Männer und Geschäftsleute der Stadt. Sie brachten den Holzboers ihre Huldigung dar, sie beugten sich vor der Macht des Geldes.
Eduard Lechner schoß noch ein paar Aufnahmen, dann klappte er seinen Fotoapparat zusammen, verstaute ihn im Lederfutteral. Es war aus. Es gab nichts mehr aufzunehmen und nichts mehr zu beschreiben. Aber er hatte einen Artikel im Kopf. Wenn die Fotografien nicht gewesen wären, hätte er überhaupt nicht zur Beerdigung zu kommen brauchen, denn er hatte schon vorher gewußt, wie sich alles abspielen würde. Die Wahrheit durfte er ohnehin nicht schreiben, denn die wollte niemand lesen. Ganz abgesehen davon, daß er schon morgen auf der Straße läge, wenn er es wagen würde, Wilhelm Holzboer, den größten Inserenten des „Volksblattes“, in einem Zeitungsartikel anzugreifen und herauszufordern.
Er würde die üblichen Phrasen dreschen müssen, von der sozialen Haltung der Verstorbenen und ihrer weiblichen Güte, von ihrer Großzügigkeit, würde mit rührseligen Worten die tiefe Trauer der Hinterbliebenen beschreiben müssen, er würde behauptén müssen, wie schmerzlich der unersetzliche Verlust dieser Frau sie alle getroffen hatte.
Die Wahrheit durfte er nicht schreiben, und es hätte auch keinen Sinn gehabt, denn jeder kannte sie sowieso. Jeder wußte, daß Luise Holzboer nichts weiter gewesen war als das Echo ihres Mannes, liebenswürdig zu denen, die ihr Mann schätzte, noch ablehnender als er selber jenen gegenüber, die es gewagt hatten, sich ihm in den Weg zu stellen.
Jeder wußte, daß Wilhelm Holzboer nicht der König der Stadt war, sondern ein Usurpator, daß er die Mittel, um sein Waren-Versandhaus „Jedermann“ zu gründen, aus einer üblen Manipulation gewonnen hatte. Er hatte es verstanden, ungeheure Mengen von Kleidungsstücken, aus schlechtem Material und schlecht verarbeitet, bis zum Moment der Währungsreform zu horten, um sie dann mit einem Schlag auf den Markt zu werfen, das ganze Gebiet südlich von München damit zu überschwemmen. Harte D-Mark waren der Lohn seiner „kaufmännischen Weitsicht“ gewesen.
Aber wer hätte gewagt, ihm einen Vorwurf daraus zu machen? Das Waren-Versandhaus „Jedermann“ stellte eine Macht dar, die halbe Stadt lebte davon. Spielte es eine Rolle, mit welchen Mitteln es auf die Beine gestellt worden war?
Eduard Lechner war der letzte, der es gewagt hätte, in das Geschäftsgebahren Wilhelm Holzboers hineinzuleuchten. Es ging ihn nichts an, und er hatte sich längst schon zu der Überzeugung durchgerungen, sich niemals um Dinge zu kümmern, die ihn nichts angingen.
Nach einem kurzen Zögern ordnete sich Eduard Lechner in die Reihe seiner Mitbürger ein, die darauf warteten, dem großen Wilhelm Holzboer ihr Beileid ausdrücken zu dürfen. – –
Die gleichtönenden Beileidsworte, die man ihm zumurmelte, drangen nicht bis in Wilhelm Holzboers Bewußtsein. Mechanisch drückte er die Hände, die ihm gereicht wurden, seine Gedanken waren weit weg. Sie drehten sich, wie immer, um seine Geschäfte.
„Juliane, Kind … halt misch den Bürgermeister auf! Ich hab’ noch mit ihm zu sprechen“, sagte er plötzlich. Seine Stimme klang laut und dröhnend. Er machte nicht den Versuch, seinen rheinischen Dialekt zu mildem, sondern übertrieb ihn noch, um den Einheimischen zu beweisen, wie wenig es ihm galt, daß sie ihn als „Zuagroasten“, als Fremden, anfangs erbittert bekämpft hatten und ihn auch heute noch innerlich ablehnten.
Antonius Willkommner, Eigentümer des ersten Delikateßgeschäftes am Platze, der ihm grade die Hand gedrückt hatte, zuckte leicht zusammen und sah zu, daß er so rasch wie möglich davon kam.
„Ich, Vater? sagte Juliane.
„Warum nicht?“ In Wilhelm Holzboers Stimme war drohende Ungeduld, der Blick, mit dem er sie musterte, war unbarmherzig.
Julianes Hände krampften sich zusammen, sie zitterte bei dem Gedanken, daß er es fertig bringen könnte, sich hier, in aller Offentlichkeit, über ihr lahmes Bein lustig zu machen.
Aber es kam nicht dazu.
„Ich geh schon, Vater“, sagte der junge Wilhelm, ihr Bruder, halblaut und löste sich von der Gruppe.
„Wat hat er jesagt?“ – Wilhelm Holzboer dachte nicht daran, seine Stimme zu dämpfen.
„Helm wird’s ihm ausrichten, Vater“, erklärte Juliane.
„Das is jut.“
Während Wilhelm Holzboer starr aufgerichtet dastand, Hände schüttelte und die Beileidsworte an seinem Ohr vorbeiklingen ließ, verfolgten seine Augen den Sohn, der sich entschlossen einen Weg durch die Trauergemeinde bahnte. Der junge Wilhelm, ging, so rasch er konnte, aber die Menge, die teilweise immer noch zögernd zwischen den Gräbern herumstand, behinderte ihn.
Plötzlich verlor Wilhelm Holzboer die Geduld: „Kommt, Kinder … laßt uns gehen!“ sagte er laut und ohne sich um die Schlange der Leuchtenberger Bürger zu kümmern, die darauf warteten, ihm die Hand schütteln zu können, bahnte er sich seinen Weg zum Friedhofsäusgang.
Unwillkürlich wich alles links und rechts zurück, so daß er unbehindert vorwärts drängen konnte. Seine Töchter folgten ihm, nach allen Seiten grüßend.
Wilhelm Holzboer erreichte den Bürgermeister erst außerhalb der Friedhofstore, wo er in Begleitung des Stadtbaurates vor seinem Dienstwagen stand und auf ihn wartete. Der junge Wilhelm hatte ihm die Botschaft seines Vater schon ausgerichtet.
„Bürjermeister!“ dröhnte Wilhelm Holzboer von weitem.
Die beiden Herren trennten sich, und Bürgermeister Rollmann kam Wilhelm Holzboer beflissen entgegen. Juliane und Christine warteten in einigem Abstand auf den Vater, während Wilhelm sich unauffällig davon machte.
„Bitte, verzeihen Sie vielmals, Herr Holzboer“, begann der Bürgermeister sofort, „es ist mir sehr unangenehm …“
„Wat soll ich verzeihn?“
„Diesen Zwischenfall mit den Kindern. Ich weiß, der Lärm war außerordentlich störend, und ich werde …“
„Ah bah! Dat ist doch janz egal. Ich hab’ ein janz anderes Hühnchen mit Ihnen zu rupfen, Bürjermeister …“
Bürgermeister Bollmann war irritiert. Mit einem halben Blick stellte er fest, daß einige Neugierige, zwar mit Abstand, aber doch in Hörweite, in Gruppen zusammenstanden. „Doch nicht hier, Herr Holzboer“, sagte er.
„Warum nicht?“ Wilhelm Holzboer folgte seinem Blick. „Sie sind ’ne alte Fiesematentchenmacher! Nu passen Se mal auf … ich han da ein Schreiben von der Friedhofsverwaltung jekriegt, wejen dem Grabmahl von der juten Luise. Diese Bunken wollen mir da doch wahrhaftig Vorschriften machen …“
„Wenn ich Ihnen das kurz erklären darf, Herr Holzboer“, unterbrach ihn der Bürgermeister, bemüht, das unangenehme Gespräch so schnell wie möglich zu beenden. „Es ist nämlich so, daß es für unseren städtischen Fried hof eine Verordnung gibt, nach der die einzelnen Grabmäler … ich will nicht grade sagen, genormt sein müssen, aber doch immerhin eine gewisse Höhe und eine gewisse Breite nicht überschreiten sollen. Diese Verordnung erstreckt sich auch auf die Ausstattung des Grabes überhaupt, auf die Anpflanzung von Bäumen und dergleichen …“
„Und für wat soll dat jut sein?“ fragte Wilhelm Holzboer dröhnend.
