Das Grab im Médoc & Der Fluch von Blaye - Maria Dries - E-Book
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Das Grab im Médoc & Der Fluch von Blaye E-Book

Maria Dries

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Beschreibung

Die ersten beiden Kriminalromane um Madame le Commissaire Pauline Castelos erstmals in einem Bundle.

Das Grab im Médoc.

Bienvenue, Madame le Commissaire! 

In der Region Bordeaux häufen sich Einbrüche in bekannte Weingüter. Trotz höchster Sicherheitsstandards hinterlassen die Täter keine Spuren. Nach einem weiteren Einbruch wird der Winzer Armand tot in einem Brunnen gefunden. Pauline Castelot soll den Fall nun übernehmen. War Armand einfach zur falschen Zeit am falschen Ort? Doch wenige Tage später wird in einem Weinberg eine tote Frau gefunden, in ihrer Tasche die Einladung zu einer Weinverkostung – sie stammt von dem ermordeten Armand. Gibt es einen Zusammenhang zwischen den beiden Opfern?

Der Fluch von Blaye.

Ça va, Madame le Commissaire?

Jedes Jahr im August reist Pierre mit zwei Freunden nach Blaye, wo am Ufer der Gironde ein Theaterfestival stattfindet. Doch schon kurz nach der Ankunft kommt er unter mysteriösen Umständen ums Leben. War es tatsächlich ein Unfall? Madame le Commissaire Pauline Castelot soll die Ermittlungen übernehmen und findet rasch heraus: Jemand hat Pierre getötet. Pauline ahnt schon bald, dass sie in der Vergangenheit der drei Freunde nach Spuren suchen muss. Was zieht die Männer auch nach so vielen Jahren noch nach Blaye? Pauline bleibt nicht viel Zeit, denn auch sie gerät ins Visier eines Attentäters ...

Zwei Kriminalromane voller Spannung und echt französischem Flair.

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Über das Buch

Das Grab im Médoc

Bienvenue, Madame le Commissaire!

In der Region Bordeaux häufen sich Einbrüche in bekannte Weingüter. Trotz höchster Sicherheitsstandards hinterlassen die Täter keine Spuren. Nach einem weiteren Einbruch wird der Winzer Armand tot in einem Brunnen gefunden. Pauline Castelot soll den Fall nun übernehmen. War Armand einfach zur falschen Zeit am falschen Ort? Doch wenige Tage später wird in einem Weinberg eine tote Frau gefunden, in ihrer Tasche die Einladung zu einer Weinverkostung – sie stammt von dem ermordeten Armand. Gibt es einen Zusammenhang zwischen den beiden Opfern?

Der Fluch von Blaye

Ça va, Madame le Commissaire?

Jedes Jahr im August reist Pierre mit zwei Freunden nach Blaye, wo am Ufer der Gironde ein Theaterfestival stattfindet. Doch schon kurz nach der Ankunft kommt er unter mysteriösen Umständen ums Leben. War es tatsächlich ein Unfall? Madame le Commissaire Pauline Castelot soll die Ermittlungen übernehmen und findet rasch heraus: Jemand hat Pierre getötet. Pauline ahnt schon bald, dass sie in der Vergangenheit der drei Freunde nach Spuren suchen muss. Was zieht die Männer auch nach so vielen Jahren noch nach Blaye? Pauline bleibt nicht viel Zeit, denn auch sie gerät ins Visier eines Attentäters …

Über Maria Dries

Maria Dries wurde in Erlangen geboren. Seit sie mit siebzehn Jahren das erste Mal an der Côte d’Azur war, damals noch mit einem alten Käfer Cabrio, kehrt sie immer wieder nach Frankreich zurück. Jedes Jahr verbringt sie dort längere Zeit, um für ihre Kriminalromane zu recherchieren, die französische Küche auszukosten und das unvergleichliche Lebensgefühl zu genießen. Sie lebt mit ihrer Familie in der Fränkischen Schweiz.

Im Aufbau Taschenbuch liegen von ihr vor: »Der Kommissar von Barfleur«, »Die schöne Tote von Barfleur«, »Der Kommissar und der Orden von Mont-Saint-Michel«, »Der Kommissar und der Mörder vom Cap de la Hague«, »Der Kommissar und der Tote von Gonneville«, »Der Kommissar und die Morde von Verdon«,»Der Kommissar und die verschwundenen Frauen von Barneville«, »Der Kommissar und das Rätsel von Biscarrosse«, »Der Kommissar und das Biest von Marcouf«, »Der Kommissar und die Toten von der Loire«, »Der Kommissar und die Tote von Saint-Georges«, »Das Grab im Médoc«, »Der Kommissar und der Teufel von Port Blanc«, »Der Fluch von Blaye«, »Der Kommissar und die Toten im Tal von Barfleur«, »Schatten in der Gironde«.

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Maria Dries

Das Grab im Médoc & Der Fluch von Blaye

Die ersten beiden Kriminalromane erstmals in einem Bundle!

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Informationen zur Autorin

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Das Grab im Médoc

Prolog

2. Juni

3. Juni

4. Juni

5. Juni

6. Juni

10. Juni

11. Juni

12. Juni

13. Juni

14. Juni

15. Juni

16. Juni

17. Juni

19. Juni

Der Fluch von Blaye

Der Troubadour von Blaye

Prolog August 2017

28. August

29. August

30. August

31. August

1. September

2. September

3. September

4. September

5. September

Impressum

Maria Dries

Das Grab im Médoc

Bordeaux Krimi

Pour Daniel et son beau-père.

Prolog

Die Dunkelheit hatte sich über das Bassin von Arcachon gesenkt, und der Vollmond spiegelte sich silbern auf der glatten, obsidian-schwarzen Wasseroberfläche. Unzählige Austernpfähle stachen schemenhaft aus dem Niedrigwasser, und die Vogelinsel sah aus wie ein gestrandeter Wal. Am Ostufer ließ ein sanfter Wind die Nadelfächer der Strandkiefern erzittern.

Die Seebrücke von Andernos-les-Bains ragte verlassen in die Bucht, an Bojen vertäute Boote lagen ruhig im Wasser. Neben der romanischen Kirche erstreckte sich der Austernhafen, der in wenigen Stunden wieder zum Leben erwachen würde. Für Gourmets war er ein lohnendes Ziel, da sie dort die unvergleichliche Atmosphäre erleben und sich von Züchtern bei der Austernprobe beraten lassen konnten.

Im Bungalow von Géraldine Villeneuve waren die Lichter schon lange erloschen, nur über der Haustür brannte eine Nachtleuchte, die einen gelben Kegel warf. Es war ganz still, sogar die Zikaden im Olivenbaum gaben keinen Laut mehr von sich. Das Schlafzimmerfenster stand weit offen, und der Vorhang bauschte sich in der nächtlichen Brise.

Plötzlich löste sich ein Schatten von einem Strauch. Mit einem Satz sprang Géraldines Katze Rosalie vom Blumenbeet auf den Fenstersims und landete nach einem weiteren Sprung geräuschlos am Fußende des französischen Bettes. Sie legte den Kopf schief und betrachtete die schlafende Frau.

Géraldine wälzte sich unruhig auf dem zerknüllten Laken hin und her und stöhnte leise, auf ihrer Stirn hatten sich Schweißtropfen gebildet. In ihrem Traum hörte sie ein schauerliches Heulen, Zischen, Brodeln und Stampfen, kalte Finger rissen an ihren Haaren und zerrten an ihrer Kleidung. Sie war eingeklemmt und konnte sich nicht bewegen, so verzweifelt sie es auch versuchte. Von ihrem rechten Knie aus schossen stechende Schmerzen in jede Faser ihres Körpers, und sie fror erbärmlich. Das Atmen fiel ihr von Sekunde zu Sekunde schwerer, sie fühlte Panik in sich aufsteigen, und als schließlich eine schwarze Dampfwalze mit glühenden Augen auf sie zurollte, stieß sie einen markerschütternden Schrei aus.

Erschrocken machte Rosalie einen Satz und flüchtete unter das Bett. Géraldine riss die Augen auf und keuchte, sie spürte ihr Herz rasen. Benommen setzte sie sich auf, lehnte sich gegen das Kissen und versuchte, tief durchzuatmen. Dann endlich begriff sie, dass sie diesem Alptraum entronnen war, der sie wieder und wieder heimsuchte. Sie versuchte, die bedrohlichen Erinnerungen beiseitezuschieben, und stieg entschlossen aus dem Bett.

Die Leuchtziffern des Weckers zeigten vier Uhr zwölf. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Auf bloßen Füßen tappte sie durch den Flur in ihr Schreibzimmer, gefolgt von Rosalie, die auf ein zeitiges Frühstück hoffte. An regnerischen oder kalten Tagen schrieb sie hier am Holztisch, den sie auf einem Flohmarkt gefunden hatte, ihre über Frankreich hinaus bekannten und beliebten Kinderbücher, in denen sich Fabelwesen wie Trolle, Drachen und Elfen tummelten. Bei schönem Wetter war die Sitzgruppe unter dem Feigenbaum im Garten ihr Lieblingsplatz, um zu schreiben.

Géraldine ließ sich auf den Stuhl fallen, klappte den Laptop auf und checkte die eingegangenen Mails. Sie hatte drei Nachrichten vom selben Absender bekommen. Seufzend fuhr sie sich durch die widerspenstigen roten Locken. Sie wusste bereits, was darin stand. Ihr Verlag wollte wissen, ob sie den Abgabetermin für das neue Manuskript »Die Abenteuer der Wühlmauskinder Aurélie und Augustin« einhalten würde. Nein, das würde sie nicht, sie fühlte sich dazu nicht im Mindesten in der Lage. Schnell löschte sie die ungeöffneten Mails, bevor sie es sich anders überlegen konnte.

