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Das Grubenbuch E-Book

Chuck Wendig

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Beschreibung

Einst lebte der junge Nathan mit seinem gewalttätigen Vater in einem Haus auf dem Land - und hat seiner Familie nie erzählt, was dort passiert ist. Einst sah die junge Maddie, die in ihrem Zimmer gerne Puppen bastelte, etwas, das sie nicht hätte sehen sollen und stellt seitdem gespenstische Skulpturen her. Einst ging etwas Unheimliches, etwas sehr Hungriges in den Tunneln, Bergen und Kohleminen in der Heimatstadt der beiden Kinder umher. Jetzt sind Nathan und Maddie verheiratet und mit ihrem Sohn Oliver in ihre Heimat zurückgezogen. Oliver lernt dort einen seltsamen Jungen kennen, der zu seinem besten Freund wird. Einen Jungen mit vielen Geheimnissen und einer Vorliebe für dunkle Magie ... Ein Meisterwerk des literarischen Horrors aus der Feder des New York Times-Bestsellerautors des Pandemie-Hits "Wanderers".

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Seitenzahl: 795

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Außerdem von Chuck Wendig erhältlich:

WANDERERS: Die Schlafwandler

Chuck Wendig – ISBN 978-3-8332-4102-4

WANDERERS: Die weiße Maske

Chuck Wendig – ISBN 978-3-8332-4103-1

Nähere Infos und weitere Bände unter:

www.paninibooks.de

Chuck Wendig

Ins Deutsche übertragen von Michaela Link

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Copyright © 2022 Terribleminds LLC. All rights reserved.

Titel der Englischen Originalausgabe: »The Book of Accidents« by Chuck Wendig, published in the United States by Del Rey, an imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLC, New York.

Deutsche Ausgabe 2022 Panini Verlags GmbH, Schlossstr. 76, 70176 Stuttgart.

Alle Rechte vorbehalten.

Geschäftsführer: Hermann Paul

Head of Editorial: Jo Löffler

Head of Marketing: Holger Wiest (E-Mail: [email protected])

Presse & PR: Steffen Volkmer

Übersetzung: Michaela Link

Lektorat: Katharina Altreuther

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Buch-Design von Fritz Metsch

YDWEND001E

ISBN 978-3-7367-9829-8

Gedruckte Ausgabe:

1. Auflage, September 2022, ISBN 978-3-8332-4277-9

Findet uns im Netz:

www.paninicomics.de

PaniniComicsDE

Teufel auch, dieses Buch ist für mich selbst.

Ein Vater, sagte Steven und hatte gegen Hoffnungslosigkeit zu kämpfen, ist ein notwendiges Übel.

James Joyce, Ulysses

Mögen die Mächte des Bösen sich auf dem Weg zu deinem Haus verirren.

George Carlin

Prolog 1

Reite den Blitz

Edmund Walker Reese war ein Zahlenmensch. Kein Steuerberater oder Mathematiker, sondern vielmehr ein Mann von schlichten Interessen, und hier und jetzt, im Hinrichtungsraum des Staatsgefängnisses, saß er angeschnallt auf einem elektrischen Stuhl und ging die Zahlen durch.

Drei Wärter hatten ihn hierhergebracht.

Sie waren an sieben anderen Gefangenen im Todestrakt vorbeigekommen, jeder in einer eigenen Zelle.

Es würde auch ein Henker da sein: ein anonymer Mann, der den Schalter umlegte, der Mann, der Edmund Reese’ Leben beendete.

Es war zehn Uhr abends an einem Dienstag. Dem zweiten Dienstag im März 1990.

(Daten waren schließlich auch Zahlen.) Doch es gab Details, die er noch nicht kannte, und so fragte Edmund den älteren Wärter, der ihm gerade den Gefängnisoverall an der Wade aufschlitzte, um Platz für die Elektroden zu schaffen. (Das Bein war am Morgen bereits rasiert worden, unmittelbar bevor Edmund Walker Reese – Eddie für seine Freunde, von denen es keine gab – seine letzte Mahlzeit zu sich genommen hatte, eine einfache Schale gut bekömmlicher Hühnernudelsuppe.)

Die Koteletten des älteren Wärters, eines Mannes namens Carl Graves, waren so grau und flaumig, dass sie Nebelfetzen ähnelten, die sich ihm an die Kinnbacken hefteten. (Sein Haupthaar war allerdings dunkel, noch nicht erfasst vom Alter und seiner Farbe beraubt.) Er war in den Vierzigern, vielleicht Anfang fünfzig, das ließ sich schwer erkennen. Etwas Säuerliches lag in seinem Atem: billiger Whisky, dachte Walker. Carl war niemals betrunken, nicht wirklich, aber er trank ständig. (Rauchte auch, wobei jetzt der Whisky den Rauchgeruch zu übertönen schien.) Der Alkohol war der Grund, warum Graves immer zwischen Erschöpfung und Ärger zu schwanken schien. Aber der Whisky machte ihn auch ehrlich, und das war der Grund, warum Edmund ihn mochte. Jedenfalls soweit er irgendjemanden mögen konnte.

Reese tadelte den Wärter, der das Bein seines Overalls aufschlitzte: »Seien Sie vorsichtig bei meinem linken Bein. Da habe ich eine Verletzung.«

»Ist das die Stelle, an der das Mädchen Sie erwischt hat?«, fragte Graves.

Aber Reese antwortete nicht. Stattdessen sagte er: »Erzählen Sie mir mehr. Mehr Zahlen. Wie viel Volt kriegt der Stuhl?«

Der Wärter schniefte, stand auf und sagte: »Zweitausend.«

»Kennen Sie die Maße des Stuhls? Gewicht? Breite? Und so weiter.«

»Weiß ich nicht, interessiert mich nicht.«

»Gibt es ein Publikum? Wie viele Leute?«

Graves schaute zu dem Fenster, dem Edmund zugewandt saß – ein Fenster, dessen Stahlrollläden heruntergelassen worden waren. »Sie haben heute ein großes Publikum, Eddie.« Graves benutzte seinen Spitznamen, obwohl sie keine Freunde waren, ganz und gar nicht, aber Edmund protestierte nicht dagegen. »Anscheinend wollen die Leute wirklich sehen, wie Sie brutzeln.« Grausamkeit blitzte in Carl Graves’ Augen auf wie ein angezündetes Streichholz. Edmund erkannte diese Grausamkeit, und sie gefiel ihm.

»Ja, ja«, erwiderte Edmund, außerstande, seinen Ärger zu verbergen. Seine Haut juckte. Sein Kiefer verkrampfte sich. »Aber wieviele? Die Zahl, bitte.«

»Hinter dem Fenster zwölf. Sechs Privatpersonen, eingeladen auf Geheiß des Gefängnisdirektors und des Gouverneurs, außerdem sechs Journalisten.«

»Ist das alles?«

»Es sind noch mehr Leute, die über die Videoüberwachung zusehen.« Carl Graves zeigte auf die Kamera in der Ecke, eine Kamera, deren wachsames Auge den Stuhl genau und, ohne zu blinzeln, beobachtete, als hätte sie Angst zu versäumen, was kommen würde. »Noch mal dreißig.«

Reese addierte die Zahlen. »Zweiundvierzig. Eine gute Zahl.«

»Ach ja? Wenn Sie es sagen.« Graves trat beiseite, und der andere Wärter, ein großer Fleischklops mit Bürstenschnitt, stand mit einem Ächzen auf und machte sich daran, die Elektroden an Edmunds geschorenem Kopf anzubringen. Carl schniefte. »Wissen Sie, Sie sind etwas Besonderes.«

Ich bin etwas Besonderes, dachte Edmund. Er wusste, dass es die Wahrheit war, oder hatte es einmal gewusst. Jetzt war er sich da nicht mehr so sicher. Einst hatte er eine Mission gehabt. Ihm waren Leben und Licht und eine Aufgabe geschenkt worden. Eine heilige Aufgabe, hatte man ihm gesagt. Gesegnet, geweiht, heilig und unheilig in gleichem Maße, und doch, wenn das der Wahrheit entsprach, warum war er dann hier? Gefangen wie eine Fliege in einer sich langsam schließenden Hand. Zu Fall gebracht bei Nummer fünf. Erst Nummer fünf! Auf ihn wartete noch Arbeit.

»Inwiefern etwas Besonderes?«, fragte er, weil er es hören wollte.

»Dieser Stuhl, Old Smokey – die meisten elektrischen Stühle haben Namen, und viele von ihnen heißen Old Sparky, aber der hier in Pennsylvania heißt Old Smokey –, nun, er hat sich seit 1962 im Lager befunden. Der letzte Wichser, der auf diesem Ding gegrillt worden ist, war Elmo Smith, Vergewaltiger und Mörder. Seitdem ist er nicht mehr benutzt worden. Es gab neun zum Tode Verurteilte seit Elmo, aber bei allen ist dem Gnadengesuch entsprochen worden. Und dann sind Sie aufgetaucht, Eddie. Die Glückszahl zehn.«

Zahlen blitzten durch Edmund Reese’ Kopf und vollführten einen komplexen Squaredance. Noch einmal, nichts Mathematisches. Aber er suchte nach etwas. Mustern. Wahrheit. Einer heiligen Botschaft.

»Die Zahl zehn ist keine klassische Glückszahl«, erklärte Edmund und verzog die Lippen zu einer Grimasse. »Welche Zahl bin ich?«

»Die Zehn. Das habe ich Ihnen doch gesagt.«

»Nein, ich meine, wie viele waren vor mir? Wie viele sind gestorben? Auf diesem Stuhl?«

Graves schaute zu dem großen rothaarigen Wärter, weil er sich von ihm eine Antwort erhoffte. Big Ginger lieferte: »Vor ihm sind dreihundertfünfzig auf dem heißen Stuhl gegrillt worden.«

»Das macht Sie zu Nummer dreihunderteinundfünfzig«, sagte Graves.