„Man hofft auf diese Weise, dem Friedhof einen einheitlichen Charakter zu geben, es handelt sich dabei vor allem um ästhetische Gesichtspunkte, Herr Holzboer …“
„Dat is ’n dolles Ding. Man darf also in diesem Kuhkaff nicht einmal beerdigt werden wie man will?“
„Soviel ich weiß, gibt es in allen Städten und auch in den Landgemeinden ähnliche oder gleichlautende Verordnungen über die Gestaltung der Friedhöfe.“
„Dann kann ich nur sajen … dat is ’ne schöne Demokratie, in der wir leben.“
„Es tut mir sehr leid, Herr Holzboer, wenn Sie das so auffassen …“
„Ja, so faß ich dat auf, Herr Bürjermeister. Ich muß Sie doch dringend bitten, da einzuschreiten. Schließlich is et doch ein kleiner Unterschied, ob da irjendeine Frau Piesepampel bejraben wird – oder eine Frau Luise Holzboer!“
„Ganz gewiß, Herr Holzboer.
„Und außerdem, dat soll ja auch ein Familienjrab werden, verstehen Sie, so ’ne Art Jruft, und dann muß et doch auf jeden Fall wat Imposantes sein, dat werden Se doch einsehen, wat?“
„Ich verstehe Ihre Wünsche vollkommen.“
„Dat freut mich. Dann lassen Se sich gleich mal von meiner Sekretärin den janzen Vorjang jeben, und jehen Se damit zum Friedhofsamt, und machen Se den Behörden ’n bißchen Dampf unter den Popo.“
„Ich werde tun, was in meiner Macht steht …“
„Dat möcht ich auch jehofft haben.“
Wilhelm Holzboer tippte grüßend mit der Hand an seinen Zylinder, nahm die tiefe Verbeugung des Bürgermeisters schmunzelnd zur Kenntnis. Dann stapfte er durch den Schneematsch zu seinem Auto – einem schwarzen, Kapitän’ – in dem seine beiden Töchter inzwischen schon Platz genommen hatten.
„Wo steckt denn der Junge?“ fragte er, als er sich ächzend in das Polster hatte fallen lassen.
„Er ist schon zu Fuß nach Hause gegangen, Vater“, erklärte Juliane.
„Dann fahren wir los … ich han ’ne Mordshunger.“
*
Das Haus, in dem die Familie Holzboer seit dem Jahre 1943 wohnte, war alt, düster und verbaut. Wenn man die Haustür öffnete, schlug einem ein modriger, unangenehmer Geruch entgegen, aber die Holzboers merkten es kaum noch. Nachdem Luise Holzboer auf alle mögliche Art versucht hatte, diesen Geruch zu vertreiben, hatten sie sich schließlich damit abgefunden.
Als der junge Wilhelm in den dunklen Hausflur trat, mußte er daran denken, daß er als Kind fest davon überzeugt gewesen war, irgendwo in diesem Haus müßte eine Leiche versteckt sein. Er hatte oft das ganze Haus vom Keller bis zum Dachboden nach dieser Leiche durchsucht, von Hoffnung und Angst zugleich erfüllt, sie zu finden.
Manchmal, wenn er nachts aufwachte, hatte ihn der Gedanke an diese Leiche, die irgendwo zwischen den Wänden modern mußte, nicht wieder einschlafen lassen. Aber es gab keine Leiche in diesem Haus, heute wußte er es. Trotzdem konnte er über seine kindlichen Ängste nicht lächeln, denn der Geruch erinnerte ihn gegen alle Vernunft immer wieder an Verwesung.
Wilhelm war froh, daß niemand ihm entgegenkam. Er hängte seinen Mantel rasch an den Garderobenständer, lief die Treppen hinauf in sein Zimmer, eine ausgebaute Dachmansarde. Rückwärts warf er sich auf das weiß lackierte Eisenbett, zündete sich eine Zigarette an und schloß die Augen.
Es war alles vorüber. Er versuchte, sich darüber zu freuen, daß alles vorüber war.
Mutter war tot, damit mußte er sich abfinden, und es hätte ihm auch nichts genützt, wenn sie noch lebte. Sie hatte ihn doch nie begriffen. Vielleicht hatte sie ihn geliebt, ja, es war eigentlich sicher, daß sie ihn geliebt hatte, aber geholfen hatte sie ihm nie. Sie hatte es nicht gewagt. Sie hatte es nicht einmal verstanden, wenn er sich gegen irgendwelche Anordnungen des Vaters aufgelehnt hatte.
Immer, wenn er an die Mutter dachte, die kleine, verarbeitete, ausgemergelte Gestalt, mit dem farblosen, trokkenen Haar, krampfte sich sein Herz vor Mitleid zusammen. Aber war sie wirklich zu bemitleiden? Jetzt, wo sie tot war, wo sie alles überstanden hatte, bestimmt nicht mehr.
Und früher? Vielleicht hatte sie es grade so haben wollen, wie es war. Vielleicht war sie sogar glücklich dabei gewesen. Sie hatte niemals geklagt, aber sie hatte auch niemals gelacht. Nur manchmal, wenn der Vater plötzlich auf die Idee gekommen war, sie zu loben oder sich einen Spaß mit ihr zu machen, dann hatte ihr Gesicht aufgestrahlt. Vielleicht hatte sie ihn geliebt? Konnte man einen Mann wie den Vater lieben?
Wilhelm hörte ein Knarren auf der Treppe. Unwillkürlich verbarg er seine Zigarette unter der hohlen Hand.
Ohne vorher anzuklopfen öffnete die Tante die Tür und steckte ihren Kopf in Wilhelms Zimmer. „Papa is da, Jung … komm essen!“ – Mißbilligend schnüffelte sie den Zigarettenrauch.
„Schon?“ fragte er zurück. Aber sie war schon wieder verschwunden, er hörte, wie sie die Treppe hinunterlief. Sie hatte Angst vor Vater wie alle in diesem Haus, alle außer ihm.
Wilhelm drückte seine Zigarette in der Seifenschale aus, schwang die Beine vom Bett, stand auf und öffnete das Fenster. Er warf die Asche und den Stummel aus der Seifenschale in die Regenrinne, ließ das Fenster einen Augenblick offenstehen, um den Rauch aus dem Zimmer zu lassen.
Er fürchtete seinen Vater nicht, er haßte ihn nur. Und das war viel besser so. – –
Das Eßzimmer war der größte Raum in dem alten Haus, der einzige, in dem sich die Familie vollständig und regelmäßig zusammenzufinden pflegte. Die beiden schmalen, hohen Fenster gaben den Blick auf die Straße frei, eine Tür führte zur Küche, die andere zum Hausflur. Das Zimmer war wie alles im Haus, außer Christianes Stube, lieblos und geschmacklos eingerichtet. Die Holzboers schämten sich nicht, deutlich zu zeigen, daß sie nur hausten. Wilhelm Holzboer war es seit eh und je gleichgültig gewesen, wie der Schreibtisch aussah, an dem er arbeitete oder das Bett, in dem er schlief, und alles andere interessierte ihn nicht. Die anderen aber hatten das alte Haus immer nur als Provisorium aufgefaßt. Es hatte keinen Zweck, sich darum zu bemühen, es wohnlich einzurichten, es war und blieb ein alter Rumpelkasten. Vor ein paar Jahren war eine Zentralheizung eingebaut worden, weil die Arbeit mit all den Öfen nicht mehr zu bewältigen war, das war aber auch alles. Sobald das neue Firmengebäude stand, sollte ja sowieso ein neues Haus gebaut werden, ein Haus mit allen Schikanen, großen, gekachelten Badezimmern, einer Hausbar, einer Ölheizung, Perserteppichen und gotischen Madonnen. Die Frauen – Juliane, Christiane, ja, auch die Mutter und die Tante hatten sich oft stundenlang über das neue Haus unterhalten, das alte interessierte sie nicht.
Als der junge Wilhelm eintrat, waren schon alle versammelt, und er bemerkte mit einem Blick, daß der Vater kurz vor einem seiner gefährlichen Jähzornausbrüche stand. Sein Kopf hatte sich gerötet, die Zornesader, die quer von der Stirn zur Nasenwurzel führte, war bedrohlich geschwollen.