Dann wurde ihr Blick unweigerlich von einer goldgerahmten Fotografie auf dem Tisch angezogen. Sie zeigte einen breitschultrigen jungen Mann mit dunkelblonden Haaren und strahlend blauen Augen, der unbeschwert in die Kamera grinste. Yves, ihre große Liebe. Ihre blassgrünen Augen füllten sich mit Tränen. Rosalie, die ihren Kummer spürte, sprang auf ihren Schoß und rollte sich schnurrend zusammen. Während Géraldine gedankenverloren den Kopf der Katze kraulte, dachte sie wehmütig daran, was ihr widerfahren war. Aus heiterem Himmel hatte Yves sie nach acht gemeinsamen Jahren verlassen. Das hatte sie völlig überrascht, sie war sich sicher gewesen, dass er mit ihr genauso glücklich war wie sie mit ihm. Doch dann hatte er in der Disco eine andere Frau kennengelernt und sich Hals über Kopf in sie verliebt. Nur wenige Tage später hatte er seine Sachen gepackt und war ausgezogen.

Géraldine liebte Kinder und hatte sich immer welche gewünscht, mindestens drei, doch Yves hatte sich geweigert. Er wolle keinen Nachwuchs, vielleicht später einmal. Deshalb hatte sie ihren Kinderwunsch ihm zuliebe immer wieder schweren Herzens zurückgestellt. Kürzlich hatte sie ihn zufällig mit seiner neuen Freundin in der Markthalle von Arcachon getroffen. Das Paar hatte dort im Restaurant gesessen, zwischen sich eine riesige Platte mit Meeresfrüchten, gekrönt von einem Taschenkrebs. Nachdem Yves sie entdeckt hatte, war er aufgestanden, hatte sie begrüßt und sie seiner Freundin vorgestellt. Als er Géraldines Blick auf deren gewölbten Bauch bemerkte, erzählte er ihr mit seinem unwiderstehlichen Lächeln, dass seine Freundin schwanger sei und sie beide sich sehr auf ihr gemeinsames Kind freuten, auch eine baldige Heirat sei geplant. Dann hatte er liebevoll den Babybauch seiner Freundin gestreichelt, und Géraldine hatte gespürt, wie ihr das Herz brach.

Sie wusste im Nachhinein nicht mehr, wie sie es aus der Markthalle geschafft hatte. Sie konnte sich nur noch erinnern, dass ihr übel geworden war, ein heftiger Schwindel sie gepackt hatte und dass das Karussell auf der Strandpromenade das erste Bild gewesen war, das sie wieder bewusst wahrgenommen hatte.

Seit diesem verhängnisvollen Zusammentreffen litt Géraldine unter einer Schreibblockade, die ihr unüberwindlich schien. Sie hatte Konzentrationsstörungen, und immer wenn eine verheißungsvolle Idee Gestalt annahm, schob sich Yves’ Bild davor, und ihr Kopf fühlte sich leer an.

Schließlich gab sie sich einen Ruck und wischte sich energisch die Tränen von den Wangen. Sanft schob sie die Katze von ihrem Schoß und ging in die Küche, um eine Kanne Kaffee zu kochen. Als er fertig war, setzte sie sich, begleitet von Rosalie, mit der dampfenden bol auf die Terrasse. Am schwarzgrauen Himmel funkelten die Sterne wie Diamantsplitter, in der Ferne war das Tuten eines Nebelhorns zu vernehmen, und ein erster Vogel sang im Feigenbaum.

Géraldine dachte nach und gestand sich schließlich ein, dass sie dringend eine Auszeit brauchte, um über diesen Schock hinwegzukommen und neue Inspiration zu finden.

2. Juni

Das Hauptquartier der Sonderermittlungsgruppe befand sich im Stadtteil Saint-Pierre in der Rue Mérignac 5 in der Altstadt von Bordeaux. Im 18. Jahrhundert, der Blütezeit, als der atlantische Seehandel florierte, war dort die Einfahrt zum Innenhafen gewesen. Noch heute waren in diesem Viertel die Straßen nach den jeweiligen Handwerkszünften benannt, und so gab es beispielsweise eine Rue des Argentiers, eine Straße der Goldschmiede.

Das Quartier befand sich in einem zweistöckigen, altrosafarbenen Gebäude, das zwischen einem Wohnhaus und einer Weinhandlung eingeklemmt war. Einen Katzensprung entfernt strömte die pfauenblaue Garonne majestätisch in Richtung Gironde-Mündung, um sich dann, vereint mit der Dordogne, wie ein Trichter zum Atlantik hin zu öffnen. An den Ufern reihten sich beidseitig carrelets, Fischerhütten auf Stelzen, die für Angler ein idealer Ansitz waren.

Monsieur le Commissaire Louis Pierrot hatte kurz nach siebzehn Uhr seinen Dienst beendet und ging zur nahe gelegenen Tiefgarage. Er war zweiunddreißig Jahre alt, durchtrainiert und wies eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem jungen Steve McQueen auf. Er hatte den ganzen Nachmittag damit verbracht, einen bislang ungelösten Fall, einen Cold Case, noch einmal aufzurollen. Der Fall hatte ihn völlig in Anspruch genommen, Pierrot hatte sich regelrecht festgebissen. Ein Callgirl mit dem Künstlernamen Loulou war 1991 tot in seinem Appartement in der Innenstadt von Bordeaux, im Viertel Bacalan, gefunden worden, gestorben an einem Kopfschuss. Als Hauptverdächtiger hatte schnell der Gelegenheitsarbeiter Jean Maigret gegolten, der für zweihundert Francs Loulous Dienste in Anspruch genommen und sich dabei hoffnungslos in sie verliebt hatte. Er war ihr hörig gewesen und hatte Reparaturen und Botengänge für sie erledigt. Doch Maigret hatte die Tat bestritten, und die Indizien waren für eine Verurteilung nicht ausreichen gewesen. Der Fall war nie gelöst worden.

Pierrot war fest entschlossen, Loulous Mörder mithilfe neuester Techniken, speziell mit komplizierten DNA-Analysen, zu finden, falls er noch am Leben war. Doch jetzt hatte er andere Pläne.

Geschickt steuerte er seinen schwarz glänzenden Oldtimer Citroën, ein wahres Flaggschiff, aus dem engen Parkhaus und fädelte sich in den zäh fließenden Feierabendverkehr ein. Er wollte über die Autobahn bis nach Le Teich fahren und weiter auf der route nationale zur Dune du Pilat. Seine Tasche mit dem Drachenflieger hatte er bereits am Morgen auf dem Dachgepäckträger festgezurrt. Louis genoss den Nervenkitzel beim schwerelosen Gleiten durch die Lüfte. Nur beim Sport konnte er abschalten und den Polizeialltag für kurze Zeit vergessen.

* * *

Als er sich seinem Ziel näherte, konnte er den gewaltigen Sandberg mit fast drei Kilometer Länge zwischen Kiefern hervorspitzen sehen. Darüber wölbte sich ein azurblauer Himmel, über den Schleierwolken zogen. Pilat war eine Wanderdüne, die stetig landeinwärts vorrückte, da die Strömung an der Einfahrt zum Bassin von Arcachon so stark war, dass sich die Sandmassen nicht aufhalten ließen.

Vor dem Hôtel Corniche, einem eleganten cremefarbenen Gebäude, fand er einen Parkplatz und zog sich im Auto um. Bekleidet mit einer Sporthose, einem T-Shirt und Leinenschuhen machte er sich auf die Suche nach Chantal, der Hotelmanagerin des Corniche.

Auf der Terrasse des Hotels saßen Gäste unter der rot-weiß gestreiften Markise, genossen ihren Aperitif und unterhielten sich mit lebhaften Gesten. Vor einigen Monaten hatten Louis und Chantal eine kurze leidenschaftliche Affäre gehabt, sich dann aber einvernehmlich getrennt. Chantal fühlte sich durch ihn eingeengt, er wiederum fand sie häufig zu ernsthaft. Inzwischen waren sie gute Freunde.

Louis fand sie hinter einer Pergola, über die sich violette Bougainvilleen rankten. Sie lehnte an der Mauer neben der Hintertür und rauchte. Die dunklen Haare waren zu einem Zopf gebunden, so dass ihr feines Profil zur Geltung kam. Der jadegrüne Overall betonte ihre schlanke Figur. Als sie ihn bemerkte, schenkte sie ihm ein bezauberndes Lächeln und drückte die Zigarette aus. »Salut, Louis! Hast du schon Feierabend?«

Sie tauschten Wangenküsschen.

»Salut, Chantal. Ich habe zeitig Schluss gemacht, mich zieht es auf die Düne. Hast du Zeit, mich später abzuholen, wenn ich gelandet bin?«

»Wenn du nicht bis nach Bayonne fliegst.« Sie lachte, und ihre schwarzen Augen leuchteten.

»Keine Sorge, ich werde versuchen, in der Nähe zu landen.« Er reichte ihr seinen Autoschlüssel. »Ich rufe dich an.«

»D’accord. Bis später.«

»Danach lade ich dich auf ein Glas Wein ein, wenn ich darf.«

»Das hört sich gut an. Pass auf dich auf.«

»Aber ja.«

Er holte die Tasche vom Dach, schlang sich ein grünes Tuch um den Kopf und machte sich über die freie Südflanke der Düne an den schweißtreibenden Aufstieg. Auf der Kuppe angelangt, verschnaufte er einen Moment und genoss den überwältigenden Ausblick. Dann baute er seinen Drachen zusammen, befestigte das Gurtzeug an seinem Körper und setzte den Helm auf. Aufmerksam sah er sich nach einem passenden Startplatz um. Auf der nördlichen Kuppe der Düne, die man vom Parkplatz aus über eine Holztreppe erreichte, hielten sich zahlreiche Touristen auf, die spazieren gingen, picknickten und die Aussicht genossen. Unterhalb des südlichen Kamms schwebten einige Gleitschirmflieger, deren Segel farbige Punkte in das Blau des Himmels setzten.