Edmund dachte über diese Zahl nach: 351.

Was bedeutete das? Es musste etwas bedeuten. Denn wenn es nichts bedeutete, wenn sich das alles zu der Gesamtsumme eines Eimers voll Pisse und Scheiße addierte, würde ihn das umbringen. Es würde ihn auf eine Weise umbringen, wie dieser Stuhl es nicht vermochte. Ihn auf eine schlimmere Weise umbringen als diese Mädchen …

Nein, tadelte er sich. Das waren keine Mädchen. Sie waren nur Dinge. Jedes eine Zahl. Jedes ein Zweck. Jedes ein Opfer. Nummer eins mit Zöpfen. Nummer zwei mit lackierten Nägeln. Nummer drei mit dem Muttermal direkt unter dem linken Auge, Nummer vier mit diesem Kratzer am Ellbogen und Nummer fünf …

Zorn durchströmte ihn, und Edmund verkrampfte sich in dem Stuhl, als würde er bereits von Stromschlägen getroffen.

»Beruhigen Sie sich, Eddie«, sagte Graves. Dann beugte sich der ältere Wärter vor, und wieder schimmerte in seinen Augen dieses Aufblitzen von Gemeinheit. »Sie denken an sie, nicht wahr? An die, die entkommen ist.«

Einen Moment lang hatte Edmund das Gefühl, wahrhaftig gesehen zu werden. Vielleicht verdiente sich Graves das Recht, seinen Spitznamen zu benutzen. »Woher haben Sie das gewusst?«

»Oh. Ich kann es erkennen. Ich bin schon seit einer ganzen Weile als Wärter hier im Todestrakt beschäftigt und war vorher lange Zeit im Normalvollzug. Habe mit achtzehn angefangen. Zuerst hält man alles zurück. Hält es in Schach. Aber es ist wie eine Gezeitenströmung, die einen Strand hinaufspült und immer ein wenig von deinem Sand wegnimmt, Tag für Tag. Schon bald wirst du darin eintauchen. Es geht einem unter die Haut. Also muss man es anerkennen. Das Böse, meine ich. Sie wissen, wie es tickt. Wie es ist. Was es will.« Graves leckte sich die Lippen. »Sie wissen schon, Ihr Jagdgebiet. Wo Sie diese Mädchen hingebracht haben …«

Diese Dinger.

»Es war in der Nähe meines Hauses. Hat meiner Frau Angst gemacht. Hat meinem Kind Angst gemacht.«

»Hinter denen war ich nicht her.«

»Nein, wahrscheinlich nicht. Nur hinter Mädchen. Junge Mädchen. Vier tot. Und was die Fünfte betrifft, tja, sie hatte Glück, nicht wahr?«

»Nummer fünf ist davongekommen«, erwiderte Edmund bekümmert.

»Und als sie davongekommen ist, hat man Sie geschnappt.«

»Ich hätte nicht geschnappt werden sollen.«

Ein gemeines Grinsen glitt über Graves’ Züge. »Und doch sitzen Sie hier.« Mit diesen Worten schlug der Wärter ihm auf die Knie. »Eins sollten Sie wissen, Eddie, dass der Kreis sich immer schließt. Sie kriegen, was Sie geben.«

»Sie geben also, was Sie kriegen.«

»Wenn Sie es sagen.«

Sie zogen alle Gürtel stramm, überprüften noch ein weiteres Mal die Elektroden und informierten ihn darüber, was geschehen würde. Sie fragten ihn ein letztes Mal, ob er die Anwesenheit eines Priesters wünsche, aber er hatte diese Möglichkeit bereits abgelehnt und bettelte auch jetzt nicht darum. Denn wie er ihnen gesagt hatte: Ich habe einen Schirmherrn in diesem Leben, und der Teufel ist nicht hier. Man hatte ihm beinahe scherzhaft erklärt, dass sich im Nebenraum der Gefängnisseelsorger befinde, jederzeit erreichbar vom Büro des Gouverneurs, nur für den Fall, dass es so was wie eine (und an dieser Stelle stieß Graves einen Laut zwischen Schnauben und Lachen aus) »Begnadigung auf die letzte Minute« geben würde. Sie erklärten ihm, dass seine Überreste auf einem Armenfriedhof beigesetzt werden würden, denn Edmund Reese hatte in dieser Welt keine Familie mehr.

Und mit diesen Worten öffneten sie die Stahljalousien.

Edmund sah die Zeugen und das Publikum, das sich versammelt hatte, um ihn sterben zu sehen. Sie saßen halb entsetzt, halb erpicht darauf da, hin- und hergerissen zwischen Furcht und Begierde wie ein Stück Eisen zwischen gleichstarken Magneten. Der Henker stellte die Spannung und die Stromstärke ein, und trat dann an die Schalttafel, um den Schalter umzulegen – bei dem handelte es sich nicht um einen merkwürdigen, frankensteinmäßigen Hebel an der Wand, den man auf dramatische Weise herunterziehen konnte, sondern vielmehr um einen einfachen weißen Schalter, so klein, dass man ihn mit dem Daumen umlegen konnte.

Dann bewegte sich der Daumen, und …

Edmund Reese spürte, wie die Welt um ihn herum aufleuchtete, groß und grell. Alles wurde von einer weißen Welle verschluckt. Es fühlte sich plötzlich an, als würde er fallen – und dann das Gegenteil, als würden ihn unsichtbare Hände emportragen, so wie sich eine Kuh fühlen musste, wenn sie von einem Tornado erfasst wurde. Und das Nächste, was er mitbekam, war, dass er nicht mehr auf dem Stuhl saß, nicht mehr in dieser Welt war, nicht tot, nicht …

Er war irgendetwas irgendwo anders.

Prolog 2

Der Junge ist gefunden

Mike O’Hara, der Jäger, war kein schicker, feiner Mann, aber er träumte von Fasan unter Glas. Es war ein Familienrezept, weitergereicht von seiner Großmutter an seinen Vater und jetzt an ihn und seine Brüder, Petey und Paul. Aber die beiden scherten sich nicht um Fasan unter Glas oder die Jagd, wie ihr Dad es getan hatte, daher jagte Mike allein. Wieder einmal. Ausgerechnet heute: am Geburtstag seines Vaters. Zumindest hätte er Geburtstag gehabt. Ruhe in Frieden, alter Herr.

Mike war kein besonders guter Jäger, und Fasane waren in dieser Gegend heutzutage nur schwer zu finden. Also wanderte er immer weiter und weiter, auf der Suche nach einem hübschen Hahn, den er aus den Feldern oder Gebüschen an Wegrändern aufschrecken konnte. Nicht einmal einen Jagdhund hatte er dabei und musste alles alleine machen. Deshalb ging er langsam und methodisch vor, wie sein Vater es ihn gelehrt hatte.

Währenddessen gingen seine Gedanken auf Wanderschaft. Er dachte an seinen Dad, gestorben an einem Schlaganfall – ein Blutgerinnsel war wie eine Kugel in sein Gehirn geschossen. Er dachte an Peteys Schulden und an Pauls Leberprobleme vom Trinken. Er erinnerte sich daran, dass er als Kind in einem alten Steinbruch nicht weit von hier entfernt geschwommen war. Und während seine Gedanken umherwanderten, taten seine Füße das Gleiche, achteten nicht groß darauf, wo er war oder wo er hinging – bis er zu einer Reihe sterbender Eschen kam, die mickrigen Bäume angenagt und halb dahingerafft von Eschenbastkäfern, sodass einst üppig belaubte Zweige aussahen wie sauber abgenagte Knochen. Dahinter entdeckte er das zerfallende weiße Firmenschild des Bergwerks Ramble Rocks. Überwuchert von Weinranken und Giftefeu – die Natur eroberte sich ihr Reich zurück.

Mike ging weiter. Das Gestrüpp knisterte unter seinen Füßen, während er voranschlich. Er wünschte sich zutiefst, einen Vogel zu erbeuten, und sei es nur zu Ehren seines Vaters. Es fühlte sich richtig an.

Schritt für Schritt ging er gedankenverloren weiter.

Da schoss etwas aus dem trockenen Dickicht empor.

Ein Flattern erfüllte die Luft, und etwas Dunkles bewegte sich von Ost nach West. Mike sah den verräterischen roten Fleck um das Auge, den weißen Ring um den Hals. Er stolperte einen Schritt zurück, legte an und zielte. Er drückte den Abzug …

Scheiße, die Sicherung, begriff er.

Ein schnelles Klicken, und er schwang die Waffe in den Flugbogen des Vogels und …

Peng.

Der Vogel zuckte im Flug und trudelte durch die Luft, bevor er mit dem Schnabel voraus in das trockene Feldgras stürzte.

Ich habe es geschafft!

Fasan unter Glas.

Mit klingelnden Ohren und dem schwefligen Gestank von verschossenem Pulver in der Nase blinzelte Mike gegen den Nebel des Gewehrrauchs an und …

Er sah eine kleine Person vor sich stehen.

»Heiliger Strohsack!«, blaffte er blinzelnd. Vor ihm stand ein mit Blut bedeckter Junge. Sein erster Gedanke war: Ich habe auf ein Kind geschossen. Aber das ergab keinen Sinn, oder? Er schnappte nach Luft und sah, dass das Blut an dem Jungen nicht frisch war. Vertrocknet. Verkrustet. Es bedeckte die Hälfte seines Gesichtes, ein Auge total verschorft.

