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Dankbarkeit lohnt sich, denn sie macht uns glücklicher und zufriedener. Aber dankbar zu sein ist gar nicht so einfach. Oft stehen wir unserem Glück nämlich selbst im Weg. Jeder kennt das: Das Fahrrad hat einen Platten, der Bus ist zu spät, und die Supermarktschlange ist endlos – was für ein nerviger Tag! Aber Halt, es gab doch auch erste warme Sonnenstrahlen im Gesicht, eine rührende SMS der besten Freundin, die selbstgemachten Frühstücks-Pfannkuchen des Ehemanns. Warum lassen wir uns so oft die Laune von den kleinen Stolpersteinen des Alltags verderben, statt das Positive wahrzunehmen? Janice Kaplan hat sich vorgenommen, das zu ändern. Ein Jahr lang konzentrierte sie sich bewusst auf die Dinge, für die sie dankbar sein konnte, und hielt ihre Erfahrungen in einem Tagebuch fest – mit verblüffendem Effekt: Ob in Ehe, Familie, Freundschaft oder Beruf, am Ende des Jahres fühlte sie sich so glücklich wie nie. Dieses Buch erzählt davon, wie sehr sich Achtsamkeit und positives Denken lohnen und wie wichtig es ist, Kleinigkeiten schätzen zu lernen. Gestützt auf Erkenntnisse aus Psychologie, Medizin und Philosophie erfahren wir, wie drastisch sich unser Lebensgefühl verändert, wenn wir den Blick auf das richten, was wir haben – denn das ist gar nicht so wenig.
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Seitenzahl: 437
Janice Kaplan
Das große Glück der kleinen Dinge
Wie Dankbarkeit mein Leben veränderte
Aus dem Englischen von Katharina Förs und Barbara Steckhan
Ihr Verlagsname
Dankbarkeit lohnt sich, denn sie macht uns glücklicher und zufriedener. Aber dankbar zu sein ist gar nicht so einfach. Oft stehen wir unserem Glück nämlich selbst im Weg.
Jeder kennt das: Das Fahrrad hat einen Platten, der Bus ist zu spät, und die Supermarktschlange ist endlos – was für ein nerviger Tag! Aber Halt, es gab doch auch erste warme Sonnenstrahlen im Gesicht, eine rührende SMS der besten Freundin, die selbstgemachten Frühstücks-Pfannkuchen des Ehemanns. Warum lassen wir uns so oft die Laune von den kleinen Stolpersteinen des Alltags verderben, statt das Positive wahrzunehmen?
Janice Kaplan hat sich vorgenommen, das zu ändern. Ein Jahr lang konzentrierte sie sich bewusst auf die Dinge, für die sie dankbar sein konnte, und hielt ihre Erfahrungen in einem Tagebuch fest – mit verblüffendem Effekt: Ob in Ehe, Familie, Freundschaft oder Beruf, am Ende des Jahres fühlte sie sich so glücklich wie nie.
Innigen Dank an Barnaby Marsh für seine Weisheit, seine Energie und seine Ideen. Er hat mich dazu gebracht, auf ganz neue Weise über Dankbarkeit nachzudenken, und dafür bin ich ihm ewig … dankbar.
In Anbetracht der Tatsache, dass es bei dem neuen Projekt, an dem ich arbeite, um Dankbarkeit geht, hätte dieser Aprilmorgen eigentlich mit Sonnenschein und Vogelgezwitscher beginnen müssen, ebenso mit Freunden, die in meinem Wohnzimmer «Kumbaya» anstimmen.
Stattdessen ging alles schief, was nur schiefgehen konnte.
Trotzdem gelang es mir, ein paar Sonnenstrahlen zu entdecken.
Es fing damit an, dass mein alter Volvo nicht anspringen wollte und auch das Starthilfekabel wirkungslos blieb. Der Nachbar, der herüberkam, um mir zu helfen, rettete meinen Tag, indem er mich zum 20 Minuten entfernten Bahnhof fuhr. In der Stadt angekommen, trat ich genau in dem Augenblick auf den nassen, windgepeitschten Bürgersteig, als ein Bus in vollem Tempo durch eine Riesenpfütze fuhr und mich ein dicker Schwall des schlammigen Wassers traf.
«Iiiih!», schrie ich, obwohl durchaus auch etwas Deftigeres angebracht gewesen wäre.
Ein paar Passanten gaben mitfühlende Laute von sich, aber ich wollte nicht aussehen wie eine Überlebende eines Querfeldeinrennens, wenn ich zu der wichtigen Besprechung ging. Mein bevorzugter J.-Crew-Laden war nur ein paar Straßenzüge entfernt, also eilte ich hin, kaufte spontan einen Rock mit gewagtem Druckmuster und zog mich in der Umkleidekabine um.
Ich schaffte es gerade noch rechtzeitig zu dem bevorstehenden Meeting, traf dabei allerdings auf einen Manager, dessen Bräune aus der Tube stammte und der eindeutig zu viel Haarfestiger benutzte. Er schrieb SMS, während ich mit ihm redete, und schaffte es erst am Ende, den Kopf zu heben. «Hey, Sie sehen echt scharf aus in dem Rock», erklärte er.
Da ich mich nicht auf einer Dating-Plattform anpries, sondern für ein neues Projekt warb, hätte ich wütend sein müssen. Stattdessen lachte ich. Dabei dachte ich, dass es mir zum Glück erspart blieb, mit einem Mann zusammenzuarbeiten, der mehr für Haarpflegeprodukte ausgab als ich.
Anschließend ging ich mit meiner besten Freundin Susan, die ich als Achtjährige in einem Sommerlager kennengelernt hatte, einen Kaffee trinken. Sie ist extrem kritisch, gnadenlos offen und immer auf meiner Seite.
«Du musst ja völlig fertig sein», sagte sie, nachdem ich von meinem Tag erzählt hatte.
«Nein, gar nicht. Ich bemühe mich, es positiv zu sehen.»
«Was ist denn bitte an einem kaputten Auto positiv?»
Ich holte tief Luft. Das war zu schaffen. «Der Wagen ist 14 Jahre alt und hat mehr als 240000 Kilometer auf dem Buckel. Ich hätte nie gedacht, dass er überhaupt so lange hält. Viel wichtiger ist doch, dass ich einen so netten Nachbarn habe, der mir geholfen hat.»
«Ja, das war toll», gab Susan zu. «Und was ist mit dem Bus, der dich nassgespritzt hat?»
«Sieh es mal von der lustigen Seite. Der dämliche Manager hat mir ein Kompliment wegen meines Rocks gemacht. Was für ein Glück, dass ich mir ein neues Outfit kaufen konnte, ohne eine Bank überfallen zu müssen.»
Susan kippte zwei Beutel Süßstoff in ihren Kaffee und rührte mit Schwung um. Jahrelang hatte sie mich lamentieren hören, ich bräuchte mehr Geld. Sie musste sich erst noch darauf einstellen, dass ich nun zufrieden war mit dem, was ich besaß.
«Ich bin deine beste Freundin. Mir gegenüber kannst du meckern und jammern, so viel du willst.»
«Mir ist gar nicht nach Jammern», entgegnete ich – und war darüber ebenso überrascht wie sie. «Ich kann nun mal nicht ändern, was geschehen ist, deshalb ändere ich lieber, wie ich darüber denke, und fühle mich gut dabei.»
Susan trank einen großen Schluck Kaffee. Sie ist sehr ehrgeizig und knallhart. Trotz ihrer großen Erfolge im Job steht sie oft unter Druck, ist gestresst und manchmal sogar deprimiert. Wie wir alle beschäftigt sie sich meist dermaßen konzentriert mit dem, was sie anstrebt, dass sie vergisst, über das glücklich zu sein, was sie schon hat. Jetzt fürchtete ich, ihr mit meiner guten Laune auf die Nerven zu gehen. Aber sie hob nur eine Augenbraue.
«Wenn das von dem Dankbarkeitszeugs kommt, an dem du gerade arbeitest, dann brauche ich das wohl auch. Wo kann man sich anmelden?»
Es war an der Zeit, mein Geheimnis zu lüften. Also schrieb ich auf eine Serviette: Drei Dinge, für die ich heute dankbar bin. Dann schob ich die Serviette über den Tisch und gab Susan einen Stift.
«Füll das aus», sagte ich.
Susan starrte so lange auf die Serviette, dass ich sie schließlich wieder an mich nahm, Drei Dinge durchstrich und stattdessen schrieb: Eine Sache.
