Das Haus am Ende der Welt - Katrin Faludi - E-Book
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Das Haus am Ende der Welt E-Book

Katrin Faludi

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Beschreibung

Reiten ist ihr Leben, doch als die 15-jährige Mai mit ihrem Pferd auf eine Tretmine im ehemaligen Grenzgebiet zu Mecklenburg-Vorpommern gerät, ist plötzlich alles anders. Schwer verletzt und traumatisiert braucht sie lange, um wieder auf die Beine zu kommen. Während dieser Zeit tauchen in ihrer Erinnerung immer wieder Bilder auf, die so gar nicht zu dem behüteten Leben auf dem Pferdehof ihrer Großeltern passen. Sie beschließt, diesen Bildern auf eigene Faust nachzugehen. Als ihr Vater Tage später einen Anruf eines Ferienhausvermieters im ostfinnischen Karelien erhält, weiß er endlich, wo Mai sich aufhält, und reist ihr hinterher. An diesem Ort müssen sich die beiden ihrer Vergangenheit stellen …

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Seitenzahl: 599

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über die Autorin

Katrin Faludi (*1982) liebt Sprache(n) und alles, was damit zu tun hat. Wenn sie nicht gerade fürs Radio textet und spricht, schreibt sie Bücher, Kurzgeschichten und Artikel. Außerdem probiert sie gerne auch mal die eine oder andere Fremdsprache aus – am liebsten die aus dem Norden. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Bad Vilbel. Mehr auf www.katrinfaludi.de und auf www.instagram.com/katrinfaludi

Katrin Faludi

Das Haus am Ende der Welt

Roman

Gerth Medien

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

Copyright © 2025 Gerth Medien in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Berliner Ring 62, 35576 Wetzlar

Erschienen im März 2025

ISBN 978-3-96122-631-8

Umschlaggestaltung: Andreas Sonnhüter · grafikbuero-sonnhueter.de

Umschlagmotiv: Shutterstock; Outi Pulkkinen, Bezbod

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

Lektorat: Ruth Harmsen

www.gerth.de

Bekennt einander eure Schuld und betet füreinander, damit ihr geheilt werdet.

Jakobus 5,16 (Neues Leben. Die Bibel.)

Prolog

озеро Тюрьянъярви, Republik Karelien,

Russische Föderation, Januar 2008

Die Hündin hatte etwas gewittert. Aufgeregt mit der Rute hin und her schlagend stemmte sie sich in ihr Geschirr, die Nase unmittelbar über dem Schnee, und zerrte an der kurzen Leine. Hundeführer Matjuschew spannte den Arm an und hielt dagegen, wie es ihm zur Gewohnheit geworden war, ohne dabei seinen Monolog zu unterbrechen.

Salla unterdrückte ein Seufzen. Eines von vielen, seit sie bei der Einsatzbesprechung am frühen Morgen erfahren hatte, mit wem sie zum Grenzdienst eingeteilt worden war. Schon auf der Fahrt vom Militärstützpunkt bis zu ihrem Einsatzgebiet hatte Matjuschew sie nahezu ins Koma doziert.

Er kannte nur ein Thema: Den Großen Vaterländischen Krieg – mit besonderem Augenmerk auf die blutigen Schlachten zwischen der heldenhaften Sowjetarmee und den kratzbürstigen Finnen, die vor rund siebzig Jahren in dieser Gegend getobt hatten. Salla war dankbar für die eisige Brise, die ihr die Schläfrigkeit aus den Gliedern wehte, als sie endlich in Raivio, einem Flecken bestehend aus einigen verstreuten Häusern, aus dem Geländewagen stieg.

Sie betraten einen Pfad, der in wenigen hundert Metern Abstand der Uferlinie des zugefrorenen Ozero Tjurjanjarvi folgte, durch dessen Mitte sich eine Kette aus gelben Grenzbojen zog. An manchen Stellen lichtete sich der Wald, sodass sie freie Sicht auf die Eisfläche bekamen. Sie schimmerte wie stumpfes Glas in der bleichen Wintersonne. Und wenn es möglich gewesen wäre, Matjuschew stumm zu schalten, hätte man vielleicht sogar ein leises Knistern aus dem gefrorenen Schilf vernommen. Salla liebte dieses Geräusch.

Sie mochte diesen Grenzabschnitt. Mehrmals schon war sie in der Gegend Streife gegangen. Der Weg war nicht beschwerlich; er führte auf gut zehn Kilometern durch Wald und Wiesen in einem großen Kreis zurück zu ihrem Ausgangspunkt in Raivio. Die Grenze zu Finnland würden sie nur aus der Ferne und per Feldstecher in Augenschein nehmen. Fast immer hielten sie sich an Wege, die von der anderen Seite nicht einsehbar waren; so war es gewollt. Man machte es nicht so wie die Finnen, die tagein, tagaus mit wichtigen Mienen direkt am Zaun auf und ab patrouillierten.

An manchen Tagen sah Salla die finnischen Kollegen aus der Ferne. Der gelbe Schriftzugauf ihren dunklen Uniformen leuchtete durch jedes Dickicht bis zu ihnen hinüber. Auf sie wirkte es, als habe man dort drüben den zweifachen Angriff durch die Sowjetarmee mindestens so lebhaft vor Augen wie Leutnant Matjuschew und wolle nun alles an Entschlossenheit demonstrieren, was das kleine Volk herzugeben vermochte. Das Volk ihrer Großmutter, die wenige Dörfer von hier entfernt aufgewachsen war und die beiden Kriege als junge Frau miterlebt hatte. Von ihr hatte Salla die Geschichten darüber gehört – und die Sprache erlernt.

Das demonstrative Zurschaustellen finnischer Überwachungsaktivitäten entlang der Grenze war Gegenstand zahlreicher Witze an ihrem Stützpunkt. „Modenschau“ und „Trachtentanz“ gehörten zu den harmloseren Varianten. Salla beteiligte sich nicht an solchen Sprüchen. Sie war die einzige Frau in ihrer Kompanie und hatte gelernt, wann es klug war, den Mund zu halten.

Die Hündin zerrte noch immer an der Leine und winselte, doch der Hundeführer ignorierte sie. Mit seinen Atemwolken schrieb er einen Geschichtsband in die kalte Luft, steifgefrorene Worte hinter sich herziehend.

„Den Weißen Tod nannte man ihn!“ Seine Stimme klingelte vor Begeisterung wie ein Schlittenglöckchen. „Die Finnen behaupten, Simo Häyhä habe als Scharfschütze über achthundert unserer Soldaten getötet. Maßlos übertrieben, wenn man mich fragt, aber sicher ein respektabler Schütze.“

Diesmal seufzte Salla laut, der Kollege würde es ohnehin nicht hören. Ihr Atem zerstob in Tausende winzige Kristalle.

Sie wurde schon wieder müde. Statt ihren Blick aufmerksam auf das verschneite Dickicht um sich herum zu richten, sank er auf die Spitzen ihrer gefütterten Stiefel. Einen teuflischen kleinen Moment lang überlegte sie, Matjuschew mit einer Kugel aus der AK, die sie über der linken Schulter trug, zum Schweigen zu bringen, aber das würde nur jede Menge Scherereien nach sich ziehen. Und der schöne Schnee. So rein und weiß.

Sie stapfte weiter, während das Winseln der Hündin allmählich in ein nervtötendes Fiepen überging. Das Tier war kurz davor, sich zu strangulieren.

„Hören Sie …“, wagte Salla einzuhaken.

„Ja, doch!“ Matjuschew ruckte einmal grob an der Leine. Er war so kräftig gebaut, dass er die Schäferhündin mühelos mit einer Hand an ihrem Geschirr hätte emporziehen können.

„Hat sie vielleicht eine Fährte?“

„Das Vieh hat nur Hasen im Kopf, ich kenn das schon. Hier draußen hat sie noch nie was Vernünftiges gewittert.“

Salla folgte mit dem Blick der Hundenase, die zuckend über den Boden flog. Dann sah sie den dunklen Fleck im Schnee, kaum größer als ein 2-Rubel-Stück. Kurz darauf ein weiterer. Daneben ein Abdruck. Verwundert blieb sie stehen.

„Schauen Sie mal hier!“

„Was habt ihr Weiber denn die ganze Zeit, Herrgott noch mal!“

Salla ging in die Knie, um die Spur genauer zu betrachten. Nun blieb auch Matjuschew stehen. Die Hündin trippelte herbei und schnüffelte an dem dunklen Fleck.

„Ein Fußabdruck“, sagte Salla, „eindeutig. Aber … nein, was soll das sein?“ Ungläubig schüttelte sie den Kopf und spähte in die Richtung, aus der die Fährte kam. Sie entdeckte weitere solcher Abdrücke im Schnee, einmal quer über den Pfad. Tief, lang und schmal – zu schmal für Winterstiefel. Vorne zeichneten sich Zehen ab.

Matjuschew warf seinen enormen Schatten über sie. „Was haben Sie da?“

„Hier ist jemand … barfuß entlanggelaufen!“

„Kann ja gar nicht sein.“

„Schauen Sie selbst!“

„Es sind 15 Grad unter null, wer soll hier barfuß durch den Schnee rennen?“ Er ging ebenfalls in die Hocke, starrte auf die Spur und schüttelte den Kopf. „Hat man dafür Worte? Und was ist das hier?“ Er deutete auf den Fleck. „Blut?“

„Könnte sein.“

Überraschend behände sprang der massige Leutnant wieder auf und rupfte an der Leine.

„Liebling, such!“

Wie ein Zugpferd legte sich die Hündin ins Geschirr und zog ihr Herrchen mit sich. Die Spur führte ins Unterholz. Mit großen Schritten folgte Salla den beiden. Immer wieder sah sie sich um.

