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Was ist der Unterschied zwischen Freiheits- und Gleichheitsrechten? Wie funktioniert eine Grundrechtsprüfung? Warum können Grundrechte eingeschränkt werden? Welche Rolle haben die Parteien? Was passiert im Verteidigungsfall? Was ist die Ewigkeitsklausel? Diese und viele andere Fragen erläutert Alexander Thiele im Durchgang durch die 14 Abschnitte des Grundgesetzes ausführlich und leicht verständlich: Für Schülerinnen und Schüler, für Studienanfänger der Politik- und Rechtswissenschaften, für alle an Verfassungsfragen interessierten Bürgerinnen und Bürger.
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Seitenzahl: 273
Verständlich erklärt
Reclam
RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 962191
2023 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2023
RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN978-3-15-962191-3
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014415-2
www.reclam.de
Geleitwort
Vorbemerkung und Hinweise zur Benutzung
Entstehung und Wandel des Grundgesetzes
Das Grundgesetz
Ausblick
Literaturhinweise
Dank
Zu den Autor*innen
Von Jagoda Marinić
Achtung, das hier ist eine Liebeserklärung an die deutsche Verfassung. Ich werde versuchen, den Boden des Sachlichen dennoch nicht zu verlassen. Ich weiß, ich müsste an dieser Stelle korrekterweise Grundgesetz schreiben, doch das Grundgesetz erfüllt nun einmal in unserem Staat die Funktion der Verfassung. »Demokratie made in Bonn«, wie der Slogan einer Kampagne heißt, die 2023/24 das 75-jährige Jubiläum des deutschen Grundgesetzes feiert. So etwas mag manchen vorkommen wie ein pflichtschuldiger Staatsakt, eine verstaubte Feierlichkeit, aber wer sich mit der Geschichte dieses Landes auskennt, wer über die Geburtsstunde des Grundgesetzes liest, welches nach der Niederlage der Nazis entstand, für den wird dieses Grundgesetz und seine Geschichte zu einer emotional aufgeladenen Erfolgsgeschichte. Es bewegt einen nicht nur die Tragik der Vergangenheit, weil in Deutschland vorhergehende Verfassungen dergestalt gescheitert sind, dass Hitlers Unrechtsstaat und die Gräuel der Nazis möglich wurden, es berührt auch, wie es den Gründervätern und Gründermüttern mit dem Grundgesetz gelungen ist, ein Werk zu schaffen, das inzwischen über sieben Jahrzehnte Demokratie möglich gemacht hat, die deutsche Einheit mitermöglicht und überstanden hat, auch wenn es sicher besser gewesen wäre, man hätte diesen Moment der Einheit genutzt, um das Grundgesetz, das nur der deutschen Teilung wegen überhaupt als Provisorium behandelt wurde, als gesamtdeutsche Verfassung demokratisch anzunehmen, aber das ist eine andere Debatte.
Sicher gilt, dass dieses deutsche Grundgesetz von herausragender Qualität ist und für zahlreiche Länder zum Vorbild wurde. Sie regelt das demokratische Miteinander, sichert Bürgerinnen und Bürgern Grundrechte und geht doch auf gesellschaftliche Entwicklungen ein. Ich schreibe das Geleitwort für diese Ausgabe heute als Deutsche, meine Eltern waren noch Einwanderer ohne jegliche Bürgerrechte, die auf die Gunst des Gastgeberlandes angewiesen waren. Die Stimmung, in der die Ausländer von damals lebten, lässt sich in wenigen Worten zusammenfassen: Heute ist man Geduldeter, morgen vielleicht schon Heimgesandter. Die Bundesrepublik Deutschland war, nachdem sie in den 1950er und 60er Jahren Gastarbeiter gerufen hatte, selbst Jahrzehnte später nicht bereit, ihren Arbeitern Bürgerrechte zu gewähren; selbst was das kommunale Wahlrecht betraf, blieb man in Deutschland restriktiv, Debatten um rechtliche Grundlagen für die politische Partizipation von Migranten in Deutschland verliefen selten zugunsten der Einwanderer. Noch 1990 kam das Bundesverfassungsgericht zum Urteil, Ausländer dürften kein kommunales Wahlrecht haben. Gleichzeitig schreibe ich heute dieses Geleitwort als Deutsche, weil es inzwischen zu einem Einbürgerungsgesetz kam, das dem Blutrecht ein Ende setzte, die Idee eines Deutschseins löste sich vom Blutrecht ab, öffnete sich, und es entstand eine Gesetzgebung, die der Lebensrealität der in Deutschland geborenen Kinder von Einwanderern gerecht wurde. In dem Moment, in dem ich die Einbürgerungsurkunde in den Händen hielt und Bürgerin dieses Landes wurde, endete das Warten und damit das Gefühl von Rechtlosigkeit, in der viele Einwanderer in Deutschland gelebt hatten. Wer in Deutschland geboren wurde, war Deutscher, auch doppelte Staatsbürgerschaften wurden für manche möglich, das Einbezogenwerden führte dazu, sich der Rechte und Pflichten bewusst zu werden: Man ist Teil einer demokratischen Grundordnung und hat damit die Freiheit, Verantwortung zu übernehmen und die Demokratie, in der man lebt, mitzugestalten. Nicht zufällig träumen Rechtsextreme oft davon, diese Rechte rückabzuwickeln, nach dem Motto: Was wir euch gaben, können wir euch nehmen! Doch die Verfassung, ihre Freiheitsrechte sowie ihre Fähigkeit, die Gleichheitsrechte in die Gegenwart eines Einwanderungslandes zu übersetzen, hat für viele Menschen in diesem Land ihr Leben von Grund auf verändert. Sie leben hier im Bewusstsein, Deutsche zu sein und nicht Gäste. Noch immer leben zu viele Menschen ohne deutschen Pass und somit Wahlrecht hier, doch gleichzeitig steht eines der progressivsten Einbürgerungsrechte in Aussicht, das es in Zukunft noch mehr Menschen in diesem Land einfacher machen wird, deutscher Staatsbürger zu sein und die Vorzüge dieses Grundgesetzes zu genießen, was auch bedeutet: eine demokratische Staatsbürgerin zu sein, die sich in die politischen Prozesse ihres Landes einmischt und sich für sie interessiert. Ein Schritt, nicht mehr Politik für Eingewanderte zu machen, sondern mit ihnen.