Der Junge trug ein schlichtes weißes T-Shirt, von dem die Hälfte fast schwarz von altem Blut war. Seine Lippen waren so rissig, dass sie wie gesalzen aussahen. Seine Haut sah aus, als hätte er Gelbsucht.

»Hallo«, sagte Mike, der nicht wusste, was er sonst sagen sollte.

»Hey«, antwortete der Junge. Seine Stimme brach. Er lächelte leicht, als sei er aus irgendeinem Grund sehr zufrieden mit sich selbst.

»Geht es dir gut?«

Eine dumme Frage, das wusste er – diesem Jungen ging es nicht gut. Aber vielleicht würde es ihm helfen, würde ihn zum Reden bringen, wenn er nicht darauf gestoßen wurde, dass er so ziemlich am Arsch war. Seine eigene Tochter war genauso – Missy neigte zu Unfällen, und einmal hatte sie sich an einem gläsernen Couchtisch eine so schlimme Platzwunde am Kopf zugezogen, dass sie mit drei Stichen genäht werden musste. Der Trick war, man durfte sich ihr gegenüber niemals anmerken lassen, dass man aufgeregt war. Man musste so tun, als sei es nicht weiter schlimm, dann dachte sie auch, es sei nicht weiter schlimm. Sie weinte nie, weil man ihr niemals zeigte, wie schlimm es tatsächlich aussah, obwohl ihr Gesicht in diesem Fall eine Maske aus Blut gewesen war.

Bei dem Jungen hier war es genauso. Eine Maske aus Blut.

Du darfst ihn nur nicht erschrecken. Vielleicht weiß er es nicht.

Mike fragte noch einmal. »Geht es dir gut, Junge?«

»Ich bin draußen.«

Diese drei Worte machten Mike das Herz schwer, obwohl er nicht hätte sagen können, warum. Er würde es nie herausbekommen.

»Draußen? Von wo?«

»Aus dem Bergwerk.«

Mike blinzelte. Dann begriff er. Er kannte diesen Jungen. Oder zumindest wusste er, woher er stammte. Er hatte seinen Namen vergessen, aber er wohnte hier in der Gegend. Er war verschwunden, und zwar schon vor drei, vier Monaten. Nein, noch früher. Bevor die Schule zu Ende gewesen war. Anfang Mai. Zu der Zeit waren die Plakate aufgetaucht, er hatte telefonisch eine Meldung über ein vermisstes Kind erhalten. Die Leute hatten darüber geredet, aber es verschwanden ständig Kinder, und es wurde auch darüber geredet, dass dieser Junge ein beschissenes Familienleben hatte und deshalb vielleicht einfach davongelaufen war.

Das brachte Mike auf eine Idee. Vielleicht war er wirklich davongelaufen. Vielleicht hatte er sich dort unten in dem alten Kohlebergwerk verirrt.

Aber wie zur Hölle hatte er die ganze Zeit überlebt? Das war nicht möglich.

Mike legte das Gewehr vorsichtig auf den Boden. Dann hielt er beide Hände hoch. »Ich heiße Mike. Erinnerst du dich an deinen Namen?«

»Vielleicht.«

»Okay.« Er trat einen Schritt vor. »Du wirst schon seit einer Weile vermisst, hm?«

Der Blick des Jungen aus seinem einen gesunden Auge schweifte zum Horizont. Oder vielleicht darüber hinaus. Als sei er auf einen Punkt jenseits von Zeit und Raum fixiert.

»Also, wir machen jetzt Folgendes«, erklärte Mike. »Ich komme zu dir, okay? Ich helfe dir von dieser Brache weg. Mein Pick-up steht ungefähr eine Viertelmeile von hier entfernt, nicht weit, ein kurzer Spaziergang. Dann bringe ich dich in ein Krankenhaus.«

Der Junge sagte nichts. Er schien die Frage nicht einmal zu hören. Also trat Mike vorsichtig näher an ihn heran. Schritt für Schritt. Kurz dachte er bei sich: Scheiße, ich wünschte, ich könnte diesen Fasanenhahn holen, den ich geschossen habe.

Fasan unter Glas …

Näher, immer näher wagte er sich heran.

Er neigte sich nach vorn und streckte die Hand nach dem Jungen aus. »Okay. Komm her. Ich bringe dich irgendwohin, wo du sicher bist, Kleiner, entspann dich einfach …«

Die Hand des Jungen zuckte.

Es war etwas darin. Er drehte die Hand, drehte das Handgelenk, und das war der Moment, in dem Mike den Pickel sah. Er war vorher nicht da gewesen. Konnte nicht da gewesen sein. Hatte der Junge ihn hinter dem Rücken versteckt? Hatte er ihn aus dem Bergwerk mitgebracht? Jedenfalls sah er aus wie der Pickel eines Bergmannes. Eigentlich war er viel zu schwer für den Jungen. Aber er umfasste ihn ziemlich fest, wenn auch mit weißen Knöcheln.

»Was hast du da?«, fragte Mike.

Der Junge bewegte sich sehr schnell.

Mike spürte einen harten Druck an seiner Schläfe. Er versuchte aufzuschreien, versuchte zurückzuweichen, aber er schaffte weder das eine noch das andere. Er spürte Feuchtigkeit an seinem Kinn entlangtröpfeln. Sein Kopf fühlte sich schwer an, und er sackte nach unten und nach links.

Mann, es ist höllisch heiß hier draußen, dachte er, so verdammt feucht für Oktober, dann wurden seine Beine schwach und er stürzte auf sein Steißbein. Gebüsch knisterte unter ihm.

Während er verblutete, stand der Junge vor ihm. Ragte über ihm auf wie ein kleiner König. Den Pickel hielt er nicht mehr in der Hand.

Fasan unter Glas. Mike rief sich ins Gedächtnis, dass er auf dem Heimweg eine Flasche Brandy kaufen sollte. Das wird bestimmt köstlich schmecken, dachte er und schmatzte, während Blut seinen Mund füllte und der Junge vor ihm stand. Dann riss ihn die Dunkelheit des Sterbens mit sich.

Das Unglück im Bergwerk Darr in Van Meter, im Bezirk Rostraver, Westmoreland County, Pennsylvania, in der Nähe von Smithton, brachte am 19. Dezember 1907 zweihundertneununddreißig Männern und Jungen den Tod. Es zählt zu den schlimmsten Kohlebergwerkkatastrophen in der Geschichte Pennsylvanias.

Eine Untersuchung, die nach dem Unglück angestellt wurde, ergab, dass die Explosion von offenen Laternen verursacht worden war, die Bergarbeiter in einen Bereich mitgenommen hatten, den der Brandschutz am Tag zuvor abgesperrt hatte. Der Besitzer des Bergwerks, die Pittsburgh Cole Company, wurde nicht für das Unglück verantwortlich gemacht.

Wikipedia-Eintrag,

Unglück im Bergwerk Darr

Kapitel 1

Tinnitus

Oliver

Der Junge, fünfzehn, kniete auf dem Boden, das Kinn an die Brust gezogen, die Unterarme auf die Ohren gepresst und die Finger in das wirre Haar des Hinterkopfs gekrallt. In seinen Ohren klingelte es gellend – nicht das Läuten einer Glocke, sondern ein schrilles Sirren wie das eines Zahnarztbohrers. Neben ihm: gelbe Schließfächer. Auf der anderen Seite: ein Springbrunnen. Darüber: eine leuchtende, fluoreszierende Kaskade. Irgendwo vor ihm fielen zwei Schüsse, peng, peng. Bei jedem tat sein Herz einen Satz. Irgendwo hinter ihm murmelten und raschelten Schüler, die auf der Suche nach Sicherheit von Klassenzimmer zu Klassenzimmer gingen. Oliver stellte sich vor, dass sie tot waren. Er stellte sich vor, dass seine Lehrer tot waren. Blut auf Linoleum. Hirnmasse auf Tafeln. Er stellte sich die weinenden Eltern in den Nachrichten vor und die Selbstmorde von Überlebenden, die Gedanken und Gebete gefühlloser Politiker – er konnte den Schmerz sehen wie ein kleines Kräuseln, das zu einer Welle wurde, auf andere Wellen traf und sich in einen Tsunami verwandelte, der brüllend über den Menschen hineinbrach, bis alle darunter ertrunken waren.

Eine Hand fasste ihn an der Schulter und schüttelte ihn. Ein Wort, gesprochen wie durch ein Fischglas – sein Name. Jemand sagte seinen Namen. »Olly. Oliver. Olly!« Er rappelte sich vorsichtig auf, zuerst in die Hocke, dann in den Stand. Angesprochen hatte ihn Mr Partlow, sein Biolehrer. »Hey. Hey, die Alarm-Übung ist fast vorbei, Oliver. Ist mit dir alles in Ordnung? Komm schon, Kind, ich bringe dich …«

Aber dann ließ der Lehrer ihn los und trat einen halben Schritt zurück. Mr Partlow starrte auf den Boden – nein, nicht auf den Boden. Auf Oliver. Oliver warf ebenfalls einen Blick nach unten. Sein Schritt war nass. Feuchtigkeit lief an seinen Hosenbeinen hinunter. Er sah einige Schüler vor sich, die sich versammelten und lachten. Landon Gray, der im Klassenraum hinter ihm saß, sah betroffen aus. Amanda McInerney – die bei allen Aktivitäten dabei war, im Chor und im Schülerrat – machte ein angewidertes Gesicht und kicherte.

Mr Partlow brachte ihn weg. Oliver wischte sich Tränen vom Gesicht, Tränen, von denen er nicht einmal wusste, dass er sie vergossen hatte.