Wer war hier barfuß entlanggelaufen? Und woher war die Person gekommen? Die Zehen zeigten nach Osten, die Fersen nach Westen. Salla wusste genau, wo sie sich befanden. Die Grenze lag von hier aus höchstens zweihundert Meter entfernt hinter dem Waldsaum. Aber das war absurd. Es kam so gut wie nie vor, dass jemand aus Finnland nach Russland herüberlief. In ihren drei Jahren im Dienst der karelischen Grenzkompanie hatte Salla auf Streife noch keinen einzigen Vorfall erlebt.

Die Hündin führte sie immer tiefer ins Unterholz. Schneebedeckte Fichtenäste warfen bläuliche Schatten auf sie. Salla strengte ihre Augen an. Weit konnte die Person nicht gekommen sein. War sie bewaffnet oder benötigte sie Hilfe? Es war verflixt schwer, sich in dem tiefen Schnee zu bewegen, ohne über verborgene Äste und Steine zu stolpern. Selbst alter Stacheldraht konnte hier unter der Schneedecke lauern und ihre Uniformhosen zerreißen.

Immer wieder meinte Salla, Blutflecken im Dämmerlicht zu erkennen. Größer als jene auf dem Pfad. Sie schob die Angst beiseite, die plötzlich mit ihr lief.

„Die Person muss erheblich verletzt sein“, rief sie Matjuschew zu. „Hier ist überall Bl-“ Weiter kam sie nicht.

Vor ihr quiekte die Hündin erst, dann bellte sie rau und im selben Moment sah Salla die Gestalt, die im Schatten unter dem Wurzelteller einer umgestürzten Fichte kauerte. Zuerst nahm sie nur eine Jogginghose und die Füße wahr, nackt und fast so weiß wie der Schnee.

„Jesus“, hauchte sie und bekreuzigte sich.

Teil 1

1. Henning

April 2023

Gleißendes Sonnenlicht fließt auf den sattgrünen, mit Mutterschafen und Lämmern gesprenkelten Deich und flutet den Koog. In der Ferne flimmert der Asphalt; das Auto weit vor mir scheint über der Straße zu schweben, als wolle es sich jeden Augenblick in den Himmel emporheben, der Sonne entgegen. Ich lenke entspannt mit einer Hand, öffne das Fach über dem Rückspiegel, ziehe zum ersten Mal in diesem Frühjahr die Sonnenbrille heraus und setze sie auf. Was für ein schöner Tag. Der schönste des bisherigen Jahres, seit Wochen und Monaten herbeigesehnt.

Am liebsten würde ich das Fenster herunterlassen. Während der Herfahrt habe ich mir die gesamte Strecke über am Deich entlang voller Vorfreude die frische Aprilbrise von der See um die Nase wehen lassen. Meine Hand sucht schon den Schalter in der Tür, da zieht es meinen Blick wieder zu dem Wunder, das neben mir Platz genommen hat, um mich nach Hause zu begleiten, und ich überlege es mir anders. Obwohl dies einer der ersten warmen Tage ist, könnte sich meine Tochter im Fahrtwind erkälten. Das will ich nicht riskieren.

Mai hat die Augen geschlossen, ihr Gesicht und ihr Haar heben sich fast weiß von dem dunklen Bezug ab. Ein feines Netz aus lilafarbenen Adern spannt sich über ihre Lider. Sie hat keinen Blick für das beinahe übernatürlich grüne Gras und die Schafe zu ihrer Seite. In den vergangenen Wochen hat sie genug davon gesehen, denn ihr Zimmerfenster ging zum Deich hinaus, und in den ersten Tagen war sie zu kaum mehr fähig, als im Bett zu liegen und die Schafe anzustarren. Das wird irgendwann selbst dem tierliebsten Menschen zu viel, vor allem, wenn er nicht in der Lage ist, das Programm zu wechseln.

Reglos sitzt sie da, den Kopf in die Nackenstütze gepresst. Ich wundere mich, dass ihr das keine Schmerzen zu bereiten scheint. Die Stelle am Hinterkopf ist noch empfindlich. Rotes Narbengewebe schimmert durch das kurze Haar im Nacken, ein Anblick, an den ich mich nicht gewöhnen kann. Mai sieht fremd aus ohne ihren langen Zopf.

„Alles in Ordnung?“, frage ich vorsichtig.

Ein knappes Nicken.

Ich sehe wieder auf die Straße, die sich einsam an der Außenkante des Kooges entlangwindet, betrachte die grauweißblauen Wolkenbäusche über dem weiten Marschland, die so tief hängen, als wollten sie die Siele, in denen sie sich spiegeln, trocken tupfen, und wünsche mir, Mai würde wenigstens einmal kurz die Augen öffnen und die raue Schönheit um sich herum genauso genießen wie ich. Wir kommen so gut wie nie nach Nordfriesland. Zu Hause liegt die Ostsee so nahe, dass man schnell mal für einen Nachmittag an den Strand fahren kann, wenn ausnahmsweise Zeit dafür bleibt. Ich erinnere mich nicht mehr, wann ich das letzte Mal in Boltenhagen gewesen bin oder auf dem Priwall. Meistens reicht es nur für eine schnelle Runde frühmorgens im Hofsee, aber das immerhin regelmäßig.

Aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, wie Mais linke Hand in die Tasche ihrer Jogginghose gleitet und etwas herauszieht. Alles an ihr ist schmaler geworden, selbst ihre Finger erscheinen mir dünner als je zuvor. Mit spinnenartigen Bewegungen betasten sie den Gegenstand, drehen ihn, wenden ihn, betasten ihn erneut.

Ein Kiefernzapfen.

Ihre Fingerkuppen streichen über die hölzernen Schuppen und drücken sie herunter, was ein tickendes Geräusch ergibt, sobald sie loslässt.

Tick. Tick. Tick.

Bald höre ich weder das leise Brummen des Motors noch das Rollen der Räder oder den Fahrtwind, der von außen übers Auto streicht, sondern allein dieses hypnotisierende Geräusch, so nah, dass ich fast glaube, den Zapfen an meinem Ohr entlangkratzen zu fühlen. Hör damit auf, liegt mir auf der Zunge, doch Mai wirkt ganz versunken, und so lasse ich es.

Ich frage mich, woher sie diesen Zapfen hat. In der nahezu baumlosen Gegend rund um das Klinikgelände war nicht eine einzige Kiefer zu sehen. Auf dem Fensterbrett in Mais Zimmer, meine ich, hätten noch weitere Zapfen gelegen. Vielleicht hat sie die aus der Ergotherapie, um ihre Feinmotorik zu stimulieren.

Die funktioniert immer besser und ich war mehr als stolz, als Mai vor der Abfahrt ihre Schnürsenkel selbst binden konnte. Es hat zwar gedauert, aber die Schleifen saßen. Ich wollte etwas Anerkennendes sagen, wäre sie mir nicht mit einem warnenden Blick zuvorgekommen, sodass ich mich auf ein aufmunterndes Lächeln beschränkte, das ihr nur ein genervtes Augenrollen wert war.

Ich erinnere mich zu gut, wie Mai Wochen zuvor meine Freude darüber, dass sie ohne fremde Hilfe den Klinikflur entlanggehen konnte, heftig abgewehrt hat. Ihr ging das alles zu langsam und sie hasste es, dass sie zum Essen ständig Erbsen und anderes Kleingemüse vorgesetzt bekam, um das Aufpicken mit der Gabel zu üben. Ich aber will einfach nur feiern, dass mein Kind am Leben ist, selbstständig atmen, aufrecht stehen und ohne Hilfe essen kann. Soll sie mit den Augen rollen, so viel sie will. Immerhin ist sie dazu wieder in der Lage.

„Hast du Schmerzen?“, frage ich in die tickende Stille hinein.

Mit einem Kopfschütteln lügt sie mich an.

Natürlich hat sie Schmerzen. Das sehe ich. Ich kenne den angespannten Zug um ihren Mund mittlerweile genau.

„Soll ich anhalten und dir was geben?“

Erneutes Kopfschütteln.

„Hier kann ich eher mal rechts ranfahren, wenn wir erst auf der Autobahn sind …“

„Ich brauche nichts.“

„Wir fahren noch zweieinhalb Stunden.“

„Mann!“

Okay.Sie ist fünfzehn, sie muss es selbst wissen. Aber ich halte mich bereit. Zweieinhalb Stunden sind eine lange Fahrt in ihrem Zustand.

Wir verlassen den Koog. Bei Husum biege ich ins Landesinnere ab und als wir die A7 bei Schleswig erreichen, ist Mai eingeschlafen. Die Hand mit dem Kiefernzapfen liegt auf ihrem Schoß, die Finger um das schuppige Gebilde gekrampft. Ich bin zufrieden. Wenn Mai schläft, können die Schmerzen nicht allzu stark sein.

Die Autobahn Richtung Süden ist frei, ganz ungewohnt, und es kitzelt mich, Gas zu geben. Ich wage es nicht. Auch wenn es länger dauern wird, bin ich fest entschlossen, meine wertvolle, schlafende Fracht unbeschadet nach Hause zu bringen.

Die Reha an der Nordsee hat Mai gutgetan, aber ich bin sicher: Erst zu Hause wird sie wieder ganz die Alte. Nach drei langen Monaten wird sie heute endlich wieder dort sein, wo sie hingehört. Dann wird alles gut.

+++

Februar 2023

Es war der letzte Sonntag im Januar, als zweihundertfünfzig Gramm Sprengstoff in einer alten Plastikdose unser Leben zerrissen.