Einen Augenblick glaubte Wilhelm, daß die Wut des Vaters ihm galt. Er war bemüht, sich so geräuschlos wie möglich zu setzen, zwang sich: „Entschuldige, bitte“, zu murmeln.
Niemand hörte es.
„Raus damit!“ brüllte Wilhelm Holzboer. „Raus, sage ich euch!“ Und er stieß mit einer wilden Bewegung die Schüssel mit dem Hühnerfleisch, die die Tante grade vor seinen Platz gestellt hatte, von sich. „Ihr wollt mich wohl verjiften, ihr Bagage, ihr!“
„Bring das Fleisch hinaus, Tante“, sagte Juliane sehr ruhig. „Du hörst doch, daß Vater es nicht essen will.“
„Ja, aber …“ Die Tante nahm hastig, als wenn sie fürchtete, geschlagen zu werden, die Schüssel mit dem Hühnerfleisch fort, und ging damit auf die Küchentür zu. „Ja, aber …“ stammelte sie. „Ja, aber …“
Wilhelm Holzboer leerte ein großes Glas Sprudel in einem Zug, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und goß sich gleich wieder ein.
Juliane hatte schon damit begonnen, aus der bauchigen Suppenterrine Erbsensuppe in die Teller zu füllen, die vor ihr aufgestapelt standen. Sie reichte den ersten Wilhelm Holzboer hinüber.
Er wartete nicht, bis die anderen ihre Mahlzeit hatten, sondern begann sofort gierig zu löffeln. „Ätzezupp, dat is jut. Wer hat denn dat jekocht? Dat schmeckt jagroßartig.“
„Frau Bärlein“, sagte Juliane und teilte weiter Suppe aus.
„Siehst du, Kindchen, dat is ’n Essen für ’nen Mann der den janzen Tag schwer arbeitet. Kannste dat nicht verstehn? Mit so ’nem jeschmacklosen Hühnerfleisch kannst du doch kein Hund hinter dem Ofen vorlocken.“
„Das hatte ich auch nicht vor, Vater.“
„So … hattest du nicht?“ Er beobachtete sie lauernd über seinen Löffel hinweg.
„Nein, Vater.“
„Warum läßt du mir dann so’n Zeugs auf den Tisch stellen? Oder war es etwa die Tante, die …“
„Nein, Vater, die Tante ist vollkommen unschuldig daran. Wenn du es für richtig hältst, dann kannst du mich ausschimpfen.“
„Dat han ich mir jedacht, Kind. Du kannst mich nicht schnell jenug im Grab sehn, wat? Machi nicht so’n Jesicht, sonst muß ich dir eine knallen! Denkt ihr, ich weiß nicht, wat ihr euch wünscht? Ihr seht mich lieber dot als lebendig, ihr alle miteinander!“
„Wenn das so wäre, brauchte ich mir nicht soviele Mühe mit deiner Diät zu geben.“
„Diät! Wenn ich das schon höre.“
„Doktor Vogelsang hat sie dir verordnet.“
„Dieser alte Idiot!“
Die Tante war zum Tisch zurückgekehrt und begann hastig ihre Suppe zu löffeln, so, als wenn sie Angst hätte, daß die anderen ihre Portion mit aufäßen. Niemand sagte ein Wort. Es war nichts zu hören, als das Klappern der Löffel und das schlürfende Geräusch, mit dem Wilhelm Holzboer seine Suppe hinuntersog.
„War et eine schöne Leich?“ versuchte die Tante, ein Gespräch in Gang zu bringen.
„Dat kann man wohl sagen“, erklärte Wilhelm Holzboer.
„Ich wunderte mich, dat ihr alle so schnell zu Hause wart.“
„Vater ist einfach gegangen …“ sagte Christiane.
„Wat, Wilhelm, du bist jejangen?“
„Ja, wat denn sonst? Meinst du, es hätt’ mir Spaß jemacht, mich vor diesem Volk zum Popanz machen zu lassen?“
„Aber, Vater! Die Leute haben es doch gut gemeint. Es ist nun mal so Sitte, daß man bei einer Beerdigung konduliert“, sagte Juliane.
„Pah, glaub’ ich nicht, dat die et jut jemeint haben. Die wissen janz jut … ich han mehr Jeld als die all zusammen.“
„Ich fürchte, Vater, du hast die Leute schrecklich beleidigt, weil du so schnell gegangen bist“, sagte Christiane.
„Die und beleidigt? Die kann man gar nicht beleidigen, Kind.“
„Meinst du wirklich?
„Ja, dat mein ich. Die leben ja alle von unserem Jeld.“
„Sicher, Vater“, sagte Juliane, „aber ich glaube, sie tun es nicht gerne.“
„Wer zwingt sie denn dazu? Ich etwa?“
„Ich will dir keinen Vorwurf machen, Vater …“
„Dat hätt noch jrad jefehlt. Ich will dir mal wat sagen, Kind, dat janze Volk hier is eine Bagage, dat sage ich! Denen is es janz ejal, ob du sie mit dem Stiebei in den Hintern trittst, wenn sie dann bloß mit der Nase ins Jeld fallen.“
„Dat ist aber doch schad, Willem“, sagte die Tante, „so he schöne Leich. Bei uns zu Hause …“
Der junge Wilhelm, der bis jetzt lustlos in seiner Suppe gestochert hatte, unterbrach sie. „Könnten wir nicht zur Abwechslung mal von etwas anderem sprechen?“ sagte er heftig.
Wilhelm Holzboer wandte sich ihm zu. „Wat soll dat heißen? Paßt es dir etwa nicht, von was wir reden?“
„Ich finde …“ begann der junge Wilhelm, aber er stockte mitten im Satz, Christiane hatte ihn unter dem Tisch heftig gegen das Schienbein getreten.
„Ärgere dich nicht, Papa.“ Sie benutzte bewußt das Kosewort aus der Kinderzeit und lächelte ihrem Vater herzlich zu, „Wilhelm ist ein bißchen durcheinander von der Beerdigung und dem allen. Er redet nur so daher.“
„Dat will ich hoffen.“
„Es war ja auch überwältigend, nicht wahr, Papa?“ fuhr Christiane mit ihrem schönsten Lächeln fort. „All die vielen Menschen, ich glaube, die halbe Stadt war auf dem Friedhof. Wenn der Bürgermeister selber sterben würde … so viele Leute wie bei Mutter kämen bestimmt nicht.“
„Das gehört sich auch so“, sagte Wilhelm Holzboer befriedigt.
„Es war ein richtiges Volksfest“, redete Christiane weiter, um den Vater in gute Laune zu bringen.
„Dat kann man wohl sagen. Und der Philipp Wisbert mittendrin. Der hat sich wohl auch jedacht, er kann sich von meinem Jeld ’nen juten Tag machen, wie?“
„Er wird bestimmt heute nachmittag wieder im Büro sein“, sagte Juliane.
„Dat möcht ich auch jehofft han!“ Wilhelm Holzboer stieß seinen leeren Teller von sich. „Und was jibt’s jetzt Jutes?“
„’ne Schokoladenspeis, Willem“, sagte die Tante und stand auf.
„Her mit dem Zeugs.“
„Vater … du weißt ganz genau …“ begann Juliane.
„Dat stimmt“, unterbrach Wilhelm Holzboer sie. „Ich weiß janz genau, was mich schmeckt … und wat mich schmeckt, bekommt mich auch …“
„Doktor Vogelsang hat gesagt, Süßigkeiten sind Gift für dich.“
„Bleib mir vom Leib mit dem! Oder willst du mich bös machen, Hinkebein?“
„Nein, Vater.“ Julianes Stimme klang tonlos. Sie verteilte die süße Nachspeise, die die Tante inzwischen hereingebracht hatte, auf die kleinen Dessertteller und duldete es regungslos, daß ihr Vater einen zu sich zog.
Wilhelm Holzboer aß schmatzend und mit bestem Appetit.