Kapitel 2

Der Rechtsanwalt

Über Nate

Am selben Tag saß Nate in Langhorne in einer Anwaltskanzlei. Der Rechtsanwalt ihm gegenüber war dick und blässlich wie ein Engerling oder wie das Innere einer zerschnittenen Kartoffel. Im Bürofenster brummte und ratterte eine Klimaanlage, sodass der Mann die Stimme heben musste, um sich Gehör zu verschaffen.

»Danke, dass Sie hergekommen sind«, sagte Mr Rickert, der Rechtsanwalt.

»Mhm.« Nate versuchte, seine Hände daran zu hindern, sich zu Fäusten zu ballen. Versuchte es und scheiterte.

»Ihr Vater ist krank«, fuhr der Anwalt fort.

»Gut«, antwortete Nate ohne jedes Zögern.

Rickert beugte sich vor.

»Es ist Krebs. Darmkrebs.«

»Schön.«

»Er wird bald tot sein. Sehr bald. Er befindet sich in einem Hospiz.«

Nate zuckte die Achseln. »Okay.«

»Okay«, wiederholte der Anwalt, und Nate konnte nicht erkennen, ob seine Reaktion den Mann überraschte – oder ob er mit so etwas gerechnet hatte. »Mr Graves …«

»Ich weiß, Sie erwarten, dass mich all das total fertigmacht, aber das tut es nicht. Nicht die Spur. Mein Vater war – oder ist, schätze ich – nichts als ein gewaltiger Haufen Müll. Ich habe keine Liebe für ihn übrig, nur Hass und Verachtung für dieses Monster, das sich als Mensch tarnt, und um die Wahrheit zu sagen, ich habe die letzten zwanzig Jahre lang ständig von diesem Tag geträumt, vielleicht schon länger. Ich habe mir vorgestellt, wie es kommen würde. Ich habe zu jedem Gott gebetet, der zuhören wollte, meinem Vater, diesem Stück Scheiße, einen schmerzhaften und elenden Tod zu bescheren, nichts Zügiges, keinen schnellen Sprint zum Ende, sondern eher ein langsamer Stolpermarathon, ein … ein unbeholfener Lauf, bei dem er die Wände mit dem Blut seiner Lungen bespritzt, bei dem er in seinen eigenen Körperflüssigkeiten ertrinkt, bei dem er einen Beutel an der Seite tragen muss für seine eigene Sch…, seine eigene Schweinerei, einen Beutel, der ihm zerreißt oder jedes Mal aus den Nähten platzt, wenn er sich bewegt, um seinen zerrütteten, sterbenden Körper in eine halbwegs bequeme Position zu bringen. Wissen Sie was? Ich habe gehofft, dass er Krebs bekommen würde. Und zwar einen kriechenden, stetigen Krebs, keinen schnellen wie den der Bauchspeicheldrüse. Etwas, das ihn von innen heraus zerstört, so sicher, wie er unsere Familie zerstört hat. Ein Geschwür für ein Geschwür, wie du mir, so ich dir. Ich habe vermutet, dass es Lungenkrebs sein würde, so wie er geraucht hat. Oder Leberkrebs, so wie er getrunken hat. Aber Darmkrebs? Mit Darmkrebs bin ich einverstanden. Er war … Er hat immer Scheiße gebaut, daher ist es ein passendes Ende für diesen halb menschlichen Sack verkeimter Exkremente.«

Der Rechtsanwalt blinzelte. Stille hing zwischen ihnen. Rickert schürzte die Lippen. »Sind Sie fertig mit Ihrem Monolog?«

»Fahren Sie zur Hölle!« Nate hielt inne und bedauerte seinen Zornesausbruch diesem Mann gegenüber, der das wahrscheinlich nicht verdiente. »Ja, ich bin fertig.«

»Ihre Ansprache überrascht mich nicht. Ihr Vater hat prophezeit, dass Sie so reden würden.« Er lachte ein wenig, ein schrilles Kichern, und er gestikulierte mit beiden Händen, sodass es aussah, als seien seine Finger kleine Motten, die sich in die Luft erhoben. »Nun, nicht genau das. Aber im Großen und Ganzen.«

»Gut, worum geht es? Warum bin ich hier?«

»Ihr Vater möchte Ihnen, bevor er dahinscheidet, einen Handel vorschlagen.«

»Kein Interesse, was immer es ist.«

»Es ist ein für Sie günstiger Handel. Wollen Sie das Angebot nicht hören?«

»Nein.« Nate stand auf und trat den Stuhl hinter sich weg. Der Stuhl scharrte lauter und aggressiver über den Boden, als er beabsichtigt hatte, aber es war, wie es war, und er würde sich nicht entschuldigen.

Er wandte sich zum Gehen.

»Es geht um das Haus«, sagte der Anwalt.

Nates Hand hielt auf dem Türknauf inne.

»Das Haus.«

»Genau. Das Haus Ihrer Kindheit.«

»Wunderbar. Er kann es mir in seinem Testament hinterlassen.«

»Es steht nicht im Testament. Stattdessen wird er Ihnen das Haus verkaufen. Das Haus mitsamt den fünf Hektar Land, auf dem es steht.«

Nate zuckte die Achseln. »Tut mir leid. Das kann ich mir nicht leisten.« Das Haus – wie der Anwalt bemerkt hatte, Nates Elternhaus – befand sich in einem Gebiet, das im Lauf der Jahrzehnte zu einer kostspieligen Wohngegend geworden war. Feine-Pinkel-Siedlung. Früher war es einfach Bauernland und Sumpf gewesen, aber heutzutage waren die Preise hoch, die Steuern auch, und reiche Leute aus Philly oder New York waren hergezogen. Gentrifizierung gab es nicht nur in den Innenstädten. »Dann sagen Sie ihm, er soll es verkaufen. Er kann das Geld für einen wirklich tollen Sarg ausgeben.«

»Vermutlich können Sie sich den Preis von einem einzigen Dollar leisten.«

Nate sah den Anwalt mit schmalen Augen an. Er fuhr sich mit einer Hand durch seinen Bart und zuckte zusammen. »Ein Dollar.«

»Ein Dollar, genau.«

»Wenn ich das richtig verstehe, tut er das, damit ich nicht … was, irgendwelche Steuern zahlen muss? Ich gebe ihm einen Dollar, und der Verkauf geht problemlos über die Bühne.«

»Das ist das Prinzip.«

Nate nickte. »Das Prinzip. Aha. Ich bin Polizist auf einer städtischen Wache. Ich habe nicht allzu viel zu tun mit Wirtschaftskriminalität, bei mir handelt es sich meistens um Verbrechen von einfachen Leuten, aber ich erkenne einen Schwindel, wenn ich einen rieche. Mein Vater könnte mir das Haus einfach schenken und fertig. Oder ich könnte es erben, wie es üblich ist – und ich wäre, was die Steuern betrifft, erst dran, wenn ich es verkaufe und mehr Geld damit erziele als den Marktwert des Hauses. Aber das hier, und korrigieren Sie mich, wenn ich mich irre, bedeutet, dass ich, wenn ich das Haus für einen Dollar kaufe und es für irgendeine Summe verkaufe, die diesen einen Dollar übersteigt, mit einer Spekulationssteuer belegt werde. Sehe ich das richtig?«

Ein unglückliches Lächeln erschien zwischen den rundlichen Wangen des Anwalts. »Das ist wahrscheinlich korrekt. Das Finanzamt verlangt im Allgemeinen sein Pfund Fleisch.«

»Ich kaufe das Haus nicht. Ich kaufe überhaupt nichts, was der alte Mann verkauft. Ich würde von ihm nicht einmal einen Becher Wasser kaufen, wenn ich kurz vor dem Verdursten wäre. Ich weiß nicht, was für ein Spiel er spielt, nur dass er mich mit einem Haus belasten will, das ich nicht will. Sagen Sie ihm bitte, er soll sich sein Angebot in sein verfaulendes, krebszerfressenes Hinterteil schieben.«

»Diese Nachricht kann ich weiterleiten.« Der Anwalt stand auf und hielt ihm eine Hand hin. Nate betrachtete sie, als hätte der Mann gerade in sie hineingeschnäuzt, nicht in ein Papiertaschentuch. »Das Angebot wird auf dem Tisch bleiben, bis Carl stirbt.«

Nate ging zur Tür hinaus, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.

Kapitel 3

Der Karton hat Augen

Maddie Graves

Sie hatte kurz geschnittenes Haar in einem silbrigen Ton – gefärbt, weil sie es cool fand. (Und es war cool.) Sie war hochgewachsen und schlank, Arme und Beine stramm wie Brückentragseile. Das kam von ihrer Arbeit: Maddie, oder Mads, war Bildhauerin. Meistens arbeitete sie mit Dingen, die sie fand. Was genau das war, was jetzt vor ihr lag: Ein Pappkarton, dieser von Amazon, mit einem Präzisionsmesser auseinandergeschnitten und in Form eines kleinen Mannes mit Kartonkörper und -kopf wieder zusammengefügt. Die Pappkartongliedmaßen des Kartonmannes waren mithilfe von Draht, den sie aus einem alten Maschendrahtzaun geklaut hatte, am Torso befestigt. Sie hatte ihn mit einer Drahtbiegezange zusammengedreht.

In eine Hand des Mannes hatte sie das Präzisionsmesser gesteckt.

Als sei er ein kleines Monster. Eine bedrohliche Mörderpuppe, bereit, mit seiner Klinge zu stechen-stechen-stechen.

Sie starrte ihn an.

Und starrte.

Und starrte noch ein Weilchen länger.