„Das hätte nicht passieren dürfen“, sagte der Landrat des Nachbarkreises Tage später in einem Fernsehbericht und guckte ratlos in Richtung des Grenzackers drüben in Mecklenburg, der kaum zwei Kilometer von unserem Zuhause entfernt liegt. Die Kamera folgte seinem Blick. Blieb an schwerem Gerät hängen, das sich mehr durch den Februarnebel zu arbeiten schien als durchs Erdreich.

Drei Jahrzehnte zuvor hatten solche Maschinen an selber Stelle schon einmal die Erde durchwühlt. Ich erinnere mich, wie meine drei Geschwister und ich als Jugendliche inmitten anderer Schaulustiger in sicherer Entfernung standen und in aufgekratzter Spannung darauf warteten, dass es knallte. Meine kleine Schwester hielt sich immerfort die Ohren zu.

Es knallte nie. Jahre zuvor hatten die DDR-Grenztruppen schon einmal eine Minenräumung durchgeführt, offenbar gründlich, denn bei der Aktion nach der Wende fand man nichts mehr. Man ging davon aus, dass der Boden sauber sei, und pflanzte Rüben, wo vorher Minen gelegen hatten.

Aber, fügte der Fernsehsprecher hinzu, man schätze, dass bis heute trotz aller Bemühungen noch Tausende verschollene Antipersonenminen im Erdreich entlang der ehemaligen Grenze schlummern. Sie alle zu finden und zu räumen sei unmöglich. Und bis zu jenem letzten Sonntag im Januar sei auch noch niemand dadurch zu Schaden gekommen.

Die Fernsehkamera zoomte auf die Maschinen am Ackerrand. Dazu die Stimme des Landrats: „Nein, das hätte nicht passieren dürfen.“

Auch ich wünschte mir in diesem Augenblick schweres Gerät, um es nach dem Bildschirm an der Wand der Klinikcafeteria zu werfen. Ich hatte die Bilder nicht sehen wollen, denn ich sah sie die ganze Zeit, sogar ohne Fernseher. Sie ließen sich nicht abschalten.

Nach tagelangem Warten lagen meine Nerven blank. Die schier unendliche Geduld, die man mir bis dahin nachgesagt hatte, war implodiert und zu einem heißen Kern zusammengeschmolzen. Ich tigerte über Linoleumflure. Trommelte auf Plastikstuhllehnen. Atmete nicht mehr aus, sondern seufzte, sprang jedes Mal auf, wenn sich Klinikpersonal näherte, und sank – halb enttäuscht, halb erleichtert – zusammen, wenn der Arzt oder Pfleger ohne einen Blick auf mich an mir vorbeirauschte. Irgendwann schmiss mich eine Krankenschwester von der Intensivstation, auf der meine Tochter lag.

„Sie musse was esse!“, befahl sie und schob mich durch die Glastür.

Anschließend stand ich mehrere Minuten davor und starrte wütend durch die Scheibe, bis das Ziehen in meinem Magen, das ich bis dahin nicht gespürt hatte, ihr recht gab. Seit Tagen hatte ich weder vernünftig gegessen noch geschlafen. Ich konnte nicht einmal mit Sicherheit sagen, welchen Wochentag wir hatten. Dienstag oder Mittwoch, vielleicht auch schon Donnerstag.

Widerstrebend ging ich in die Cafeteria. Ich wollte nicht dort sitzen und Erbsensuppe löffeln, während ein paar Flure weiter womöglich gerade mein Kind starb. So saß ich allein an einem Tisch in dem mäßig besetzten Saal, rührte in irgendetwas herum und starrte, obwohl ich es nicht wollte, auf den Bildschirm an der Wand.

Aufgewühltes, feucht glänzendes Erdreich. Der Nebel, den der Grenzacker ausschwitzte, war von dem Blut getränkt, das die Erde Tage zuvor aufgesogen hatte. Blut, von dem längst nichts mehr zu sehen war. Man hatte das abgerissene Pferdebein eingesammelt, meine Tochter unter dem Körper des sterbenden Stevie hervorgezogen und sie per Rettungshubschrauber in die Uniklinik geflogen.

Ich war nur wenige Meter hinter Mai am Rand des Ackers entlanggeritten. Hatte ihr noch eine scherzhafte Bemerkung zugerufen, als sie Stevie hinunter in den Grenzgraben lenkte. Macht euch nicht zu doll nass, irgend so etwas. Stevie scharrte begeistert mit dem Vorderhuf in der trüben Brühe, er war schon immer eine Wasserratte gewesen, und der Schlamm spritzte hinauf bis zu Mais Reithosen. Sie lachte noch, als die Fontäne aus dem Graben schoss und sechshundert Kilo Pferd mühelos zur Seite warf.

Dass Mai halb unter dem Pferdekörper begraben wurde, war nicht einmal das Schlimmste. Sie war mit dem Hinterkopf auf einem Stein aufgeschlagen, direkt unterhalb des Reithelms. „Ganz blöde Stelle“, hatte eine aus dem Schockraum hetzende Ärztin bemerkt und keine Prognose abgeben wollen. Reines Pech. Sicher wäre der Landrat der Meinung gewesen, auch das hätte nicht passieren dürfen.

Das Nachrichtenmagazin war zu Ende, nun lief Werbung. Dagegen kamen meine Sinne nicht mehr an. Während meine Hand im Essen rührte, schienen sich gleichsam die Fernsehbilder zu einer zähen Masse zu verquirlen. Ich ließ den Löffel in die Suppenschale fallen, sank gegen die Stuhllehne und schloss die Augen.

Mittwoch, es war Mittwoch.

Mai lag seit drei Tagen im künstlichen Koma, bis zur Unkenntlichkeit verbunden und verkabelt, und war noch immer nicht außer Lebensgefahr. Man müsse abwarten, hieß es. Etwas Tröstlicheres fiel den Ärzten nicht ein.

Hinter dem Tresen der Cafeteria fauchte ein Kaffeeautomat. Ich blinzelte auf meine Uhr. In zwei Stunden wäre hier Feierabend. Dann müsste ich nach Hause fahren, würde mich zu Frank und Anke in die Wohnküche setzen, kaum ansprechbar und immer das Handy im Blick, falls die Klinik anrief. So war es die letzten Tage abgelaufen. Mein Bruder und seine Frau hatten mir in ihrem Haus Asyl gewährt, weil ich es gegenüber allein in meiner eigenen Kate nicht aushielt. Dafür hielten sie mich aus. Meine ungewohnte Rastlosigkeit machte ihnen zu schaffen, aber sie sagten nichts. Selbst Gerrit und Inga, ihre ewig quatschenden Teenager, waren nahezu verstummt.

Weil sie Mai, ihre Cousine und beste Freundin, nicht umarmen konnte, wollte Inga stattdessen mich ständig drücken. Ich befreite mich dann schnell, denn von meiner Nichte umarmt zu werden, die gleich alt wie meine Tochter war, brachte mich an die Grenzen der Selbstbeherrschung.

„Heul ruhig, Onkel Henning, ich tu’s doch auch!“

Ich weigerte mich. Es hätte sich angefühlt, als hätte ich das Kind aufgegeben. Das würde mir bei diesem Kind nicht passieren. Deshalb blieb ich stark. Obwohl mir klar war, dass ich rein gar nichts tun konnte.

Nachdem meine Mutter gestorben war, hatte ich mir Vorwürfe gemacht. Ich war nicht da gewesen, als sie mich gebraucht hätte. Nun war ich da – aber zu nichts zu gebrauchen. Vielleicht war das eine späte Strafe.

Das Fauchen hinter dem Tresen war verstummt. Schritte näherten sich meinem Tisch.

„Hier sind Sie also.“

Die Stimme sprang mühelos auf mein Gedankenkarussell auf. Sie klang nicht nach abgehetzter Ärztin oder Krankenschwester. Während ich überlegte, woher ich sie kannte, verlor mein Grübeln an Fahrt.

Ich hörte, wie ein Kaffeebecher auf dem Tisch abgestellt und ein Stuhl gerückt wurde. Als ich aufsah, saß mir eine Frau gegenüber, Anfang, Mitte dreißig, kaum höher als ein Rapsstängel im April, Haselnusslocken und eine dicke, schwarz gerahmte Brille auf einer zierlichen Nase. Ich erkannte sie wieder. Einmal waren wir uns begegnet, zu Mais Konfirmation im vorigen Jahr. Diesmal trug sie – Gott sei Dank! – keinen Talar.

„Stört es Sie, wenn ich mich zu Ihnen setze?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Sie sitzen ja bereits.“

„Die Schwester hat mich auch rausgeschmissen. Sie sagte, ich sollte mal nach Ihnen schauen. Ob Sie etwas gegessen hätten.“

„Das haben Sie verstanden?“, wunderte ich mich.

„Gehe Sie gucke, ob Papa was esse.“

Sie betrachtete meinen vollen Teller. Ich schob das Tablett beiseite.

„Verpetzen Sie mich nicht.“

Sie lächelte. Mit Grübchen. Jetzt erinnerte ich mich wieder. Rehbein hieß sie. Während des Konfirmationsgottesdienstes hatte ich mich noch gefragt, ob das, was der Talar verhüllte, ihrem Namen wenigstens Ehre machte. Der Rest der Veranstaltung hatte mich nicht sonderlich interessiert.

„Wie geht es Mai?“, fragte sie.

Ich zuckte wieder mit den Schultern. „Wie es einem nach einer Hirnblutung so geht.“

Sie nickte und schwieg, denn sie hatte wohl begriffen, dass ich nicht in Plauderstimmung war. Sitzen blieb sie trotzdem und wirkte dabei nicht einmal unangenehm berührt. Vermutlich hatte sie gelernt, mit Typen umzugehen, die keinen Nerv zum Reden hatten. Man blieb einfach sitzen und wartete ab. War ansprechbar. Das war bestimmt ein Wort, das man ihr in der Ausbildung wie Gussharz eingetrichtert hatte, bis es festsaß.