«Fangen wir mit der einfachen Version an», sagte ich.
Genau so hatte ich selbst ein paar Monate zuvor begonnen. Inzwischen wusste ich, dass es genügte, jeden Tag eine Sache aufzuschreiben, die mich dankbar stimmte, um meine Grundhaltung allem gegenüber zu verändern. Ein strahlender Sonnenuntergang. Die Umarmung einer guten Freundin. Ein erster Hauch von Frühling.
Eine Sache.
Die findet doch nun wirklich jeder.
Lasst uns dankbar sein gegenüber Menschen, die uns glücklich machen. Sie sind die liebenswerten Gärtner, die unsere Seele zum Blühen bringen.
Marcel Proust
Dankbar, mit dem neuen Jahr ein Leben voller Dankbarkeit beginnen zu können
Glücklich, weil ich jetzt weiß, dass Dankbarkeit Stress vermindern, den Schlaf verbessern und mich glücklicher machen kann
Froh über dieses hübsche Tagebuch, das ich nur mit guten Gedanken füllen werde
Mein Wunsch nach einem Leben voller Dankbarkeit erwachte an einem Silvesterabend kurz vor Mitternacht. Die Finger um ein Champagnerglas geklammert und ein festgefrorenes Lächeln auf den Lippen, stand ich auf einer Party. Eigentlich hätte ich mir bewusst machen sollen, wie gut es mir ging, stattdessen zählte ich die Minuten, bis ich endlich nach Hause aufbrechen konnte. Wegen meiner extrem hohen High Heels taten mir die Füße weh, und mir dröhnte der Kopf von der lauten Musik. Ich trug mein kleines Schwarzes, das ein bisschen zu eng war, und konnte es kaum erwarten, mir zu Hause die Miederwäsche vom Leib zu reißen.
Im Fernseher in der Ecke lief New Year’s Rockin’ Eve, die traditionelle Silvestersendung, und als ich sah, wie erst die Leute in Kalifornien jubelten, dann die Menschen in Washington miteinander anstießen und schließlich in Boston die Massen ausgelassen tobten, fragte ich mich, ob ich als Einzige in ganz Amerika nicht in Feierlaune war. Vielleicht waren die anderen aber auch nur bessere Schauspieler.
In New York stießen ungefähr eine Million Menschen einen donnernden Schrei aus, als es auf Mitternacht zuging und am Times Square der Ball langsam am Wolkenkratzer herabsank. Es herrschten ungefähr sieben Grad minus, und da die Menge von mobilen Metallzäunen in Schach gehalten wurde und keine Dixi-Klos in Reichweite waren, konnte man verstehen, dass sie Mitternacht herbeifieberte. Das neue Jahr auf der Toilette zu begießen würde in jeder Hinsicht eine große Erleichterung sein.
Der Ball hatte sein Ziel erreicht, und unter dem Konfettiregen leuchtete auf der Anzeigetafel das neue Datum auf.
«Ein gutes neues Jahr!»
Mein Mann Ron küsste mich kurz auf die Wange, und wir stießen miteinander an.
Nun, da die Spannung verflogen war, schien niemand mehr recht zu wissen, was er mit sich anfangen sollte. Im Fernsehen senkte sich der Ball bereits in der x-ten Wiederholung, als handelte es sich um die Mondlandung oder den entscheidenden Touchdown beim Super Bowl. Nicht weit von mir an der Bar schenkte sich eine Frau ein weiteres Glas Champagner ein. Ihre Wimperntusche war verschmiert, Tränen liefen ihr über die Wangen.
«Alles in Ordnung?», fragte ich.
«Nein.» Sie wischte sich über die Augen. «Ich hasse Silvester. Warum macht man sich vor, alles wäre anders, nur weil der Zeiger über die Zwölf gerückt ist? Der Prinz mit seinem Schuh ist auch nicht vorbeigekommen und hat mich zur Prinzessin gemacht.»
Ich beschloss, mit ihr lieber nicht über die Details von Aschenputtel zu streiten (nein, meine Gute, um Mitternacht hat sie den Schuh verloren und sich von einer Prinzessin wieder in ein normales Mädchen verwandelt), und wandte mich ab. Ihre Frage aber ließ mich nicht mehr los. Würde sich tatsächlich etwas ändern? Wir feiern Silvester mit großen Hoffnungen und wahnsinnigen Erwartungen – was (abgesehen von der Miederwäsche) der Grund dafür sein mag, dass sich so viele Menschen unwohl fühlen. Die Frau hatte recht: Das Leben wurde nicht besser, bloß weil man ein Kalenderblatt umgeschlagen hatte.
Objektiv gesehen ging es mir gut, das wusste ich. Ich hatte zwei wunderbare Söhne, einen attraktiven Ehemann, einen interessanten Beruf und gute Freunde. Doch wie so viele von uns konzentrierte ich mich eher auf die negativen Seiten meines Lebens als auf die positiven. Die vergangenen zwölf Monate waren ohne Probleme verlaufen, allerdings auch ohne Höhen, die mich veranlasst hätten, außer mir vor Freude durch die Straßen zu tanzen. Ich stellte mir vor, wie ich den Silvesterabend in einem Jahr verbringen würde. Was brauchte ich, um zu Mitternacht in einem Jahr glücklicher zu sein, als ich es augenblicklich war? Vielleicht würde ich in den kommenden zwölf Monaten im Lotto gewinnen, in ein Südseeparadies umziehen oder einen Bestseller schreiben. Aber würde sich dadurch wirklich etwas ändern? Ich hörte mich bereits murren, die Steuern auf den Gewinn seien viel zu hoch, die Sonne auf Maui brenne zu heiß, und sechs Wochen auf der Bestsellerliste seien kaum zufriedenstellend.
Wenn das kommende Jahr nach dem Muster des vergangenen Jahres ablief, würden zahlreiche gute und weniger gute Dinge passieren. Ich hatte kürzlich eine landesweite Umfrage zum Thema Dankbarkeit betreut und in der Talkshow Today darüber berichtet. Die Umfrage hatte mich nachdenklich gestimmt und angeregt, mich intensiver mit den Auswirkungen einer positiven Einstellung zu befassen. Daher wusste ich, dass meine Gefühle beim nächsten Jahresrückblick vermutlich weniger von den tatsächlichen Ereignissen abhängen würden als von der Stimmung, Gemütsverfassung und Haltung, mit der ich jedem einzelnen Tag gegenübertrat. Nicht die Umstände waren entscheidend, sondern meine Art und Weise, damit umzugehen. Ich konnte tatenlos darauf warten, dass etwas Wunderbares passierte – und daran dann immer noch etwas auszusetzen haben. Oder ich akzeptierte, was geschah, und versuchte allem ein bisschen mehr Wertschätzung entgegenzubringen.
Als ich meinen Mantel holte, traf ich auf die Frau, die nicht länger Aschenputtel sein wollte.
«Ich wünsche Ihnen alles Gute für das neue Jahr», sagte ich.
«Das nützt auch nichts mehr», entgegnete sie.
«Vielleicht können Sie etwas tun, um es besser zu machen. Übrigens ein hübscher Mantel, den Sie da haben», sagte ich, als sie einen braunen Lammfellmantel überstreifte.
«Ach, der ist schon alt. Ich hätte lieber einen neuen. Ihrer ist viel hübscher.»
Ich hätte sie darauf hinweisen können, dass meiner kaum neuer war als ihrer und einen Fleck auf dem Ärmel hatte, aber ich hielt mich zurück. Hatte ich nicht gerade beschlossen, meine Stimmung, Gemütsverfassung und Haltung zu ändern? Mein Mantel war plötzlich ein Symbol für mein Leben: Ich besaß ihn, also galt es ihn auch zu schätzen. Ich wollte nicht länger undankbar sein.
«Er ist weich und warm», sagte ich fröhlich und schob die Hände in die Taschen. Sogleich glitt mein Finger in ein Loch. Aber weder das Loch noch ein Fleck oder ein unordentlicher Saum konnte mich bremsen. Wenn ich am kommenden Silvester glücklicher sein wollte als an diesem, musste ich noch heute anfangen, meine Einstellung zu ändern.