Diese Entwicklung ist nur ein Beispiel von vielen, weshalb ich mich als Verfassungspatriotin verstehe. Es war das Grundgesetz, das mich zu Beginn meines Studiums von vielen zähen Identitätsfragen befreite, die in Deutschland öffentlich diskutiert wurden. Ich war nicht mehr von der Akzeptanz und Gunst einiger abhängig, es gab Rechte, die auch für mich gelten, und mein Hiersein hing nicht mehr davon ab, ob Einzelpersonen das wünschen oder nicht. Ich bin aufgewachsen mit aufgeheizten Debatten über Integration, mit den tödlichen Anschlägen auf Asylbewerberheime, die nicht zu mehr Schutz für Asylbewerber führten, sondern zur Verschärfung des Asylrechts, was mich manchmal am Rechtsstaat verzweifeln ließ. Die Debatten darüber, ob Deutschland eine Leitkultur braucht, kehrten so sicher wieder wie das immergleiche Lied einer Drehorgel auf dem Jahrmarkt. Das lebendige Orchester, das eine Demokratie sein kann, kam so nicht zum Klingen. Viele Politiker und Intellektuelle entgegneten auf diese einfallslosen Leitkultur-Vorschläge immer wieder mit Recht, es gäbe in diesem Land bereits eine Leitkultur, das deutsche Grundgesetz. Das Grundgesetz eigne sich nicht für Emotionen, bekamen sie daraufhin zu hören, es bestünde aus trockenen Gesetzestexten, an so etwas könne sich niemand emotional binden.
Das stimmt jedoch nur für jene, denen das Privileg einer demokratischen Verfassung nicht bewusst ist, deren Lebensgestaltung nie bewusst von diesem »trockenen Gesetzestext« und dessen Auslegung abhing, die nie zittern mussten, ob am nächsten Morgen beim Schalter der Ausländerbehörde der Stempel gesetzt wird. Wer vor seinem Besuch bei einer Behörde Paragrafen studieren muss, um zu sehen, ob der weitere Aufenthalt im Land genehmigt wird, für den ist das Grundgesetz kein trockener Text, sondern ein zentraler Anker, auf den er sich beziehen kann und der einen vor möglicher Willkür schützt. Wer eingebürgert wurde und somit endlich alle Bürgerrechte in diesem Land genießt, einschließlich des Wahlrechts, wird das Grundgesetz nicht als trockenen Text lesen, sondern als Voraussetzung für ein Gefühl von Sicherheit, als rechtliche Grundlage für Planbarkeit des eigenen Lebens, man nennt es auch Selbstbestimmung. Die weitere Ausgestaltung seines Lebens hängt nicht mehr von Stempeln ab, man lebt im Genuss von Freiheitsrechten, und im besten Fall verteidigt man dieselben auch, wenn sie angegriffen werden. Es ist gerade die Trockenheit, die Sachlichkeit, die Ausdifferenziertheit der Texte, die einem in aufgewühlten Zeiten Hoffnung geben, dass die Menschheit doch imstande ist, etwas Zivilisiertes zustande zu bringen, das dem Einzelnen dient, jenseits von aufgeheizten Debatten und Befindlichkeiten.
Das Grundgesetz zu lesen, sich über Bürgerrechte zu informieren, die Spielregeln der staatlichen Institutionen kennenzulernen ist eben nicht nur Algebra. Am Ende der Gleichung stehen die Spielregeln, die den Alltag der Einzelnen, aber auch der Gesellschaft bestimmen. Wir leben in Zeiten, in denen in einem Land wie den USA, die lange als Mutterland der Freiheit gelten wollten, Freiheitsrechte rückabgewickelt werden, beispielsweise in Belangen der körperlichen Selbstbestimmung von Frauen. »Plötzlich« wollen einige US-Staaten weibliche Körper wieder kontrollieren, eine Menstruations-App auf dem Handy könnte für junge Mädchen zur Falle werden, weil Abtreibungen verboten und eine Schwangerschaft durch eine solche App an die Behörden übermittelt werden könnte. Keines unserer Grundrechte darf uns als demokratischen Bürgerinnen und Bürgern selbstverständlich sein, in dem Sinn, dass wir sie nicht für eine Errungenschaft halten. Vielmehr sind wir aufgefordert, die Kräfte im Blick zu behalten, die gegen Freiheitsrechte sind und lieber ihre Macht absichern wollen, oft zum Leidwesen von Minderheiten oder Frauen. Eine Demokratie braucht kontinuierlich den kritischen, fortschrittlichen Blick ihrer Bürgerinnen und Bürger: Wie ist dieses Gesetz auf die heutige Realität anwendbar? Sie braucht jedoch ebenso den schützenden Blick: Grundrechte sind Grundrechte, weil sie nicht einfach ausgehebelt werden dürfen, ganz gleich wie groß die Krisen sind. Wenn Grundrechte angetastet werden: in wessen Interesse liegt der Einschnitt in diese? Wann und bis wohin sollte man das zeitweise tolerieren, und wie kontrolliert man diese Zwischenphase und sichert den rechtzeitigen Ausstieg aus ihr? Gerade die heftigen Auseinandersetzungen bis zum Ende der Corona-Pandemie zeigten, wie schwierig es werden kann, Grundrechte gegeneinander auszubalancieren. Gelingt es jedoch nicht, droht ein Staat das Vertrauen seiner Bürgerinnen und Bürger in seine Regulationsfähigkeit zu verlieren, eine Krise, die Deutschland bisher erspart geblieben ist, auch wenn sich an verschiedenen Punkten und Debatten bereits andeutet, wie schnell das Vertrauen verspielt werden kann. Selbst wenn wir in Deutschland oft annehmen, Entwicklungen wie zuletzt in den USA unter Trump seien hier nicht möglich, sollten wir daran denken, dass unsere Gründerväter und Gründermütter uns die »wehrhafte Demokratie« mitgegeben haben, gerade weil es zum demokratischen Denken gehört, die Möglichkeit mitzudenken, dass Demokratien mit demokratischen Mitteln abgeschafft werden können. Ich erinnere mich an einen Vortrag von Noam Chomsky, der zur Präsidentschaft von Donald Trump meinte, die USA müssten Trump nicht fürchten, weil die Institutionen dort sicher seien; inzwischen beschreiben viele eine Krise der Institutionen in den USA, zumindest was das Vertrauen der Bevölkerung betrifft.