»Scheiße«, sagte sie.

Hinter ihr arbeiteten andere Künstler pflichtbewusst an Projekten – an Tischen, Staffeleien, Laptops –, ein summender Bienenstock gemeinschaftlichen künstlerischen Schaffens. Eine Frau aus der Gruppe, eine Freundin namens Dafne (Punk-Oma, höllisch tough, fünfundfünfzig Jahre alt, in den Ohrläppchen Acrylregenbogen-Dehnstecker von zweieinhalb Zentimetern Durchmesser, Hundeknochen-Nasenpiercing, T-Shirt mit einer Mystery-Podcast-Werbungdarauf, unten ausgefranst, beschlagene Bauarbeiterstiefel, die mit Farbe besprenkelt waren, sodass sie wie vollgekotzt aussahen, trat breitbeinig von hinten an Maddie heran, die Hände in die Hüften gestemmt.

»Was gibt’s?«, fragte Dafne.

»Ich, ahhh …«, begann Maddie und brach dann ab.

»Für meine Begriffe sieht die Figur ein bisschen banal aus, falls das deine Sorge ist. Als Kapitalismuskritik ist sie ein wenig simpel – hm, okay, Amazon ist dieser Online-Versand mit Riesenkisten, und er zerstört die Welt, aber irgendwie ist er auch eine naheliegende Zielscheibe. Hinzu kommt, ja, nein, ich finde, du kannst weitergehen als nur bis zu einem kleinen Messer in seiner Hand, stimmt’s?« Dafne senkte die Stimme zu einem Murmeln. »Ich meine, ich kaufe immer noch hin und wieder bei Amazon, keine Ahnung.«

»Nein. Nein!«, widersprach Maddie und runzelte die Stirn. »Das ist es nicht – das ist nicht das Problem. Es ist … es ist umfassender. Irgendetwas stimmt da nicht. Etwas ist unheimlich damit.«

»Unheimlich ist besser als heimelig.«

»Ich will nur, ähm.« Sie schluckte. »Es ist nicht nur unheimlich. Es ist Wahnsinn.«

»Wahnsinn ist meine Spezialität. Ich nehme Lithium. Was meinst du genau?«

Maddie lachte leise. »Okay. Zum Beispiel die Augen?«

Sie zeigte mit einer Zange auf die Augen des Kartonmannes – die ebenfalls aus Draht waren, zusammengerollt wie kleine metallene Tausendfüßler und sanft in die Pappe geschraubt.

»Ja.«

»Die habe ich nicht gemacht.«

»Was hast du nicht gemacht?«

»Die Augen.«

»Du hast die Augen nicht gemacht?«

»Scheiße, genau das sage ich doch die ganze Zeit – ich habe sie da nicht reingeschraubt oder erinnere mich nicht daran, sie da reingeschraubt zu haben. Ist doch unheimlich, oder?«

Dafne zuckte die Achseln und stieß ein erheitertes Ächzen aus. »Süße, ich erinnere mich nicht daran, was ich zum Frühstück gegessen habe, geschweige denn an das Zeug, das ich male, während ich es male. Ich verfalle in einen Bob-Ross-Dämmerzustand. Es ist wie in seiner Fernsehsendung, dieser ASMR-Kram, dieser Hypno-Halluzinogen-Scheiß. Mein Gehirn schaltet sich aus, meine Arme fangen an, mit dem Pinsel zu tanzen, als sei er ihr Partner, und los geht’s.«

Maddie biss sich auf die Unterlippe, beinahe so sehr, dass Blut floss.

»Bei mir ist das aber nicht so«, verdeutlichte sie. »Ich habe, du weißt schon, ich habe die Kontrolle. Das weiß ich. Jede Bewegung, jeder Arbeitsgang dient einem Zweck. Und ich schwöre, dass ich diese Augen da nicht reingemacht habe.« Und ich schwöre, sie sehen mich an. Es war nicht nur das. Da waren noch andere Dinge, die ihr zu schaffen machten. Nämlich wie die Augen sie anzusehen schienen. Und, da war sie sich ebenfalls sicher, dass in die Hand des Kartonmannes keine Klinge gehörte – sondern vielmehr eine Schere. Irgendetwas daran fühlte sich seltsam vertraut an. Als hätte sie das schon einmal gesehen. Als hätte sie ihn schon einmal gemacht. Sie schüttelte den Kopf. Das war verrückt. Durch und durch Kuckucksnest-verrückt. »Ich verstehe deine Ansicht über den Kapitalis…«

»Diesen Müll von Gesellschaft …«

Maddies Telefon klingelte und unterbrach sie.

»Mensch, wer ruft denn heutzutage noch an?«, fragte Dafne und schaute geringschätzig auf das Gerät in Maddies Hand.

Auf dem Telefon stand: RUSTIN SCHOOL.

»Ollys Schule«, sagte Maddie unheilverkündend. »Die rufen an.«

Sie nahm den Anruf entgegen, und ihr mütterlicher Instinkt sagte ihr sofort, dass irgendetwas schiefgelaufen war.

Kapitel 4

Das Gespräch

Oliver hörte durch die Wände ihrer Stadtwohnung, wie seine Eltern sich unterhielten. Es war Mitternacht, und sie dachten wahrscheinlich, er schliefe. Er war schließlich erschöpft. Aber seine Gedanken rasten trotzdem. Sein Herz ebenfalls.

Dad: Ich weiß nicht so recht, Mads. Er ist einfach – er ist einfach – er ist einfach – keine Ahnung.

Mom: Dr. Nahid hat gesagt, er sei emphatischempathisch.

Dad: Mir gefällt dieses Wort nicht. Klingt so sehr wie erbärmlich, und er ist nicht erbärmlich …

Mom: Niemand sagt, er sei erbärmlich, Nate. Es ist nur ein Wort. Bleib einfach bei emphatischempathisch, egal wie es klingt. Er hat ein wirklich intensives Mitgefühl mit anderen, okay? Der Schmerz anderer Menschen entzündet sein Gehirn wie eine Glühbirne.

Oliver fragte sich: War er erbärmlich?

Jedenfalls fühlte er sich so. Er befand sich in diesem schlaksigen Zwischenstadium, in dem sich bei einem Teenager alles neu zusammenfügte – die Gliedmaßen ein wenig zu lang, eine Nase, die er dafür hasste, dass sie zu groß und zu spitz war, ein Kinn, das er dafür hasste, dass es zu weich war. Im Gegensatz zu dem platinblonden Haar seiner Mutter oder den zotteligen sandsteinfarbenen Locken seines Vaters war sein eigenes Haar dunkel wie ein Krähenflügel. Er hatte keine feste Freundin. Er mochte Mädchen – mochte auch Jungen, obwohl er das niemals jemandem erzählt hatte. Er hatte noch nie Sex gehabt. War sich nicht sicher, ob er jemals welchen haben würde: Die Vorstellung davon war für ihn eher Furcht einflößend als aufregend. Er hatte jedoch ein Auge auf Lara Sharp geworfen, weil sie ein Nerd war und total extrovertiert, und er mochte es, dass sie sich einen Scheiß gefallen ließ, von niemandem. Lara erinnerte ihn an seine Mom. Ihm war klar, wie unheimlich das war, dass er mit jemandem zusammen sein wollte, der ihn an seine Mom erinnerte, aber er empfand es nicht so – er mochte seine Eltern. Sehr. Sie waren gut zu ihm, und er bildete sich ein, dass er gut fürsie war.

Was auch immer. Es spielte sowieso keine Rolle. Es war ohnehin nicht so, als würde Lara Sharp mit ihm zusammen sein wollen. Nicht nach dem heutigen Tag.

Ich weiß nicht, Mads. Der arme Junge – er, er hat sich in die Hose gemacht …

Nate, diese Alarm-Übungen sind scheiß beängstigend. Sie feuern echte Waffen ab …

Platzpatronen, es sind Platzpatronen.

Na und? Dann sind es eben Platzpatronen! Sie werden benutzt, damit sie sich wie echte Schüsse anhören – du bist ein Cop. Kinder sind keine Cops. Es ist traumatisch. Es ist ein echtes beschissenes Trauma, und kein Wunder, dass er so was nicht verkraftet. Ich würde mir wahrscheinlich ebenfalls in die Hose pinkeln.

So viele Schüsse höre ich nun auch nicht, Mads – ich weiß, du denkst, es sei ein gefährlicher Job, Cop zu sein, aber meistens ist es das nicht. Außerdem ist es ja nicht nur das. Bei jedem Obdachlosen auf der Straße will der Junge seinen Namen wissen, wie er dorthin gelangt ist, will ihm Geld geben …

Das ist etwas Nettes, Nate.

Ichweiß.Dasistes.Undichbinfroh,dassMenschenihmwichtigsind.Abersiesindihmnichtnurwichtig.IhrSchicksallässtihndieFassungverlieren.Esistschwergenug,alleinaufderWeltzusein,abererhatkeineRüstung. Der Schmerz eines jeden Menschen ist sein eigener Schmerz …

An dieser Stelle waren ihre Stimmen für einen Moment gedämpft. Entweder redeten sie leise oder gingen im Raum umher. Er hörte seine Mutter sagen: … mit Dr. Nahid geredet …

Nahid. Seine Therapeutin. Er ging jetzt seit ungefähr einem halben Jahr zu ihr. Oliver mochte sie. Sie sah streng aus – scharfkantig, wie eine Schublade voller Messer, die man öffnete und auskippte – aber ihm gegenüber war sie weich, sanft und immer gelassen. Er hatte nie das Gefühl, dass sie von oben herab mit ihm sprach oder so, und schon gar nicht, dass sie ihn verurteilte. Doch Dad hatte recht. Oliver hatte keine Rüstung. Er spürte den Schmerz von Menschen – er konnte ihn buchstäblich sehen, ihn fühlen, wie einen dunklen, pulsierenden Stern. Manchmal war der Schmerz klein und scharf, dann wieder wie ein Geysir des Leids, das aus einer Person heraussprudelte. Ihre Furcht, ihre Sorge, ihre Traumata. Die Menschen teilten sie mit ihm. Und er konnte es nicht abstellen.