„Sie sind nicht nur wegen Mai hier, hab ich recht?“, fragte ich, nachdem wir uns eine Weile schweigend gegenübergesessen hatten.

„Mai ist nicht allein“, sagte Pastorin Rehbein. „Sie sind ja da.“

„Aber ich bin allein, denken Sie.“

„Das wollte ich herausfinden.“

„Und wenn ich allein sein möchte?“ Ich sah ihr in die Augen. Sie guckte nicht verlegen zur Seite, sondern erwiderte meinen Blick mit ihrem offenen Grübchenlächeln.

„Dann gehe ich. Vorher aber sage ich der Schwester Bescheid, dass Sie brav aufgegessen haben, damit sie Sie wieder auf die Station lässt.“

„Das wäre gelogen.“

„Muss ja die Schwester nicht interessieren.“

„Aber Ihren Chef vielleicht.“ Ich warf einen Blick in Richtung Saaldecke.

Jetzt lachte sie. „Der kann das ab.“

„Hat man mir zwar anders erzählt, aber da sind Sie wohl die Expertin.“

„Herr Pieroth, ich habe gar keine Lust, die Zehn Gebote mit Ihnen zu diskutieren. Ich bin hier, weil Mai uns beiden am Herzen liegt.“

Mai mochte die Pastorin aus dem Nachbardorf, das wusste ich. Selbst nach ihrer Konfirmation war sie zusammen mit meinem Vater regelmäßig dort in den Gottesdienst gegangen, was mir ein wenig Sorge gemacht hatte. Welche normale Jugendliche geht schon freiwillig in die Kirche? Ich hatte es darauf geschoben, dass Mai diese Frau, die vom Alter her gerade so ihre Mutter hätte sein können, so anhimmelte, weil eine Mutter das war, was ihr seit Langem fehlte. Im Leben aber wäre ich nicht auf die Idee gekommen, dass die Zuneigung in irgendeiner Weise auf Gegenseitigkeit beruht hätte. Oder gehörte es zum Job dieser Dame, über dreißig Kilometer weit zu einem Krankenbesuch zu fahren?

Misstrauisch sah ich sie an. „Wie gut kennen Sie meine Tochter überhaupt?“

An dieser Stelle wich sie mir zum ersten Mal aus. „Wir hatten während ihrer Konfirmandenzeit das eine oder andere Gespräch.“

„Sie haben es fertiggebracht, das Kind zum Reden zu bringen? Herzlichen Glückwunsch. Sollte es jemals wieder aufwachen und in der Lage dazu sein, müssen Sie mir unbedingt diesen Trick verraten.“

Ich werde leicht sarkastisch, wenn ich müde bin.

Die Pastorin sah nicht beleidigt aus, eher besorgt. Das machte sie mir als Menschen, der professionelles Gottvertrauen und damit eine gewisse Sorgenfreiheit ausstrahlen sollte, direkt nahbar. Als sie sich ein wenig nach vorn beugte und die Ellbogen zu beiden Seiten ihrer Kaffeetasse aufstützte, kam sie mir sogar noch näher. Das Licht aus dem Deckenspot über uns blitzte in der einzelnen silbernen Haarnadel auf, die das Lockengewirr bändigen sollte. Eine besonders störrische Strähne war gerade im Begriff, sich daraus zu befreien und in Richtung Stirn zu stürzen. Hätte ich zu einem günstigeren Zeitpunkt wahrscheinlich bezaubernd gefunden. Und wenn die Frau nicht auf einmal so geguckt hätte.

„Reden Sie mit Mai“, sagte sie ernst. „Wenn sie wieder aufwacht.“

„In neun von zehn Fällen bin ich derjenige von uns beiden, der redet.“

Sie schüttelte den Kopf. „Reden Sie mit ihr über das, wofür ihr die Worte fehlen.“

Plötzlich fühlte ich mich nackt auf dem Kopf. Ich setzte mir die Baseballmütze auf, die auf dem Stuhl neben mir gelegen hatte, und schob mein Tablett mit dem mittlerweile kalt gewordenen Chili sin carne von mir.

„Danke, Frau Rehbein. Ich geh dann mal wieder auf Station.“

Auf dem Weg dorthin zermarterte ich mir das Hirn darüber, was Mai der Pastorin erzählt haben mochte. Wir hatten nie Probleme miteinander gehabt, im Gegenteil. Mai war der pflegeleichteste Teenager gewesen, den man sich vorstellen kann; fast schon langweilig mit ihrem Hang zur Vernunft und Strebsamkeit. Gemessen an dem Trara, das andere Eltern mit ihren heranwachsenden Töchtern hatten, war es uns bisher immer gut gegangen. Es gab keinen Grund, daran etwas zu ändern.

+++

April 2023

Das Ticken beginnt von Neuem. Mai ist wach. Mit geschlossenen Augen befingert sie wieder den Kiefernzapfen in ihren Händen. Als eine der hölzernen Schuppen bricht, hält sie inne, schlägt die Augen auf und sieht mit regloser Miene aus dem Autofenster auf die Landschaft.

Wir durchqueren unser Nachbardorf mit der mittelalterlichen Feldsteinkirche. Am anderen Ende steuere ich die sanfte Erhebung an, hinter der sich unser Dorf versteckt. Ein Kuhkaff ohne Kühe im äußersten Zipfel des Herzogtums Lauenburg, idyllisch nahe des Schaalsees gelegen und so weit ab vom Schuss, dass man dort nur Aufbackbrötchen isst, weil man für frische Brötchen eine Viertelstunde bis zum Bäcker nach Ratzeburg fahren müsste.

„Krass“, murmelt Mai unvermittelt.

Ich recke den Hals über die Kuppe vor mir, die Straße ist frei.

„Was, krass?“, frage ich, ohne den Blick von der Fahrbahn zu wenden.

„Der Raps.“

Ich lasse den Wagen bergab rollen und warte ab, ob eine Erklärung folgt, doch Mai schweigt.

Unser Dorf kommt in Sicht. Fünf Sträßchen, ein paar Hände voll alter Klinkerhäuschen mit vorbildlichen Vorgärten, ein Dorfgemeinschaftshaus und als Highlight das Buswartehäuschen am Feuerwehrteich, seit Generationen Treffpunkt der mittlerweile vom Aussterben bedrohten Dorfjugend.

„Der Raps?“, wiederhole ich.

„Der blüht schon fast.“ Mai schüttelt verwundert den Kopf.

Ich kann es ihr nicht verübeln. Der letzte Acker, den sie bewusst gesehen hat, verlor sich nackt und feucht schimmernd im Januarnebel.

Sofort habe ich den intensiven Geruch nach Erde in der Nase. Dieser Geruch hat sich kalt in mein Hirn eingebrannt. Jedes Mal, wenn ich nach einem Regenguss feuchte Erde rieche, habe ich den leblosen Körper meiner Tochter vor Augen, wie er inmitten von Erdklumpen und verschmierten Hufabdrücken am Rande des Grenzackers liegt, von der Hüfte abwärts begraben unter Stevies flatternden Flanken. Ihre neongelbe Regenjacke, die ich ihr wegen der schlechten Sicht an jenem Tag aufgenötigt habe, damit sie beim Überqueren der Landstraße von den rasenden Dorfdeppen rechtzeitig gesehen würde, leuchtet weithin.

Ich schiebe das Bild beiseite. Das ist Vergangenheit. Jetzt ist es Ende April. Der Raps steht hüfthoch und Mai hat recht, er wird bald blühen.

So wie sie. Hoffentlich.

Tick. Tick. Tick.

Ihre Finger haben ihre Arbeit wieder aufgenommen. Rastloser als zuvor. Als wir von der Dorfstraße auf die gepflasterte Lindenallee abbiegen, die zu unserem Hof führt, zupft sie doppelt so schnell an den Schuppen, den Blick auf das Handschuhfach geheftet.

Ich wäre jede Wette eingegangen, dass ihre Augen aufleuchten würden, wenn sie die Mutterstuten mit ihren Fohlen hinter den Weidezäunen auf ihrer Straßenseite entdeckt. Jedes Jahr hat sie, wie wir alle in der Familie, der Geburt der neuen Fohlen entgegengefiebert. Ich habe ihr auf dem Handy Fotos sämtlicher Neuankömmlinge gezeigt. Ein vielversprechender Jahrgang, bestes Holsteiner Blut. Doch Mai starrt nur auf die Konsole vor sich, zupft wie besessen an ihrem Kiefernzapfen, das Gesicht wie zugeschnürt.

„Sieh doch mal.“

Ich deute auf den meterhohen Granitfindling am rechten Straßenrand kurz vor der Hofeinfahrt und Mai hebt pflichtschuldig den Kopf. Die Messingplakette mit der Aufschrift FamiliePieroth ist halb von einer selbst gebastelten Willkommensgirlande verdeckt. Bunte Luftschlangen ringeln sich wie eine Lockenperücke um den Stein. Als ich morgens vom Hof fuhr, marschierte meine Nichte Inga gerade mit einem Pappkarton zur Einfahrt und blies mir übermütig eine Luftschlange über die Motorhaube. Sie konnte es ebenso wenig erwarten wie ich, Mai endlich wieder zu Hause zu haben.

Mai aber zieht die Schultern ein, als der Wagen auf den Hof rollt, und drückt sich tiefer in den Autositz.