Louis entschied sich für einen steilen Hang, der dem Ozean zugewandt war, und nahm vier Schritte Anlauf. Er spürte, wie Aufwinde die Flügel trugen, und hob ab. Wie ein Vogel glitt er auf das glitzernde Meer hinaus und zog weite ruhige Kreise. Er ließ den dichten Kiefernwald und die hammerförmige Sandbank vor der Einfahrt des Bassins von Arcachon hinter sich. Rechter Hand lag die schmale Halbinsel Cap Ferret, die wie ein Finger in den Atlantik ragte, und auf deren bewaldeter Landspitze sich der weiße Leuchtturm mit der roten Kappe erhob. Austernboote und Jollen lagen wie Kinderspielzeug in der Bucht. Weiter draußen kreuzten elegant Segelboote. Die gemächlich zum kobaltblauen Horizont wandernde Sonne hatte sich in einen glühenden Feuerball verwandelt, der die Wolken rosa färbte. Die See roch nach Tang und Jod, auf seinen Lippen schmeckte er Salz, er lauschte dem Kreischen der Möwen und fühlte sich frei. In einem weiten Bogen flog er auf die Küste zu, folgte ihr eine Weile und steuerte den Drachen dann über den Étang de Sanguinet, einem von Schilf umsäumten Binnensee.

Als Louis den See hinter sich gelassen hatte, rief er Chantal an. »Salut, Chantal. Ich werde in Kürze auf dem Fußballplatz von Biscarrosse landen. Wenn dir das zu weit ist, kann ich versuchen, neben der Marina von Sanguinet auf einem Acker runterzugehen.«

»Biscarrosse ist in Ordnung. Ich mache mich gleich auf den Weg, in einer halben Stunde bin ich da.«

»Wir könnten zusammen abendessen.«

»Gute Idee, ich habe Hunger. In Biscarrosse-Plage gibt es ein neues Fischrestaurant, die Meeresfrüchteplatten sollen phantastisch sein.«

Louis schwebte weiter über einen Kanal, an dem Angler saßen, und ein Wäldchen und landete schließlich nach einer guten Stunde sanft auf dem Sportplatz von Biscarrosse. Eine Kindermannschaft in rot-schwarzen Trikots beobachtete gebannt seine Landung. Er winkte ihnen zu und löste das Gurtzeug. Dann baute er seinen Drachen auseinander, verstaute ihn in der Tasche und wartete auf Chantal.

* * *

Ein kaum wahrnehmbarer Höhenkamm zwischen der Pointe de Grave und Bordeaux teilte zwischen dem Atlantik und der Gironde die Halbinsel Médoc. Im Westen erstreckten sich Pinienwälder bis zu den traumhaften Stränden, im Osten gab es Weinfelder, die bis in das Stadtbild von Bordeaux hinein zur Gironde hin abfielen.

Das Weingut Château Cheval Noir lag in der Nähe von Pauillac auf einem Hügel inmitten von Weinbergen. Im Licht der bleichen Mondsichel waren die Konturen des Gebäudes scherenschnittartig zu erkennen. Es gab ein Haupthaus in der Mitte und zwei Seitenflügel, die jeweils von einem runden Turm flankiert wurden. Das Schieferdach mit seinen vier Kaminen glänzte matt im Mondlicht. Das stattliche Anwesen war von einer hohen Mauer umgeben, die mit Efeu überwachsen war und auf der der Name des Weingutes in großen roten Lettern stand.

Gegen zwei Uhr näherte sich ein Lieferwagen und fuhr langsam, mit ausgeschalteten Scheinwerfern, über die gewundene Straße auf den Hof des Weingutes. Im Schritttempo rollte er zu den Eingängen des weitläufigen Höhlensystems, das noch immer als Weinlager diente. Vor dem ersten Tor stellte der Fahrer den Motor ab, und er und sein Beifahrer stiegen aus. Die Türen ließen sie leise einklinken. Aufmerksam schauten sich die dunkel gekleideten Männer um, doch es war niemand zu sehen, und bis auf das sanfte Rauschen des Windes in den Laubbäumen war es still. Der Zugang zu den Weinkellern war durch zwei bogenförmige Eichentore versperrt, die mit massiven Schlössern gesichert waren. Die Männer wussten, dass die Stahlverriegelungen nicht mit einer Alarmanlage verbunden waren. Die Eigentümer des Châteaus verließen sich auf einen Sicherheitsdienst, der das Gelände zu unterschiedlichen Zeiten kontrollierte. Die nächste Kontrollfahrt würde in einer Stunde erfolgen, so dass sie genügend Zeit hatten, um ihren Auftrag zu erledigen. Der Sicherungskasten war neben dem linken Tor angebracht und mit einem Schloss gesichert, das einer der Männer problemlos aushebelte. Anschließend unterbrach er die Stromversorgung für das gesamte Kellergewölbe, indem er alle Sicherungen ausschaltete und einen Kabelstrang mit einer isolierten Zange durchschnitt. Jetzt funktionierte auch die Videoüberwachung nicht mehr. Der andere Mann brach mithilfe eines Stemmeisens das Schloss am Tor auf. Sein Partner zog das schwere Tor auf, und sie betraten den dunklen Gang.

Als sie es hinter sich zugezogen hatten, schalteten sie die Taschenlampen ein und ließen die Lichtkegel über das feuchte Mauerwerk gleiten. Ein modriger Geruch lag in der Luft, irgendwo tropfte Wasser. Durch einen schmalen, aus Stein gehauenen Gang kamen sie in den ersten Gewölbekeller, in dessen Ecken Spinnweben hingen. Dort waren Weinfässer aus Holz gelagert. Daneben befand sich der für die Gäste dekorierte Probierraum.

Die Männer bewegten sich zielsicher durch den nächsten Gang, der Lageplan des unterirdischen Labyrinths war ihnen bekannt. Sie passierten drei Höhlen, in denen Bordeauxweine der Klassen Grands Crus Classés fünf bis zwei lagerten. Im letzten Keller wurden die wertvollsten Weine aufbewahrt, die Grands Crus Classés mit der Klassifizierung eins. Die Flaschen lagerten in einfachen Holzregalen, an denen kleine Tafeln die Weine benannten. Dutzende Flaschen waren bereits etikettiert.

Es dauerte nicht lange, und sie hatten den Wein gefunden, den sie suchten: einen Château Cheval Noir Grand Cru Classé, Jahrgang 2011. Der Wert einer Flasche betrug dreitausend Euro. Ihr Auftrag lautete, zwölf Kisten à sechs Flaschen zu stehlen. In jedem der Gewölbe stapelten sich leere Weinkisten, und es gab eine Sackkarre. Auch darüber hatte ihr Informant sie aufgeklärt. Sie begannen die Weinflaschen vom Regal zu nehmen und in die Kisten zu stellen und diese dann auf der Karre zu stapeln. Als sie fertig waren, schob einer der Männer sie durch die Gänge, der andere leuchtete ihnen den Weg zurück zum Kellerausgang.

Schnell stellten sie die Kisten neben dem Lieferwagen ab und zogen das schwere Tor leise zu. Als die letzte Kiste im Wagen verstaut war, drangen durch die Stille der Nacht Motorengeräusche. Die Männer verharrten reglos, sahen einander an und warteten darauf, dass sich das Fahrzeug auf der Landstraße entfernte. Der Sicherheitsdienst konnte es nicht sein, er würde erst in zwanzig Minuten die nächste Kontrollrunde fahren. Doch das Geräusch näherte sich schnell und wurde lauter. Und dann bog der weiße SUV der Sicherheitsfirma mit der Aufschrift Sécurité Aquitaine in den Hof ein, fuhr mit aufgeblendeten Scheinwerfern auf den Lieferwagen zu und tauchte den Bereich vor den Weinkellern in weißes, grelles Licht. Die Männer erstarrten für einen Augenblick und blinzelten geblendet.

Aus dem SUV sprang ein Mann heraus und zielte mit einer Pistole auf die Einbrecher.

»Hände hoch!«, brüllte er. »Auf den Boden knien!«

Einer der Einbrecher hob langsam die Hände, während der andere blitzschnell eine Waffe zog und schoss. Der Sicherheitsmann schrie auf, seine Pistole fiel ihm aus der Hand, und er sackte auf die Erde. Dort krümmte er sich vor Schmerz zusammen. Jetzt zielte der Einbrecher auf die Windschutzscheibe des Securityfahrzeuges und gab mehrere Schüsse ab. Die Scheibe zerbarst in tausend Teile, und die Frau, die hinter dem Lenkrad sitzen geblieben war, warf sich geistesgegenwärtig auf den Beifahrersitz und hielt die Hände schützend über ihren Kopf. Glassplitter regneten auf ihren Körper. Währenddessen warfen die Weindiebe die Flügeltüren ihres Lieferwagens zu, dann stiegen sie ein und rasten mit aufheulendem Motor davon. Im Weingut gingen die Lichter an.

Sophie richtete sich vorsichtig im SUV auf und sah durch die Rückscheibe gerade noch, wie ein dunkler Lieferwagen auf die Hofausfahrt zupreschte, mit quietschenden Reifen um die Ecke bog und aus ihrem Sichtfeld verschwand. Es war unmöglich, das Kennzeichen zu entziffern, aber wahrscheinlich war es ohnehin gestohlen. Hastig schüttelte sie die Glasscherben ab, stürzte aus dem Auto, lief zu ihrem Kollegen und kniete sich neben ihn. »Bist du verletzt, Alain?«

»Der Mistkerl hat mich am Arm erwischt. Es tut höllisch weh. Ruf die Polizei und einen Krankenwagen!« Er stöhnte.