Am nächsten Morgen wachte ich früher auf als beabsichtigt. Die milde Wintersonne schien durch die Plisseerollos in unserer Wohnung im Zentrum Manhattans. Vor knapp zwei Jahren waren wir in die Stadt gezogen, nachdem wir lange Zeit in einem Vorort gewohnt hatten, und wir liebten die großen Fenster und die Aussicht auf den Fluss. (Meine erwachsenen Söhne hatten gescherzt, wir hätten den einzigen Platz in der Stadt gefunden, an dem man sich fühle wie in den Außenbezirken.) Die Wettervorhersage hatte vor einem Schneesturm gewarnt, dabei war der Winter ohnehin schon extrem schneereich und kalt. Doch ich zwang mich, innezuhalten und die wenigen Sonnenstrahlen zu genießen, die durch die stahlgrauen Wolken drangen.
Als ich aus der Küche Geschirrklappern hörte, zog ich rasch eine Jeans und ein T-Shirt an und gesellte mich zu Ron, der das Frühstück machte. Obwohl wir an dem Morgen allein waren, hatte er so viele Lebensmittel auf der Arbeitsplatte ausgebreitet, dass eine ganze Armee satt geworden wäre.
«Findest du mich eigentlich undankbar?», fragte ich.
«Du brauchst dich nicht zu bedanken, wenn ich Arme Ritter brate», antwortete er und drehte die Toastscheibe um, die in der Pfanne brutzelte. «Es macht mir Spaß.»
«Ich meine größere Dinge als das Frühstück. Findest du, ich sollte es mehr würdigen … was ich habe im Leben?»
«Oh, im Leben.» Er starrte in die Pfanne, offenbar damit beschäftigt, einen hausgemachten Sinnspruch zusammenzubrutzeln. «Vielleicht ist es dir wirklich nicht so viel wert, wie es sollte. Du siehst eher die Fehler als das Gute.»
«Ich will mich bemühen, von jetzt an dankbarer zu sein», erklärte ich. «Das ist mein Vorsatz für dieses Jahr. Ich glaube, es wird mich glücklicher machen. Vielleicht sogar uns beide.»
«Einen Versuch ist es wert», meinte er.
Das war alles. Mein Entschluss stand fest. Wir würden sehen, was sich daraus ergab.
Ron legte den Pfannenheber beiseite, und heißes Fett tropfte auf die Arbeitsplatte. Ich wollte schon etwas sagen, biss mir dann aber auf die Zunge. Wenn ich eher das Gute sehen wollte als die Fehler, dann sollte ich den kleinen Buttersee auf der Granitplatte wohl besser ignorieren und stattdessen auf den Duft von warmem Zimt und Vanille achten, der durch den Raum zog. Ich schloss die Augen und machte mir bewusst, was für ein großes Glück es war, einen Mann zu haben, der früh aufstand, Eier und Milch verquirlte, Brotscheiben hineintunkte und das Ganze dann briet. Deshalb behielt ich auch für mich, dass ich viel lieber Haferflocken gegessen hätte.
Am Nachmittag ging ich in den Supermarkt, und während ich den Einkaufswagen durch die Gänge schob, ertönte Joni Mitchells «Big Yellow Taxi», jener Klassiker, in dem sie beklagt, dass wir die Dinge meist erst dann wertschätzen, wenn sie nicht mehr da sind. Ich summte die Melodie mit. Gewöhnlich hat die Musik im Gang mit der Tiefkühlkost keinen Einfluss auf wichtige Lebensentscheidungen, ich nahm sie jedoch als Zeichen, dass ich auf dem richtigen Weg war. Zahlreiche Künstler, von Bob Dylan bis zu den Counting Crows, haben Joni Mitchells Song nachgespielt, denn egal, in welchem Musikstil, die Botschaft trifft einen Nerv. Viel zu oft hat man etwas ganz Wunderbares direkt vor der Nase, ohne es zu erkennen, und merkt es erst, wenn der Geliebte gegangen, der Moment vorüber oder die Rose verwelkt ist.
Mit einem Paket Schokoladeneis in der Hand stand ich da und schwor mir, nicht länger abzuwarten und hinterher das Verlorene zu betrauern. Ich wollte vielmehr würdigen, was ich hatte, und im bevorstehenden Jahr nicht die Schattenseiten sehen, sondern das Licht.
Wieder zu Hause, begann ich mein Leben in Dankbarkeit zu planen. Als Journalistin machte ich sogleich ein Projekt daraus, das es zu erforschen und zu untersuchen galt. Ich wollte mich Monat für Monat auf ein Thema konzentrieren, etwa Ehe, Familie, Freunde oder Arbeit, und mein Leben wie eine Sozialwissenschaftlerin unter die Lupe nehmen. Ich wollte wissen, was geschah, wenn ich Dankbarkeit zu einer Grundhaltung machte. Anstatt es nebenherlaufen zu lassen, hatte ich die Absicht, mich voll und ganz in das Thema reinzuknien, so viele Informationen wie möglich zu sammeln, die Ergebnisse aufzuzeichnen und darüber zu berichten. Ich würde, wann immer nötig, Hilfe von Experten und Psychologen einholen sowie Bücher von Philosophen, Psychologen und Theologen lesen. Der römische Philosoph Cicero hat bekanntlich gesagt: «Dankbarkeit ist nicht nur die größte aller Tugenden, sondern die Mutter von allen.» Wenn das stimmte, würde ich durch mein Projekt dann vielleicht auch ehrlicher, mutiger und großzügiger werden?
Als ich in den nächsten Tagen anderen davon erzählte, nickten sie wissend. Viele betonten, dass sie sich ebenfalls um mehr Dankbarkeit und eine positivere Ausrichtung bemühten. Ich hatte allerdings den Eindruck, dass es ihnen nicht sonderlich gut gelang.
«Sicher, du hast ein tolles Leben. Aber wie dankbar warst du letzten Dienstag, als du Feierabend gemacht hast?», fragte ich mehrere meiner Bekannten.
Sie lachten unsicher, und eine fragte sogar: «Woher weißt du das mit letztem Dienstag?»
Ich brauchte keine Hellseherin zu sein, um zu wissen, dass es vergangenen Montag nicht anders gewesen war. Wenn wir uns das große Ganze anschauen, fällt Dankbarkeit nicht sonderlich schwer. Im Alltag dagegen bringt uns hier ein Kunde auf die Palme, macht da der Chef eine dumme Bemerkung, und bei den Kindern in der Schule gehen Kopfläuse um – wir verlieren uns allzu oft in ärgerlichen Kleinigkeiten.
Ich wusste von diesem Zwiespalt aus der zuvor erwähnten Umfrage, die von der John-Templeton-Stiftung finanziert worden war. Demnach leiden die meisten von uns unter diesem inneren Widerspruch und wissen, dass sie eigentlich dankbar sein müssten. Aber irgendetwas hält sie davon ab. In der Umfrage vertraten 94 Prozent der interviewten Amerikaner die Meinung, dass dankbare Menschen ein erfüllteres und glücklicheres Leben führen, doch nicht einmal die Hälfte der Befragten gab an, auch regelmäßig ihre Dankbarkeit auszudrücken.
Die Diskrepanz, die sich hier zeigt, versteht selbst der mathematisch Unbegabteste. Wir wissen, dass es etwas gibt, das uns glücklicher macht – warum probieren wir es dann nicht auf der Stelle aus? Es ist, als würde mitten auf einer Wiese ein magischer Glücksstein liegen, und die Hälfte von uns macht sich nicht die Mühe, hinzugehen und ihn aufzuheben. Ich gehörte ebenfalls zu jenen, die auf der Wiese herumliefen, ohne auch nur in die Nähe des magischen Steins zu kommen. Dabei wusste ich ganz genau, dass es ihn gab. Irgendwie beschäftigte er mich ständig. Aber immer kam etwas dazwischen.
Ich hätte mich vielleicht nie mit Dankbarkeit beschäftigt, wenn mich Barnaby Marsh, einer der Leiter der John-Templeton-Stiftung, nicht zwei Jahre zuvor auf dieses Thema gebracht hätte. Wir lernten uns zufällig kennen, als wir bei einem Wohltätigkeitsempfang nebeneinandersaßen. Einige Monate später lud er mich zu einem höchst vornehmen Nachmittagstee ein, um einige der Anliegen zu erörtern, die der Stiftung wichtig waren. Ich hatte erst kürzlich meine Spitzenposition bei einer Zeitschrift verloren und befand mich noch in der Phase, in der man mit der ganzen Welt hadert. Doch kaum erwähnte Barnaby Dankbarkeit (in Großbuchstaben), wurde ich hellhörig. Dankbar zu sein erschien mir überaus verlockend – ein guter Ersatz für Vorwürfe, Empörung und Groll. Weil ich gern mehr darüber erfahren wollte, regte ich die Umfrage an. Am Ende des Nachmittags hatte ich zu einer völlig neuen Geisteshaltung gefunden (und wusste nun sogar Gurkensandwichs zu schätzen).