Ich halte auf dem Stellplatz vor unserer Kate, deren tief gezogenes Dach gleich links der Einfahrt aus dem noch etwas wintermüden Garten hervorlugt, und stelle den Motor ab. Mai rührt sich nicht. Hebt nicht einmal den Kopf, um einen Blick auf ihr Zuhause zu werfen. Den weiten Innenhof, das über zweihundert Jahre alte, von Kletterrosen umrankte Haupthaus mit der aufwändig restaurierten grün-weiß gestrichenen Tür, das Stallgebäude gegenüber. In jedem Winkel sprenkeln Blumen, in Pflanztöpfe, Ampeln und ausgediente Tiertränken gesetzt, den Hof in Frühlingsfarben.

Vor dem Haus ist eine lange Tafel aufgebaut. Die weißen Tischdecken überstrahlen alles. Selbst die Strohballen, die anstelle wackliger Bierzeltbänke als Sitzgelegenheiten dienen, sind mit weißen Tüchern bedeckt. In der Mitte der Tafel prangt ein Ungetüm von Torte, silberfarben und in Hufeisenform, für das Inga, die seit einiger Zeit an einem unerklärlichen Backfimmel leidet, den gesamten vergangenen Abend in der Küche zugebracht hat. Für die Tischdekoration hat ihre Mutter Anke ihre geheiligten Rabatten geplündert.

Beim Anblick des Blumenschmucks muss ich schmunzeln. Mais wegen hätte Anke auch Heubüschel mit Seidenschleifen zusammenbinden können, statt Tulpen und Narzissen – Mai hätte den Unterschied kaum bemerkt. Trotzdem bin ich gerührt über die Mühe, die sich meine Familie gemacht hat, um mein Kind willkommen zu heißen.

Mai starrt auf die Spitzen ihrer Sneaker im Fußraum. Der Zapfen tickt unter ihren Fingernägeln.

„Na, was ist los?“, frage ich betont munter.

Langsam hebt sie den Kopf. Wirft einen Blick auf den Hof, auf die Festtafel ihr zu Ehren. Es knackt, als die nächste Schuppe abbricht. Sie hält inne und schließt die Augen.

Meine Brust wird eng, während ich sie ansehe. Drückt das Herz, das mir den ganzen Tag über so weit gewesen ist, schmerzhaft zusammen.

Sicher, sie hat eine Menge hinter sich. Ihr gesamtes Leben, wie es einmal war, ist im Bruchteil einer Sekunde regelrecht zerplatzt. Das Aufrappeln nach diesem Sturz kostet sie unendlich viel Kraft. Ich habe gehofft, dass das Nachhausekommen eine Stütze für sie sein würde. Stattdessen schwankt sie wie nach einem heftigen Tritt.

+++

Innerhalb weniger Minuten herrscht auf dem Innenhof ein Treiben wie an einem Turniernachmittag. Mai wird von der Familie und den Angestellten gefeiert wie drei Jahre zuvor, als sie mit der Siegerschärpe vom Landeschampionat der Ponyreiter heimgekehrt war. Wie ein Staffelstab wird sie von Arm zu Arm gereicht, angefangen bei meinem Bruder Frank, der sich äußerst selten zu solchen Regungen hinreißen lässt, bis hin zu unserem Pferdepfleger Fauzi, der Mai mit einem „Alhamdulillah!“ strahlend an sein Kugelbäuchlein drückt.

Die viele Aufmerksamkeit bricht wie ein Hagelschauer über meine Tochter herein. Sie sieht ziemlich begossen aus, als sie zuletzt bei meinem Bereiterkollegen und Freund Andrzej landet. Statt sie wie alle anderen in die Arme zu schließen, macht er einen formvollendeten Diener und deutet einen Handkuss an. Mai scheint aufzuatmen. Andrzej sieht hinter sich, wo niemand mehr steht, und zwinkert ihr zu. „Ich glaube, du hast es geschafft.“

Und da ruft Anke auch schon das Zauberwort: „Kaffee!“

Wie die Pferde, wenn der Futtereimer rappelt, stürmen alle zur Festtafel. Inga zieht Mai mit zu sich und platziert sie auf einem Strohballen in strategischer Nähe zu dem Tortenungetüm, das sie gebacken hat. Anke kreist wie ein Satellit in Strickweste mit der Kaffeekanne um den Tisch, gewaltige Kuchenstücke werden auf Teller balanciert.

Ich setze mich zu den Kindern und mustere die Gesichter entlang der Tafel. Vielleicht ist es die allgemeine Heiterkeit, die mich stutzig macht. So viel gelacht wird normalerweise nur dann, wenn jemand ganz Bestimmtes fehlt.

„Sagt mal, wo steckt eigentlich euer Opa?“

„Vorhin hat er noch in der Küche gestanden und an meinem Kuchen rumgemäkelt“, antwortet Inga mit vollen Backen.

Ihr Bruder Gerrit zuckt, tief über seinen Teller gebeugt, mit den Schultern. „Wahrscheinlich baut er hinten auf dem Platz schon einen Trainingsparcours für Mai auf, weil er es nicht erwarten kann.“

„Schließlich ist Feiern Zeitverschwendung“, fällt Inga, Vaters strengen Tonfall imitierend, ein.

„Es sei denn, es handelt sich um Erfolge.“

„Dann darf sogar gelächelt werden!“

Mai sitzt zwischen den beiden und stochert mit der Kuchengabel in der silbern glänzenden Fondantschicht herum, ohne einen Bissen zu nehmen.

„Jetzt mal im Ernst“, beschwichtige ich die Geschwister, ehe sie richtig in Fahrt kommen.

„Ja, was stimmt mit Opa nicht, dass er die Heimkehr seiner Lieblingsenkelin verpasst?“ Gerrit knufft Mai in die Seite, doch sie ist nicht in der Verfassung, auf die gewohnten Frotzeleien einzugehen.

Mit verdrossener Miene schiebt sie die Krümel, die sie mit der Gabel aus dem Kuchen herausgepult hat, auf dem Teller herum. „Ich bin nicht seine Lieblingsenkelin.“

„’türlich bist du das.“

„Red keinen Scheiß.“

Gerrits Augenbrauen gehen nach oben. Diese Direktheit ist er von Mai nicht gewöhnt. Niemand ist das.

„Willst du dich ein bisschen hinlegen?“, frage ich sie über den Tisch hinweg, weil sie schon wieder aussieht, als würden ihr jeden Moment die Augen zufallen.

Mai tut, als habe sie nichts gehört.

„Aber eigentlich hast du recht, Onkel Henning“, grätscht Inga in das peinliche Schweigen, das sich auszubreiten droht, hinein. „Opa hätte ruhig mal hier aufschlagen können. Wenigstens das, wo er Mai schon kein einziges Mal im Krankenhaus besucht hat.“

„So viel zur Lieblingsenkelin“, murmelt Mai.

„Das hat aber nichts mit dir zu tun“, schaltet sich Frank ein, der neben seinem Sohn Gerrit sitzt und sich bislang schweigend über seinen Kuchen hergemacht hat. Mittlerweile ist er beim zweiten Stück angelangt. „Vater setzt freiwillig keinen Fuß mehr in ein Krankenhaus.“

„Für unser Ausnahmetalent“, sagt Inga und legt ihrer Cousine den Arm um die Schultern, „hätte er aber mal eine Ausnahme machen können.“

Mai windet sich unter ihr weg. „Hör auf damit. Das ist jetzt vorbei.“

„Was ist vorbei?“

„Ich werde nicht mehr reiten.“

„Das kommt alles wieder“, brummt Frank. „Nur Geduld.“

„Ich werde nicht mehr reiten.“

Das klingt so leise und doch bestimmt, dass alle um Mai herum verstummen und auf ihren Kuchen starren.

Schweigend setzt sie das Zerstörungswerk auf ihrem Teller fort. Als nur noch Krümel übrig sind, stützt sie sich an der Tischplatte ab und steht auf.

„Ich geh rein.“ Ihre Stimme klingt wie ein Deckel auf einem Topf voll überkochender Verzweiflung. „Was soll ich hier denn noch?“

2. Taina

Juni 2023

Endlich liegt es vor ihr, das Ende der Welt.

Taina lässt ihren Wanderrucksack und die Papiertüte mit den Lebensmitteln auf den Waldboden zu ihren Füßen plumpsen und sieht auf die Uhr. Es ist kurz nach halb elf, die Sonne hat sich gerade hinter den Baumwipfeln im Westen verabschiedet. Noch glüht die Landschaft nach, als habe die Luft nicht nur die Wärme des Tages, sondern auch dessen Licht gespeichert. Es wird nicht mehr lange dauern, bis die Sommernacht ihren kühlen Grauschleier über dem Wald und dem See am Fuße des sanften Abhanges ausbreitet.

Der Weg hierher war mühsam. Taina ist das frühe Aufstehen gewöhnt, doch an diesem Morgen ist sie noch zeitiger auf den Beinen gewesen als sonst. Zwanzig Minuten vor Abfahrt des ersten Busses hat sie mit ihrem Rucksack am Wartehäuschen gestanden, viel zu früh, viel zu kribbelig und ständig versucht, einen Rückzieher zu machen. Mit jeder Minute, die verstrich, wuchs ihr Drang, den Rucksack zu schultern und nach Hause zu schleichen. Als das Dröhnen des Dieselmotors wie ein Weckerrasseln in die morgendliche Stille im Dorf hineinfuhr, griff Taina nach dem Pfosten des Wartehäuschens und ließ ihn erst wieder los, als der Bus vor ihr zum Stehen kam, um sie als ersten Fahrgast einzusammeln.

Sie stieg vorne ein. Wankte, während der Fahrer aufs Gas trat, zu den hinteren Reihen. Plumpste auf einen Platz am Fenster. Ließ die Dörfer und die Äcker im Morgendunst an sich vorüberziehen und fühlte sich schon jetzt zerschlagen, obwohl noch mehr als eineinhalbtausend Kilometer Weg vor ihr lagen.