Während Sophie einen Notruf absetzte und kurz schilderte, was passiert war, wurde die Eingangstür des Châteaus aufgerissen, und ein Mann im Morgenmantel lief auf den Hof. Er hatte ein Gewehr in der Hand und wurde von einem Dobermann begleitet, der aufgeregt bellte und die Zähne fletschte. »Was ist hier los?«, schrie er.

Sophie klärte ihn auf. »Jemand ist in den Keller eingebrochen, und mein Kollege wurde angeschossen. Polizei und Krankenwagen sind unterwegs.«

»Mon Dieu, das ist ja furchtbar!«

Der Mann blieb wie angewurzelt stehen, pfiff den Hund zurück und packte ihn am Halsband.

Sophie holte den Verbandskasten aus dem Kofferraum des SUV. Sie begann Alains Oberarm über der Wunde abzubinden, um den Blutfluss zu stoppen. Der Besitzer des Weingutes sah ihr hilflos zu.

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«

»Non merci, es geht schon.«

Als sie fertig war und beruhigend auf ihren Kollegen einredete und ihm den Schweiß von der Stirn tupfte, hörten sie in der Ferne eine Polizeisirene.

3. Juni

Madame le Commissaire und Polizeipsychologin Pauline Castelot quälte sich durch den dichten Feierabendverkehr von Bordeaux. Ihr schwarzer Renault hatte den ganzen Tag in der Sonne gestanden, und im Innenraum herrschten mindestens vierzig Grad. Sie ließ die Scheiben herunter, schaltete die Klimaanlage ein und setzte ihre Sonnenbrille auf die Nase. Als sie die Autobahn, die sich wie ein Ring um die Stadt schloss, hinter sich gelassen hatte und ihren Weg auf der vierspurigen route nationale fortsetzte, beruhigte sich der Verkehr. Sie schaltete das Autoradio ein, um zur vollen Stunde Nachrichten zu hören. Der Sprecher berichtete gerade von Weindiebstählen im Bordelais, die seit Monaten die Schlagzeilen beherrschten und für große Aufregung sorgten.

In der Nacht vom 2. auf den 3. Juni war auf einem Weingut ein Mann, der für den Objektschutz zuständig war, angeschossen worden. Es war das erste Mal, dass bei diesen Einbrüchen ein Mensch verletzt worden war. Deshalb hatte sich die police judiciaire, die Kriminalpolizei, eingeschaltet.

Pauline hörte konzentriert zu und fasste mit einer Hand die weizenblonden schulterlangen Haare zusammen, um Luft an ihren verschwitzten Nacken zu lassen. Wenn man den Täter überführt hatte, würden am zuständigen Geschworenengericht ein Staatsanwalt auf versuchten Mord und ein Verteidiger auf versuchten Totschlag oder gar Körperverletzung plädieren. So verlief es meist in derartigen Fällen, und das Urteil würden ein Richter und Geschworene fällen.

Sie sah auf die Zeitanzeige am Armaturenbrett und beschloss, vor dem Abendessen noch eine Runde zu laufen. Ihr Lebensgefährte Dominic war ein passionierter Hobbykoch und kümmerte sich meistens um die Mahlzeiten. Beim Frühstück hatte er ihr erzählt, was er kochen wollte, doch das war ihr im Laufe ihres stressigen Tages entfallen. Sie hatte Hunger, doch zunächst brauchte sie nach dem Tag am Schreibtisch Bewegung.

Gut gelaunt wählte sie die Handynummer ihrer neunjährigen Tochter Sarah, und während es klingelte, hörte sie ein paar Takte von Pink, einer der Lieblingssängerinnen ihrer Tochter, dann meldete sie sich.

»Salut, maman.«

»Salut, chérie, ist alles klar bei dir?«

»Aber ja.«

»Wie war es heute in der Schule?«

»Sport war gut, wir haben Volleyball gespielt und haushoch gewonnen. Die waren richtig sauer. Zwei Schmetterbälle waren von mir.«

»Das ist ja toll! Und wie war die Mathearbeit?«

»Wohl eher nicht so gut.«

»Du hast doch mit Dominic geübt.«

»Ja, schon, aber vielleicht nicht genug. Bis später, maman, ich möchte Dominic beim Kochen helfen.«

»Was gibt es denn?«

»Überraschung! Für das Dessert bin ich verantwortlich.«

Pauline lachte. »Du machst mich neugierig. Ich jogge noch eine Runde und komme gegen acht.«

Inzwischen hatte sie die Ortschaft Quinsac erreicht, die etwa acht Kilometer südöstlich von Bordeaux an der Garonne lag. Ihre Lieblingslaufstrecke führte durch die Weinberge von Quinsac. Sie parkte in der Nähe der Kirche und zog sich rasch im Auto um. Ihre Sportsachen waren immer in einer Tasche im Kofferraum verstaut, weil sie oft spontan lief. Die Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden und sich ein kobaltblaues Schweißband bis in die Stirn gezogen, das ihre großen graublauen Augen betonte. Sie absolvierte gewissenhaft ihre Dehnübungen, dann trabte sie mit Blick auf die Armbanduhr los. Sie kontrollierte immer ihre Laufzeit.

An der ersten Kurve nach dem Dorfausgang führte ein kleiner Weg direkt in die Weinberge. Während der ersten paar Hundert Meter geisterte der Mordfall Loulou noch durch ihren Kopf, doch dann richtete sich ihre Konzentration voll auf ihren Lauf, und sie dachte an nichts anderes mehr. Die Vögel sangen in den Bäumen, der Wind strich ihr sanft über die Arme, und die Weinstöcke leuchteten in einem satten Grün. Vor einem Weingut bog sie rechts ab und lief zum Stadion von Les Hugons. Dort ging es weiter zum Château Ruben und von hier aus in einem Bogen nach Süden auf die Garonne zu. Auf einem schattigen Treidelpfad, der neben dem ruhigen Fluss nach Norden verlief, kam sie zum Ausgangspunkt zurück.

In einem kleinen Lebensmittelladen am Kirchplatz kaufte sie eine Flasche kaltes Mineralwasser, da ihr Wasser im Auto brühwarm war. Gleich vor dem Geschäft trank sie es zur Hälfte aus, ehe sie sich auf den Heimweg machte. Sie freute sich auf eine erfrischende Dusche, auf das Abendessen und vor allem auf ihre Familie.

Das Weingut Château de Montfort ihres Lebensgefährten, des Winzers Dominic de Montfort, war ein alter Familiensitz im Weinbaugebiet Entre-deux-Mers nicht weit vom Dorf Romagne. Diese kleinere Domaine brachte unter anderem erlesene Weißweine hervor.

Die Zufahrt zum Château de Montfort war von alten Pappeln gesäumt, die lange Schatten warfen. Neben der schmalen asphaltierten Straße erstreckten sich hügelige Weingärten mit akkurat in Reih und Glied gepflanzten Rebstöcken, so weit das Auge reichte.

Das Weingut war ein ockerfarbenes, von Weinlaub überwachsenes einstöckiges Gebäude mit einem roten Ziegeldach, weißen Sprossenfenstern und Klappläden. An der Ostseite erhob sich ein runder, von einer Schieferhaube gekrönter Turm, und daneben reihten sich einige Nebengebäude geduckt aneinander.

Pauline fand ihre Tochter und ihren Lebensgefährten auf der Terrasse. Sie deckten den wuchtigen Holztisch, der unter einer grün-weiß gestreiften Markise stand.

»Maman!«, jubelte Sarah. Pauline nahm ihre Tochter in den Arm und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Das Essen ist gleich fertig.«

Sarah hatte ihre dunkelblonden Haare zu Zöpfchen geflochten, und die blauen Augen blitzten aufmerksam in ihrem sommersprossigen Gesicht.

»Prima, ich will mich nur noch schnell duschen und umziehen.«

Sie wandte sich Dominic zu. Seine dunklen Augen in seinem markanten Gesicht leuchteten vor Freude auf, als er sie ansah. »Salut, Pauline.«

Er gab ihr einen Kuss, und sie fuhr ihm durch die kinnlangen schwarzen Locken. Er war einen halben Kopf größer als sie, die breiten Schultern steckten in einem schwarzen T-Shirt, und sein Bart war sorgfältig geschnitten.

»Du hast zehn Minuten«, bemerkte er. »Welchen Aperitif darf ich Madame servieren?«

»Einen Pastis, bitte, ich bin gleich wieder da.«

* * *

Als sie in einem Sommerkleid, die Haare hochgesteckt, die Lippen erdbeerrot geschminkt, auf der Terrasse erschien, servierte Dominic die Vorspeise. Es gab Austern aus Arcachon, auf die sie einen Spritzer Zitronensaft träufelten. Dazu aßen sie gebuttertes Baguette, und die Erwachsenen tranken einen exquisiten kühlen Wein aus ihrer Domaine.

Während sie als Hauptgang gegrillte Dorade mit Koriander-Zitronen-Crème und Kartoffelgratin genossen, unterhielten sie sich über das Thema, das derzeit alle Winzer im Bordelais umtrieb: die Weindiebstähle.

»Die Schlösser an den Toren zu den Weinkellern sind ein Witz«, meinte Pauline. »Die könnte ich mit einer Haarnadel öffnen.«

»Du bist ja auch eine mit allen Wassern gewaschene Madame le Commissaire«, erwiderte Dominic, und sie lachten.

»Nein, im Ernst«, beharrte Pauline. »Ich finde, du solltest sie auswechseln und über die Installation einer Alarmanlage nachdenken. Die Videoüberwachung hilft auch nicht unbedingt. Damit kannst du bei Führungen Touristen erwischen, die eine Flasche von deinem Wein in ihren Rucksack packen. Professionelle Diebe setzen sich einfach Sturmmasken auf.«

»Hochwertige Alarmanlagen, die mit einer Security-Firma und der Polizei verbunden werden, sind teuer.«

»Ja, ich weiß.«

Sarah meldete sich mit einer Idee zu Wort. »Wir könnten Estelle und Émile nachts auf dem Grundstück frei laufen lassen.« Das waren ihre Schäferhunde.