Das Grundgesetz bindet eine Demokratin und einen Demokraten emotional, weil man hier seine Wirkmacht spüren kann. Ein Beispiel dafür ist das Klimaschutzgesetz, das sich Artikel 20a verdankt. Der Artikel 20a liest sich so:
»Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.«
Dieser sachliche Artikel bildet die Grundlage für das Klimaschutzgesetz, das junge Klimaschützer im Bündnis mit anderen erstritten haben, weil sie eben nicht die Rollen von Klimaklebern einnahmen, über deren Methoden man hysterisch stritt, sondern weil sie als Demokratinnen und Demokraten nach rechtlichen Wegen suchten, die Regierungen in die Pflicht zu nehmen. Mit dem Urteil erinnerten sie die Machthaber an die Zukunft und die langfristigen Folgen ihres politischen Handelns: Es ist ihre Pflicht, die Grundlagen für menschliches Leben auf diesem Planeten zu sichern. Artikel 20a mag ein sachlicher Text sein, doch die Geschichte, wie junge Menschen eine Regierung auf demokratischem Weg an ihre Pflichten erinnern, sie rechtlich unter Druck setzen, hat etwas von der Emotionalität der Geschichte von David gegen Goliath. Wer denkt, das Grundgesetz sei nur ein trockener Text, hat noch nicht darüber nachgedacht, wie sich auf seiner Basis politisches Handeln umsetzen lässt.
Die türkisch-amerikanische Philosophin Seyla Benhabib sagte in einem Interview über die Lage der Demokratie in Deutschland: »Demokratie heißt, dass wir ständig versuchen müssen, die Kluft zwischen denen, die regieren und denen, in deren Namen regiert wird, zu überbrücken.« Das Lesen des Grundgesetzes, das Wissen darüber, was die rechtlichen Grundlagen unseres demokratischen Miteinanders sind, ist ein Weg, diese Kluft zu schmälern. Wissen als Weg zur Aufklärung. Ich nahm Alexander Thiele, den Autor der Erläuterungen in diesem Buch, zum ersten Mal wahr, als mir etwa zu Beginn der Pandemie jemand auf Twitter seine Vorlesungen empfahl, die er auch als Podcast anbot. Ich hörte sie mir gespannt an, weil ich seine Tweets in dieser Zeit schätzte und wie er über die sozialen Medien versuchte, Wissen zu vermitteln, Themen zu versachlichen. So bot er auch seinen Studierenden an, Gelassenheit durch Wissen zu erlangen. Er führte sie in die Welt der Verfassungsgeschichte ein, ich mochte die Art, wie er Geschichte und Wissen vermittelte sehr, dachte nur, der Herr Professor redet zu schnell, all das Wissen – und niemand kommt richtig mit. Prompt schrieb ich ihm auf Twitter und fragte freundlich, aber direkt, weshalb er sein Wissen denn im Zeitraffer präsentierte, warum bitte ließ er den Leuten so wenig Zeit, die Gedanken zu verinnerlichen? Er blieb höflich und bedankte sich für meinen Hörerinneneindruck, gelobte Besserung. Wenig später bemerkte ich: Mein Gerät lief in 1,5-facher Geschwindigkeit. Ich hatte vor der Pandemie kaum Podcasts gehört und als blutige Anfängerin eben nicht bemerkt, dass man Geschwindigkeiten einstellen kann. Ich hörte daraufhin die ersten seiner Vorlesungen nochmal in Echtzeit, genoss sie erst recht und entschuldigte mich bei ihm, obwohl er sich damals über meine vorlaute Beschwerde nicht im Mindesten verletzt gezeigt hatte. Inzwischen verhandle ich selbst im Podcast FREIHEIT DELUXE Fragen der Freiheit und staune regelmäßig über die große Resonanz, auch darüber, wie viele Menschen das Thema Freiheit beschäftigt. Ich freue mich sehr, dass Alexander Thiele in diesem Buch nun Freiheits- und Gleichheitsrechte in aller Ruhe vermittelt, dass er uns Bürgerinnen und Bürger mit diesem Buch dazu einlädt, das Grundgesetz besser kennenzulernen – in der Geschwindigkeit, mit der wir wollen und mit so viel Zeit, wie jeder Einzelne braucht, um die Besonderheiten der deutschen Verfassung kennenzulernen und zu verstehen. Das Buch ist eine intellektuelle Einladung, mehr über die Grundlagen der Beziehung zwischen Bürger und Staat herauszufinden, und ich versichere Ihnen, es kommt beim Lesen und in der Auseinandersetzung mit dem Text der Moment, in dem ihnen deutlich wird, wie tief das Grundgesetz ihren Alltag prägt und weiterhin prägen wird und weshalb eine stabile Demokratie jeden Einzelnen von uns als bewusste Bürgerin und Bürger braucht.
»Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Die meisten kennen diesen ersten Satz des ersten Artikels des Grundgesetzes. Das gilt allerdings nicht für zahlreiche weitere Bestimmungen, obwohl diese das politische und gesellschaftliche Leben in der Bundesrepublik seit 1949 prägen und in vielen Debatten eine bedeutende Rolle spielen. Auch Studierende sind überrascht, welche Fülle an Regelungen dort zu finden ist, wenn sie sich das erste Mal ausführlicher mit der Verfassung beschäftigen. Dieser Befund dürfte damit zusammenhängen, dass die grundgesetzlichen Regelungen aus sich heraus nicht immer leicht zu verstehen sind, weil sie juristische Vorkenntnisse voraussetzen, auf historischen Besonderheiten beruhen oder schlicht ungewöhnlich formuliert sind. Der vorliegende Band will helfen, diese »Lektürehürde« zu überwinden, indem er den Text in einer erläuterten Form präsentiert, ohne allerdings jede Bestimmung umfassend und allzu formalistisch zu erklären. Im Zentrum stehen also die einzelnen Artikel des Grundgesetzes und nicht die Erläuterungen – der Band ist eine Textausgabe. Es handelt sich aber um eine Einladung zur lesenden Entdeckung unserer Verfassung, zum Stöbern und Nachdenken über das Grundgesetz und die Rolle, die es im eigenen Leben spielt oder spielen könnte: das Grundgesetz als Entdeckungsreise.
Nach einer historischen Einführung werden dazu die einzelnen Abschnitte einschließlich der Präambel erläutert. Diese Erläuterungen sollen den Zugang zum Grundgesetz erleichtern, seine Systematik verdeutlichen, Unklarheiten beseitigen, Missverständnisse verhindern, aber auch Besonderheiten des deutschen Verfassungsrechts beleuchten. Wo möglich, verweist ein Pfeil (►) in den Erläuterungen auf den behandelten Artikel des Grundgesetzes, der unmittelbar nachgeschlagen und selbständig erschlossen werden kann. Diese Verweise erfolgen in verkürzter Form:
► 8 Die erste Zahl verweist stets auf den Artikel des Grundgesetzes. Folgen keine weiteren Angaben, wird immer auf den gesamten Artikel, hier also Artikel 8, die Versammlungsfreiheit, mit allen Absätzen verwiesen.
► 3 II 2 Hier steht die 3 für den Artikel des Grundgesetzes, die II für den Absatz in diesem Artikel und die nachfolgende 2 für den Satz innerhalb dieses Absatzes. Im Beispiel wird demnach auf Artikel 3 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes verwiesen: »Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.«
► 25 2 In diesem Fall hat der Artikel des Grundgesetzes keine Absätze, aber mehrere Sätze. Verwiesen wird folglich auf Artikel 25 Satz 2 des Grundgesetzes: »Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes.«
Es wird bewusst darauf verzichtet, jeden einzelnen Artikel zu kommentieren oder in den Erläuterungen zu erwähnen. Angestrebt wird keine umfassende Darstellung des deutschen Verfassungsrechts im Stile eines juristischen Kommentars oder Lehrbuchs, sondern die Anregung zum Nachlesen und Erkunden der einzelnen Abschnitte und zum Nachdenken über das Grundgesetz. Als moderne demokratische Verfassung richtet es sich seit seinem Inkrafttreten (► 145 II) nicht nur an spezialisierte Verfassungsjuristinnen und -juristen, sondern an alle Bürgerinnen und Bürger (► 116). Wer zu einzelnen Artikeln oder Abschnitten mehr wissen möchte, findet am Ende des Bandes Literaturhinweise, die eine Vertiefung ermöglichen.
Als das Grundgesetz mit Ablauf des 23. Mai 1949 (► 145 II) in Kraft trat, konnte niemand mit dem außerordentlichen und langanhaltenden Erfolg der zweiten demokratischen Verfassung auf deutschem Boden rechnen. Zwar sind Verfassungsgebungen stets politische Neuanfänge und damit Wagnisse mit offenem Ausgang. In diesem Fall aber schien es ein besonderes Wagnis mit besonders offenem Ausgang zu sein: Die totale militärische, politische, vor allem aber moralische Niederlage im Zweiten Weltkrieg und die beispiellosen Gräueltaten des barbarischen Naziregimes lagen gerade einmal etwas mehr als vier Jahre zurück. Wie es mit diesem weithin vom Krieg gezeichneten und gesellschaftlich, ökonomisch wie politisch am Boden liegenden »Noch-Staat« weitergehen würde, war daher auch den alliierten und deutschen Akteuren lange nicht klar. Am 5. Juli 1945 hatten die Siegermächte – UdSSR, USA, Großbritannien und Frankreich – zwar die Berliner Erklärung abgegeben, mit der sie die oberste Regierungsgewalt in Deutschland übernahmen. Annektieren oder dauerhaft besetzen wollten sie das ehemalige Deutsche Reich indes nicht.