Den Flug und die anschließende Zugfahrt verbrachte sie in einer Art Dämmerschlaf. Während dieser Stunden hatte sie die zuvor verfluchte Erschöpfung zum ersten Mal willkommen geheißen, denn sie lullte nicht nur das Denken ein, sondern auch die Zweifel. Erst unmittelbar vor der letzten Reiseetappe erwachten sie wieder: Als Taina vor einem hölzernen Bahnhofsgebäude in das einzige wartende Taxi weit und breit stieg und es längst zu spät war.

„Wohin willst du?“, fragte die Fahrerin.

Taina widerstand dem Impuls, aus dem Auto zu springen, um den nächsten Zug, den nächsten Flug, den nächsten Bus zurück zu nehmen, nannte die Adresse – auswendig! – und hörte sich selbst erstaunt dabei zu, wie sie die Laute formte, die ihr vor langer Zeit fremd geworden waren.

„Und woher kommst du?“, fragte die Frau, die ebenfalls genau hingehört hatte.

Darauf wusste Taina keine rechte Antwort und schwieg. Die Fahrerin nahm es hin. Ohne ein weiteres Wort fuhr sie Taina in den Wald hinein, der aus allen Richtungen in das Städtchen hineinkroch wie eine Armee, die Birken und Kiefern als Vorhut schickte, um sie an jedem möglichen Platz zu postieren.

Mit jedem Abzweig wurden die Straßen schmaler und die Häuser seltener. Nach jeder Kurve fürchtete Taina, der Wald würde sich vor ihnen zu einer Barrikade aufrichten, sie, die Eindringlinge, umzingeln, gefangen nehmen und verschwinden lassen. Am Ende wären sie verschollen und niemand würde sich auf die Suche machen, um sie zu finden. Doch der Wald ließ sie passieren. Er war längst nicht so dicht, wie sie ihn in Erinnerung hatte, sondern wechselte sich mit ausgedehnten Wiesen und Ackerflächen ab.

Jetzt ist sie am Ziel. Oder ist es der Anfang? Vielleicht ist sie hier, um das herauszufinden.

Sie richtet ihren Blick auf das flache Holzhäuschen vor sich. Das Mökki, das leicht erhöht auf einem Buckel steht, bekommt eine letzte Ladung Sonnenstrahlen ab. Sein roter Anstrich ist schon etwas verblichen und bringt stellenweise rohes Holz zum Vorschein wie Schürfwunden, von Zeit und Witterung gerissen. Die weiß gestrichene Veranda davor sieht aus, als stricke sie sich einen Pullover aus Moos, der bis zum Winter den oberen Rand des Geländers erreicht haben müsste. Ein paar Schritte den Abhang hinunter steht ein kleinerer Zwilling des Haupthauses, das Saunamökki.

Ein Hupen fährt ihr mitten in die Betrachtung dessen, was vor ihr liegt. Taina dreht sich nach dem Taxi um, das mit laufendem Motor am Ende der steilen Auffahrt steht. An der Fahrerseite senkt sich die Scheibe. Die Fahrerin streckt ihren Kopf heraus und lässt ihren kajalschweren Blick zweifelnd zwischen Taina und dem Mökki hin und her wandern, als müsse sie aus zwei unpassenden Teilen ein logisches Bild zusammenfügen.

Taina starrt die Frau am Steuer an, die gut doppelt so alt wie sie selbst sein mag. Starrt auf deren Haare. Unnatürlich schwarz, unnatürlich glatt fallen sie durch die heruntergelassene Scheibe auf die Autotür. Für einen Moment sehnt Taina sich nach dem vertrauten Gefühl, wie ihr eigenes langes Haar ihre Schultern umspielt. Noch immer will sie es sich aus Gewohnheit aus dem Gesicht schütteln und erschrickt im selben Augenblick über die Leere der Bewegung. Der Kopf ist zu leicht. Auch Monate später fühlt sich das kurze Haar noch fremd an. Sie tastet nach einer Strähne, die gerade so über ihr Ohrläppchen wächst. So weit ist es wieder nachgewachsen, beruhigt sie sich. Immerhin.

Der Kajalblick heftet sich auf sie: Besorgnis, schwarz umrahmt.

„Bist du sicher, dass du hierbleiben willst?“, fragt die Taxifahrerin.

Taina sieht sich kurz nach dem Mökki um, zuckt mit den Schultern und nickt.

Die Taxifahrerin schüttelt den Kopf. „Ganz allein hier draußen?“

Ich bin hier genau richtig, will Taina sagen und schweigt. Schon jetzt spürt sie die Stille dieses Ortes in ihren Gliedern. Es ist, als kröche sie durch den Boden in ihre Füße, von dort die Beine hoch, durch den ganzen Körper bis zu ihrem Mund, um ihn von innen zu versiegeln. Sie kennt dieses Gefühl. Wenig ist ihr je so vertraut gewesen wie das.

„Ich kann dich auch wieder mit zurück in den Ort nehmen.“ Die Taxifahrerin nickt in die Richtung, aus der sie eben gekommen sind. „Kostenlos.“

Taina schüttelt den Kopf.

„Na dann.“ Die Frau deutet mit einer ihrer rosa lackierten Krallen auf die Papiertüte zu Tainas Füßen. „Du hast genug eingekauft? Bis zum nächsten Laden sind es fünfzehn Kilometer.“

„Ich komme klar“, murmelt Taina.

„Was?“

„Ich komme klar“, wiederholt sie mit Nachdruck.

„No niin.“ Die Fahrerin nickt knapp. „Wenn du ’ne Fahrt brauchst, ruf an. Frag nach Essi.“

Sie fährt die Scheibe wieder hoch und wendet in der Auffahrt. Der Schotter knirscht scharf, als sie nach links auf den Weg abbiegt. Sekunden später hat der Wald das Geräusch geschluckt.

Einsamkeit erwacht in der Erde unter Tainas Füßen und bahnt sich ziehend ihren Weg, um der Stille zu folgen. Noch eine Vertraute. Taina hat gewusst, dass sie hier nicht lange allein bleiben würde.

Sie wendet sich wieder dem Haus zu. Etwas streift ihre nackte Wade. Der Tragegurt des Wanderrucksacks, der rechts von ihr auf dem Boden steht, ist auf ihr Bein gerutscht. Sie greift danach und hievt ihn auf ihren Rücken.

Taina hat keinen Schimmer, was sie tags zuvor alles eingepackt hat. Sie erinnert sich nur, wie sie den Rucksack mehrfach ein- und dann wieder entnervt ausgepackt hat, weil sie mit irgendetwas nicht zufrieden war. Zuletzt hat sie den Inhalt auf ihr Bett gekippt, die Zähne zusammengebissen, um nicht in Tränen auszubrechen, und alles wieder irgendwie hineingestopft, weil es sowieso keinen Sinn hatte. An die Gegenstände im Einzelnen erinnert sie sich nicht mehr. Sie hofft, dass sie in einem klaren Moment an das Nötigste gedacht hat.

Sie bückt sich nach der Papiertüte mit den Lebensmitteln, die sie am Flughafen für zu viel Geld eingekauft hat. In jenem Moment hat sie ausgeblendet, dass noch vier Stunden Zugfahrt vor ihr lagen, was den verderblichen Sachen nicht bekommen würde. Über den Waldboden schleppt sie ihre Habseligkeiten zum Haus. Die spitzen Ecken der Joghurtpackungen bohren sich in ihren Arm und Grashalme kitzeln ihre Beine wie gemeine Finger. Hastig tritt sie die beiden Holzstufen zur Veranda hoch, lässt Rucksack und Tüte auf die verzogenen Dielen knallen und atmet scharf aus. Nur wenige Schritte und schon rinnen ihr erste Schweißperlen das Rückgrat herab.

Wie vereinbart steckt der Schlüssel in der Eingangstür. Und selbst wenn er nicht gesteckt hätte, wäre die Tür mit Sicherheit unverschlossen gewesen. Hier schließt niemand ab. Hierher verirrt sich kein Mensch.

Endlich ist sie allein.

+++

Mai 2015

In einem Spalt zwischen den hölzernen Treppenstufen zur Eingangstür und der Hauswand hatte eine Eidechse überwintert und Taina hatte das unverschämte Glück, ausgerechnet jetzt Zeugin zu werden, wie das Tier vielleicht zum ersten Mal in diesem Jahr den Kopf zwischen den Holzbohlen hervorstreckte, prüfend in die Sonne blinzelte, und schließlich mit seinem schlanken Körper aus dem Spalt hervorglitt. Seine Flanken bebten, als würde es nicht nur Luft, sondern auch die Strahlen der Nachmittagssonne atmen.

Taina lag keine zwei Meter von der Eidechse entfernt bäuchlings auf der Erde und rührte sich nicht, um sie ja nicht zu vertreiben. Wenn es sein musste, konnte sie lange Zeit reglos an einem Ort verharren. Diese Kunst hatte sie an endlosen Sommernachmittagen auf der Wiese hinter dem Haus perfektioniert. Fasziniert beobachtete sie, wie die Eidechse die Sonnenstrahlen in sich aufsaugte, und stellte sich vor, sie würde es ihr gleichtun. Der Winter war scheußlich lang gewesen. An den kürzesten Tagen hatte die Sonne höchstens einmal kühl über die Baumwipfel hinweggeblinzelt, als hätte sie nachsehen wollen, ob es sich überhaupt lohnte, ihre Strahlen an diese öde Gegend zu verschwenden.

Taina hatte das Gefühl gehabt, der Winter würde niemals enden, weil die Sonne keine Veranlassung sah, zu bleiben, und war überrascht, als die Tage dann doch länger wurden, die Lichtstrahlen gnädig über den Waldrand hinwegkletterten und sich schließlich sogar das erste Grün hinterherbequemte – und mit ihm die Tiere.