Dominic grinste. »Die beiden würden einem Einbrecher noch die Hand ablecken, vor lauter Freude, weil Besuch kommt.«

»O nein, die beiden sind richtige Wachhunde, sie werden anschlagen, wenn ein Fremder das Anwesen betritt.«

»Wenn du meinst, ich denke darüber nach. Gibt es jetzt Dessert?«

»Ja, ich hole es. Machst du den Mokka?«

Die Tarte à l’Orange schmeckte vorzüglich.

»Sarah hat sie gebacken«, erzählte Dominic.

»Köstlich«, lobte Pauline ihre Tochter. Das Mädchen strahlte über das ganze Gesicht.

Nachdem sie abgeräumt hatten, stießen die beiden Erwachsenen an und genossen einen Schluck des fruchtigen Weins. Dann betrachteten sie in stillem Einvernehmen die Aussicht auf die sanften Hügel, die Waldinseln und die Sonne, die gerade hinter den golden leuchtenden Weinbergen verschwand.

»Es ist so schön hier«, murmelte Pauline und lächelte entspannt.

»Maman?«

»Ja, chérie? Ich glaube, es ist Bettgehzeit.«

Das Mädchen seufzte. »Ich muss morgen einen Aufsatz über den Klassenausflug von letzter Woche abgeben. Das Thema lautet: Was mir bei unserem Ausflug an das Cap Ferret am besten gefallen hat, nur drei Seiten.«

»Das weißt du seit letzter Woche?«

»Hm.«

»Also gut, hol deine Schultasche. Dominic, hilfst du auch mit?«

Rasch erhob er sich. »Tut mir leid, ich muss noch in den Keller, etwas erledigen.«

Schon war er verschwunden.

* * *

Über den Haut-Médoc wölbte sich ein stahlblauer Himmel, Sterne funkelten, und der silbrige Mond saß auf einem Wolkenbett. Im Weingut Château Comtesse-de-la-Francis waren zwei Fenster im ersten Stock des Seitenflügels erleuchtet. Vor den anderen Fenstern waren die flaschengrünen Klappläden geschlossen, und kein Lichtstrahl drang in die Dunkelheit. In dem weiß gestrichenen, von Weinlaub überwachsenen Gebäude mit dem kompakten Kamin und dem flachen roten Ziegeldach war früher die Remise untergebracht. Auch im Hauptgebäude, das neben der Remise in einem Rosengarten lag, sowie im dahinterliegenden Turm brannte kein Licht. In der Ferne schlugen die Kirchturmglocken von Arsac zwölfmal. Es war Mitternacht. Im Wald schrie ein Käuzchen.

Der Eigentümer des Weingutes, Jean-Baptiste Armand, saß im Arbeitszimmer an seinem Schreibtisch aus Kirschbaumholz. Eine Tischlampe warf einen orangegelben Lichtkegel. Die altrosa gestrichenen, stuckverzierten Wände zierten goldgerahmte Ölgemälde und Wandteppiche. Ein offener Kamin diente im Winter als Wärmequelle.

Armands Gesicht mit den buschigen Brauen und der kräftigen, leicht schiefen Nase war bleich, die Stirn nervös gerunzelt. Er war angespannt und lauschte. Als die Dachsparren knackten, fuhr er zusammen.

Während die Finger seiner linken Hand rhythmisch auf die Tischplatte trommelten, hielt er in der anderen einen Brief. Der Inhalt des Briefes steigerte seine Unruhe, ebenso wie die Tatsache, dass mehrere Anrufe mit unterdrückter Nummer auf seinem Smartphone eingegangen waren. Der Anrufer hatte keine einzige Nachricht hinterlassen.

Als er den Motor eines Wagens hörte, der kurz darauf im Hof ausgeschaltet wurde, erstarrte er. Seine Gedanken überschlugen sich, und er war nicht im Stande, sich von der Stelle zu rühren. Jemand klingelte an der Tür Sturm, dann hieben Fäuste dagegen.

»Aufmachen!«, brüllte eine tiefe Stimme. »Wir wissen, dass du da bist.«

Panisch sah Armand sich um. Sollte er flüchten oder aufmachen und verhandeln? Die Männer wurden vor der verschlossenen Tür offenbar immer wütender und stießen Flüche aus. Armand hatte nicht die geringste Ahnung, wie er diese Angelegenheit aus der Welt schaffen konnte.

Plötzlich wurde es still vor dem Haus. Im Herzen des Winzers keimte Hoffnung auf, dass sie wieder gegangen waren. Aber er hatte kein Motorengeräusch gehört, oder doch?

Ein lauter Knall donnerte durch das Haus, etwas krachte laut, und dann hörte er Stiefel die Treppe herauftrampeln. Schon wurde die Tür zum Arbeitszimmer aufgerissen. Zwei Männer stürmten herein und bauten sich drohend vor ihm auf. Sie waren schwarz gekleidet und trugen Springerstiefel. Über die Köpfe hatten sie Sturmhauben gezogen. Armand fuhr mit aufgerissenen Augen zurück, sein Herz wollte aus der Brust springen.

Der linke Mann, ein bulliger hochgewachsener Typ, übernahm das Sprechen.

»Der Chef will sein Geld zurück, auf der Stelle. Du weißt, warum. Er tobt vor Wut wegen dir.«

»Welches Geld?«, fragte Armand und bemühte sich um eine feste Stimme.

Der Mann schnaubte verächtlich. »Keine Spielchen, sonst breche ich dir die Nase. Der Chef bekommt fünfundneunzigtausend Euro von dir. Also her damit.« Er streckte die schaufelgroße Hand mit der Innenfläche nach oben aus und winkte mit den Fingern.

»Ich habe es nicht.«

»Erzähl keinen Blödsinn, vor ein paar Tagen hattest du es noch.«

»Aber meine Tochter …«

»Deine Tochter interessiert uns nicht! Wir wollen das Geld.«

Der Winzer hob hilflos die Hände und wartete darauf, dass eine Kugel sich in seine Brust bohrte. Diesen Typen war alles zuzutrauen, und er wusste keinen Ausweg mehr. Die Männer tauschten einen Blick.

»Also gut«, sagte der zweite Eindringling. »Weil wir so nett sind, räumen wir dir eine Frist bis morgen Abend ein. Wir kommen um Mitternacht, und du übergibst uns das Geld. Abgemacht?«

Armand nickte, seine Kehle war wie zugeschnürt.

»Okay, das wäre geklärt.« Der Mann zückte ein Springmesser und ließ es aufschnappen. Auf der langen schmalen Stahlklinge brach sich das Licht. »Siehst du das hübsche Spielzeug hier?«

Der Winzer starrte ihn panisch an.

»Ob du es siehst, habe ich gefragt?«

»Ja.«

»Wenn du morgen Abend das Geld nicht hast, schneide ich dir den rechten Ringfinger ab, oder vielleicht auch zwei. Schönen Abend noch.«

Er drehte sich um und verließ den Raum. Sein Partner folgte ihm wortlos. Armand hörte, wie der Motor gestartet wurde, kurz darauf war es grabesstill.

4. Juni

Auf der Brücke standen einige Männer und Frauen im grellen Sonnenlicht und angelten. Unter ihnen floss die Isle, ein Nebenfluss der Dordogne, und strudelte moosgrün durch die Bögen der Brücke.

Monsieur le Commissaire Frédéric Rocard saß in sandfarbener Cargohose und kurzärmligem weißem Hemd auf einem Klappstuhl direkt am Ufer im Schatten einer Pinie. Seine beiden Angeln steckten in Rutenhaltern, die er fest in die schlammige Erde gedreht hatte. Im Eimer neben ihm zappelten zwei Zander und eine Regenbogenforelle.

Er war zweiundfünfzig Jahre alt, und der Dreitagebart unter seinen warmen braunen Augen ließ ihn verwegen aussehen. Unter seinen Augen lagen dunkle Schatten. Nur noch selten sah man ihn lächeln. Auch hatte er wieder zu rauchen angefangen.

Es war auf den Tag sechs Monate her, dass seine Tochter Emma kurz vor ihrem achtzehnten Geburtstag nicht von der Schule nach Hause gekommen war. Später hatte sich herausgestellt, dass sie an jenem Tag gar nicht im Unterricht gewesen war. Emma hatte sich sehr auf ihren Geburtstag gefreut. Doch seit jenem Donnerstag gab es kein Lebenszeichen von ihr. Ihr Rucksack war verschwunden, ebenso ihr Handy, das nicht geortet werden konnte. In ihrer Geldschatulle, die sie in der Schreibtischschublade aufbewahrte, fand ihre Mutter fünfundsiebzig Euro. Emma galt offiziell als vermisst und wurde in ganz Europa gesucht, auch Interpol war eingeschaltet. Alle warteten auf eine vielversprechende Spur, damit endlich Bewegung in die Suche kam.

Seufzend fuhr Rocard sich durch die kurz geschnittenen grau melierten Haare und zündete sich die nächste Zigarette an. Sein Blick ruhte auf dem Fluss, als ob er dort Trost finden würde. Jedes Familienmitglied ging anders mit der Tragödie um. Seine Frau Agnès engagierte sich umso mehr in der Kirchengemeinde, organisierte Basare und backte Kuchen für den Seniorennachmittag. Sie hatte sechs Kilo abgenommen und sah älter aus, als sie war. Ihr sechzehnjähriger Sohn Pierre-Paul hatte seit dem Verschwinden seiner Schwester bereits zwei Schulverweise bekommen und stand kurz vor dem Rauswurf. Nur dank seiner Mathelehrerin hatte er noch eine letzte Chance bekommen.