Als ich mich in die Recherche für die Umfrage vertiefte, wurde mir klar, dass dankbar sein und glücklich sein nicht dasselbe ist. Üblicherweise freuen wir uns, wenn etwas Nettes passiert, etwa wenn uns ein Freund Blumen schickt oder wir einen Nachmittag im Park verbummeln. Derartige Momente sind jedoch zerbrechlich und flüchtig. Und was geschieht, wenn sie vorüber sind? Dankbarkeit hingegen bezieht sich nicht auf konkrete Ereignisse und ist deshalb von Dauer, also nicht von Veränderungen und widrigen Umständen beeinflussbar. Man braucht dafür ein aktives emotionales Engagement. Dankbarkeit lässt sich nicht passiv empfinden, sondern erfordert Innehalten und ein bewusstes Erleben dieses Gefühls. So entsteht ein innerer Reichtum, der nicht nur in guten Zeiten spürbar ist, sondern auch in schlechten überdauert.
Meine Karriere hatte sich im Lauf der Jahre auf drei Säulen gestützt: Fernsehen, Zeitschriften und Bücher. Ich war Produzentin diverser Fernsehshows und sogar Autorin einiger beliebter Sondersendungen, ich betreute als Chefredakteurin Parade (damals die Zeitschrift mit der höchsten Auflagenzahl in den USA) und schrieb ein Dutzend Romane, darunter zwei Bestseller. Auf dem Papier eine tolle Karriere, doch nichts von alledem erzeugte in mir das Gefühl: Ich habe es geschafft. Erfolg im Job bedeutet, nach immer mehr zu streben. Ist ein Ziel erreicht, peilt man sogleich das nächste an. Dankbarkeit hingegen verlangt einen anderen Ansatz: den Augenblick zu genießen, ohne in Gedanken schon beim nächsten Schritt zu sein.
Es ist niemals leicht, das zu schätzen, was man hat. Wir neigen viel eher dazu, nach anderen zu schauen und zu denken, wie glücklich sie sind oder wie angenehm es wäre, an ihrer Stelle zu sein und ihren Erfolg zu haben. Doch was wir wirklich empfinden, entspricht nur selten dem, was uns äußerlich anzumerken ist.
Bis vor kurzem wurde Dankbarkeit zwar in der Philosophie behandelt, aber nicht von der Psychologie erforscht. Seit etwa zwölf Jahren hat sich das geändert; Wissenschaftler befassen sich mit dem Thema und bemühen sich um seriöse Studien. Mit erstaunlichen Ergebnissen. Immer wieder stellte man in den Untersuchungen einen Zusammenhang zwischen Dankbarkeit und einem höheren Maß an Glück sowie einem geringeren Grad an Niedergeschlagenheit und Stress fest. Ein im Journal of Clinical Psychology erschienener Artikel, der die gesamte hierzu verfügbare Literatur untersucht, dokumentiert, dass Dankbarkeit von allen erforschten Persönlichkeitsmerkmalen womöglich am engsten mit psychischer Gesundheit und einem glücklichen Leben verbunden ist. Die Schlussfolgerung lautet: «Ungefähr 18,5 Prozent des individuellen Glückslevels eines Menschen lassen sich von dem Maß an Dankbarkeit ableiten, das er empfindet.»
Diese Information ließ mich stutzen. Um 18,5 Prozent glücklicher zu sein bedeutet eine gewaltige Steigerung. In einer spontanen Schätzung legte ich mein persönliches Glückslevel auf 74 Prozent fest. Mit erhöhter Dankbarkeit könnte ich 92,5 Prozent und damit einen Platz im Spitzenfeld erreichen.
Was genau war nötig, um dorthin vorzustoßen? Einig waren sich die Studien über den hohen Nutzen eines Dankbarkeitstagebuchs. Wenn jemand Abend für Abend (oder auch nur einige Male pro Woche) drei Dinge niederschreibt, für die er dankbar ist, steigert dies sein Wohlbefinden und senkt die Gefahr einer Depression. Dieses Resultat wurde mehrfach bestätigt. Ein Dankbarkeitstagebuch hat darüber hinaus einen äußerst positiven Einfluss auf die Qualität des Schlafs.
Die erwähnten Studien betreute unter anderem der Psychologe Dr. Robert Emmons von der University of California in Davis. Schon sehr früh mit dem Thema Dankbarkeit befasst, avancierte der Wissenschaftler bald zu einem der weltweit führenden Experten auf dem Gebiet – vielleicht auch, weil es damals außer ihm niemanden gab. Eine seiner Erkenntnisse lautet, dass man keine positiven Ereignisse im Leben braucht, um Dankbarkeit zu empfinden. Dankbare Menschen setzen die Dinge, die sie erleben, vielmehr in einen neuen Zusammenhang. «Sie konzentrieren sich nicht auf das, was ihnen fehlt, sondern achten ganz gezielt auf das, was sie haben», erklärte er mir.
Dieser Prozess, im Fachjargon reframing genannt, kann vielerlei Formen annehmen. Neulich verbrachte ich einen Tag mit Michelle Pfeiffer, der für ihre strahlende Schönheit bekannten Schauspielerin und Golden-Globe-Gewinnerin (man erinnere sich nur an den schimmernden schwarzen Anzug, den sie als Catwoman trug). Weil ich für eine Frauenzeitschrift die Titelstory über sie schreiben sollte, gestattete ich mir die Frage, mit welchen Gefühlen sie das Älterwerden wahrnehme. Noch immer von atemberaubender Schönheit (ich würde auf der Stelle mit ihr tauschen), gab sie zu, dass man sich mit Mitte 50 hin und wieder nach der Pfirsichhaut und dem straffen Körper der Jugend sehne. Wir betrachteten ein Foto aus ihrem berühmten Film Scarface, in dem sie im Alter von 25 Jahren neben Al Pacino die Hauptrolle gespielt hatte.
«Wie fest mein Busen damals noch war», bemerkte sie mit einem trockenen Lächeln, als sie sich in dem tiefausgeschnittenen Kleid sah.
Aber sie empfand dabei keinen Neid. Vielmehr ging sie darauf ein, wie verängstigt und unsicher sie an jedem einzelnen Drehtag gewesen war und wie froh sie sein konnte, jetzt viel mehr Selbstbewusstsein zu haben. Offenbar ändert sich mit den Jahren, welche Dinge man mit Dankbarkeit wahrnimmt. Die Kunst besteht darin, zu erkennen, was man hat, wenn man es gerade hat.
«Ich führe eine wirklich glückliche Ehe. Ich habe eine wunderbare Familie und eine Handvoll echt guter Freunde. Darüber hinaus liebe ich meine Arbeit, was ich als Glück und Segen zugleich empfinde. Mein Leben hat also einen Sinn, wenn ich morgens aufstehe, und ich vermeide den Blick in den Spiegel», fügte sie mit einem Lächeln hinzu.
Das war ein ganz wunderbares und instinktives Beispiel für reframing: die Bereitschaft, sich auf die positiven Seiten des Älterwerdens zu konzentrieren. Warum halte ich es nicht wie Michelle Pfeiffer, ignoriere die Falten und konzentriere mich auf die Freuden des Lebens?, dachte ich nur.
Im Großen wie im Kleinen das Gute zu erkennen kann allerdings eine echte Herausforderung sein, denn eine Grundregel besagt, dass negative Ereignisse die positiven überschatten. Wenn einem zehn tolle Dinge am Tag widerfahren und einmal etwas Schlechtes, werden die meisten von uns ihrem Partner beim Abendessen von dem weniger schönen Vorfall erzählen. Evolutionär gesehen, so der Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Daniel Kahneman, hat unsere Fokussierung auf negative Ereignisse durchaus einen Sinn. Indem sich unsere Vorfahren Aussehen und Geschmack einer giftigen Beere einprägten und ihre Gefährten davor warnten, sicherten sie ihr Überleben. Die Beschreibung von zehn leckeren Beeren verbesserte ihre Überlebenschancen hingegen nicht. Heute praktizieren wir schlicht die neuzeitliche Variante dieses Verhaltens, wie man bei Eltern beobachten kann, die ihren Sprössling wegen einer Fünf tadeln, ohne die vier Einsen davor groß zu würdigen.