Über ihr knarrte es. Ein Schatten bewegte sich über sie hinweg. Taina hatte kaum geblinzelt, da war die Eidechse schon wieder in ihr Versteck gehuscht. Missmutig sah sie zu dem geöffneten Flügel des Küchenfensters hinauf. Isä steckte seinen Kopf heraus.

„Was machst du da?“, fragte ihr Vater.

„Jetzt hast du die Eidechse verscheucht.“

„Na, wenn du sonst keine Probleme hast. Komm rein und mach dich nützlich.“

Seufzend rappelte sich Taina auf, trollte sich ins Haus und streifte die Winterstiefel von den Füßen. Ihre Laune hob sich sofort wieder, als sie den Duft aus der Küche erschnupperte. Zimt und Kardamom – Äiti hatte Korvapuustit gebacken! Das tat ihre Mutter nur sonntags, und längst nicht jede Woche, sondern nur, wenn ihr danach war.

Das Blech mit den Hefeteilchen stand auf dem Herd. Ihre Mutter nahm drei Stück davon herunter und schlug sie in ein sauberes Küchentuch ein. Ihr Vater saß auf der Eckbank unter dem Fenster. Aus der Kaffeetasse vor ihm kräuselte Dampf, um seinen Mundwinkel Spott.

„Lust auf eine Ohrfeige?“

Taina hatte nie verstanden, wie man so etwas Herrliches wie diese Zimtschnecken nach so etwas Schrecklichem wie Ohrfeigen benennen konnte. Sie fand nicht, dass sie auch nur die geringste Ähnlichkeit mit Ohren hatten. Und sie konnte auch nicht verstehen, warum Isä denselben schalen Witz jedes Mal von Neuem brachte. Sie wich seinem Blick aus und stellte sich neben ihre Mutter, die sie vorsorglich mit einer Ellbogenbewegung vom Backblech fernzuhalten versuchte.

„Die gibt’s erst heute Nachmittag.“

Taina beobachtete, wie Äiti die in das Küchentuch eingeschlagenen Korvapuustit in ein geflochtenes Henkelkörbchen legte und ihr zuschob.

„Bring das rüber zu Aino.“

Tainas Augen leuchteten auf. Sie freute sich, wenn sie ihre Großtante besuchen durfte, die auf einem kleinen Gehöft unten an der Straße wohnte. „Kann ich zum Mittagessen bei ihr bleiben?“

„Nein. Du sollst dich nicht immer auf ihre Kosten dort durchfressen.“

Weil sie nur eine kleine Rente bekommt, ergänzte Taina in Gedanken, ließ enttäuscht die Schultern sinken und griff nach dem Henkel des Körbchens.

Ihr Vater lachte auf.

„Fehlt nur eine Flasche Wein.“

„Juha, bitte“, sagte Äiti, ohne ihn anzusehen.

„Wein?“ Verwirrt sah Taina zwischen ihren Eltern hin und her.

„Unsinn“, sagte Äiti.

„Hast du nicht eine rote Mütze, Taina?“, fragte ihr Vater mit einem Lauern im Blick.

„Wieso?“

„Mach dem Kind keine Angst, Juha.“

„Ist doch nur ein Märchen.“

Taina begriff und sah ihre Mutter mit großen Augen an. „Gibt es hier Wölfe?“

„Lass dir nichts einreden.“ Äiti schob sie in Richtung Küchentür.

„Neulich, als noch Schnee lag, haben wir auf Streife ganz in der Nähe eine Wolfsfährte entdeckt.“ Isäs Stimme klang heiter. „Sie führte mitten über den Weg.“

„Die stammte bestimmt nur von einem eurer Diensthunde.“

„Weißt du’s?“

Äiti gab Taina noch einen Schubs. „Geh jetzt, sonst fängt er noch von Bären an!“

Sie beeilte sich, aus der Küche zu kommen. Im Flur holte sie die Halbschuhe vom letzten Herbst aus der Kommode und schlüpfte hinein. Ihre Zehen stießen vorne an. Aino hatte erst kürzlich gesagt, dass sie über den Winter kräftig gewachsen sei. Sie hatte das abgegriffene Maßband aus einer ihrer zahllosen Küchenschubladen gekramt und Taina hatte sich an den Türstock stellen und sich messen lassen. Sie maß einen Meter dreißig. In ihrer Schulklasse war sie das größte Mädchen.

„Ich brauche neue Schuhe, Äiti!“

Aus der Küche war ein Seufzen zu hören, sonst nichts. Taina wusste, was das bedeutete. Um Schuhe zu kaufen, musste man weit fahren, bis in die richtige Stadt, und das kostete Zeit, Sprit und eine Menge Geld. Also zog sie die Zehen ein, fasste nach dem Körbchen, lief zur Haustür hinaus und blieb vor den Treppenstufen stehen. Mit den Augen suchte sie die Ritze an der Hauswand ab – vielleicht hatte sich die Eidechse in der Zwischenzeit ja zu einem weiteren Sonnenbad herausgetraut.

Hinter ihr tappte etwas gegen Glas.

Durch das Küchenfenster winkte Isä ihr mit einem Lächeln zu. Für einen kurzen Moment kehrte der Winter zurück.

+++

In ihren zu kleinen Schuhen und mit dem Henkelkorb in der Hand trottete Taina den Feldweg entlang zum Schlagbaum, vorbei an den Schildern, die vor dem Betreten der Grenzzone warnten, in der sie wohnte. Nur ihre Familie und die Angehörigen des Grenzschutzes durften ihre Zufahrt benutzen. Sie bog nach rechts ab.

Die Schotterstraße wand sich in weiten Kurven durch die Wald- und Wiesenlandschaft. Birken und Fichten zogen Tainas Blick jedes Mal unwillkürlich aufwärts, wenn sie auf die Straße trat. Zwischen den Baumwipfeln sah das helle Band des Himmels aus wie ein Weg, fand sie. Manchmal stellte sie sich vor, barfuß über die Wolken zu hüpfen, was bei den spitzen Kieseln zu ihren Füßen undenkbar war.

Sie beeilte sich. Je schneller sie bei Aino war, desto mehr Zeit konnte sie bei ihr auf dem kleinen Gehöft verbringen. Vielleicht waren ja endlich die Küken geschlüpft und die ersten Frühlingsblumen steckten ihre Köpfe aus den Beeten rings ums Haus. Bestimmt durfte sie den Bottich der beiden Gnadenbrotpferde mit dem Wasserschlauch füllen oder den Katzen ein Tellerchen mit Fischresten auf die Treppe stellen. Aino fand immer etwas, womit sie Taina beschäftigen konnte. Nie ging diese ohne ein „Du hast mir heute wieder sehr geholfen!“ zu hören von Ainos Hof.

Kurz vor der zweiten Kurve wurden Tainas Schritte langsamer. Sie zwang sich, ihr Tempo beizubehalten. Ihre Finger schlossen sich fester um den geflochtenen Henkel des Körbchens. Aufmerksam behielt sie den Wegsaum im Blick, maß mit den Augen die Birkenäste und ärgerte sich beinahe über das frische Grün, das die Sicht durch die Zweige erschwerte. Im Winter sah sie das Schild schon von Weitem hindurchblitzen, doch jetzt, im Frühling, musste sie wachsamer sein.

Sie hatte den Scheitelpunkt der Kurve überschritten. Ihr Blick klebte an den Birkenästen. Noch drei Schritte, noch zwei, dann blitzte etwas Rotgelbes durch das Laub. Tainas rechter Fuß zuckte. Als sie das kreisrunde Schild erspähte, stellte sie fest, dass es im Laufe des Winters wieder ein wenig mehr verwittert war. Graugrünes Moos wanderte von unten in den roten Kreis bis in die gelbe Fläche hinein, sodass es aussah, als schreite das Pferd in deren Mitte über eine sumpfige Wiese. Inzwischen war das Schild an dieser Stelle nutzlos. Früher einmal hatte es Autofahrer vor querendem Vieh gewarnt, doch der Bauernhof, dessentwegen es aufgestellt worden war, stand seit Jahren leer und verfiel.

Taina zählte sechzehn Schritte ab, dann war sie genau auf Höhe des Schildes, und ab da durfte sie keinesfalls mehr nach links sehen. Denn auf der linken Straßenseite, kurz hinter der Einfahrt zu dem verlassenen Bauernhof, stand ein uralter Holzschuppen mit eingesunkenem Dach: das Geisterhaus.

Sie drehte den Kopf nach rechts und schielte nur aus den Augenwinkeln nach dem Grün am Wegrand. Solange es noch da war, war alles in Ordnung.

Jedes Mal, wenn sie zu ihrer Großtante ging, fürchtete sich Taina vor diesem Abschnitt des Weges. Nie aber hatte sie sich so sehr davor gefürchtet wie an diesem Vormittag. Der Korb mit dem Gebäck schien immer schwerer zu werden, als verwandelte sich eine Zimtschnecke nach der anderen mit jedem ihrer langsamer werdenden Schritte zu Stein. Ihre Hände schwitzten.

Als der letzte Zweig an ihrem Augenwinkel vorbeigezogen war, packte Taina den Henkel ihres Körbchens fester und begann zu rennen. Den Kopf stur nach rechts gedreht, hastete sie den Weg entlang. Schotter spritzte unter ihren Schuhsohlen weg. Sie zählte.

Zehn. Der Weg stieg an. Zwanzig. Dreißig.

Ihre Augen zuckten kurz nach links, nahmen für den Bruchteil einer Sekunde das düstere Gebäude wahr, das mitten auf der Wiese thronte, und wandten sich sofort wieder zur anderen Straßenseite.