Rocard vergrub sich in seiner Polizeiarbeit und machte Überstunden. In seiner Freizeit suchte er nach Emma. Er hatte auf Social Media eine Suchaktion organisiert, der sich laufend neue Mitglieder anschlossen. Doch bisher ohne Ergebnis.

Beim Angeln versuchte er regelmäßig, abzuschalten, sonst würde er noch verrückt werden.

Der Schwimmer der einen Angel zuckte, verschwand unter der Wasseroberfläche und hinterließ ebenmäßige Kreise. Rocard klemmte seine Zigarette in den Mundwinkel, stand auf und holte die Schnur ein. Eine prächtige Forelle wand sich am Haken. Behutsam befreite er sie und setzte sie zu den anderen Fischen in den Eimer. Daraufhin beschloss er, zusammenzupacken und im Bistro am Fischerhafen einen Pastis zu trinken.

Nach einem Blick in den Rückspiegel rollte er über die holprige gewundene Straße, die so schmal war, dass er öfter anhalten musste, um entgegenkommende Fahrzeuge vorbeizulassen.

Nachdem er sein Auto auf dem Parkplatz der Marina abgestellt hatte, suchte er sich einen freien Platz unter einem Sonnenschirm auf der Wiese vor dem Lokal und bestellte einen Ricard. Während er seinen Blick über die bunten Boote gleiten ließ, kam ihm der Mordfall Loulou in den Sinn. Seine Chefin Pauline und seine Kollegen Mélanie und Louis waren von der Schuld des Gelegenheitsarbeiters Jean Maigret überzeugt. Rocard glaubte das nicht. Warum hätte Maigret sie töten sollen, wenn er sie doch abgöttisch verehrte?

Er favorisierte eine andere Theorie: Loulous letzter Gast war der Bäckermeister Gérard Besse gewesen, der wiederum einen unbekannten Mann neben der Wohnungstür hatte stehen sehen, als er das Apartment verlassen hatte. Von ihm gab es keine genaue Beschreibung, da Besse den Blick abgewendet hatte, um selbst nicht erkannt zu werden. Bei einem Verhör verstrickte sich der Bäckermeister in Widersprüche. Man vermutete, dass er den Mann neben der Wohnungstür erfunden hatte und womöglich selbst der Täter war … Eine laute Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.

»Salut, Frédéric.«

Ein korpulenter Mann in Freizeitkleidung und mit einem karierten Anglerhut auf dem Kopf ließ sich neben ihn auf einen Stuhl fallen.

»Salut, Henri.« Henri war ein guter Freund von ihm, ein Winzer mit einem kleinen exklusiven Weinbaugebiet und ebenfalls ein passionierter Angler. »Darf ich dich zu einem Ricard einladen?«

»Aber gern, ich kann einen kühlen Schluck gebrauchen. Ist das eine Hitze heute.«

Rocard bestellte, und sie stießen an.

»Hast du schon von dem Weindiebstahl im Château Cheval Noir gehört?«, fragte Henri.

»Natürlich, Kollegen bearbeiten ihn.«

»Es war nicht der erste Einbruch. Die Winzer hier in der Gegend sind in heller Aufregung.«

»Ja, es deutet immer mehr auf eine Serie hin. Die Aufregung der Weinbauern kann ich gut verstehen, in ihren Kellern lagern Kostbarkeiten.«

»In meiner Cave auch, und ich habe Vorbereitungen getroffen. Neben meiner Zufahrt habe ich ein Gatter gebaut und zwölf Gänse untergebracht. Wenn jemand sich dem Grundstück nähert, machen sie mit ihrem Geschnatter einen Höllenlärm. Außerdem lehnt eine Schrotflinte an meinem Nachttisch.«

Rocard grinste. »Dann bist du ja bestens aufgestellt.«

»Das kann man wohl sagen, hoffentlich schnappen sie die Mistkerle bald.«

»Ja, das hoffe ich auch. Entschuldige bitte, Henri, ich muss los. Bis bald.«

»Bis bald, Frédéric.«

Rocard machte er sich auf den Weg nach Hause. Galgon lag ganz in der Nähe. Er wollte noch die Fische ausnehmen und sie zum Abendessen über dem Grillfeuer braten.

* * *

Gegen Mitternacht klopfte es an seiner Arbeitszimmertür, und Agnès kam herein. Sie stellte eine Tasse Tee neben seinen Laptop, trat hinter ihn und drückte ihm einen zarten Kuss auf den Kopf. »Gibt es etwas Neues?«

»Leider nein.«

Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen. »Hast du dir schon mal überlegt, dass Emma gar nicht gefunden werden will?«

»Das ist ausgeschlossen. Sie würde uns niemals freiwillig verlassen.«

* * *

Kurz vor Mitternacht saß Jean-Baptiste Armand aufrecht und steif auf einem Sessel im kleinen Salon. Durch ein Fenster konnte er auf den Hof schauen, der sich dunkel und verlassen bis zur Einfriedungsmauer erstreckte. Er hatte kein Licht angeschaltet, und der Raum wurde nur spärlich vom Mondlicht erhellt. Er war sich sicher, dass ihn von außen niemand sehen konnte. In den Ecken des Raumes meinte er immer wieder Schatten kauern zu sehen.

Nach reiflichen Überlegungen hatte der Winzer beschlossen, sich der Konfrontation mit den Männern zu stellen, die ihn in der Nacht zuvor bedroht hatten. Er würde ihnen sagen, dass er erst mit seiner Bank sprechen müsse und ihnen das Geld zu einem späteren Zeitpunkt übergeben werde. Inständig hoffte er, dass sie dieses Angebot akzeptierten. Er konnte sich nicht länger verstecken.

Als die Standuhr Mitternacht schlug, konnte er durch das Fenster sehen, dass sich Scheinwerfer näherten. Wie zwei gelbe Augen schienen sie ihn zu fixieren. Schweiß brach ihm aus, und er begann unkontrolliert zu zittern. Sein mühsam zusammengekratzter Mut sank rapide, und Panikattacken fuhren wie Stromstöße durch seinen Körper.

Als er eine Autotür zufallen hörte, sprang er auf und rannte in die Küche, die sich ebenfalls im Erdgeschoss befand. Dort gab es hinter einer kaum sichtbaren Tapetentür einen Zugang zum Keller. Er holte eine Taschenlampe aus einer Schublade, entriegelte die Tür, riss sie auf und zog sie geräuschlos wieder hinter sich zu. Dann schaltete er die Lampe ein und stürzte die ausgetretenen Steinstufen hinunter. Er folgte dem niedrigen Gang, der parallel zur Südfassade unter der gesamten ehemaligen Remise verlief.

Klebrige Spinnweben strichen über seinen Kopf, die abgestandene, nach Moder riechende Luft verursachte ihm Übelkeit, und als er den rosigen Schwanz einer Ratte in einem Loch verschwinden sah, setzte sein Herzschlag für eine Sekunde aus. Verzweifelt hastete er weiter, bis er den westlichen Ausgang erreichte. Leise öffnete er die Tür einen Spaltbreit und lauschte in die Nacht.

Die Männer standen noch immer vor der Eingangstür, hämmerten dagegen und riefen seinen Namen. Schnell verließ er über bemooste rutschige Stufen den Keller und rannte auf der Rückseite des Hauses durch den Obstgarten, vorbei am alten Brunnen. Dann folgte er geduckt einem Pfad, der entlang eines Weinberges auf eine Anhöhe führte, und verbarg sich hinter dem Stamm einer Eiche. Wenige Meter daneben, geschützt von jungen Birken und Haselnusssträuchern, erhob sich ein Jägerstand, auf den er nun, so schnell er konnte, kletterte. Außer Atem ließ er sich auf dem Sitz nieder und spähte durch das Laubwerk.

Vom Hochsitz aus hatte er einen guten Blick auf sein Weingut, einen Teil des Hofes und die Zufahrt. Überall im Haus gingen nacheinander die Lichter an, sie suchten ihn offenbar auch auf dem Dachboden und im Keller. Nach etlichen langen Minuten hörte er Stimmen auf dem Hof, dann das Schlagen von Autotüren. Scheinwerfer flammten auf, und das Fahrzeug fuhr über die Zufahrt auf die Landstraße. Rasch war es in der Dunkelheit verschwunden. Armand wartete noch eine halbe Stunde, ehe er beschloss, ein paar Sachen zu packen und unterzutauchen, bis er einen neuen Plan hatte. Entschlossen kletterte er die Leiter hinunter und rannte zurück zum Obstgarten. Ein greller Schmerz fuhr durch seine Brust, und er setzte sich auf die Bank neben dem alten Brunnen, um kurz zu verschnaufen und darauf zu warten, dass der Druck in seiner Brust nachließe.

Plötzlich drang hinter ihm aus dem Mehlbeer-Gebüsch ein kaum vernehmbares Rascheln und Schaben. Er fuhr herum und starrte angstvoll auf die gedrungenen Schatten des Busches. Nichts war zu sehen, und die Geräusche waren verstummt. Waren die Männer zurückgekommen? Dann hätte er doch den Motor ihres Wagens gehört. Er versuchte, sich zu beruhigen. Es war bestimmt nur ein Tier gewesen, vielleicht ein Dachs auf der Suche nach Insekten oder Aas.

Gerade als er sich erheben wollte, spürte er einen heftigen Schlag auf seinem Kopf. Entsetzt riss er die Augen auf, dann wurde es dunkel um ihn, und er kippte benommen auf die Seite.

5. Juni

Ein vorwitziger Sonnenstrahl fiel durch den Spalt der Vorhänge und kitzelte Mélanie Leroy an der Nase. Sie schlug die veilchenblauen Augen auf und blinzelte irritiert. Dann drehte sie sich schlaftrunken auf die Seite und tastete nach Claude, um sich an ihn zu kuscheln. Verblüfft stutzte sie, setzte sich abrupt auf und starrte auf die leere Betthälfte neben sich. Er war nicht da. Schlagartig fiel ihr ein, was gestern Abend passiert war. Sie hatten sich gestritten, wie so oft. Sie waren im Restaurant Les Pins im angesagten Viertel La Bastide rechts der Garonne zum Abendessen verabredet gewesen, und sie hatte sich verspätet, nicht zum ersten Mal.