Zahlreiche Wissenschaftler haben diese «Negativitätsverzerrung» genannte Theorie mit einem bunten Sammelsurium an Beispielen illustriert. Der Psychologe Paul Rozin etwa erklärte anschaulich, wie uns eine einzige Küchenschabe die Freude an einer ganzen Schale Kirschen verdirbt, während eine einzelne Kirsche keineswegs dazu beiträgt, den negativen Eindruck einer Schale mit Küchenschaben zu verbessern. Welche Macht ein einziger negativer Kommentar ausüben kann, zeigt sich unter anderem in den sozialen Medien. Nehmen Sie nur ein beliebiges Bewertungsportal, und überlegen Sie, ob Sie in einem Lokal frühstücken würden, in dem die Crêpes zwar lecker schmecken, aber einem Besucher von einem schlechten Ei (wie er behauptet) übel geworden ist. Oder würden Sie in einem Hotel übernachten, in dem ein Gast das zu enge Zimmer mit einer schmutzigen Toilette und einer tropfenden Dusche bemängelt, obwohl mehrere andere Urlauber die bequemen Betten und den Meerblick loben?
Einige Psychologen, die sich mit diesem Thema befasst haben, gehen davon aus, dass vier positive Aussagen nötig sind, um eine negative auszugleichen, andere sprechen gar von fünf. Letztlich hängt das auch von der jeweiligen Person und davon ab, wie eindringlich die Aussage ist. Doch niemand geht von weniger als drei positiven Kommentaren aus, um einen negativen zu entmachten. (Im Gespräch mit unserem Partner sollten wir uns das immer vor Augen halten.)
Dies führt uns zurück zum Dankbarkeitstagebuch, das offenbar ein Gegenmittel zur instinktiven Ausrichtung unseres Gehirns auf giftige Beeren und Küchenschaben ist. Am Ende des Tages (im wörtlichen Sinn) an all das zu denken, was uns dankbar macht, hat die Kraft, in unserer Vorstellung das Bild von einem weichen Bett und süßen Früchten und damit von Kirschen anstelle von Küchenschaben wachzurufen. Mir gefiel das Konzept, und ich verstand, wie man damit die Ereignisse des Tages in einen neuen Zusammenhang setzt. Allerdings geschieht es nicht von allein.
Ich habe Tagebuch geführt, seit ich einen Stift halten konnte, und früher schrieb ich meist Einträge, wenn ich gereizt, wütend oder sauer war. Die Kunstlederbücher aus meiner Grundschulzeit mit der sorgfältigen aufgemalten Warnung «Streng geheim!» auf dem Einband besitze ich noch heute. Später nutzte ich für meine privaten Ergüsse gewöhnliche linierte Notizbücher mit Pappdeckel, wie man sie überall kaufen kann.
Vor einigen Jahren fand ich ein Dutzend davon ganz hinten in einem Abstellraum wieder. Was für ein kostbarer Schatz von Erinnerungen! Auf der Stelle setzte ich mich hin und begann darin zu schmökern, doch anstelle glücklicher Memoiren aus meiner Jugend las ich zu meiner Verblüffung seitenweise Aufzeichnungen voller Groll und egozentrischem Weltschmerz. Erlebnisse, nach denen ich wütend, verärgert oder in Rage war, überlagerten alles andere. Was war mit all den glücklichen Ereignissen? Ich hatte so viele wunderbare Momente erlebt – ja, ganz ehrlich! –, mir jedoch nicht die Mühe gemacht, sie aufzuschreiben.
Während ich in den Tagebüchern schmökerte, kam mir in den Sinn, dass sie auch anderen in die Hände fallen könnten. Doch ich wollte in meinem Mann oder meinen Kindern nicht den Eindruck entstehen lassen, dass das mein Leben gewesen war. Nicht einmal in mir sollte dieser Eindruck entstehen. Es ging mir keineswegs ums Umschreiben meiner Geschichte, ich hatte sie beim ersten Mal lediglich falsch aufgezeichnet. Also packte ich die bitterstoffhaltigen Tagebücher in eine große Mülltüte und ließ sie auf Nimmerwiedersehen, wie ich hoffte (oder hätte ich besser den Kamin in Betracht ziehen sollen?), auf einer Müllkippe verschwinden.
Ein Dankbarkeitstagebuch hätte eine ganz andere Aura und müsste niemals im wörtlichen wie im übertragenen Sinn auf dem Müllhaufen der Geschichte landen. Wenn Dr. Emmons und seine Kollegen recht hatten, würde es mir ohne großen Aufwand zu einem besseren Leben verhelfen. Die Vorstellung war reizvoll, doch als Journalistin erschien mir ein Dankbarkeitstagebuch auch ein bisschen … schwammig. Ein Notizbuch voller schwärmender Worte über den prächtigen Sonnenuntergang oder den Duft frischaufgebrühten Kaffees klang eher nach einem Roman von Nicholas Sparks (an dem eigentlich auch nichts auszusetzen ist).
Ich rief meine Freundin Shana an – ein Mensch mit unerschöpflicher Energie (sie unterrichtet Zumba, und zwar nur zum Spaß), fröhlich, positiv und ganz bestimmt nicht schwammig. Mit ihren 35 Jahren ist sie eine kluge Geschäftsfrau, die ständig neue Unternehmen gründet und seit Jahren ein Dankbarkeitstagebuch führt.
«Ich finde es prima, dass du so ein Buch anlegen willst. Dankbarkeit spielt für mich momentan eine immens wichtige Rolle», sagte sie, als ich ihr von meinem Vorhaben erzählte.
Shana und ihr Mann hatten gerade ein neues Haus in New Haven bezogen, doch da sie einige Termine in Manhattan hatte, verabredeten wir uns in einer Tapas-Bar in der Nähe der Grand Central Station. Fröhlich wie immer stürmte Shana ins Lokal, und nachdem wir die wichtigsten Neuigkeiten abgehandelt hatten (zum Beispiel ihre Badezimmerfliesen), erzählte sie mir von ihrem Dankbarkeitstagebuch. Jeden Abend notierte sie eine Sache, die sie mit Dankbarkeit erfüllte. Nur eine einzige! Auch wenn sie noch so beschäftigt oder müde war, für die paar Zeilen reichte es immer. Das Wissen, dass sie abends noch etwas niederschreiben musste, beeinflusste ihre Stimmung während des gesamten Tages, wie sie festgestellt hatte.
Während wir uns unterhielten, nahm sie eine der Tapas – eine kleine Scheibe Bauernbrot mit Orangenblütenhonig, Feigen und einem Klecks Sahne – und biss genießerisch ein Stück ab.
«Mmh! Das hier ist ein gutes Beispiel», sagte sie und leckte sich einen Rest Honig von der Lippe. «Dieses Brot ist so köstlich, dass ich mir vorstellen könnte, es in mein Tagebuch aufzunehmen. Aber wahrscheinlich werde ich heute eher über das Treffen mit dir schreiben.»
«Gegen ein Feigen-Montadito komme ich natürlich nicht an», protestierte ich lachend.
Aber ich verstand, was sie damit sagen wollte. Indem sie sich auf die Dinge konzentrierte, die in ihr ein Gefühl der Dankbarkeit weckten, sah Shana alles in einem anderen Licht. Entwicklungsgeschichtlich haben wir vielleicht die Tendenz, nach Problemen und Gefahren Ausschau zu halten, Shana hingegen hatte ihr instinktbasiertes Verhalten geändert. Sie achtete auf alles, was ihren Tag positiv machte. Und wenn sie mal nichts fand – auch das kommt vor –, suchte sie nach einer Möglichkeit, die Ereignisse des Tages anders zu bewerten.
«Manchmal habe ich eine schlechte Phase, und mir fällt einfach nichts ein, das mich dankbar stimmt», gab sie zu. «Dann schreibe ich eben, ich sei dankbar, dass es nicht stärker geregnet hat oder dass ich zwei gesunde Beine habe. Ehrlich, so weit war ich tatsächlich schon mal: dankbar, zwei gesunde Beine zu haben.»
Als ich Shana von den vernichteten Tagebüchern berichtete, nickte sie heftig. Sie hatte ebenfalls als Teenager ihre tiefsten Gefühle festgehalten und in melodramatischen Einträgen geschildert, wie sie die Last der Welt auf ihren Schultern trug. «Du weißt schon: Meine Seele leidet, in mir ist alles grau, so grau wie die Wolken, die über den Himmel ziehen», zitierte sie.
Wir beide lachten wissend.
Aber vermittelten Shanas Einträge von heute ein besseres Bild von der Wirklichkeit als die von früher, die von Weltschmerz bestimmt waren?