Abb. 1: Die vier Besatzungszonen in Deutschland ab 1945. – CC BY-SA 3.0 / glglgl
Vorerst wurde das bisherige Reichsgebiet (ohne die Gebiete östlich der Oder, die polnischer und sowjetischer Verwaltung unterstellt wurden) in Besatzungszonen aufgeteilt. Berlin als bisherige und spätere Hauptstadt (► 22 I 1) unterstand, in vier Sektoren gegliedert, der gemeinsamen Besatzungshoheit der Siegermächte. Anfangs ging es vornehmlich darum, das tägliche Leben in den Besatzungszonen zu organisieren. Für Gesamtdeutschland erfolgte das im Alliierten Kontrollrat, der als oberstes Gesetzgebungs- und Exekutivorgan erstmals am 30. Juli 1945 in Berlin zusammentrat. Er entschied einstimmig, was angesichts des aufkommenden Ost-West-Konflikts von Beginn an Probleme bereitete. Die sich langsam entwickelnden Vorstellungen über die gesellschaftliche und politische Zukunft in den Besatzungszonen ließen sich schon bald nicht mehr auf einen gemeinsamen Nenner bringen – die sowjetische Ostzone stand den drei Westzonen zunehmend feindselig gegenüber. Auch innerhalb Berlins nahmen die Spannungen zu.
Den westlichen Alliierten ging es schon kurz nach Übernahme der Regierungsgewalt darum, die politischen Strukturen in ihren Besatzungszonen nach demokratischen Grundsätzen wiederzubeleben. Schnell wurden Parteien und erste Medien zugelassen, die kommunale Selbstverwaltung gefördert und die Länder als grundlegende politische Einheiten neu gegründet, die eigene Verfassungen erließen – bereits Ende des Jahres 1946 in der amerikanischen, später auch in der französischen und der britischen Besatzungszone. Diese »westlichen« Länderverfassungen etablierten sämtlich parlamentarische Regierungssysteme. Viele ihrer Elemente fanden sich in ähnlicher Form im späteren Grundgesetz wieder. Ihre vornehmlich in deutsche Hände gelegte Ausarbeitung leistete dadurch eine wichtige Grundlage für die alsbald folgende Ausgestaltung des Grundgesetzes.
Dass es zur Gründung dieser zweiten deutschen Demokratie kommen würde, war jedoch weiterhin nicht ausgemacht. Anfangs ging man wie selbstverständlich von einer gesamtdeutschen Lösung aus, ohne zu wissen, wie diese angesichts der sich auseinanderentwickelnden Besatzungszonen in West und Ost würde aussehen können. Es war schließlich die sich ab dem Jahr 1947 nochmals zuspitzende Lage im Ost-West-Konflikt, der beginnende »Kalte Krieg«, die zu den Plänen für die Errichtung eines eigenständigen westdeutschen Staates führte. Ökonomisch hatte sich die amerikanische Besatzungszone schon im Januar 1947 mit der britischen zur »Bizone« vereinigt, durch die gemeinsame Zentralbehörden für die beiden Zonen errichtet und der bis zum Jahr 1948 stetig mehr Zuständigkeiten übertragen wurden. Im Juli 1947 erhielt der Wirtschaftsrat für wesentliche Bereiche der Bizone auch die Gesetzgebungskompetenz. Nachdem sich mit dem Deutschen Obergericht auch eine judikative Gewalt etabliert hatte und die Bizone (mittlerweile in »Vereinigtes Wirtschaftsgebiet« umbenannt) 1948 schließlich um die französische Besatzungszone zur »Trizone« ausgeweitet wurde, entwickelte sie sich zu einer Art Vorläufer der späteren westdeutschen Bundesrepublik.
An eine konstruktive politische Zusammenarbeit der drei westlichen Siegermächte mit der Sowjetunion war angesichts dieser Entwicklungen nicht mehr zu denken, von einer gemeinsam beschlossenen, einheitlichen Lösung für Gesamtdeutschland ganz zu schweigen. Im Juni 1948 verließ die Sowjetunion offiziell den Alliierten Kontrollrat, die letzte gemeinsame Entscheidung dieses Gremiums – die Auflösung Preußens – lag da bereits knapp eineinhalb Jahre zurück. Als neu etablierte und gefestigte Weltmacht sahen die USA das Problem nun immer weniger in einer deutschen als in einer aufkommenden sowjetischen Bedrohung. Sie drängten darauf, die westdeutschen Zonen als Sicherheitspuffer gegen sowjetische Expansionsbestrebungen zu nutzen. Das ging nur mit einem starken und westlich integrierten »Westdeutschland«, auf dessen Gründung man sich auf der Londoner Sechs-Mächte-Konferenz schließlich 1948 einigte – nachdem die USA zunächst die Briten und sodann die Franzosen überzeugen konnten. Die Sowjetunion brachte, wenig überraschend, von Anfang an ihren Unmut über diese Konferenz zum Ausdruck, an der sie (natürlich) nicht teilnahm. Wenige Tage nach ihrem formalen Ende folgte die mit technischen Problemen begründete Berlin-Blockade, die die westliche Seite jedoch nicht zum Einlenken brachte. Stattdessen antwortete sie mit der legendären Luftbrücke.
Den formalen Auftrag zur Verfassungsgebung erhielten die Westdeutschen am 1. Juli 1948, als ihnen die drei Frankfurter Dokumente förmlich übergeben wurden. Im ersten Dokument hieß es:
»Die Verfassungsgebende Versammlung wird eine demokratische Verfassung ausarbeiten, die für die beteiligten Länder eine Regierungsform des föderalistischen Typs schafft, die am besten geeignet ist, die gegenwärtig zerrissene deutsche Einheit schließlich wieder herzustellen, und die Rechte der beteiligten Länder schützt, eine angemessene Zentralinstanz schafft und Garantien der individuellen Rechte und Freiheiten enthält.«
Im zweiten Dokument wurde eine Änderung der Länderstruktur angedacht (zu der es nicht kommen sollte). Das dritte Dokument enthielt Vorgaben für ein künftiges Besatzungsstatut – volle Souveränität erhielt der neue deutsche Staat erst mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag, der im September 1990 unmittelbar vor der deutschen Wiedervereinigung unterzeichnet wurde.