„Hör mal, Papa“, wagte Christiane einen Vorstoß, als sie sah, wie es dem Vater schmeckte, „kann ich wohl am Samstag frei kriegen?“
„Wo du dich von der Arbeit drücken kannst …“
„Nein, ich hol’s nach, ganz bestimmt! Ich müßte bloß dringend nach München!“
„Wat willst du denn da, Kind?“
„Ich habe gar nichts anzuziehen, Vater, nichts Schwarzes, meine ich … und in diesem Kaff hier ist wirklich nichts zu kriegen. Ich muß unbedingt …“
Wilhelm Holzboer hob abwehrend die Hand, er starrte einen Augenblick wie geistesabwesend über sie hinweg, dann strahlte sein Gesicht auf, und er sagte: „Menschenskind, dat is ’ne Idee!“
„Darf ich?“ fragte Christiane erfreut.
„Nun paß mal auf, Kind. Wat passiert, wenn plötzlich jemand stirbt? Man braucht schwarze Kledasch, und zwar schnell. Woher kriegt man die? In der Stadt jeht man ins nächste beste Kaufhaus, dat is klar. Aber auf dem Land, in den Dörfern, in den kleinen Käsekaffs? Wißt ihr wat, dat kann ein jroßes Jeschäft werden. Wie wär et, Juliane, denk mal nach … wie wäre et, wenn wir ’ne Expreßgutabteilung für Trauerfälle bei uns anjliedern würden? Zwei Seiten im Katalog für Trauerkleidung von Mann, Frau und Kind, auf telejrafische Bestellung hin wird das Zeugs sofort frei Haus jeliefert?“
„Ich fürchte, Vater …“ begann Juliane.
Der junge Wilhelm erhob sich brüsk. „Das ist ja zum Kotzen!“ Er schmetterte seinen Löffel in den Teller, den er kaum angerührt hatte. Die Schokoladenspeise spritzte hoch.
„Wat fällt dir denn ein, Jung?“
„Helm!“ rief Christiane. „Benimm dich!“
„Setz dich sofort wieder hin!“ befahl Juliane.
„Ach, laßt mich doch in Ruhe … ihr!“ Der junge Wilhelm rannte aus dem Zimmer und warf die Tür hinter sich ins Schloß.
„Nu möcht ich bloß mal wissen, was in den jefahren is!“ sagte Wilhelm Holzboer, mehr verblüfft verärgert. „Könnt ihr erklären, wat der hat?“
Es war kurz nach Mittag.
Der junge Wilhelm Holzboer hatte sich umgezogen. Er trabte in Skihosen, schweren Schuhen und Rollkragenpullover, die Schlittschuhe an einem Riemen über die Schulter gehängt, zum „Großen Loch“ hinaus, dem Weiher vor der Stadt, auf dem die Schuljugend von Leuchtenberg im Winter Schlittschuh zu laufen pflegte. Seine Hände, die er zu Fäusten geballt hatte, waren vor Kälte gerötet, sein blonder Schopf leuchtete.
„Kaum, daß die Mutter unter der Erde ist …“sagte Frau Willkommner, die gerade eine Kundin aus dem Geschäft gelassen hatte und dabei einen Blick auf die Straße warf.
„Wer?“ fragte Zenzi, das Ladenmädchen, neugierig.
„Wer schon! Der junge Holzboer natürlich.“
Zenzi zuckte die Achseln und machte sich weiter daran, Konservendosen auf dem Bord einzuräumen. „Die sind halt so …“
Der junge Wilhelm hatte keine Ahnung, von der Mißbilligung, mit der man sein, Tun und Lassen in der kleinen Stadt beobachtete. Wenn er es gewußt hätte, wäre es ihm gleichgültig gewesen. Er war überzeugt, daß er schon so genug Probleme hatte, ohne daß er sich um das Gerede der Leute kümmerte.
Auf dem „Großen Loch“ herrschte buntes Treiben. Das Eis war grau und weich, von flachen Pfützen bedeckt, die sich langsam aber ständig vergrößerten. Jeder wollte diesen Tag, der vielleicht der letzte Eislauf des Jahres war, bis zur Neige genießen. Die Oberprimaner, Wilhelms Klassenkameraden, die sich mit betontem Hochmut von den Jüngeren zurückhielten, johlten Wilhelm nicht wie gewöhnlich zu. Er war drei Tage nicht in der Schule gewesen, und der Tod seiner Mutter machte sie befangen. Sie wußten nicht, ob sie über diese Tatsache einfach zur Tagesordnung übergehen könnten, oder ob Wilhelm von ihnen erwartete, daß sie ihm kondulierten.
Er half ihnen. „Der Wetterbericht meldete einen neuen Kälteeinbruch“, sagte er beiläufig, während er sich in der Nähe von Sepp und Toni, die am Rande des Weihers eine Zigarette rauchten, seine Schlittschuhe anschnallte.
„I glaub a, ’s wird heut nacht schneien“, stimmte Toni ihm sofort erleichtert zu.
„Du kannst meine Hefte einsehen, wannst willst“, erbot sich Sepp.
„Hast du sie bei dir?“
„Na … z’haus.“
„Ich komm heute abend vorbei.“
Sepp hielt Wilhelm seine Zigarette hin, er tat zwei Züge und reichte sie zurück.
„Dann, bis nachher.“
Wilhelm stieß sich mit ein paar kleinen Stößen ab, dann sauste er in die Mitte des Eislaufplatzes, daß das Wasser vor seinen Schlittschuhen aufspritzte. Er hatte Erika Bogdan längst entdeckt, ihr brauner, lockiger Pferdeschwanz wehte aus ihrer korallenroten Strickmütze heraus, während sie Hand in Hand mit ihrer Freundin Anni Kreise und Bogen auf dem grauen Eis zog. Er wußte, daß auch sie ihn längst bemerkt hatte, aber einem ungeschriebenen Gesetz unter der Jugend Leuchtenbergs folgend, wartete sie ab, daß er zu ihr kam. Ein Mädchen, das sich einem Jungen näherte, auch wenn die beiden noch so gut befreundet waren, galt als „aufdringlich“.
Er war den beiden Freundinnen bis auf wenige Schritte nahe gekommen, als Anni plötzlich Erikas Hand los ließ, ihr einen Stoß von hinten gab, so daß sie gegen Wilhelm prallte. Lachend stob Anni davon.
„Erika “, sagte er und hielt sie an den Schultern fest, „Erika.“
In ihren braunen, runden Augen blitzten nicht wie sonst die goldenen Fünkchen auf, wenn sie ihn ansah. Sie schlug die Wimpern nieder, ihre Lippen bebten.
„Was ist?“ fragte er erstaunt.
„Ach, nichts …“
Er zog seinen Arm unter ihren, ihre Hände klammerten sich ineinander, und sie begannen im gleichen Rhythmus über das Eis zu gleiten.
„Hat dich Dr. Werner wieder gepiesackt?“ fragte er.
„Nein …“
„Ach so, du bist mir böse, daß ich gestern und vorgestern nicht gekommen bin. Aber du weißt doch genau …“
„Ich habe jeden Tag auf dich gewartet.“
„Ich konnte nicht kommen, das hättest du wissen müssen“, sagte er ärgerlich.
„Ich … ich habe so auf dich gewartet.“
„Das war schön dumm von dir.“
„Ich weiß, daß ich sehr dumm bin …“ sagte sie leise.
Eine Weile glitten sie schweigend über das Eis. Der Weiher war nicht sehr groß, und es wimmelte nur so von Kindern. Immer wieder mußten sie ausweichen. Die Luft war erfüllt von Schreien, Lachen, Johlen und Schimpfen. Und dennoch hatte Wilhelm plötzlich das Gefühl, als wenn er und Erika ganz alleine auf der Welt wären, als wenn sie in einer wunderbaren unendlichen Einsamkeit durch weite Räume schwebten.
„Ich kann wirklich nichts dafür, Erika“, sagte er.
„Das weiß ich doch …“
„Warum bist du dann so?“
„Ich … du verstehst mich nicht, ich wollte dir nur sagen, wie es war … ich will dir doch keinen Vorwurf machen.“
„Du bist mir also nicht böse?“
„Nein …“
„Dann ist ja alles gut.“
Sie blieb mit einer so scharfen Wendung stehen, daß ihre Schlittschuhe hart über das Eis kratzten.
„Nichts ist gut.“
Er starrte sie verständnislos an.