Die Kommissarin mit der zierlichen Gestalt hatte über dem Aktenstudium im Fall der ermordeten Prostituierten Loulou die Zeit vergessen. Als sie eine Stunde zu spät zu ihrer Verabredung gekommen war und Claude zur Begrüßung ein Wangenküsschen hatte geben wollen, hatte er sein Glas Rotwein in einem Zug hinuntergestürzt, die Speisekarte auf den Tisch geknallt und war wütend gegangen.

Sie fuhr sich stirnrunzelnd durch den ebenholzschwarzen Pagenkopf und beschloss, erst einmal Kaffee zu kochen. Sie hatte ihren freien Tag eigentlich mit Claude verbringen wollen. Aber sie würde sich nicht bei ihm melden. Er wusste, dass sie ihren Job ernst nahm und ihr die Arbeit über alles ging. Ein wenig mehr Verständnis erwartete sie schon von ihm. Außerdem war auch er ein Arbeitstier. Claude Lasserre war ein aufstrebender Staatsanwalt am Geschworenengericht von Bordeaux, wo sie sich auch kennengelernt hatten. Damals waren ihr zuerst seine sympathischen weichen Gesichtszüge und die freundlichen blauen Augen mit den Lachfältchen aufgefallen.

Schwungvoll stieg sie aus dem Bett, zog ein T-Shirt über den Kopf, ging in die Küche und setzte Kaffee auf. Während er durchlief, trank sie, an der Küchenzeile lehnend, durstig ein Glas Milch. Dann betrat sie mit ihrer Kaffeetasse in der Hand den kleinen Balkon und setzte sich an das Bistrotischchen, das sie froschgrün lackiert hatte. In den Kästen, die am Geländer befestigt waren, verströmten ihre Kräuter einen würzigen Duft nach Thymian, Basilikum, Petersilie. In Pflanzenkübeln wuchsen Tomaten, Paprika, Ringelblumen und Vergissmeinnicht. Von der Decke hing ein Windspiel, das leise klimperte.

Mélanie liebte ihre grüne Oase inmitten der hektischen Großstadt Bordeaux. Ihre Wohnung ging auf den Innenhof hinaus, so dass der stetige Verkehrslärm kaum zu hören war. Sie bewohnte im Stadtteil Saint-Genès im Südwesten von Bordeaux am linken Garonne-Ufer eine Altbauwohnung mit hohen stuckverzierten Decken und Zierbalkonen vor den bodentiefen Fenstern. Normalerweise hätte sie sich eine solche Wohnung in dieser Lage nicht leisten können, aber die Eigentümerin der Wohnung, eine sehr nette alte Dame, hatte glücklicherweise bisher kein Interesse daran gezeigt, die Miete zu erhöhen.

Während Mélanie den starken schwarzen Kaffee genoss, dachte sie darüber nach, wie sie ihren freien Tag gestalten wollte.

* * *

Nachdem sie sich angezogen hatte, besuchte sie das Café Albert Marquet, benannt nach Bordeaux’ großem Maler der Moderne, am Port de la Lune. Dort gönnte sie sich im Schatten einer Markise einen großen Milchkaffee sowie zwei Croissants und las die Tageszeitung Sud Ouest.

Als sie anschließend auf der Promenade am Ufer entlangschlenderte, betrachtete sie interessiert die Zeichnungen der vielen Straßenmaler. Ein Aquarell, das den Port de la Lune während eines Sturms zeigte, gefiel ihr besonders gut.

Der junge Künstler, der einen Strohhut trug und auf der Kaimauer sitzend eine Zigarette rauchte, erhob sich lächelnd und tippte mit dem Zeigefinger an die Hutkrempe. »Bonjour Madame. Ich würde gern eine Zeichnung von Ihnen anfertigen. Sie sind wunderschön.« Er flirtete mit ihr.

Mélanie lachte. »Danke, Monsieur, aber das machen wirklich nur Touristen.«

Schließlich ließ sie sich doch überreden, und das Ergebnis war äußerst beeindruckend. Dem Maler, von dem sie jetzt wusste, dass er Jules hieß, war es gelungen, ihr Lächeln perfekt einzufangen. Er hatte sie mit weichen Strichen im Halbprofil gezeichnet, so dass ihre zarte Nase und die geschwungenen Lippen gut zur Geltung kamen.

»Es ist schön geworden«, sagte sie.

»Merci, Madame.«

Sie verabschiedeten sich, und Mélanie machte sich auf den Nachhauseweg. Unterwegs beschloss sie, das Porträt Claude zu schenken, als eine Art Friedensangebot.

Nachdem sie das Bild behutsam an die Wohnzimmerwand gelehnt hatte, verließ sie das Haus, ging zu ihrem kleinen roten Peugeot, der um die Ecke stand, und machte sich auf den Weg nach Branne, einer kleinen Ortschaft an der Dordogne östlich von Bordeaux. Dort fuhr sie an der Marina vorbei und folgte einer schmalen asphaltierten Straße, wobei sie den Schlaglöchern geschickt auswich. Dann bog sie in einen Feldweg ein, bis sie zu einer Hütte kam, die einige Meter oberhalb des Flusses lag, und stellte das Auto ab. Als sie ausgestiegen war, betrachtete sie die Dordogne, die ruhig zwischen Laubbäumen, Buschwerk und Schilf dahinströmte. Sonnenstrahlen ließen das Wasser glitzern, und es roch nach feuchter Erde.

Das Grundstück mit dem Steinhäuschen, dem schiefen Kamin und dem Backsteingrill hatte sie von einem alten Mann gekauft. Eines Tages war sie hier in der größten Mittagshitze mit ihrem Kajak vorbeigefahren, und er hatte am Ufer gesessen und geangelt. Sie hatten ein paar Worte gewechselt, dann hatte er sie zu einer kalten Orangina eingeladen. Er erzählte ihr, dass er aus gesundheitlichen Gründen sein geliebtes Refugium verkaufen müsse, dass sich aber niemand für das Grundstück interessiere. Einige Male im Jahr, wenn sich das Atlantikwasser zu einer Springflut, die die Einheimischen mascaret nannten, aufbaute und den Wasserpegel der Dordogne steigen ließ, wurde auch das Häuschen feucht. Kurzentschlossen und aus dem Bauchgefühl heraus hatte Mélanie das idyllische Anwesen gekauft.

Seitdem kam sie, sooft ihr Dienstplan es erlaubte, hierher und genoss die Ruhe und den Frieden. Ihr Kajak hatte sie in der Hütte untergebracht.

Im Häuschen schlüpfte Mélanie nun in ihren Bikini und in die Badeschuhe und setzte eine Baseballkappe auf. Dann trug sie ihr Kajak zum Ufer, setzte es auf das Wasser und legte die Paddel zurecht.

Mit regelmäßigen Schlägen paddelte sie flussaufwärts, und ab und zu konnte sie einen Reiher am Ufer beobachten, der nach Fischen Ausschau hielt. Eine braune Wasserschlange glitt am Boot vorbei. Die Blätter der Erlen und Weiden wurden vom Wind gekräuselt und raschelten. Nach einer Weile erreichte sie eine steinerne Brücke aus dem Mittelalter, die auf der rechten Seite mit einem kompakten Türmchen abschloss. Sie hieß Pont du Diable, Teufelsbrücke. Mélanie wendete und fuhr mit der Strömung zur Hütte zurück. Auf der ganzen Strecke waren ihr nur zwei Motorboote begegnet.

Sie suchte sich einen schattigen Platz und holte ein Sandwich mit Schinken, Käse und Salat sowie eine Flasche Wasser aus der Kühltasche. Während sie in Ruhe aß, sah sie auf den Fluss, dann checkte sie kurz ihr Handy und grinste. Claude hatte siebenmal angerufen und drei Textnachrichten hinterlassen, unter anderem eine Einladung zum Abendessen.

Doch Mélanie hatte keine Lust, nach Bordeaux zurückzufahren. Sie würde in den kleinen Supermarkt nach Branne fahren, am Abend den Grill anwerfen, zu den Steaks ein Glas Wein trinken und die letzte Akte im Mordfall Loulou durcharbeiten. Schlafen würde sie in ihrer Hängematte. Wenn sie am nächsten Morgen früh losfuhr, käme sie rechtzeitig zum Dienst.

6. Juni

Eine pastellfarbene Morgenröte überzog den Himmel, und es war noch angenehm kühl, als Babette Delisse sich auf den Weg zum Château Comtesse-de-la-Francis machte. Sie lebte mit ihrem Mann in einem bescheidenen Häuschen in Arsac. Ihre Kinder, ein Mädchen und zwei Jungs, waren schon lange ausgezogen und hatten eigene Familien. Seit sechs Jahren gab es ein neues Familienmitglied: Luna, eine weiße französische Bulldogge mit schwarzen Ohren. Sie saß auf einem Kissen im Körbchen, das am Fahrradlenker befestigt war, und betrachtete interessiert die Landschaft, während Madame Delisse in die Pedale trat. Der Weg verlief auf wenig befahrenen Landstraßen ohne nennenswerte Steigungen und führte durch Weinberge, Ackerland und Wiesen. An den Grashalmen glitzerten Tautropfen, und die frische Luft roch nach feuchter Erde und wildem Salbei.