Die Ministerpräsidenten der Länder waren über den Auftrag, einen westdeutschen Staat zu gründen, anfangs nicht glücklich. Sie hatten Sorge, damit die deutsche Teilung zu zementieren. Ein Weststaat würde gewiss zu einem Oststaat führen (sie behielten recht). Wie aber sollte es dann noch zu einer Wiedervereinigung kommen? Sie forderten daher symbolische Abschwächungen, um eine spätere Versöhnung nicht zu sehr zu erschweren: Die zu erlassende Verfassung sollte lediglich den Titel »Grundgesetz« tragen – eine Bezeichnung, die weniger endgültig wirkte, zugleich aber an deutsche Rechtstraditionen aus der Zeit des 1806 aufgelösten Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation anknüpfen konnte. Mit dieser Bezeichnung sollte es zudem weder von einer vom Volk gewählten verfassungsgebenden Versammlung erarbeitet noch durch eine Volksabstimmung ratifiziert werden, vielmehr durch Ländervertreter verfasst und durch Zustimmung (nur) der Landtage in Kraft treten. Darauf konnten sich die westlichen Alliierten nach anfänglichem Widerstand letztlich einlassen (vgl. ► 144).
Mit dem Ziel, eine solche vorläufige Verfassung für die westlichen Besatzungszonen zu erarbeiten, tagte die Versammlung der Ländervertreter, der Parlamentarische Rat, vom 1. September 1948 bis zum 23. Mai 1949 in Bonn. Von der zunächst anvisierten Vorläufigkeit war am Ende indes nicht viel zu erkennen. Das lag auch daran, dass der Herrenchiemseer Konvent – ein mit elf Verfassungsexperten besetztes Sachverständigengremium – im Auftrag der Ministerpräsidenten im August 1948 bereits einen umfassenden Verfassungsentwurf erarbeitet hatte, der dem Parlamentarischen Rat als Arbeitsgrundlage diente. Als vorläufig wird man das spätere Grundgesetz daher allein im Hinblick auf den vorgesehenen territorialen Anwendungsbereich ansehen können, der auf die westlichen Besatzungszonen begrenzt war. Im Übrigen handelte es sich um eine vollwertige Verfassung.
Abb. 2: Die vier weiblichen Abgeordneten des Parlamentarischen Rates (v.l.n.r.): Friederike Nadig (SPD), Helene Wessel (Zentrum), Helene Weber (CDU) und Elisabeth Selbert (SPD), 1948/49. – Foto: Bestand Erna Wagner-Hehmke, Stiftung Haus der Geschichte
Der Parlamentarische Rat setzte sich aus 65 stimmberechtigten Mitgliedern zusammen, hinzu kamen fünf Beobachter aus Berlin sowie sieben Ersatzleute. SPD und CDU/CSU bildeten mit je 27 Mitgliedern die stärksten Fraktionen. Vorsitzender des Rates wurde Konrad Adenauer aus der CDU. Carlo Schmid (SPD) begnügte sich mit dem Vorsitz des Hauptausschusses, auch weil er glaubte, dass der Posten des Gesamtvorsitzenden eher eine repräsentative Funktion haben würde. Er sollte sich täuschen. Unter den 65 stimmberechtigten Mitgliedern waren vier Frauen: Helene Weber, Helene Wessel, Friederike Nadig und Elisabeth Selbert. Auf Elisabeth Selbert geht die Aufnahme des ► 3 II 1 zurück: »Männer und Frauen sind gleichberechtigt« – ein großer politischer Erfolg, nachdem ihr noch wenige Jahre zuvor von ihrem ehemaligen Anwaltskollegen Roland Freisler, dem späteren Präsidenten des NS-Volksgerichtshofs, angedroht worden war, sie liquidieren zu lassen.
Der Parlamentarische Rat richtete neben dem Hauptausschuss acht Ausschüsse ein, die effektiv zusammenarbeiteten und zügig Ergebnisse präsentierten, wenngleich es immer wieder Krisensitzungen in kleinerer Runde bedurfte, um Uneinigkeiten zu überwinden. Die westlichen Alliierten wurden zu jeder Zeit beteiligt, ließen für die Beratungen aber auch aufgrund des strategischen Geschicks Konrad Adenauers erheblichen Spielraum. Ihnen ging es vor allem um die Wahrung der in den Frankfurter Dokumenten genannten Bedingungen, weniger um die Details, wenngleich es über die speziell eingerichteten Verbindungsbüros vielfältige informelle Gespräche und Kontakte gab. Von einem alliierten Diktat kann beim späteren Grundgesetz aber keine Rede sein.