Seine Mom fuhr fort: Also, ich weiß, das ist wahrscheinlich der beschissenste, superschlechteste Tag, um darüber zu reden, aber da dein Vater im Sterben liegt und er uns das Haus angeboten hat …

Moment mal, Olivers Großvater lag im Sterben? Er kannte ihn nicht. War ihm nie begegnet. Er glaubte auch nicht, dass seine Mom ihm je begegnet war, und sein Dad redete selten über seinen eigenen Vater – aber er lag im Sterben?

Mads, das kann nicht dein Ernst sein.

Okay, ich weiß. Es ist verrückt. Aber lass mich ausreden …

Ich will weder darüber nachdenken noch darüber reden. Nein. Nein!

Es liegt in Bucks County. Toller Schulbezirk. Gute Jobs, saubere Luft, außerdem steht das alte Haus deiner Eltern auf einem fünf Hektar großen Grundstück.

Das macht nur Mühe.

Es wäre außerdem großartig für meine Arbeit, Nate. Ich könnte eine Werkstatt einrichten und hätte allen Platz, den ich brauche. Außerdem hast du immer gesagt, du würdest Leute bei der Jagd- und Naturschutzverwaltung kennen. Das wäre ein netterer Job, als in den Straßen dieser beschissenen Stadt eine beschissene Arbeit zu tun. Du sagst immer wieder, dass sich die Cops verändert hätten. Sie sind bösartiger geworden. Schlechter. Außerdem hat Nahid gesagt, die Natur würde ihm guttun, es würde ihm guttun, aus der Stadt rauszukommen …

Mein Gott, Mads. Ich bitte dich. Das ist verrückt.

Schätzchen, Babe. Nate. Ich weiß, das ist hart für dich. Dein Vater war …

Ist. Er lebt noch, und er ist der schlimmste Mensch, den du dir vorstellen kannst, Maddie. Ein Narzisst, ein Soziopath, ein gewalttätiger Hurensoh…

Ja, natürlich, aber …

Und du hast ihn nie kennengelernt. Du weißt es nicht. Nicht wirklich.

Aber er wird bald tot sein. Verstehst du denn nicht? Er wird kalt sein und in der beschissenen Erde liegen, und dieses Haus kann uns gehören, und wenn du vielleicht eine einzige gute Sache von ihm bekommen kannst – eine Möglichkeit, aus der Stadt zu entkommen, eine Linderung des Drucks auf deinen Sohn, eine neue Arbeitsstelle für mich (deine geliebte Ehefrau), warum ergreifst du die Chance dann nicht? Vielleicht, nur vielleicht, ist das ja die Art deines Vaters …

Sprich es nicht einmal aus. Ich weiß, du siehst liebend gern die positive Seite der Dinge und die gute Seite von Menschen, aber nein. Dieser Mann hatte keine gute Seite. Es war nur düster.

Du könntest irgendwann mal darüber reden.

Und es noch einmal durchleben? Oder dich dazu zwingen, es zu ertragen? Nein, danke. Vertrau mir einfach, wenn ich dir sage, dass es keine gute Seite gab. Der Skorpion sticht immer den Frosch.

Okay. Okay. Aber das muss doch nicht so sein.

Gott, Mads! Genau das sagt der Frosch jedes Mal!

Er stirbt. Welchen Schaden kann er anrichten?

Ich weiß es nicht, Mads. Olly wird nicht umziehen wollen. Er mag seine Schule …

Und das stimmte. Oliver mochte seine Schule wirklich. Die Rustin School war eine kleine, private Einrichtung der Quäker hier in der Stadt, aber würde er es nach dem heutigen Tag überhaupt aushalten, dortzubleiben? Er wollte nicht wieder dorthin. Wollte sein Gesicht nicht zeigen. Also strampelte er die Decke weg, riss seine Tür auf und ging auf nackten Füßen in die Küche. Er fand seine Eltern vor, wie sie beide an gegenüberliegenden Arbeitsplatten lehnten und einander argwöhnisch betrachteten. Bevor sie ihn auch nur bemerkten, sagte er: »Ich hab euch reden hören. Ihr vergesst, dass diese Wohnung klein ist und dünne Wände hat.«

Sie drehten sich beide um, um ihn panisch anzusehen. Dann einander.

Schmerz erblühte dunkel in seinem Vater. Entströmte seiner Leibesmitte wie eine wachsende Gestalt. Er pulsierte dort und wurde nicht weniger. Für gewöhnlich wurde der Schmerz zurückgehalten, beinahe wie durch eine unsichtbare Mauer, aber heute Abend schien es, als wäre er aus seinem Gefängnis ausgebrochen, eine blutige, verdammte schwarze Bestie, die ihrem Käfig entfloh.

Auch der Schmerz seiner Mutter war präsent – aber er schien gezähmt zu sein. Oder zumindest unterdrückt.

Olivers Erfahrung nach war der Schmerz eines jeden Menschen unterschiedlich; bei einigen war es ein kompakter Ball, bei anderen ein chaotisches Feuer. Der Schmerz des einen Menschen konnte eine Gezeitenwelle sein, während der Schmerz eines anderen aussah wie Gift in Adern oder wie eine sich ausbreitende Prellung oder Schatten auf Wasser. Oliver verstand es nicht, hatte keine Ahnung, was es bedeutete oder warum er den Fluch dieser Fähigkeit überhaupt ertragen musste, aber er konnte Schmerz sehen, seit er denken konnte.

Er hasste es. Doch manchmal war es auch nützlich.

»Hey, Kumpel«, hob Mom zu sprechen an, aber Oliver unterbrach sie.

»Ich will umziehen. Ich habe euch reden hören, und ich will umziehen.«

»Wirklich?«, fragte sein Vater.

Olly nickte. »Ja. Die Stadt ist … hart.« Das war sie. Der Lärm. Die Lichter. Das ununterbrochene Summen. Aber schlimmer als das waren die Menschen. Es waren gute Menschen. Aber dieser Schmerz, den er sehen konnte – er war überall. So viel Schmerz, der drohte, ihn zu zermalmen. Wie es bei der Schießübung heute passiert war. Der Schmerz flutete jeden Tag über ihn hinweg wie eine Welle. Und es wurde schlimmer. Es musste weniger werden. Vielleicht würde ein Umzug das ermöglichen. Vielleicht.

Nate zwang sich zu einem Lächeln und sagte dann: »Okay, Kleiner. Okay.«

Also war es beschlossen.

Die Familie Graves würde umziehen.

Kapitel 5

Die eine Bedingung

Das Haus

Es war ein steinernes Bauernhaus im Kolonialstil, das Mauerwerk stammte aus dem späten achtzehnten Jahrhundert. Ein hoher Bau mit schmalen Giebeln, der einen langen Schatten warf, wenn die Sonne dahinter aufging. Seine Tür war rot, das Schutzdach darüber blaugrün. Aber die Farbe von beidem war längst verblichen und löste sich in leprösen Streifen ab. Die Wegplatten waren rissig und zerbrochen, und Unkraut machte die Lücken noch breiter. Spinnweben, einige alte, einige neue, hingen in den Fenstern. Das Schieferdach befand sich in einem wirklich schlimmen Zustand, viele der Ziegel waren zerbrochen und zersplittert. Blauregen rankte sich um die Stromkabel, und Kletterpflanzen – Giftsumach und Wilder Wein – streckten sich vom Boden aus nach oben, wie Finger, die versuchten, das Haus zu packen und es in die Erde zu ziehen. Die Natur wollte dieses Haus zurückhaben.

Genauso, wie die Bäume das Haus überragten, schien das Bauwerk Nate zu überragen. Er erlebte einen Moment des Schwindels, in dem es sich so anfühlte, als klappe die rote Haustür weit auf und würde zum Maul des Hauses, das sich zu ihm vorbeugte. Das ihn verschlang und herunterschluckte. Dies war ein Gebäude mit stinkendem Atem und bösen Träumen.

Während Nate das Haus seiner Kindheit betrachtete, das er seit Jahrzehnten nicht mehr besucht hatte, hörte er einen Motor und das Knirschen von Splitt unter Reifen.

Der Rechtsanwalt, Rickert, fuhr in einem jahrzehntealten BMW die lange Einfahrt mit dem rissigen Asphalt hinauf – eine willkommene Störung. Er parkte den BMW neben dem kleinen Honda, von dem Nate vermutete, dass er der Krankenschwester aus dem Hospiz gehörte.

Rickert sprang aus seinem Wagen und kam herbeigeschlendert, einen braunen Papierumschlag mit einem Bindfadenverschluss in den Händen.

»Mr Graves«, sagte er.

»Rickert«, erwiderte Nate.

»Ihre Bedingung ist erfüllt worden.«

»Er ist jetzt da drin?«

Rickert nickte ungerührt. Er hat Dad auch nicht gemocht, begriff Nate. Was passend war; sein Vater hasste Anwälte ebenso sehr, wie er alles hasste.

Nate wühlte in seiner Tasche und holte einen abgegriffenen, zerknitterten Dollarschein heraus. So einen, wie ihn ein Imbissautomat ausspucken würde.