„Ich … ich hatte dir etwas sagen wollen … aber es hat ja doch keinen Zweck. Wir wollen Schluß machen, ja? Das ist bestimmt das Vernünftigste.“
„Erika! Bist du verrückt geworden?“
„Nein, ich bin ganz vernünftig.“
„Wenn du mir nicht sofort sagst, was los ist …“
„Ich kann nicht …“
„Du mußt. Denk an unseren Schwur.“
„Das ist etwas ganz anderes. Ich muß allein damit fertig werden.“
„Na schön. Aufdrängen will ich mich nicht. Vielleicht hast du jemand anderen gefunden, der dir besser gefällt, dann … viel Glück!“ Er bohrte seinen Schlittschuh ins Eis und schwang sich herum.
„Helm!“ rief sie, schoß hinter ihm her und klammerte sich an seinen Arm. „Helm, du kannst mich doch nicht einfach stehenlassen.“
„Wer hat denn wen stehenlassen?“
„Ich bin so verzweifelt.“
Große, helle Tränen begannen neben ihrer Stupsnase herabzulaufen.
„Mach bloß kein Theater hier. Oder willst du, daß alle uns auslachen?“
„Ich glaube, ich bekomme ein Kind, Helm.“
Es war Wilhelm, als wenn das Eis unter seinen Füßen auseinanderbräche und er in einen dunklen, eisigen Abgrund geschleudert würde. Er stand da, die Lippen aufeinandergepreßt, die Augenbrauen zusammengezogen und starrte Erika Bogdan an.
„Dann werden sie uns erst auslachen“, sagte sie.
„Nein!“ brüllte er. „Nein!“ – Er achtete nicht darauf, daß neugierige Blicke sich auf sie richteten.
„Was soll ich nur tun, Helm?“
„Ist es wahr? Bist du sicher, daß es wahr ist?“
„Ich glaube …“
„Warst du bei einem Arzt?“
„Bei wem?“
„Ja, ich weiß … natürlich nicht … Erika, mein Gott, es ist … entschuldige, nur … es kommt so schrecklich überraschend.“
„Für mich auch, Helm.“
„Ich weiß, natürlich. Ich muß nachdenken. Wem hast du davon erzählt?“
„Niemanden.“
„Auch deiner Mutter nicht?“
„Mutter? Die würde … ich weiß nicht, was die tun würde.“
„Und Anni?“
„Natürlich nicht.“
„Sie ist doch deine Freundin … und ich dachte, Freundinnen erzählen sich alles.“
„So was nicht, Helm.“
In sein Gesicht, das vor Schreck kalkweiß geworden war, war das Blut wieder zurückgekehrt. Er legte seinen Arm um ihre Schultern. „Komm, wir müssen hier weg, irgendwohin, wo wir allein sind … wo wir über alles reden können.“
„Was soll das für einen Sinn haben?“
„Wir müssen nachdenken.“
„Ich habe nachgedacht, Helm … Tag und Nacht.“
„Und?“
„Es gibt keinen Ausweg.“
„Unsinn. Es gibt immer einen Ausweg. Verflucht noch mal, wenn wir bloß Geld in der Hand hätten.“
„Wir hätten, das eben nicht tun dürfen …“
„Ich hätte es nicht tun dürfen, willst du wohl sagen.“
„Es ist meine Schuld … und ich wollte dir doch nur zeigen, wie sehr ich dich liebe. Und jetzt …“
„Jetzt bekommen wir ein Kind. Vor allen Dingen mußt du jetzt sehr vorsichtig sein, Erika … nicht mehr Schlittschuhlaufen und so etwas. Ich habe gelesen, das soll nicht gut sein, in deinem Zustand.“
„Helm!“
„Was starrst du mich so an?“
„Du bist mir nicht … böse?“
„Wir werden heiraten, Erika. Nicht jetzt gleich, das werden sie uns nicht erlauben. Aber wir werden heiraten, eines Tages. Ich habe dich immer heiraten wollen. Ich habe es bloß nicht gesagt, weil es albern war. Aber ich werde dich heiraten … das schwöre ich dir.“
*
Wilhelm Holzboer und Juliane durchschritten nebeneinander mit den gleichen kurzen, zielbewußten Schritten den Fabrikhof, in dem schmutzige, trübe Schneepfützen standen.
Das Versandhaus „Jedermann“ war in einer alten Holzverarbeitungsfabrik untergebracht, deren altmodische und weitläufige Gebäude als Konkursmasse an die Stadt gefallen waren. Der alte Holzboer hatte sie vor sieben Jahren, als er für sein Warenversandhaus einen größeren Raum brauchte, für wenig Geld von der Stadt gepachtet. Damals hatte es noch bei weitem ausgereicht, allen Angestellten und Arbeitern einen Arbeitsplatz zu bieten. Im Laufe der Zeit aber war es, im gleichen Maße, wie sich der Vertriebsbereich des Geschäftes und das Warenangebot vergrößerte, der Raum immer knapper und knapper geworden. Jetzt glich das alte Gebäude, dessen hygienische Einrichtungen von Anfang an unzulänglich gewesen waren und an dem im Laufe der Jahre nur die notwendigsten Reparaturen durchgeführt worden waren – Wilhelm Holzboer behauptete, daß es Pflicht der Stadt als Vermieter sei, es in Stand zu halten – mehr und mehr einem „Ameisenbau“, wie Christiane einmal gesagt hatte.
Nur ein Eingeweihter fand sich noch darin zurecht. Die einzelnen Abteilungen waren ineinandergeschachtelt, die Büroräume waren nur durch die Packräume zu erreichen, die Werbeabteilung befand sich hoch unter dem Dach, wo es im Sommer glühend heiß war, im Winter durch alle Fugen zog. Die Waren mußten mit Handkarren von einer Abteilung zur anderen gebracht werden, die breiten Treppen waren zur Hälfte auszementiert, so daß diese Karren hinauf- und hinuntergeschoben werden konnten, eine mühselige Arbeit, unter der die Männer keuchten und die viel Zeit verschlang.
All diese Unzulänglichkeiten hätten Wilhelm Holzboer jedoch nicht gestört, wenn die Last und Unbequemlichkeit von seinen Arbeitnehmern hätte getragen werden müssen, tatsächlich verteuerten sich dadurch zwar nicht die Herstellungskosten – außer dem Ressort Bekleidung wurden alle Waren vom Großeinkauf fertig bezogen – aber doch die Auslieferung. Was ihn am meisten störte, war die Unübersichtlichkeit des alten Gebäudes, in dem es Faulenzern leicht gelang, sich in Ecken, Winkeln und Nischen eine Zigarettenpause zu verschaffen oder die Gelegenheit zu einem ausgiebigen Tratsch. Die Unruhe, daß die Leute sich für „sein Geld“ eine angenehme Zeit machten, trieb ihn oft zehnmal am Tag durch alle Abteilungen, und wehe dem, den er nicht an seinem Arbeitsplatz vorfand.
Die Arbeiterinnen sahen nicht auf, als Wilhelm Holzboer, gefolgt von Juliane, in den Packraum stampfte. Er hatte es streng verboten, ihn zu begrüßen, weil er darin nichts als einen Zeit- und Arbeitsverlust sah.
„Na, Bogdan“, sagte er zu dem älteren Expedient, der das Umladen der Waren überwachte, „alles in Ordnung?“
„Jawohl, Chef!“ Bogdan hob salutierend die Hand zur Mütze. „Bloß …“
„Na, reden Sie schon!“
„Ich weiß ja nich, ob Sie det jern hören, Chef … aber det neue Verpackungsmaterial is unter aller Kanone!“ – Bogdan war seinerzeit mit den Holzboers aus Berlin nach Leuchtenberg gekommen. Er hatte schon im alten Kaufhaus „Jedermann“ gearbeitet, und er war einer der wenigen, von denen Wilhelm Holzboer ein offenes Wort vertrug.
„Sie geben sich keine Mühe, Bogdan!“
„Wir tun, wat mir können, Chef … aber, wenn ick Ihnen sage, det jeht nich. Det Zeugs reißt einem zwischen die Finger kaputt!“
„Ich habe dir ja gesagt, Vater …“ mischte sich Juliane ein.