Das Grundgesetz wurde schließlich am 8. Mai 1949 und damit exakt vier Jahre nach Unterzeichnung der Kapitulation im Plenum des Parlamentarischen Rates angenommen – man hatte diesen Termin bewusst gewählt. Die westlichen Alliierten genehmigten es mit kleineren Vorbehalten bereits vier Tage später, es folgte die Ratifikation durch die deutschen Landesparlamente nach ► 144. Von den elf westlichen Ländern stimmte nur Bayern gegen das Grundgesetz, da es den Abgeordneten nicht föderal genug erschien. Der bayerische Landtag stellte allerdings zugleich klar, dass das Grundgesetz in Bayern Anwendung finden sollte. Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz ausgefertigt und verkündet, es trat nach ► 145 II »mit Ablauf des Tages« in Kraft und wurde nach ► 145 III im Bundesgesetzblatt veröffentlicht. Die erste Bundestagswahl fand am 14. August 1949 statt, am 7. September kam der neu gewählte erste Bundestag (► 38 ff.) in der vom Parlamentarischen Rat bestimmten (provisorischen) Bundeshauptstadt Bonn zusammen. Am 20. September 1949 trat die erste Bundesregierung (► 62) unter Bundeskanzler Konrad Adenauer ihr Amt an.
Mit ihrem formellen Inkrafttreten und der Errichtung einer neuen politischen Ordnung hat eine Verfassung eine wichtige Hürde genommen. Die eigentliche Bewährungsprobe folgt allerdings im Anschluss: Nun muss sie beweisen, dass es ihr gelingt, den politischen Prozess und das gesellschaftliche Leben nach ihren Vorstellungen zu gestalten und einzuhegen und damit diejenige Stabilität zu erzeugen, die bei ihrem Erlass erhofft wurde. Dazu beitragen kann eine Verfassung aus sich heraus wenig. Entscheidend ist, dass der politische Betrieb, die politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger, aber auch die Bevölkerung bereit sind, sich ihren Regelungen zu unterwerfen und die neue Verfassung mit all ihren Zumutungen und Einschränkungen als legitime demokratische Herrschaftsordnung anzuerkennen. Es braucht eine demokratische Verfassungskultur, und zwar nicht zuletzt bei den politischen, kulturellen und ökonomischen Eliten – eine Voraussetzung, die der Weimarer Verfassung nie vergönnt war.
Beim Grundgesetz war das anders. Nachdem Konrad Adenauer sein Amt angetreten hatte, lief das Zusammenspiel zwischen Regierung, Parlament und Opposition von Anfang an mehr oder weniger reibungslos, jedenfalls ohne größere oder bedrohliche Zwischenfälle. Gestritten wurde im Parlament, nicht auf der Straße, eine gewaltsame Anfangsphase kannte das Grundgesetz im Gegensatz zur Weimarer Verfassung nicht. Die erste Politikergeneration nutzte diese Zeit, um die offengehaltenen grundgesetzlichen Normen in praktische Politik zu übersetzen, und zwar – glücklicherweise – in einer Form, die zur Stabilität der Bundesrepublik als demokratischer Ordnung beitrug. Nicht zuletzt Stellung und Funktion des Bundeskanzlers wurden durch den ersten Amtsinhaber maßgeblich geprägt. Konrad Adenauer setzte aufgrund seiner langen Amtszeit institutionelle Pfadabhängigkeiten vor allem im Hinblick auf das nicht eindeutig geregelte Verhältnis zum Staatsoberhaupt, dem Bundespräsidenten. Dass die Bundesrepublik alsbald als Kanzlerdemokratie bezeichnet wurde (und teilweise noch heute bezeichnet wird), geht auf Adenauer zurück, der diesem Amt seinen Stempel aufdrückte und den ersten Bundespräsidenten Theodor Heuß in eine repräsentative Rolle drängte, die heute wie selbstverständlich mit diesem Amt verbunden wird. Die Bestimmungen des Grundgesetzes, nicht zuletzt ► 59 I, wären mit einer aktiveren Rolle des Bundespräsidenten (etwa im Bereich der Außenpolitik) ohne weiteres vereinbar gewesen – eine Interpretation, der Adenauer aber von Anfang an entgegentrat. Er setzte auch durch, dass der Bundespräsident nicht an den Kabinettssitzungen der Bundesregierung teilnehmen durfte, um zu verhindern, dass dieser die faktische Führung der Regierungsgeschäfte an sich zog. Auch das wäre verfassungsrechtlich möglich gewesen, hätte den Charakter der Bundesrepublik aber signifikant verändert und eine besondere Form eines semi-präsidentiellen Regierungssystems hervorgebracht – mit unklarem Ausgang. Die durch Adenauer herbeigeführte schwächere Stellung des Bundespräsidenten fügte sich demgegenüber ideal in ein parlamentarisches Regierungssystem ein. Dass es kam, wie es kam, erweist sich damit rückblickend als Glücksfall für die Entwicklung der Bundesrepublik.
Dass diese ersten machtpolitischen Justierungen ohne größere Spannungen abliefen, war auch dem ersten Bundespräsidenten zu verdanken, der sich mit seinen repräsentativen Aufgaben zufriedengab, in der Bevölkerung großes Ansehen genoss und damit zur gesellschaftlich-politischen Integration beitragen konnte – zu seinem 70. Geburtstag zogen sich die öffentlichen Feierlichkeiten über ganze drei Tage. Wie wäre es ausgegangen, wenn Theodor Heuß den gleichen politischen Ehrgeiz wie Konrad Adenauer an den Tag gelegt hätte? Hätte das Grundgesetz solche Machtspiele in seinen ersten Jahren schadlos überstanden? Als Adenauer nach zehn Jahren als Bundeskanzler damit liebäugelte, das Amt des Bundespräsidenten zu übernehmen, hatte sich diese Aufgabenteilung bereits so gefestigt, dass selbst ihr Mitgestalter sie nicht mehr zurückdrehen konnte: Er hatte vorgeschlagen als Bundespräsident fortzufahren, knüpfte das aber an die Bedingung, als solcher nun doch an den Kabinettssitzungen teilnehmen zu dürfen. Unter Verweis auf die etablierte Staatspraxis wurde ihm das verwehrt. Adenauer amtierte stattdessen noch weitere vier Jahre als Bundeskanzler und gab das Amt dann eher widerwillig an seinen glücklosen Nachfolger Ludwig Erhard ab. Spätestens mit dem friedlichen Regierungswechsel zur SPD unter Willy Brandt 1969 hatte sich das politische System endgültig stabilisiert, getragen von einer gefestigten demokratisch-politischen Kultur der Eliten und einer Gesellschaft, die sich nicht zuletzt aufgrund des Wirtschaftswunders der 1950er Jahre mit dem Grundgesetz schnell versöhnt hatte.