Als ihre Kinder erwachsen waren, hatte sie viele Jahre als Köchin in der Dorfgastwirtschaft gearbeitet, und sie hatte diese Tätigkeit gemocht. Doch dann suchte der Winzer Jean-Baptiste Armand eine Hauswirtschafterin, sie bewarb sich kurz entschlossen und bekam aufgrund bester Referenzen die Stelle. Sie war besser bezahlt, die Aufgaben waren vielfältiger, und – das Beste – sie konnte sich die Arbeit einteilen, wie sie wollte. Armand ließ ihr völlig freie Hand, und wenn er Gäste einlud, gab es immer großzügiges Trinkgeld.

Als sie das Weingut fast erreicht hatte, stieg sie ab und schob das Fahrrad den Hügel hinauf. Luna thronte in ihrem Korb. Schwer atmend warf Madame Delisse ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. »Du könntest die letzten Meter laufen, dann müsste ich mich nicht so plagen.«

Luna wandte den Kopf ab und tat, als hätte sie nichts gehört.

»Verwöhnter Hund«, schimpfte Madame Delisse. Schuld war ihr Mann, er ließ der Bulldogge alles durchgehen. Gegenüber seinen Kindern war er nicht so nachsichtig gewesen.

Vor der Remise stellte sie das Fahrrad ab. Luna wartete, bis sie aus dem Korb gehoben und behutsam auf den Boden gesetzt wurde. Madame Delisse sperrte auf, und mit dem Hund betrat sie die Diele.

»Bonjour Monsieur Armand! Wir sind es, Babette und Luna.«

Sie bekam keine Antwort. Das war nicht ungewöhnlich, der Winzer war um diese Zeit oft schon in seinen Weinbergen oder in den Kellern beschäftigt. Ihr fiel sofort auf, dass die Luft abgestanden war und muffig roch. Das war merkwürdig. Armand riss am frühen Morgen meist die Fenster auf, um alles durchzulüften. Sie beschloss, zunächst einen Rundgang durch das Haus zu machen und die Fenster zu öffnen. Im Obergeschoss befanden sich Monsieur Armands Schlafzimmer, das Zimmer seiner Tochter Eveline, die derzeit nicht zu Hause wohnte, sein Arbeitszimmer, der große Salon und das Badezimmer.

Nach und nach öffnete sie alle Fenster, und frische Luft drang ins Haus. Im Erdgeschoss machte sie weiter. Das Haus war völlig leer.

Luna rollte sich gähnend in ihrem Körbchen zusammen und stieß einen tiefen Seufzer aus. Ihr Frauchen inspizierte die Küche, während sie sich eine bunt gemusterte Kittelschürze überzog, und beschloss, sich zunächst eine Tasse Kaffee zu gönnen. Erstaunt sah sie, dass schmutziges Geschirr sich in der Spüle stapelte, auf dem Herd stand eine fettige Pfanne und auf dem Küchentisch ein leeres Weinglas. Sie konnte sich nicht erinnern, dass so etwas schon einmal vorgekommen war. Misstrauisch öffnete sie den Kühlschrank und spähte hinein. Der Salat war welk, die Radieschen nicht mehr knackig, und der Käse war hart geworden. Verwundert schüttelte sie den Kopf. Das sah Armand gar nicht ähnlich. Warum hatte er die verdorbenen Lebensmittel nicht weggeworfen?

Einmal in der Woche legte Monsieur zweihundert Euro in die Nussbaumschale auf der Kommode, das Haushaltsgeld und ein kleiner Zuschuss für Madame Delisse, von dem das Finanzamt nichts wissen musste. Doch heute lag in der Schale kein Cent.

Allmählich wurde sie von Unruhe ergriffen. Dann fiel ihr ein, dass Monsieur erwähnt hatte, er werde vielleicht seine Tochter besuchen. Das würde die stickige Luft im Haus erklären, aber er hätte vor seiner Abreise doch erst recht aufgeräumt und Geld für frische Einkäufe hinterlassen.

Nachdenklich ließ Madame Delisse ihren Blick durch den Raum schweifen. Als sie das entriegelte Schloss an der Kellertür entdeckte, fröstelte sie. Die Tür stand einen Spaltbreit offen. Diesen Zugang schloss sie immer ab, dessen war sie sicher, nicht auszudenken, dass eine fette Ratte über die Treppe in die Küche lief. Beunruhigt ging sie zur Tür, lauschte in die Dunkelheit, ehe sie sie rasch absperrte und sich tief atmend dagegenlehnte.

Luna sprang aus dem Körbchen, trank aus ihrem Wassernapf und lief schwanzwedelnd zur Glastür mit dem Fliegengitter. Sie wollte in den Garten. Babette Delisse öffnete die Tür.

»Bleib schön im Obstgarten, chéri, Monsieur Armand mag es nicht, wenn du durch die Weinberge stromerst.«

Luna rannte über die Wiese und verschwand hinter einem Ginsterstrauch. Madame Delisse krempelte die Ärmel hoch und machte sich an den Abwasch. Durch die offen stehende Hintertür hörte sie Luna bellen. Es klang anders als sonst, regelrecht hysterisch. »Still jetzt!«, rief Madame Delisse streng. Die hohen, sich überschlagenden Laute machten sie ganz nervös.

Die Hündin reagierte nicht und kläffte weiter. Nachdem zwei, drei Minuten verstrichen waren, beschloss Madame Delisse nachzusehen, was da los war. Sie war es nicht gewöhnt, dass Luna sich so verhielt und trotz scharfer Stimme überhaupt nicht gehorchte. Vielleicht hatte sie ein verendetes Tier entdeckt?

Sie fand Luna am alten Brunnen, dessen brüchige Steinmauer sie ohne Unterbrechung anbellte und dabei die Zähne fletschte. Als Madame Delisse sie am Halsband wegziehen wollte, schnappte sie nach ihr. Erschrocken zog sie die Hand zurück. Wahrscheinlich war etwas in dem Brunnen, vielleicht eine tote Ratte. Aber wie sollte sie da hineingekommen sein? Der Brunnen war mit zwei halbmondförmigen massiven Steindeckeln verschlossen. Resolut entschied sie sich nachzusehen. Sie packte eine der Platten und versuchte, sie hochzuheben und auf die Seite zu rücken. Der Deckel war sehr schwer, doch es gelang ihr, ihn zu bewegen. Er schabte über den Rand, und Madame Delisse starrte in das düstere Loch. Die dunkel schimmernde Wasseroberfläche lag mindestens drei Meter unter ihr. Wie tief das Wasser war, wusste sie nicht. Es war nichts zu sehen, doch Luna bellte ohne Unterlass.

»Was ist denn hier los?« Eine kräftige dunkle Stimme übertönte das Gebell.

Madame Delisse drehte sich um und erblickte den Verwalter des Weingutes, Grégoire Lenôtre, einen kräftigen Mann Mitte vierzig mit einem widerspenstigen dunklen Schopf.

»Bonjour, Monsieur Lenôtre. Luna ist so aufgeregt, sie lässt sich nicht beruhigen. Ich dachte, dass womöglich ein verendetes Tier im Brunnen liegt, aber es ist nichts zu erkennen.«

Lenôtre hob mühelos die Platte, so dass Sonnenlicht auf die Wasseroberfläche fiel.

»Ich kann auch nichts sehen, aber das hat nichts zu bedeuten. Das Wasser ist etwa vier Meter tief.«

Dann starrte er auf den rostigen Eimer, der neben dem Brunnenrand auf dem Boden lag, eine Gliederkette schlang sich wie eine bronzene Schlange um ihn. »Jean-Baptiste holt mit dem Eimer Wasser aus dem Brunnen, um damit seine Rosen zu gießen.«

Die Hauswirtschafterin sah ihn entsetzt an. »Sie glauben doch nicht, dass er beim Wasserschöpfen in den Brunnen gefallen ist?«

»Aber nein.«

Erleichtert stieß sie die Luft aus. »Natürlich nicht. Er wollte ja auch seine Tochter besuchen.«

»Das glaube ich nicht, er hätte es mir doch gesagt. Allerdings habe ich ihn gestern nicht im Büro getroffen.« Wieder spähte er mit zusammengekniffenen Augen in den Schacht und runzelte die Stirn. »Irgendetwas ist da, dicht unter der Wasseroberfläche. Aber ich kann es nicht erkennen …«

Er zog sein Handy aus der Tasche. »Ich rufe einen der Arbeiter an«, erklärte er. »Wenn ein totes Tier im Brunnen liegt, müssen wir es sofort herausholen, sonst wird das Wasser verseucht.« Der Anruf wurde angenommen. »Pass auf, Adrien. Komm mit ein paar Männern zum Brunnen und bring ein langes Seil aus der Werkstatt mit.«

Es dauerte keine fünf Minuten, und Adrien kam mit zwei Kollegen, in der Hand ein aufgerolltes Seil. Der alte knorrige Stallknecht Gilbert, der an seinem weißen Bart zupfte, folgte ihnen. Er hatte die Angewohnheit, überall auf dem Weingut aufzutauchen, wenn niemand mit ihm rechnete. Der Verwalter übernahm das Kommando. »Ihr lasst mich in den Brunnen hinab. Ich muss schauen, was da ist.«

Entschlossen schlang er sich das Seil um die Brust und machte einen speziellen Sicherungsknoten. Madame Delisse fühlte Übelkeit in sich aufsteigen und lehnte sich an einen Apfelbaum. Ein ungutes Gefühl überfiel sie. Luna kauerte sich winselnd neben sie. Es ist bestimmt ein Tier, versuchte sie sich zu beruhigen, vielleicht hatte Monsieur Armand vergessen, die Platten wieder an ihren Platz zu rücken.

Lenôtre stützte sich mit den Füßen an der Mauer ab, die drei Arbeiter und Gilbert hielten das Seil. Er erreichte die Wasseroberfläche. »Noch ein Stück weiter!«, rief er.

Als er bis zur Brust im Wasser war, tastete er suchend unter der schwarzbraunen Oberfläche umher. Er spürte eine kalte, glitschige Kante.