„Wat hast du mir jesagt?“
„Es hat keinen Zweck, am Verpackungsmaterial zu sparen. Wenn die Ware nicht unbeschädigt an den Empfänger kommt, haben wir nur Ärger und Verluste, die in keinem Verhältnis zu dem gesparten Geld stehen.“
„Is doch schön, Bogdan, wenn man ’ne Tochter hat, die allet besser weiß, wat?“
„In diesem Punkt, Chef, muß ich dem Fräulein Juliane recht jeben!“
„Und wat würden Sie sagen, Wenn Ihre Tochter so ’n jroßes Maul hätte?“
„Det hat unsere Erika auch, Chef … det is eben so bei die jungen Leute, da muß man sich dran jewöhnen!“
„Na, Juliane, dann schreib mal an die Firma Tingelmann und sieh zu, wie du die Sache in Ordnung bringst! Ist schon alles von dem neuen Verpackungsmaterial ausjeliefert?“
„Nein, Vater … bis gestern abend jedenfalls noch nicht.“
„Dann telejrafier am besten gleich und stopp den Auftrag, verstanden?“
„Ja, Vater …“
„Machen Se et jut, Bogdan“, rief er dem alten Expedienten zu, der sich schon wieder seiner Arbeit zugewandt hatte.
„Immer, Chef!“
Wilhelm Holzboer hatte sich schon abgewandt. Er stapfte, gefolgt von Juliane, in die Büroräume hinauf.
*
Gleich von der Beerdigung aus war Philipp Wispert in sein Büro geeilt. Er hatte weder zu Mittag gegessen noch sich umgezogen, sondern er hatte sich gleich wieder in die Arbeit gestürzt, um die Zeit einzuholen, die er durch die Beerdigung verloren hatte.
Das Zimmer, in dem Philipp Wispert von morgens sieben Uhr bis nachmittags um fünf als Prokurist des Versandhauses „Jedermann“ tätig war, glich einem dreckigen, unfreundlichen Loch. Das Fenster, das aus vielen winzig kleinen Scheiben zusammengesetzt war, bot genügend Licht, um den kleinen Raum zu erhellen, aber es war seit langem verklemmt und ließ sich nicht mehr öffnen, so daß Wispert die Tür aufmachen mußte, wenn er frische Luft hereinlassen wollte.
Er tat das nur sehr selten, denn er liebte es, allein zu sein.
Nicht, daß er die Einsamkeit benutzte, um zu träumen oder zu faulenzen – beides lag nicht in seiner Natur – aber er war glücklich, wenn er den Umgang mit seinen Arbeitskollegen auf das Notwendigste beschränken konnte, weil er sie alle für kleine Geister, „für durch und durch medioker“, um seinen Lieblingsausdruck zu gebrauchen, hielt. Sie kamen fast alle aus kleinen oder bürgerlichen, die meisten aus kleinbürgerlichen Verhältnissen und hatten sich in den Bürodienst hinaufgearbeitet, während für Philipp Wispert die Stellung eines Prokuristen fast eine Erniedrigung bedeutete. Er war in dem Glauben aufgewachsen und erzogen worden, die angesehene Firma seines Vaters zu erben, aber bevor es noch soweit war, ging sie in Konkurs. Philipp hatte gewußt, daß der alte Holzboer an dieser Entwicklung der Dinge nicht unschuldig war, trotzdem hatte er die Möglichkeit, in seinen Betrieb einzutreten, mit beiden Händen ergriffen. Schon hundertmal hatte er diesen Sichritt bereut, aber immer dann, wenn er soweit war, zu kündigen, hatte Wilhelm Holzboer es verstanden, ihn mit unverbindlichen Versprechungen, angedeuteten Aussichten und betonter Herzlichkeit wieder dorthin zu bringen, wo er ihn haben wollte.
Jetzt war Wispert sehr konzentriert dabei, die Posteingänge des heutigen Tages zu prüfen – er führte die verzweigte Korrespondenz mit den Lieferanten der Firma „Jedermann“, als sich die Tür öffnete und Christiane hereinschlüpfte.
„Philipp!“ rief sie.
Noch ehe er sich erheben konnte, war sie bei ihm, schlang ihren Arm um seinen Nacken und bot ihm die Lippen.
Er küßte sie flüchtig, schob sie dann gleich wieder von sich. „Wie unvorsichtig, Christiane!“
„Ach, bist du langweilig.“
„Ich bin nicht langweilig, Christiane, ich bin nur vorsichtig.“
„Ein Feigling bist du!“
Er begann sich nervös die Ärmelschoner abzuziehen, die er über seinen guten, schwarzen Anzug gezogen hatte. „Wenn du nur gekommen bist, um mich zu beschimpfen …“
„Aber, Philipp! Den ganzen Tag habe ich mich nach dir gesehnt … das kannst du dir doch denken … den ganzen Vormittag und die ganze Nacht. Ich eile auf Flügeln der Liebe zu dir, um dich mit der freudigen Uberraschung zu beglücken, daß wir am Wochenende zusammen nach München können … ich habe Vater weisgemacht, d^ß ich mir noch Trauerkleidung besorgen muß … ich freu mich wie ein Kind … und dann bist du so!“
„Ich bin nicht so, Liebling …“
Sie lachte. „Wenigstens dein Liebling bin ich noch … das ist doch etwas.“
„Es tut mir leid, daß du mich für einen Feigling hältst. Christiane.“
„Nein. Dafür halte ich dich doch gar nicht.“
„Du hast es aber selber eben gesagt.“
„Ach, sei doch nicht so schrecklich pedantisch. Wenn man sich ärgert, sagt man eine Menge Dinge, die man gar nicht so meint.“
„Du weißt genau, wie vorsichtig wir sein müssen, Liebling. Stell dir vor, wenn dein Vater jetzt plötzlich hereinkäme.“
„Er kommt aber nicht.“
„Weißt du das ganz genau?“
„Natürlich. Er klettert mal wieder mit Juliane in dem langweiligen alten Neubau herum, und das arme Ding zittert natürlich die ganze Zeit, daß sie ins Stolpern gerät.“
„Das klingt ein bißchen herzlos.“
„So? Findest du? Dir tut Juliane wohl leid?“
„Ja … dir etwa nicht?“
„Kein bißchen. Wie man sich bettet, so liegt man … das solltest du doch am besten wissen!“
„Was willst du damit sagen?“
„Oh, nichts, gar nichts!“
„Du weißt, wie sehr ich dich liebe, Christiane, aber manchmal …“
Sie wandte sich ihm wieder zu, lächelte strahlend und verlockend zu ihm auf. „Liebst du mich wirklich?“
„Natürlich.“
„Natürlich ist keine Antwort. Sag ja oder nein!“
„Ja oder nein.“
„Du bist wirklich gräßlich.“ Sie legte ihren kleinen blonden Kopf wie schutzsuchend an Philipps Schulter. „Sag, daß du mich liebst … sag, daß du dich auf Samstag freust.“
„Du weißt doch genau, daß ich dich liebe, Christiane, nicht wahr? Aber grade, weil ich dich liebe, muß ich dir immer wieder sagen, du mußt vorsichtiger sein. Wenn dein Vater irgend etwas von linserer … nun ja, von unserer Liebe merkt, dann …“ Er stockte.
Sie blickte ihn an. „Was ist dann?“
„Das weißt du selber ganz genau.“
„Du meinst, er wird dich rauswerfen?“
„Wahrscheinlich.“
„Wäre das so schlimm? Du könntest doch irgendwo anders auch eine Stellung bekommen. Ich würde mit dir kommen und wir würden heiraten.“
„Du redest wie ein Kind.“
„Ich rede wie eine Frau, Philipp.“
„Es ist ja auch gut möglich, daß er sich etwas anderes ausdenkt … er könnte zum Beispiel dich fortschicken, Christiane, hast du daran noch nie gedacht?“
„Mich?“
„Ja. Nach München … oder zu euren Verwandten ins Rheinland. Oder zu irgendeinem Geschäftsfreund …“
„Und du meinst, davor soll ich mich fürchten? Philipp, was bist du doch für ein Esel. Ich wäre ja heilfroh, wenn ich endlich von hier wegkäme.“
„Und ich?“
„Du gehörst nicht zu Wilhelm Holzboers Familie, du kannst sowieso tun und lassen, was du willst. Du kannst mit mir kommen, du kannst aber auch bleiben. Du bist ein freier Mensch, Philipp.“
„Ein freier Mensch – zunächst ohne Stellung, wenn dein Vater mich rauswirft.“
„Aber das kann doch nicht so weitergehen mit unserer blödsinnigen Heimlichtuerei! Philipp, ich bitte dich … wir können doch nicht bis ans Ende unserer Tage ein heimliches Liebespaar bleiben.“
„Nicht bis ans Ende unserer Tage, aber vorläufig. Was bleibt uns denn sonst übrig?“
„Das fragst du? Du könntest doch zum Beispiel zu Vater hingehen und ihm sagen, wie es um uns steht und daß du mich heiraten willst.“
„Christiane!“
„Was ist denn schon dabei? Millionen junge Männer haben Millionen Väter schon gefragt, ob sie ihre Tochter heiraten dürfen. Den Kopf wird es dich nicht kosten.“
„Ich bitte dich, Christiane. Du weißt genauso gut wie ich, daß das Wahnsinn wäre.“
„Das weiß ich nicht“, sagte sie verstockt.