Als ich ihr diese Frage stellte, lächelte sie und zitierte die berühmte Zeile aus Hamlet: «An sich ist nichts weder gut noch böse. Das Denken macht es erst dazu.»
Man braucht kein Shakespeare-Kenner zu sein, um Hamlets Gedanken nachvollziehen zu können. Als der Prinz in melancholischer Stimmung im zweiten Akt seine alten Freunde Rosencrantz und Guildenstern trifft und ihnen erklärt, Dänemark sei ein Gefängnis, sind sie verdutzt, denn sie finden am Palast, so wie er ist, eigentlich nichts auszusetzen. Hamlet zuckt kurz mit den Achseln (jedenfalls hat Jude Law das getan, als ich ihn am Broadway in dieser Rolle sah) und sagt den Satz über die Dinge, die erst durch unsere Wahrnehmung zu etwas Gutem oder Bösen werden. Könige werden umgebracht, Geister zeigen sich, Mütter nehmen sich einen neuen Ehemann – schmerzlich (oder auch nicht) werden diese Ereignisse erst durch das Licht, in dem wir sie betrachten. Hätte jemand Hamlet empfohlen, ein Dankbarkeitstagebuch zu führen, wäre er sich vielleicht stärker des Glücks bewusst gewesen, ein Prinz zu sein und eine derart schöne Freundin wie Ophelia zu haben. Eigentlich war sein Leben gar nicht so übel.
Aus irgendeinem Grund vertrauen wir dem Leid eher als dem Glück. Es fasziniert uns, wenn Hamlet völlig verzweifelt über die Bühne wandert und überlegt, ob sein Leben lebenswert sei. «Sein oder Nichtsein», klingt ja auch viel tiefschürfender als: «Mensch, was habe ich für ein Glück im Leben!»
Aber was ein gutes Drama für die Bühne abgibt, ist noch lange kein Drehbuch für ein glückliches Leben.
«Gut, dann werde ich den ersten Schritt tun und ein Dankbarkeitstagebuch führen», erklärte ich Shana. «Irgendwelche Vorschläge?»
«Kauf dir ein hübsches», sagte sie, als wir uns zum Abschied umarmten.
Einige Tage später – ich war gerade in unserem Wochenendhaus im Nordwesten von Connecticut – fuhr ich den Nachbarort, um mich ein bisschen zu zerstreuen. Es herrschte stürmisches Winterwetter, und ich wäre eigentlich viel lieber in der Karibik gewesen, doch nun machte ich mir bewusst, wie schön der Schnee auf den gefrorenen Feldern glitzerte. Mit den roten Bauernhäusern als Tupfen wirkte die Landschaft wie ein Gemälde. Ich besuchte eine Kunstgalerie, die ich mochte, und ging danach in mein Lieblingsgeschäft, das Tee, Teekannen und andere ausgefallene Geschenkartikel anbietet. Beim Herumstöbern entdeckte ich neben der Kasse einige bunte Notizbücher.
Da fiel mir Shanas Ratschlag wieder ein. Ich hatte eine Menge Notizbücher zu Hause, doch um ein Dankbarkeitstagebuch zu führen, brauchte ich etwas Besonderes, etwas, das ich mir bewusst dafür gekauft hatte, kein Überbleibsel aus einem Geschenkpaket. Ich entschied mich für ein Exemplar mit einem geometrischen grünen, frisch und hell wirkenden Muster. Es war zu hübsch, um etwas anderes als positive Gedanken aufzunehmen.
Ehe ich mich an jenem Abend schlafen legte, holte ich das Notizbuch hervor und schlug es auf. Ein bisschen genierte ich mich, ehe ich schrieb: Ich bin dankbar für … Dann hielt ich inne.
In Gedanken ließ ich noch einmal den Tag Revue passieren. Sollte ich mich auf die großen Dinge konzentrieren oder auf die kleinen? Ein Reisereporter, den ich ganz gut kenne, hatte mir einmal amüsiert erzählt, dass er in der ersten Radioreportage seines Lebens über Paris berichtet hatte, während er jetzt, zehn Jahre später, an einem Feature über seine bevorzugte Apfeltarte in einem kleinen Bistro im 7. Pariser Arrondissement saß. Mit anderen Worten: Besser, man konzentriert sich auf das Wesentliche.
Ich bin dankbar für …
… die Möglichkeit, mit diesem Buch mein Jahr voller Dankbarkeit zu beginnen, schrieb ich.
Ich wollte schon hinzufügen: Obwohl ich nicht weiß, ob es funktionieren wird, aber dann hielt ich mich zurück. Ausgewogenheit, Einwände oder nuancierte Abwägungen hatten in meinem Dankbarkeitstagebuch nichts zu suchen. Es war völlig in Ordnung, wenn ich einseitig blieb. Niemand würde die Einträge auf Objektivität überprüfen.
Ich legte das Notizbuch so auf den Schreibtisch, dass es auffiel. Bislang waren Experten der Ansicht, es dauere lediglich 21 Tage, bis sich eine neue Gewohnheit eingespielt hat, in einer jüngeren Studie des University College in London kamen die Wissenschaftler jedoch zu dem Schluss, dass die meisten von uns mehr als zwei, manche sogar bis zu sechs Monate brauchen, um eine echte Verhaltensänderung zu etablieren. Ich hoffte also, dass meine neue dankbare Grundhaltung irgendwann im Lauf des Jahres für mich zur Selbstverständlichkeit werden würde. Gegenwärtig jedenfalls wollte ich den Prozess als solchen genießen – und Abend für Abend ein Rendezvous mit meinem Dankbarkeitstagebuch haben.
Dankbar, in meiner Ehe nach Positivität streben zu können – und unsere «Glücksschwingungen» in Einklang zu bringen
Dankbar, dass ich nun lerne, mich bei meinem lieben und attraktiven Mann zu bedanken
Ungeheuer dankbar, dass eine Ehe nach so vielen Jahren noch besser werden kann
Als ich mein Jahr voller Dankbarkeit plante, wurde mir klar, dass vor allem meine Ehe einen positiveren Ansatz brauchte.
Theoretisch hatte ich allen Grund, für die Situation zu Hause dankbar zu sein. Mein Mann war gutaussehend, klug und übernahm ohne zu murren den Abwasch. Wir hatten mit Zach und Matt zwei wunderbare erwachsene Söhne und besaßen ein hübsches Haus auf dem Land in Connecticut. Wir waren alle vier gesund und liebten einander. Wir hatten Spaß, gingen zusammen in den Bergen wandern und bestaunten Sonnenuntergänge am Meer. So betrachtet, glich mein Leben einer Postkartenidylle.
Der Alltag machte es mir jedoch schwer, all dies im Blick zu behalten. Psychologen nennen es «Gewöhnungseffekt» oder «Habituation». Ob Ehemann, Haus oder funkelnagelneues Auto – all das wird für uns irgendwann normal, und wir vergessen, warum es uns anfangs so besonders erschienen ist. Gehirnscans haben gezeigt, dass wir etwas beim zehnten Hinsehen ganz anders wahrnehmen als beim ersten Eindruck.
Von dem französischen Romancier Marcel Proust stammt der berühmte Satz, die wahre Entdeckungsreise «besteht nicht darin, neue Landschaften zu suchen, sondern mit neuen Augen zu sehen». Es war höchste Zeit, dass ich mit neuen Augen auf den Mann blickte, mit dem ich das Bett, die Scherze und das Bankkonto teilte.
Anfangs spielte ich mit dem Gedanken, die nächsten Einträge in mein Dankbarkeitstagebuch meiner Ehe zu widmen und jeden Abend mindestens drei Dinge zu notieren, für die ich meinem Mann dankbar war. Doch wenn ich wirklich etwas an unserer Beziehung verändern wollte, würden die Dankesbezeigungen in meinem Tagebuch wohl nicht ausreichen. In der Umfrage, die ich betreut und in der Today Show vorgestellt hatte, hatte man Männer nach ihrer Ehe gefragt, und die Mehrheit (77 Prozent) hatte erklärt, sie sei dankbar, wenn ihre Frauen ihr einfach nur ihre Liebe und Zuneigung zeigen würden. Dies war ihnen mit großem Abstand wichtiger als alles andere, einschließlich Kochen, Urlaubsplanung und Haushaltsführung. Mir fiel es leichter, ein leckeres Hähnchen zu braten, als meinem Mann ein Zeichen meiner Zuwendung zu geben. Damit war ich allerdings nicht allein. Weniger als die Hälfte der Frauen, die an der Umfrage teilgenommen hatten, sagte regelmäßig «danke» zu ihrem Mann.