Zur Stabilisierung der zweiten Demokratie trug parallel das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe bei (► 93 f.). Es füllte die unbestimmten Normen des Grundgesetzes mit demokratischem Leben, festigte die Stellung des Bundestags und der Opposition und wies die Bundesregierung in ihre Schranken, die diese gerichtlichen Ermahnungen und Niederlagen verärgerten, die sie aber stets (wenn auch zähneknirschend) akzeptierte. Legendär ist der Ausspruch Konrad Adenauers aus dem Jahre 1952: »Dat ham wir uns so nich vorjestellt« – gemünzt auf ein Bundesverfassungsgericht, das aus seiner Sicht allzu großzügig mit den eigenen Kompetenzen umging und die Regierung zu stark beschränkte. Das Bundesverfassungsgericht ließ sich davon nicht beirren und erklärte einige Jahre später unter anderem Adenauers Projekt eines »Deutschland-Fernsehens« für verfassungswidrig. Adenauer witterte im ARD-Programm eine allzu linke Gesinnung und wollte dieser mit einem konservativen Programm entgegentreten. Mit dem Bundesverfassungsgericht war das nicht zu machen. Stattdessen stellte es 1961 klar, dass sich dem Grundgesetz keine Kompetenz des Bundes für den Rundfunk entnehmen ließ, diese daher nach den Grundregeln der ► 30 und ► 70 bei den Ländern liegt. Allerdings erteilte das Bundesverfassungsgericht auch den Ländern keinen Freibrief zur Gestaltung ihrer Medienordnung, betonte vielmehr die Bedeutung eines staatsfreien Rundfunks zur Sicherung einer offenen Meinungsbildung in einer freiheitlichen Demokratie. Der Rundfunk (► 5 I), so hielt es fest, dürfe daher »weder dem Staat noch einer gesellschaftlichen Gruppe ausgeliefert« werden. Diese Entscheidung steht am Anfang einer ganzen Reihe sogenannter Fernseh- und Rundfunkurteile, in denen immer wieder die Bedeutung einer unabhängig organisierten Medienordnung betont wurde – die grundgesetzlichen Vorgaben passte das Bundesverfassungsgericht dabei stets an die sich verändernden technischen Entwicklungen an.
Auch im Übrigen verstand es das Bundesverfassungsgericht – vornehmlich mit seiner Rechtsprechung zu den Grundrechten –, das Grundgesetz als effektive Rahmenordnung für den politischen Raum wirksam werden zu lassen. Es interpretierte die Grundrechte schon 1958 nicht nur als subjektive Abwehrrechte gegen staatliche Übergriffe, sondern zugleich als Ausdruck einer objektiven Werteordnung, die bei der Auslegung und Anwendung der gesamten Rechtsordnung Berücksichtigung finden muss. Die Grundrechte wirken dadurch auch in den Bereich der privaten Beziehungen der Bürgerinnen und Bürger ein; Konflikte müssen von den Gerichten unter Beachtung der grundrechtlichen Wertevorgaben entschieden und ihre Urteile können vom Bundesverfassungsgericht durch Einlegung einer Verfassungsbeschwerde (► 93 I Nr. 4a) überprüft werden. Auch in anderen Fällen reagierte das Bundesverfassungsgericht besonnen auf gesellschaftliche Entwicklungen und Herausforderungen: So passte es mit dem Aufkommen der großen Umweltbewegungen ab Ende der 1970er Jahre das Verständnis der Versammlungsfreiheit (► 8) den veränderten Realitäten an und reagierte auf neue Möglichkeiten der Datenerhebung mit der Ausarbeitung eines »Rechts auf informationelle Selbstbestimmung« (► 2 I in Verbindung mit ► 1 I), das aufgrund der Entwicklung digitaler (staatlicher) Ausspähsoftware unlängst um das »Recht auf Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme« erweitert wurde. 2021 leitete es aus ► 20a Vorgaben für einen effektiven Klimaschutz ab. Mittlerweile wird der durch diese Rechtsprechung ermöglichte Zugriff des Bundesverfassungsgerichts auf das gesamte politische und gesellschaftliche Leben bisweilen kritisch gesehen und eine stärkere judikative Zurückhaltung angemahnt. In der Anfangszeit der Bundesrepublik hat das Bundesverfassungsgericht aber unbestritten dazu beigetragen, die Idee der Grundrechte und der Demokratie in der Nachkriegsgesellschaft zu verankern und das politische System zu festigen.
In den mehr als sieben Jahrzehnten seines Bestehens ist das Grundgesetz vielfach auch formal geändert worden. Diese Möglichkeit ist in ► 79 vorgesehen und im Vergleich zu anderen Verfassungsordnungen an keine hohen verfahrensrechtlichen Hürden geknüpft: Erforderlich sind nach ► 79 II lediglich Zweidrittelmehrheiten im Bundestag (► 38 ff.) und Bundesrat (► 50 ff.). In seiner prinzipiellen grundrechtlichen und staatsorganisationsrechtlichen Struktur ist das Grundgesetz durch die bald 70 Änderungsgesetze auch wegen der Ewigkeitsgarantie des ► 79 III