Der Anwalt nahm den Geldschein entgegen. Dann reichte er Nate den Umschlag. Nate spähte hinein und sah einen Stapel Papiere – Papiere, die er bereits vor einigen Tagen unterzeichnet hatte – nachdem Oliver ihnen mitgeteilt hatte, er wolle umziehen –, und außerdem die Grundbucheintragung und einen Schlüsselbund.

Genau in dem Moment wurde die Tür des Hauses geöffnet, und die Krankenschwester aus dem Hospiz – eine breitschultrige Frau mit gütigen Augen, einem Schopf braunen Haars und traurigem Ausdruck auf dem Gesicht – kam heraus. »Nathan Graves?«, fragte sie.

Nate nickte, korrigierte sie aber scharf: »Nate. Niemals Nathan.«

»Hallo Nate, ich bin Mary Bassett«, stellte sie sich vor, griff nach seiner Hand und hielt sie fest. »Ich bin die Krankenschwester aus dem Hospiz. Mein herzliches Beileid zu Ihrem Verlust.«

»Es muss Ihnen nicht leidtun. Ich bin hier, um mich an dem Geschehenen zu ergötzen, nicht um zu trauern.«

Ein Aufblitzen in ihren Augen verriet ihm, dass sie verstand. Es brachte ihn auf die Frage, durch welche Hölle sie mit dem alten Mann in der letzten Woche seines Lebens hatte gehen müssen.

Die Trümmer, die diese Dampfwalze von altem Widerling hinter sich zurückgelassen hat …

»Ist er da drin?«, fragte Nate.

»Ja. Im großen Schlafzimmer im ersten Stock.«

»Dann würde ich ihn gern sehen.«

Das war nämlich Nates Bedingung gewesen: Er hatte Rickert vor drei Tagen am Telefon mitgeteilt, dass er das Ein-Dollar-Angebot annehmen würde, wenn ihm eine kleine, private »Besichtigung« des Hauses erlaubt wurde, nachdem sein Vater gestorben war, aber bevor jemand dessen Leiche weggebracht hatte.

Sein Vater hatte dieser Bedingung zugestimmt.

Und jetzt war Nate hier. Betrachtete den Leichnam seines Vaters.

Nate hatte in seiner Zeit als Cop in Philly eine Handvoll Leichen gesehen – einmal hatte eine Hitzewelle eine ältere Dame dahingerafft und sie als ein fettiges, geschwollenes Etwas zurückgelassen, aufgequollen und voller Blasen. Ein andermal hatte ein harter Winter einem Obdachlosen das Leben genommen, und er war an einer Müllkippe festgefroren. All die Todesfälle, die er gesehen hatte, waren unnatürlich gewesen – Überdosen und Autounfälle und, das Schlimmste vom Schlimmsten, drei Leichen, die man aus einem niedergebrannten Nachtklub gezogen hatte. Was für diese Todesfälle galt, galt auch hier: Ein Leichnam hatte keine Seele. Etwas Entscheidendes war verschwunden. Ein fehlendes Teil hatte die Menschen von etwas Lebendigem in eine wächserne Puppe verwandelt.

Die Haut des alten Mannes lag lose über den krummen Knochen, runzelig und teigig wie die Seiten einer Bibel, die feucht geworden war. Die Augen waren glasig, der Mund dünn, jede Lippe ein kränklicher Erdwurm, der sich gegen den anderen drückte.

Das hier war nicht sein Vater. Nicht mehr. Es war nur eine Puppe.

Nate hatte erwartet, dass er, wenn er seinen Vater wiedersah, Entrüstung empfinden würde, die den Zorn aufsprühen ließ wie Magma – ein Aufwallen von Lava in seiner Kehle, rot glühend, das sich nicht bezähmen lassen würde, nicht bezähmen lassen konnte.

Er hatte gehofft, dass er Glück empfinden würde, wie ein Junge, dem man sagte, das Ungeheuer im Kleiderschrank sei verschwunden, dass tatsächlich alle Monster enthauptet worden seien, dass alles von jetzt an wie eine Karussellfahrt oder wie Luftballons sein würde.

Er hatte befürchtet, dass er traurig sein würde – dass es, wenn er seinen Vater ein letztes Mal sah, etwas öffnen würde, das er versteckt gehalten hatte, ein Reservoir von Kummer darüber, den alten Mann so zu sehen. Traurig, dass er keine Kindheit hatte, wie er sie sich vorgestellt hatte. Traurig bei der Frage, was seinen Vater zu dem Mann gemacht hatte, zu dem er geworden war.

Stattdessen fühlte er sich einfach nur leer. Eine Tafel, von der man alle Kreide abgewischt hatte, sodass nur glänzende, feuchte Schwärze zurückblieb.

Eines fühlte er jedoch durchaus: Er fühlte sich, als sei er ein Störenfried in diesem Raum. Sein Vater hatte ihn nie hier hereingelassen. Der Raum war tabu gewesen. Einmal hatte Nate sich hineingeschlichen und herumgestöbert und gedacht, er würde nicht erwischt werden, aber irgendwie hatte der Vater es gewusst. Er hatte es immer gewusst. Als ob die Moleküle im Raum durcheinandergebracht worden waren.

(Das war nicht gut gelaufen für Nate. Er hatte wochenlang blaue Flecken gehabt.)

Ihm wurde ein wenig übel davon, hier drin zu sein. Als würde er abermals erwischt werden. Es gab jedoch keinen Grund, diesem Gefühl nachzugeben. Er rannte nicht weg, obwohl er es gern getan hätte.

Der Raum hatte sich verändert. Er war unordentlicher, das Paradies eines Menschen, der Dinge hortete: stapelweise Waffenzeitschriften auf der Ankleidekommode, Haufen schmutziger Kleider, einige nicht mehr funktionierende Mausefallen in der Ecke (keine Mäuse), ineinandergestellte schmutzige Teller auf einem Nachttisch neben einer billig nachgemachten Rolex und einem uralten Wecker, so einem mit zwei Metallglocken am oberen Rand. Es hatte nicht so ausgesehen, als Nate hier gelebt hatte – seine Mom hatte dafür gesorgt, dass immer alles tipptopp gewesen war. Diese Moleküle im Raum zu arrangieren, war ihre Aufgabe gewesen, und dafür zu sorgen, dass sie arrangiert blieben, alles zur Freude des alten Hurensohns.

Nate erwartete auch, dass die Waffen seines Vaters noch immer hier sein würden: eine .45 ACP in der Sockenschublade, eine Repetierflinte unter dem Bett, eine Deringer mit zwei Schüssen in einem Schuhkarton im Kleiderschrank. Und wenn sie hier waren, waren sie geladen. Sein Dad war paranoid gewesen. Hatte gesagt, eines Tages würde jemand herkommen und seinen Scheiß stehlen – er bildete sich eine Menge rassistischer Ängste ein, als würden massenweise Schwarze oder Mexikaner im dunklen Wald draußen einfach Schlange stehen, um ihm seine Armbanduhren zu stehlen, allesamt billig nachgemacht. Ein König muss seine Burg verteidigen, hatte Dad immer gesagt. Aber er war kein König. Und dies war keine Burg.

Aber da war eine Sache, die Nate dann doch überraschte.

Sein Vater hatte sich nicht selbst ins Jenseits katapultiert.

Das war immer sein großes Ding gewesen. Wenn ich jemals krank werde, richtig krank, werde ich mir eine Pistole unters Kinn halten. Ich gehe zu meinen eigenen Bedingungen. Das hatte er seinem Sohn erzählt, als Nate … wie alt? Als er zwölf gewesen war? Wer sagt so etwas zu einem Zwölfjährigen?

»Feigling«, murmelte Nate und erwartete keine Antwort.

Aber sein Vater antwortete trotzdem.

Der Leichnam seines Dads versteifte sich auf dem Bett, als sei das Leben plötzlich in seine Knochen zurückgeschossen. Der Rücken der Leiche wölbte sich, die Augen wurden aufgerissen, und der Mund öffnete sich weit, noch weiter, knackend dabei, und das Gesicht verzog sich zu einer Grimasse puren Elends. Sein Dad keuchte wie Wind, der durch ein zerbrochenes Fenster pfiff, dann kam ein verrücktes Aufblitzen von Licht …

»Gott«, sagte Nate und wich von dem Bett zurück.

Und dann sah er seinen Dad, eine andere Version seines Vaters, in der Ecke des Raums stehen. Unmöglich, aber so war es: Ein Vater lag auf dem Bett und einer stand in der Ecke des Raums Wache. Der in der Ecke trug schlammverkrustete Jeans und ein dreckiges weißes T-Shirt, außerdem hielt er in seiner linken Hand, seiner falschen Hand, eine klobige Armeepistole. Er starrte Nate direkt an – starrte ihn an oder starrte durch ihn hindurch, das konnte Nate nicht erkennen, während sich der tatsächliche Leichnam seines Vaters die ganze Zeit über auf dem Bett ausstreckte und immer steifer und steifer wurde, und das schrille Einsaugen von Atem länger und länger wurde, als möglich schien.

»Nathan?«, fragte die Version seines Vaters in der Ecke, seine Stimme so heiser, dass sie summte, summte wie ein Wespenschwarm hinter einer Wand.

Die Tür zum Schlafzimmer wurde aufgerissen, und die Krankenschwester kam hereingeeilt. Der Leichnam auf dem Bett erschlaffte und sackte in sich zusammen. Nate blinzelte – die Materialisierung in der Ecke, der zweite Carl Graves, war verschwunden.

»Was ist passiert?«, fragte die Schwester.

»Ich …«

Aber Nate konnte nicht weiterreden. Er marschierte an ihr vorbei, die schmale Treppe hinunter, durch das vermoderte Haus und die Tür nach draußen.