Was eigentlich ganz normale Höflichkeit ist, erscheint uns offenbar bei den Menschen überflüssig, die wir am meisten lieben. Einige andere Zahlen aus der Umfrage runden das Bild ab, das sich uns bietet. Ganze 97 Prozent der Teilnehmer gaben an, sich in einem netten Lokal bei der Bedienung zu bedanken, und erstaunliche 58 Prozent finden ein Dankeschön sogar gegenüber den Angestellten am Flughafen angebracht, die die Sicherheitskontrollen durchführen. Ging es um den Ehepartner, sank die Zahl jedoch dramatisch – so drückt bei den Frauen nicht einmal die Hälfte (48 Prozent) ihre Dankbarkeit auch gegenüber dem Menschen aus, der ihr am nächsten steht.
Es mag zwar widersprüchlich klingen, aber ich kann mir erklären, wie dieses Verhalten zustande kommt. Wenn die Kellnerin den Brotkorb bringt und sich zudem noch erinnert, wer den Cheeseburger mit der Extrascheibe Bacon bestellt hat, sind wir zufrieden und bedanken uns. An unseren Partner hingegen stellen wir gewaltige Ansprüche, und die Scheibe Bacon ist dabei noch der geringste. Von ihm erwarten wir, dass er unser bester Freund, ein leidenschaftlicher Liebhaber, Freizeitpartner, Elternteil mit ebenbürtigen Aufgaben, unterhaltsam bei Tischgesprächen, Jogging-Partner, eine verlässliche Stütze, Berufsberater und Reisebegleiter ist. Ach, und nicht zu vergessen, unser Seelengefährte.
Wenn Sie Ihrem Partner nun in einer bestimmten Situation dankbar sind, fallen Ihnen sogleich und mit einem schmerzlichen Stich all jene Dinge ein, die Sie von ihm nicht bekommen. Vielleicht ist er immer noch Ihr bester Freund, aber dass sich der leidenschaftliche Liebhaber seit geraumer Zeit verabschiedet hat, nehmen Sie ihm ein bisschen übel. Oder er ist für die Kinder zwar ein toller Vater, aber wenn Sie sich umsehen, scheinen alle anderen Männer in der Straße mehr zu verdienen.
Die bekannte Paar- und Sexualtherapeutin Esther Perel, Verfasserin des Buchs Wild Life – Die Rückkehr der Erotik in die Liebe, stellte die Millionen-Dollar-Frage, die da lautet: «Können wir begehren, was wir bereits haben?» Sie macht uns darauf aufmerksam, dass wir unseren Partner mit widersprüchlichen Erwartungen ersticken. Zum einen wünschen wir uns Sicherheit und Geborgenheit, zum anderen Aufregung und Abenteuer. Eine einzige Person soll all die vielen Bedürfnisse erfüllen, für die früher einmal ein ganzes Dorf zuständig war. Ihr zufolge lautet unsere dauerhafte Forderung: «Sorg du für Behaglichkeit, sorg du für Pep, sorg du für Neues, sorg du für Vertrautheit, sorg du für Vorhersehbarkeit, sorg du für Überraschungen.»
Jedenfalls heißt es immer: Sorg du. Die Ehe fördert unser Anspruchsdenken. Sobald wir verheiratet sind, gehen wir davon aus, dass wir uns nie wieder unglücklich oder einsam fühlen und unsere Lebenskrisen überwunden haben werden. Wenn es uns – was unvermeidlich ist – doch einmal nicht so gutgeht, dann ist natürlich der Ehepartner (wer sonst?) daran schuld.
Wenn man alles als selbstverständlich voraussetzt, ist es schwer, für einen Teil des Ganzen dankbar zu sein. Daher lautete meine Absicht, von nun an sämtliche unerfüllbaren Erwartungen wegzuschieben und stattdessen den Mann zu schätzen, den ich an meiner Seite hatte – anstatt von einem imaginären Klon aus Brad Pitt und Bill Gates zu träumen, der nie vergaß, seine schmutzigen Stiefel vor der Haustür abzustellen.
Weil gute Vorsätze allzu leicht in Vergessenheit geraten, hielt ich sie schriftlich fest. Im Verlauf dieses Monats würde ich wenigstens zweimal am Tag einen Grund finden, dem Mann, den ich geheiratet hatte, zu sagen, dass ich ihn schätzte. Nichts Künstliches oder Aufgesetztes: Ich würde mich einfach nicht mehr beschweren – und obendrein auf meine ach so klugen Vorschläge zur Erleichterung seines Lebens verzichten –, sondern ihn als den Menschen bewundern, der er war. Die vielen positiven Eigenschaften meines Gatten sollten nicht mehr als Hintergrundmusik unseres Lebens mitlaufen, sondern in den Mittelpunkt rücken. Ich war sehr gespannt auf das Ergebnis.
Als ich am nächsten Morgen um Viertel vor sieben aufwachte, sah ich im Halbschlaf, wie mein Mann sich auf der anderen Seite des Schlafzimmers anzog, um zur Arbeit zu gehen. Er ist Arzt mit einer gutgehenden Praxis, und normalerweise hätte ich ihn entweder gereizt gefragt, warum er so früh losfahre, oder einfach nur die Augen zugemacht, um noch ein bisschen weiterzuschlafen. Stattdessen betrachtete ich ihn ausgiebig, während er in der schmalgeschnittenen grauen Hose, dem frischen weißen Hemd und der seidigen blauen Krawatte durch den Raum ging.
«Du siehst richtig gut aus heute Morgen», sagte ich, die Stimme noch heiser vom Schlaf. «Wie nett, wenn man beim Aufwachen so ein Bild von einem Mann vor Augen hat.»
Er warf mir einen überraschten Blick zu, dann lächelte er und kam ans Bett, um mir einen Kuss zu geben. «Du hast die Kontaktlinsen noch nicht drin und bist halb blind», scherzte er.
«Selbst verschwommen siehst du gut aus.» Ich umarmte ihn.
Das Ganze dauerte nicht länger als eine halbe Minute, und Ron hatte es wahrscheinlich schon wieder vergessen, als er die Tür hinter sich zuzog. Mir aber verlieh dieser Moment Schwung für den ganzen Tag. Andere in ihrem Wert zu würdigen kann ebenso befriedigend sein, wie selbst gewürdigt zu werden.
Jedes Paar hat eine ganz spezielle Art von Arbeitsteilung, und so begann ich am folgenden Tag, Ron für die Dinge zu danken, die er ohne großes Aufhebens ständig tat, etwa das Girokonto ausgleichen, den tropfenden Wasserhahn reparieren oder uns spätabends nach einer Party sicher nach Hause kutschieren.
«Danke, dass du uns so gut durch den Schnee gesteuert hast», sagte ich, als wir unsere Garage erreichten.
«Aber ich fahre doch immer», antwortete er überrascht.
«Ja, und dafür bin ich dir wirklich dankbar. Besonders bei Dunkelheit, wenn wir beide müde sind. Welch ein Glück für mich, dass du mir das abnimmst.»
Obwohl wir nicht weiter darüber sprachen, schien Ron zu spüren, dass sich in unserer Beziehung eine Veränderung anbahnte. Am nächsten Abend bedankte er sich bei mir für das Essen, das ich gekocht hatte – eine der Tätigkeiten, die in der Regel zu meinen Aufgaben gehört. Ich ging nicht weiter darauf ein (es gehört nicht viel dazu, tiefgefrorene Ravioli warm zu machen), trotzdem fühlte ich mich nach der Bemerkung gut. Es ist schön zu hören, dass etwas ankommt, das man tut, ganz egal, was.
In den ersten Tagen musste ich mich immer wieder daran erinnern, meinem Mann meine Wertschätzung zu zeigen. Doch im Lauf der ersten und der darauffolgenden Woche strömten die guten Gefühle dann ganz von selbst, und ich war insgesamt viel positiver gestimmt als sonst. Was ging da vor sich? Ich suchte Dr. Brent Atkinson auf, einen emeritierten Professor für Ehe- und Familientherapie von der Northern Illinois University und Leiter des Couples Clinic and Research Institute in Geneva, Illinois. Seiner Meinung nach gibt es auf neurologischer Ebene ganz klare Hinweise, dass man bestimmte Verschaltungen im Gehirn kräftigen kann, um tiefere Gefühle von Verbundenheit zu erzeugen. Er hat ein Konzept für eine Paartherapie entwickelt, das automatisch ablaufende Reaktionen neu verdrahtet und so Veränderungen in der Struktur unseres Gehirns herbeiführt. Als ich ihn fragte, ob meine Dankbarkeitsübungen unter Umständen Einfluss auf die neuronalen Schaltkreise meines Gehirns hätten, antwortete er mit einem entschiedenen «Ja».