Vierzig. Sie widerstand dem Impuls, erneut hinzusehen. Fünfzig. Vor ihr öffnete ein Waldstück seine einladenden Arme. Aufatmend ließ sie sich hineinfallen.

Sechzig.

Sie verlangsamte ihren Schritt, straffte die Schultern und blickte wieder geradeaus. Der Weg schrieb eine sanfte Rechtskurve. Das Geisterhaus lag hinter ihr. Sie hatte es geschafft. Prustend wischte sie sich den Schweiß von der freien Hand an ihrer Hose ab, nahm damit den Korb und bewegte die verkrampften Finger der anderen Hand. Sie wagte einen prüfenden Blick nach links, um sich zu vergewissern, dass sie nun das dichte Fichtenwäldchen passierte, und alles wieder in Ordnung war.

Siebzig.

Hundert war die magische Marke. Wenn sie hundert Schritte gelaufen war, war die Gefahr gebannt. Forsch marschierte Taina auf die Achtzig zu.

Siebenundsiebzig.

Zu ihrer Rechten knackte es im Wald. Taina fuhr zusammen. Sofort trabte sie wieder los und vergaß darüber ganz, weiterzuzählen, weil sie zu sehr damit beschäftigt war, ins Unterholz hinter den Fichtenzweigen zu lauschen. Als ihr auffiel, dass die beruhigenden Ziffern in ihrem Kopf ins Stocken geraten waren, strauchelten auch ihre Füße. Im selben Augenblick drang ein langgezogenes Heulen aus dem Wald neben ihr.

Der Korb mit den Korvapuustit rutschte ihr aus der Hand und fiel zu Boden. Sie rannte, rannte schneller als je zuvor in ihrem Leben. Das Heulen folgte ihr. Sie hoffte und betete, dass sie schneller war als der Wolf, konnte nicht erkennen, ob er die Verfolgung aufgenommen hatte, und erwartete jeden Moment heiseres Japsen hinter sich, Pfoten, die über den Schotter klickten, einen Schlag von hinten, der sie zu Boden streckte, Zähne, die sich in ihren Nacken gruben. Wieder spürte sie ihre Zehen in den zu engen Schuhen, ihre Lungen in dem zu engen Brustkorb, kniff vor Anstrengung die Augen zusammen, rannte blind weiter, geriet ins Straucheln und als sie die Augen wieder öffnete, war da plötzlich jemand.

Mitten auf dem Weg stand eine schwarzgekleidete Gestalt und breitete die Arme aus.

Taina konnte nicht mehr bremsen.

3. Henning

Februar 2023

Claudi wehrte sich gegen meine Hand. Er sah wieder an jeder Ecke Gespenster, scheute und versuchte, zu steigen. Statt ausdrucksvoll durch die Arena zu schreiten, wie es ein Hengst bei der Körung idealerweise zu tun hatte, stakste er durch den Sand, als müsste er Kippen austreten. Ich fasste die Zügel kürzer und versuchte, Claudi korrekt vor der Kommission aufzustellen. Das hatten wir monatelang geübt, eigentlich beherrschte er das aus dem FF. Doch das Publikum in der Halle und die hämmernden Beats aus den Lautsprecherboxen brachten meinen Jungspund auch am zweiten Tag der Veranstaltung aus dem Konzept. Beim Freispringen am Vormittag hatte er in Panik mehrere Bambuskübel umgerannt. So was kam bei der Körkommission nicht gut an. Sie bewertete die künftigen Vatertiere nicht nur nach Schönheit, sondern vor allem nach sportlicher Veranlagung, Charakter und Nervenstärke.

Der Vorsitzende, der mit der übrigen Kommission an einer Tafel Platz genommen hatte, hob das Mikrofon an den Mund: „Und jetzt nimmt Aufstellung die Katalognummer 24: Claudinus vom Duwensee, ein Sohn des Cornets Claus aus einer Mutter von Tuvalu van’t Knickerbosch.“ Und das war bei Weitem nicht der dämlichste Name auf der ganzen Veranstaltung.

Während der Vorsitzende die Abstammung des Hengstes herunterratterte, peitschte dieser mit dem Schweif, als wollte er dem Mann das Mikrofon aus der Hand schlagen. Dann kam – endlich! – die Erlösung.

„Der Hengst ist nicht gekört. Vielen Dank fürs Vorstellen.“

Ich ließ die Zügel locker. Claudi hob den Schweif und brachte seine Ansicht zu der ganzen Veranstaltung angemessen zum Ausdruck: Er äpfelte der Körkommission vor den Tisch.

„Recht hast du“, murmelte ich, klopfte seinen Hals und führte ihn unter sparsamem Applaus aus den Rängen in Richtung Ausgang.

Kaum hatte er Gremium und Zuschauern den Rücken zugekehrt, war Claudi wie ausgewechselt. Mit langen Schritten zockelte er neben mir durch die Bahn, schnaubte ab und wirkte erleichtert. So ein Filou, als hätte er genau gewusst, dass er sich möglichst danebenbenehmen müsste, damit ihm das anstrengende und einsame Leben eines Deckhengstes mit dem Urteil nicht gekört erspart bleiben würde.

Vater stand am Ausgang und hielt fordernd die Hand auf. Ich reichte ihm die Zügel.

„Satz mit X“, knurrte er, ohne mich anzusehen, und führte Claudi zurück zu seiner Box in der Nachbarhalle.

Ihm war soeben eine fünf-, womöglich sogar sechsstellige Summe durch die Lappen gegangen. Wäre Claudi gekört worden, hätte er mit Sicherheit einen ordentlichen Preis bei der anschließenden Auktion eingebracht und Vater hätte sich endlich mal wieder einen silbernen Ehrenteller des Holsteiner Verbandes ins Wohnzimmer hängen können. Der letzte war schon acht Jahre alt. Ein Unding für einen Züchter seiner Reputation.

„Tja“, sagte ich.

Claudi schritt entspannt an Vaters Hand durch die Stallgasse. Kein Scheuen, kein Trippeln. Ganz das Pferd, das ich in monatelanger Arbeit auf die Körung vorbereitet hatte.

Ich streifte mir das hässliche weinrote Sweatshirt mit dem Verbandslogo über den Kopf, das alle Hengstvorführer tragen mussten, und warf es über einen herrenlosen Klappstuhl. Das war das letzte Mal gewesen, dass ich diesen unsäglichen Zirkus mitgemacht hatte! Sollte doch mein Neffe Gerrit beim nächsten Mal an der Seite eines verschreckten Junghengstes zu dem Gewummer aus den Lautsprecherboxen durch die Bahn rennen. Der war sowieso schon ganz heiß darauf, mich auf diesem Posten zu beerben.

Vater führte Claudi in die Box, verriegelte die Tür hinter ihm und drehte sich zu mir um. Seinen Blick hätte man als Rohrreiniger abfüllen und verkaufen können.

„So schlecht hast du noch kein Pferd vorgeführt. Wo warst du mit deinen Gedanken, Junge?“

„Ja, wo war ich wohl mit meinen Gedanken?“

Ich fummelte in meiner Hosentasche nach dem Handy. Es war nicht da. Suchend sah ich mich zwischen Kisten und Kästen um, die vor der Box aufgestapelt waren. Hatte irgendjemand in dem Gewühl aus Pflegern, Vorführern und herausgeputzten Pferden in der Stallgasse mein herumliegendes Telefon eingesteckt? Ich rieb mir die Schläfen. Das Hufgeklapper und Stimmengewirr, das sich mit dem dröhnenden Bass aus der Veranstaltungshalle mischte, bereitete mir Kopfschmerzen.

Vater brummte. „Das Ganze ist zwei Wochen her. Das Kind ist außer Gefahr. Dass du dich noch immer nicht im Griff hast! Kein Wunder, dass der Hengst nicht spurt.“

„Hast du mein Handy irgendwo gesehen?“

Vater fasste in die Innentasche seines Sakkos und reichte es mir mit zugekniffenem Mund. Richtig, ich hatte es ihm vor der letzten Vorführung im Vorbeigehen zugesteckt, damit es mir beim Hantieren mit Claudi nicht aus der Hosentasche rutschte.

„Hat wer angerufen?“

„Ich hab dir doch gesagt, du sollst das vermaledeite Ding ausschalten, Junge.“

Ich riss Vater das Handy aus der Hand und entsperrte das Display. Kein Anruf, keine Nachricht. Entnervt stopfte ich es in die Hosentasche.

„Es gibt keinen Grund mehr, sich verrückt zu machen“, sagte Vater. „Hättest du dich auf deine Arbeit konzentriert, dann hättest du heute Abend den vereinbarten Teil des Auktionserlöses als Bonus obendrauf bekommen. Aber so – nee.“

Claudi versuchte, schnobernd die Nase durch die Gitterstäbe zu stecken. Ich fasste hindurch und kraulte ihn unterm Kinn. Das Geld war mir egal. Ich hätte mich nicht verpflichtet fühlen dürfen, meinen Schützling bei dieser Veranstaltung selbst vorzuführen. Andrzej hätte mich ohne Murren vertreten. Aber ein Pieroth jammert nicht über ein Unglück. Er beißt die Zähne zusammen und tut, was nötig ist, und vor allem versagt er dabei nicht.

„Das hätte ein Prämienhengst werden können, Henning!“ Vater seufzte. „Aber du leistest dir den Luxus, die Nerven zu verlieren! Wer soll uns das Pferd nach dieser Vorstellung noch abkaufen?“

„Wenn du sonst keine Probleme hast.“

Ich drehte mich um und zog das Handy wieder aus der Hosentasche.

„Wo willst du hin?“, bellte Vater. „Ich rede mit dir!“

„Ich muss telefonieren.“

Damit ließ ich ihn stehen.

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