„Du kennst doch, deinen Vater. Du hast mir doch selber erzählt, wie es Juliane ergangen ist. Es hat doch auch Männer gegeben, die um ihre Hand angehalten haben, nicht wahr? Und was hat dein Vater dazu gesagt … was hat er getan?“
„Ich bin nicht Juliane.“
„Nein, aber du bist genau wie sie seine Tochter … eine Tochter Wilhelm Holzboers …“
„Aber du bist Philipp Wispert, das scheinst du gar zu vergessen … kein Zeitungsschreiber und kein akademischer Maler. Du bist Prokurist unserer Firma. Vielleicht wird Vater sich sogar freuen, wenn du ihm sagst, daß wir heiraten wollen.“
„Glaubst du das wirklich?“
Sie schwieg einen Augenblick. Dann senkte sie den Kopf. „Nein“, sagte sie leise.
Sie fuhren auseinander, als die Tür aufgerissen wurde, Wilhelm Holzboer stampfte herein, gefolgt von Juliane. In seiner Verwirrung stieß Philipp Wispert gegen die schwere Unterschriftenmappe, die polternd zu Boden schlug.
„Wie oft han ich Ihnen jesagt, Wispert, dat Se nich aufspringen solln wie ’n Hampelmann, wenn ich reinkomme?“ dröhnte Wilhelm Holzboer.
„Bitte, entschuldigen Sie, Herr Holzboer … ich war so in die Arbeit vertieft, daß ich …“
Juliane versuchte, die Tür hinter sich zuzumachen, aber der Raum war so klein, daß die vier Menschen darin keinen Platz fanden. Christiane wäre gerne hinausgeschlüpft, aber der Vater versperrte ihr den Durchgang.
„Worauf warten Se noch, Wispert? Heben Sie dat Buch schleunigst auf … oder soll ich etwa ..?“
„Entschuldigen Sie, Herr Holzboer … ich dachte nur..“ Philipp Wispert, der sich gescheut hatte, sich zu bücken, um keine komische Figur zu machen, beugte sich rasch nieder und legte die Unterschriftenmappe wieder auf den Schreibtisch.
„Dat is es jrade, weshalb ich mit Ihnen sprechen wollt, Wispert. Sie denken zuviel! Wat haben Se sich zum Beispiel dabei jedacht, dat Se heute morjen auf dem Friedhof erschienen sind?“
„Ich hielt es für meine selbstverständliche Pflicht’ …“
„Ihre Pflicht ist es, hier zu arbeiten, Wispert, dat Se es nur wissen. Ich bezahle Se nich, damit Se Ihre Zeit auf dem Friedhof vertrödeln.“
„Ich wollte, Herr Holzboer … die verstorbene Frau Holzboer …“
„Ich weiß, ich weiß. Sie han se karessiert. Dat war jut und schön, soweit Se dabei jearbeitet haben. Aber Trödelei während der Arbeitszeit dulde ich in meinem Betrieb nicht, verstanden?“
„Jawohl, Herr Holzboer!“
„Dat Se heute abend Überstunden machen, dat is Ihnen doch klar? Oder wollen Se, dat wir et Ihnen vom Gehalt abschreiben?“
„Nein, nein, Herr Holzboer, natürlich hatte ich sowieso vor, die verlorenen Stunden einzuholen.“
„Dat freut mich. Damit nur keine Mißverständnisse entstehen … Sie sind zwar der Sohn meines juten Freundes Wispert, aber zu unserer Familie gehören Se nicht … auch wenn Se mit die Mädchens schön tun.“
„Ich hätte nie gewagt …“
„Dann is et ja jut.“ Wilhelm Holzboer wandte sich Christiane zu. „Und du? Wat hast du hier zu suchen, Kind?“
„Ich … ich wollte mit Wispert sprechen“, stotterte Christiane, dann fügte sie rasch hinzu: „Wegen der Expreßgutabteilung für Trauerfälle, Vater.“
„Wat du nich sagst. Nu passe mal auf, Kind … ein für allemal … wenn du schon selber nicht arbeiten willst ..“
„Vater!“ protestierte Christiane.
„… dann halt wenigstens die anderen nicht auf. Schreib dir das hinter die Ohren, sonst kannste mal wat von deinem alten Papa erleben!“
„Ich habe bestimmt nicht, Vater …“
„Stehst du noch immer da rum? Du jlaubst wohl, du kannst für mein jutes Jeld die Zeit totschlagen, wat?“ Die Zornesader auf Wilhelm Holzboers Stirn schwoll bedrohlich an.
„Komm schon, Christiane!“ Juliane faßte ihre Schwester bei der Hand und zog sie mit hinaus auf den Flur.
„Hierbleiben!“ donnerte Wilhelm Holzboer.
Erschrocken blieben die beiden Mädchen stehen.
„Dich mein ich, Hinkebein! Du wolltest doch mit dem Wispert sprechen, oder … ?“
Juliane errötete. „Ja, Vater“, sagte sie leise.
„Na also … Verstand wie ’n Huhn!“ – Genauso abrupt wie er gekommen war, wollte Holzboer hinausstapfen.
„Herr Holzboer!“ rief Wispert.
„Noch etwas?“ Wilhelm Holzboer wandte sich ärgerlich um.
„Ein Zufallj Herr Holzboer, man hat mir eine kleine Münze in die Hände gespielt … und ich dachte … wenn Sie sich vielleicht dafür interessieren …“
„Lassen Sie sehen!“
Philipp Wispert zog aus seiner Hosentasche ein kleines Kästchen, klappte es auf, eine goldene Münze glänzte auf schwarzem Samt.
Wilhelm Holzboer beugte sich darüber, in seinen Augen stand unverhohlene Gier. „Janz schön“, sagte er gleichgültig.
„Siebzehntes Jahrhundert, Herr Holzboer.“
„Dat brauchen Se mir nicht zu sagen, dat sehe ich selber. Und wat wollen Se mit dem Ding?“
„Ich dachte, Herr Holzboer, wenn diese Münze vielleicht zufällig in Ihrer Sammlung fehlte …“
Wilhelm Holzboer nahm die Münze aus dem Kästchen, wog sie in der Hand, warf sie in die Luft und ließ sie auf die andere Seite fallen. „Wat soll dat Ding kosten?“
„Dreihundertachtzig.“
„Mann! Sind Sie wahnsinnig? Mehr als dreihundert is et bestimmt nich wert.“
„Der Händler verlangt dreihundertachtzig.“
„Dat kann ich nicht zahlen … dreihundertfünfzig und keinen Pfennig mehr. Für dreihundertfünfzig nehm’ ich sie.“
Er nahm Philipp Wispert das Kästchen aus der Hand, legte die Münze behutsam hinein, schloß es und steckte es in die Hosentasche.
„Aber, Herr Holzboer … sie gehört ja noch gar nicht mir … ich habe sie Ihnen nur mal zeigen wollen … und der Händler verlangt dreihundertachtzig.“
„Dann bestellen Sie ihm ’nen schönen Gruß von mir, mehr als dreihundertfünfzig is dat Ding janz bestimmt nicht wert … und die kann er von mir kriegen …“
Wilhelm Holzboer zückte seine Brieftasche, blätterte sieben zerknitterte Fünfzigmarkscheine heraus, legte sie auf den Schreibtisch. „Hier nehmen Se dat und bringen Se die Sache in Ordnung. Sie sind doch ein Kaufmann, wat? Dann müssen Se auch handeln können. Oder …“
„Jawohl, Herr Holzboer.“
„Und wenn Se nochmals so ’n Ding finden, dann bringen Se es ruhig mir. Ich zahl jute Preise.“ Er schob zur Tür. „Mahlzeit!“
Juliane und Philipp Wispert sahen sich an.