«Wie wir gerade erkennen, wird das Gehirn bei allen Vorgängen immer besser, sobald es sie häufiger ausführt», erklärte er. «Wenn Sie durch Dankbarkeit eine positive Stimmung erzeugen, verstärken Sie jene neuronalen Schaltwege, die positive Gefühle erzeugen. Sie können Dankbarkeit also als mentales Training betrachten, das Sie geistig auf Positivität einstimmt.»
Dann berichtete er mir von einigen Studien zur sogenannten «Mitgefühlsmeditation», die gezeigt haben, dass sich das Gehirnvolumen und die an der emotionalen Reaktion beteiligten Schaltkreise tatsächlich verändern, wenn sich Menschen über einen längeren Zeitraum hinweg gütigen und liebevollen Regungen hingeben. Er verwendet in seiner Praxis eine ähnliche Methode, indem er seine Klienten auffordert, sich täglich fünf Minuten hinzusetzen und sich die herzlichen Gefühle und die schönen Momente mit ihrem Partner vor Augen zu führen. «Studien haben gezeigt, dass diese einfache mentale Übung jene neuronalen Verbindungen stärken kann, die Verbundenheit erzeugen.»
Die Vorstellung, dass die Dankbarkeitsbezeigungen gegenüber meinem Mann eine Veränderung in meinem Gehirn bewirkten, klang irgendwie fragwürdig – bis ich von einer Studie des in Harvard tätigen Neurologen Alvaro Pascual-Leone hörte. Menschen, die nie Klavier spielen gelernt hatten, bekamen von ihm eine kurze Einweisung und sollten dann fünf Tage lang täglich zwei Stunden eine Melodie üben. Am Ende der Sitzungen zeigte sich in Gehirnscans, dass sich jene Region des Kortex, die für die Bewegungen der Finger zuständig ist, deutlich vergrößert hatte. Dies steht im Einklang mit anderen Studien, wonach jedweder regelmäßige Einsatz bestimmter Körperteile Vergrößerungen in den entsprechenden Gehirnarealen zur Folge hat. Anschließend ließ Pascual-Leone eine weitere Gruppe Freiwilliger über die gleiche Zeitdauer hinweg lediglich die Fingerbewegungen des Klavierübens ausführen, ohne dass sie je irgendwelche Tasten berührten. Man höre und staune: Sie zeigten nahezu die gleichen Veränderungen im motorischen Kortex.
Wenn allein die Vorstellung die Schaltkreise in unserem Gehirn verändern kann, war ich gerne bereit weiterzumachen. Genau darauf kam es offenbar an. Dr. Atkinson verglich es mit dem Hanteltraining: Mit einer geringen Zahl an Wiederholungen bleiben die Muskeln, wie sie sind. Steigert man die Bizepscurls jedoch stetig, ergibt sich bald ein Langzeiteffekt. So fand er heraus, dass die einmal wöchentlich in seiner Praxis stattfindenden Gespräche für die Paare nicht ausreichten. Zwar stellte sich bisweilen ein Aha-Effekt ein (Ach so, indem du das Auto wäschst, zeigst du mir deine Liebe!), und sie verspürten äußerst positive Gefühle, doch die waren oft schon vor Ablauf einer Woche wieder verflogen. Deshalb forderte er die Paare dazu auf, die positiven neuronalen Schaltkreise zu Hause einzuschleifen. Nicht jeder war dazu bereit. «Wir alle wissen, dass wir unseren Partner lieben. Aber sich fünf Minuten täglich auf ihn zu konzentrieren erscheint manchen Menschen übertrieben», meinte er lachend.
Denjenigen, die es ausprobieren wollten, schlug er vor, einmal täglich eine E-Mail an den Partner zu verfassen, in welcher der Absender zwei Sätze vervollständigen sollte. Der erste lautete:
Kürzlich hast Du etwas getan, das ich sehr schätze, und zwar …
Der zweite lautete:
Besonders starke Gefühle hatte ich für Dich, als Du …
Er selbst schickte solche Mails regelmäßig an seine Frau Lisa, gleichfalls eine Eheberaterin. Als ich ihn fragte, verriet er mir ohne Scheu, was er ihr an diesem Morgen geschrieben hatte. Damit demonstrierte er zugleich, dass sich die tägliche Wertschätzung nicht unbedingt auf weltbewegende Ereignisse beziehen muss. Im ersten vorgegebenen Satz hatte er sich dafür bedankt, dass Lisa gestern in aller Eile noch eine Reihe von Besorgungen erledigt hatte. «Das erzeugt in mir vielleicht nicht unbedingt ein warmes Kribbeln, aber es hat geregnet, und sie war sehr beschäftigt, und mir war klar, dass sie es für uns beide tat.»
Den zweiten vorgegebenen Satz vervollständigte er, indem er davon schrieb, wie er sie am Abend zuvor mit ihrer Stieftochter lauthals hatte lachen hören, was genau dieses warme Kribbeln in ihm wachgerufen hatte. Als ich ihn fragte, warum er nicht gleich auf sie zugegangen sei, meinte er, er sei mit dem Abendessen beschäftigt gewesen, und dann habe das Telefon geklingelt und dann …
«So erstaunlich es ist, aber ein schlichter Ausdruck der Dankbarkeit oder der Wertschätzung fällt schnell mal unter den Tisch. Deshalb sind die täglichen E-Mails so wichtig», erklärte er mir.
Ich berichtete ihm, wie ich mich bei meinem Mann neulich für die sichere Heimfahrt von der Party bedankt hatte und dass Rons Reaktion am Abend darauf in seinem Dank für das selbstgekochte Essen bestanden hatte.
«Prima», sagte er. «Wenn Menschen positive Gefühle miteinander teilen, schwingen ihre Gehirnwellen im Einklang und zeigen die gleichen Aktivitäten. Das wissen wir aus den Scans. Damit steigern sie ihre naturgegebene Fähigkeit zu lieben.»
Dr. Atkinson ermutigte mich, mit der von ihm sogenannten «kontinuierlichen Zufuhr von Positivität» fortzufahren. Gäbe ich meinem Mann weiterhin lobende Rückmeldungen, würde er sich gut fühlen – und ich selbst mich noch besser. Viele Studien hätten gezeigt, dass derjenige, der sich bedankt, sogar den größten Nutzen daraus zieht. Es ist besser, jemandem zu danken, als Dankbarkeit entgegengebracht zu bekommen. Wenn Dr. Atkinson ehemalige Klienten manchmal Jahre später zufällig im Supermarkt traf, erzählten ihm die meisten, dass sie sich nur noch an einige wenige Ratschläge erinnerten, mit den Dankbarkeits-Mails aber fortführen, so berichtete er mir. Für sie sei allein dieses tägliche Ritual die Kosten für die Beratung wert gewesen.
Als wir uns verabschiedeten, bedankte ich mich bei ihm für seine Tipps. Was ich in diesem Gespräch gelernt hatte, war so viel mehr wert, als es mich gekostet hatte.
Um den einmal gewählten Weg weiter zu verfolgen, schlug ich Ron einen Wochenendtrip vor, bei dem wir uns allein unserer Beziehung widmen würden. Weil er seine Arztpraxis nur ungern schloss, war ich froh, als er zustimmte. Das allein war schon ein großer Schritt. Da ich in Los Angeles die Schauspielerin Sally Field für einen Zeitschriftenartikel interviewen sollte, vereinbarten wir, dass er mir nachflog und wir uns anschließend trafen.
Bei meiner Suche nach einem nicht zu weit entfernten romantischen Plätzchen stieß ich auf das kalifornische Ojai, eine Künstlerkolonie, in der der Regisseur Frank Capra seinen Filmklassiker In den Fesseln von Shangri-La angesiedelt hatte. Die paradiesische Umgebung mit der leicht mystischen Stimmung erschien mir als geeignetes Umfeld, um Dankbarkeit zu üben. Außerdem gab es dort einige gute Restaurants.
Obwohl wir erst am Nachmittag in dem eleganten Resort in Ojai eintrafen, war unser Zimmer noch nicht fertig. Daher schlenderten wir über die weitläufige Anlage und aßen etwas. Schließlich brachte man uns zu unserem Zimmer, das klein war und im Erdgeschoss lag, mit Blick auf die Straße.