Vor Rickerts Augen erbrach er sich in das von Unkraut überwucherte Blumenbeet.

»Man nennt es Schnappatmung«, erklärte Mary Bassett. Nate saß auf der Stoßstange seines alten Jeep Cherokee. Er hatte den sauren Geschmack von Erbrochenem im Mund, und sein Herz hämmerte noch immer wie ein Trommelschlegel gegen sein Brustbein.

Die Krankenschwester stand da, die Hände vor dem Bauch gefaltet. »Manchmal befällt jemanden, wenn das Leben entwichen ist, ein Myoklonus – ein Zucken oder ein Krampf –, und es kommt vielleicht zu einem Aufkeuchen. Es ist … ein schreckliches Geräusch. Ich habe es zum ersten Mal an der Uni gehört, als ich es mit meinem ersten Leichnam zu tun hatte, und es ist mir nie gelungen, es zu vergessen.«

Rickert stand in der Nähe und beobachtete das Gespräch mit entspannter Neugier.

Nate zog die Nase hoch. »Dad ist tot seit wann? Wie lange?«

»Seit einer Stunde.«

»Kann eine Schnappatmung passieren, so lange nachdem …« Er entschied sich, die Beschönigung der Schwester zu benutzen. »… das Leben entwichen ist?«

Sie zuckte die Achseln. »Meiner Erfahrung nach nicht, aber die Biologie ist ziemlich seltsam.«

»Da war noch etwas«, sagte Nate. »Ich habe ihn, Dad, in der Ecke stehen sehen. Ihn, aber nicht ihn. Wie einen Wiedergänger.«

Mary machte ein trauriges, mitfühlendes Gesicht. »Es ist nicht ungewöhnlich, so etwas zu sehen. Es ist ein Augenblick von erheblichem Stress. Wenn es Ihnen hilft zu denken, Sie hätten seinen Geist gesehen, ist das in Ordnung. Wenn Sie sich lieber vorstellen möchten, es sei eine Halluzination gewesen, ist das auch in Ordnung.« Sie versuchte zu lächeln. »Es gibt da keine falschen Antworten.«

»Okay.« Nate nickte. Nur eine Halluzination, dachte er. »Danke.«

Sie drehte sich zu dem Anwalt um. »Ich habe alle Medikamente ins Klo geworfen und weggespült und auch den Totenschein vorbereitet. Wenn Sie wollen, kann ich jetzt den Bestatter anrufen.«

»Bitte«, sagte Rickert.

Sie murmelte eine weitere kleine Entschuldigung und danach einen Abschied für Nate, dann war Mary Bassett verschwunden.

»Werden Sie zu der Beerdigung kommen?«, fragte Rickert.

»Das hier war für mich die Beerdigung.«

»In Ordnung. Ich werde mich um alle rechtlichen Angelegenheiten kümmern. Für die Immobilie gibt es keinen Testamentsvollstrecker, falls Sie sich das fragen.«

»Das habe ich mich nicht gefragt.«

Rickert stand da, lautlos wie die Bäume an diesem heißen, windstillen Tag im August. Schließlich sagte er: »Was werden Sie mit dem Haus machen? Es gewinnbringend verkaufen? Es dürfte Ihnen schon einiges Geld einbringen.«

»Ich habe eine Firma für Haushaltsauflösungen bestellt. In ein paar Tagen wird das Haus ausgeräumt und alles verkauft, was nicht niet- und nagelfest ist. Eine Woche später …« Er konnte nicht glauben, dass er die nächsten Worte aussprach. »Wird meine Familie einziehen.«

»Das überrascht mich.«

»Nicht so sehr, wie es mich überrascht, Mr Rickert. Nicht so sehr wie mich.«

Zwischenspiel

Die Ankunft

Tiere gingen nicht gern in den Tunnel.

Sie verabredeten das nicht untereinander, nicht direkt. Sie haben keine artübergreifende Sprache, obwohl sie mit Artgenossen durchaus kommunizierten – zirpend, schnalzend und zwitschernd, blökend und grunzend. Aber nie brauchte ein Tier einem anderen zu sagen: Geh da nicht rein. Sie wussten es. Es summte in ihrem Fell und ihren Federn. Ihr Blut sang die Warnung.

Der Tunnel war, wie sie wussten, nicht einfach nur ein Tunnel. Er war ein Ort, der nach Angst roch – eine dunkle Kuhle, eine dünne Stelle, eine Membran, durch die Dunkelheit, wahre Dunkelheit, hindurchkommen konnte, und sie konnten es spüren, und sie konnten es riechen. Außerdem wussten sie, dass es nicht nur der Tunnel war, sondern das ganze Umland – doch der Tunnel war das Zentrum. Und auch wenn sie nicht das ganze Gebiet drum herum meiden konnten, waren sie doch überaus weise und machten einen großen Bogen um den Tunnel selbst.

Aber heute ging eine Person durch den Tunnel – ein Mensch, einer von diesen schlaksigen, gummiartigen, größtenteils unbehaarten Affen. Die Person lief. Ein Mann der Spezies. Menschen gingen oft durch den Tunnel. Menschen waren, wie sich herausstellte, sehr dumm. Rannten, obwohl nichts sie jagte.

Aber die Dummheit der Menschen war manchmal das Glück der Tiere. Der Mann, der unter dem niedrigen, steinernen Bogen hindurch in die lange Dunkelheit ging, trug etwas bei sich, wie Menschen es oft taten:

Nahrung.

Nüsse und Samen und getrocknete Früchte. Er lief träge, kaute und schmatzte.

Knirsch, knirsch.

Schmatz, schmatz.

Und dann ließ er, wie Menschen es ebenfalls oft taten, Bröckchen von dem, was er aß, fallen. Menschen waren verschwenderische Kreaturen. Unendlich gleichgültig gegenüber der Welt um sie herum, warfen sie Dinge mit achtloser Beiläufigkeit weg. Essen und Müll und Schätze in gleichem Maße.

Das Eichhörnchen wusste, dass es nicht in den Tunnel schlüpfen durfte. Das war eben so.

Aber es war auch so, dass der Herbst kam.

Und mit dem Herbst die Kälte.

Und wenn die Kälte schlimmer wurde, würde es Winter sein – die Welt würde sich in ein Ödland aus Schnee und Eis und Wind verwandeln. Eichhörnchen überlebten im Winter aufgrund des einzigartigen Triebs, Nahrung anzusammeln und zu verstecken. Wenn sie etwas Essbares sahen, waren sie darauf programmiert, es sich trotz aller Widrigkeiten zu holen und es dann an einen geheimen Ort in den Bäumen zu bringen und unter Felsen und in Erdlöcher, gegraben von hektischen kleinen Pfoten.

Dort, gleich dort, in dem Tunnel, da gab es Futter.

Wunderbares, begehrenswertes Futter.

Also tat das Eichhörnchen, was Eichhörnchen tun, selbst wenn ein Wagen auf sie zufuhr – das Eichhörnchen folgte dem Futter.

Es huschte in den Tunnel und hinein in die Dunkelheit. Zuerst bewegte es sich langsam, dann mit hektischer Schnelligkeit. Vor ihm waren die verstreuten Samen, Nüsse und Früchte. Nur noch drei Meter. Zweieinhalb. Zwei. Das Eichhörnchen konnte sie praktisch schon schmecken.

Aber die Dunkelheit des Tunnels schien trostloser zu werden. Und schwärzer. Das Eichhörnchen blieb stehen. Sein Fell stellte sich plötzlich auf – eine Warnung. Ein schriller Laut drang in den schmalen Gehörgang des Tieres. Schatten zitterten und drückten sich dann heran, als würde etwas Schweres auf das Eichhörnchen herabfallen.

Und doch war das Eichhörnchen dem Futter nah, so nah.

Also huschte das Eichhörnchen weiter. Ignorierte das übelkeiterregende Gefühl in seinem Magen, von dem es hoffte, dass es einfach nur Hunger war.

Näher jetzt. Noch näher.

Es streckte eine Pfote nach der ersten Nuss aus. Es führte die Nuss an den Mund, bereit, sie sich in die Wangentaschen zu stopfen …

Und dann wurde das Schrillen in seinen Ohren unerträglich, wie eine scharfe Nadel, die man ihm ins Hirn gestoßen hatte. Das Eichhörnchen zuckte, rollte sich auf den Rücken, wedelte mit dem Schwanz und kratzte mit den Pfoten über den Boden, während es sich wieder und wieder und wieder umdrehte. Das Tier gab aus tiefster Kehle einen Laut von sich: ein verzweifeltes Quieken, das sich in einen schrillen Schrei verwandelte.

Schon bald hörte es auf zu zappeln. Es konnte sich nur flach auf den Bauch pressen und seinen Kopf auf den harten Boden legen. Hoffen, das Geräusch zu stoppen, das schrill in seinen Ohren kreischte. Sein Kopf zitterte. Zwillingsströme von Blut spritzten ihm aus den Nasenlöchern, und blutiger Schaum strömte an seinen Zähnen vorbei. Sein Bauch schwoll an und platzte dann auf wie ein zerbrochenes Ei, und all seine Innereien quollen mit solcher Wucht heraus, dass sich der Körper des Tieres auf einem kleinen Hügel seiner eigenen Eingeweide erhob.

Es blieb lange genug am Leben, um zu sehen, wie sich die Luft um es herum verzerrte und sich die Schatten fest wie ein Knoten zusammenzogen. Elektrische Funken tanzten die Tunnelwände hinauf, und dann brach aus dieser Dunkelheit ein unirdischer Lichtblitz.