*
Die Morgensonne war dunstig verhangen. Schneewasser tropfte von den Dächern.
Frau Bärlein aß gedankenverloren ihr Butterbrot, während sie einen Brief las, der neben ihrem Teller auf dem Küchentisch lag. Sie hob nur kurz den Kopf, als die Tante das Tablett mit dem Frühstücksgeschirr hereinbrachte. Dann las sie weiter.
„Ach je …“ stöhnte die Tante, „ach je …“ Sie setzte das Tablett neben dem Spülstein ab.
„Mir platzt der Kopf“, fuhr sie fort, als sie sah, daß die Haushälterin nicht reagierte.
„Wir haben Föhn“, murmelte Frau Bärlein, ohne von ihrem Brief aufzusehen.
„Wenn et bloß dat wär!“ Die Tante ließ sich aufseufzend auf einen Küchenstuhl fallen. „Mein Jott … mein Jott …“
„Hat es wieder Ärger gegeben?“
„Dat kann man wohl sagen. Von all die leckren Sächelchen, die wir für ihn jemacht haben, hat er nich ’nen Fitz anjerührt. Kuchen wollt er essen … Marmelade.“
Frau Bärlein lachte. „Das hätte ich Ihnen gleich sagen können.“
„Ich han et Juliane doch auch jesagt … aber dat Kind will und will nich auf mich hören. Sie bildet sich glatt ein, sie weiß allet besser!“
„Sie meint eben, weil der Arzt Herrn Holzboer Diät verschrieben hat …“
„Ja, hat er … aber Willem kümmert sich nich ’nen Deut darum.“
„Ich finde auch eigentlich gar nicht, daß er aussieht wie ein Mann, der Diät leben muß.“
„Doktor Vogelsang …“
„Ich will Ihnen mal was sagen, Tante“ – wie alle hier im Haus, gebrauchte auch Frau Bärlein für die Cousine der verstorbenen Frau Holzboer diese familiäre Anrede – „die Ärzte verschreiben vieles, besonders, wenn es ein Patient ist, der Geld hat. All die verschiedenen Fläschchen und Döschen, die er auf dem Nachttisch stehen hat. Ich muß manchmal lachen, wenn ich da aufräume. Und die Ampullen. Benutzen tut er das Zeug ja doch nur, wenn es ihm gerade einfällt. Wenn unsereiner krank wird, dann heißt es …’, stecken Sie Ihre Füße in kaltes Wasser, teure Medikamente kann die Krankenkasse nicht bezahlen.“
„Ja, ja, das ist schon wahr …“
„An Ihrer Stelle würde ich mir bestimmt keine Sorgen um Herrn Holzboer machen. Der wird hundert Jahre alt, sage ich Ihnen, der überlebt uns alle.“
„Erzählen Sie das mal der Juliane. Das Kind ist ja rein verrückt mit seiner Diät für den Papa. Als ob so ’n bisken Zucker ’nen Mann wie Willem umkippen könnte.“
„Fräulein Juliane ist überhaupt reichlich nervös, nicht wahr?“
Frau Bärlein schob ihren leeren Teller von sich und stand auf. „Ich würde mir von meinem Vater bestimmt nicht soviel gefallen lassen!“
„Das kommt ganz auf den Vater an, Frau Bärlein.“
„Kann schon sein.“
„Jedenfalls wird er es mit der Christiane nicht so leicht haben. Die kommt ganz auf seine selige Mutter – dat war en As auf der Baßjeije!“
„Wie meinen Sie das?“
„Nur so. Man darf doch wohl noch reden?“
„Vielleicht heiratet der Prokurist sie ja.“
„Das wissen Sie auch?“
„Mein Gott, Tante … regen Sie sich doch nicht auf. In so einem kleinen Nest wie Leuchtenberg hört man natürlich allerhand munkeln,“
„Wenn das der Willem erfährt. Gott sei uns allen gnädig.“
Frau Bärlein lachte. „Aber Tante … so schlimm wird’s doch nicht gleich werden. Es ist doch ganz normal, daß ein junges Mädchen …“
„Erzählen Sie das dem Willem. Wenn Sie Mut haben … erzählen Sie das dem Wilhelm.“
Frau Bärlein zuckte mit den Achseln. „Mich geht es ja schließlich nichts an. Wenn ich in alles meine Nase stekken wollte, was in diesem Hause passiert …“
„Was wollen Sie damit sagen?“
„Sie wissen doch genauso gut Bescheid wie ich … oder?“
„Wollen Sie damit auf die Pakete anspielen, die Christiane …“
„Mich geht’s nichts an, ich sagte es ja schon. Aber ich sehe, was ich sehe, und ich weiß, was ich weiß!“
„Mein Gott … der arme Willem. Wenn der wüßte ..!“ Die Tante schlug die Hände zusammen.
„Mir tut er nicht leid, daß Sie es nur wissen. Wenn ich das Geld von Herrn Holzboer hätte, ich wüßte mir eine bessere Beschäftigung, als meine Familie zu tyrannisieren. Sie sehen ja, was er davon hat … betrogen und belogen wird er von allen Seiten. Aber mich geht’s ja nichts an.“
Mit einem Knall stellte Frau Bärlein ihren leeren Teller zu den anderen, sie wollte heißes Wasser in das Spülbecken gießen.
„Nee, lassen Sie das … auf den Schreck muß ich mir erst eine Tasse Kaffee genehmigen.“
„Wenn Sie wollen …“ Frau Bärlein nahm die große Blechkanne, die ständig mit heißem Kaffee gefüllt war, vom Herd.
„Nicht von dem Muckefuck … nee, ich habe mir gedacht, wir machen uns ’ne Tasse guten.“
Frau Bärlein zögerte einen Augenblick. „Ich weiß nicht …“
„Es wär’ ja noch schöner, wenn ich mir nicht mal ’ne Tasse guten Kaffee gönnen könnt. Und überhaupt, sie sind ja alle fort.“
Frau Bärlein holte eine Blechdose aus dem Küchenschrank, schüttete eine Händvoll Kaffeebohnen in die elektrische Mühle und stellte sie an. Die Kaffeemühle surrte los, und die beiden Frauen schwiegen, weil man bei diesem Geräusch hätte schreien müssen, um sich gegenseitig zu verständigen.
Die Küche war groß, düster und altmodisch. Die Möbel, teils alt gekauft, teils aus billigem Holz schnell zusammengeschlagen, waren schäbig. Der blitzblanke Eisschrank, Marke „Jedermann“, das Mixgerät, Marke „Jedermann“, zu dem auch die Kaffeemühle gehörte, und der kleine elektrische Herd, der ebenfalls zum Einkaufspreis aus der Firma „Jedermann“ bezogen war, hatten die optische Wirkung, die Küche wie eine alte Rumpelkammer erscheinen zu lassen, übrigens wurde der elektrische Herd fast nie benutzt, weil hohe elektrische Rechnungen Wilhelm Holzboer immer ein Dorn im Auge waren. Morgen für Morgen mußte Frau Bärlein sich bemühen, in dem großen altmodischen Kohlenherd ein Feuer zu entfachen und während der Hausarbéit alle halbe Stunde in die Küche laufen, um ein paar Holzstücke nachzuschieben, damit das Essen auch am Kochen blieb.
Das veränderte Geräusch in der Kaffeemühle zeigte an, daß die Bohnen durchgemahlen waren. Frau Bärlein stellte die Mühle ab, schüttete das Mehl in eine Steingutkanne, die sie inzwischen vorgewärmt hatte, goß Wasser auf. Sie stellte Untertassen und zwei Tassen auf den Tisch, legte zwei Blechlöffel aus der Küchenschublade dazu, brachte eine angebrochene Büchse Kondensmilch und eine Dose Zucker. Dann schüttete sie sich und der Tante durch ein Sieb Kaffee ein.
Die Tante bediente sich mit Milch und Zucker, dann tat sie einen kleinen, vorsichtigen Schluck und sagte seufzend: „Dat is jut.“
Frau Bärlein nahm ihren alten Platz wieder ein, zog aus ihrer Schürzentasche eine Zigarettenschachtel und zündete sich eine Zigarette an.
Die Tante sah auf. „Daß Ihnen so was schmeckt?“ sagte sie mißbilligend.