Das Haus der geheimnisvollen Uhren - John Bellairs - E-Book

Das Haus der geheimnisvollen Uhren E-Book

John Bellairs

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein mutiger Junge, ein uraltes Haus, ein finsteres Geheimnis

Weil seine Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind, muss der 10-jährige Lewis zu seinem Onkel Jonathan ziehen. Zum Glück ist Onkel Jonathan nicht nur nett, sondern er lebt auch in einem uralten Haus voller Geheimgänge, verwinkelter Flure und versteckter Zimmer. So etwas hat sich Lewis schon immer gewünscht! Und das Tollste ist: Onkel Jonathan kann zaubern! Der frühere Besitzer des Hauses war allerdings auch ein Zauberer, und zwar ein sehr böser. Irgendwo tief in den Mauern hat er eine Uhr versteckt. Eine Uhr mit der Macht, das Ende der Welt herbeizuticken. Als ihm sein neuer Schulfreund das nicht glaubt, beschließt Lewis kurzerhand, selbst zu zaubern. Mit fatalen Folgen …

Der große Kinderbuchklassiker »Das Geheimnis der Zauberuhr« in komplett neuer Ausstattung

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 206

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Weil seine Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind, muss der 10-jährige Lewis zu seinem Onkel Jonathan ziehen. Zum Glück ist Onkel Jonathan nicht nur nett, sondern er lebt auch in einem uralten Haus voller Geheimgänge, verwinkelter Flure und versteckter Zimmer. So etwas hat sich Lewis schon immer gewünscht! Und das Tollste ist: Onkel Jonathan kann zaubern! Der frühere Besitzer des Hauses war allerdings auch ein Zauberer, und zwar ein sehr böser. Irgendwo tief in den Mauern hat er eine Uhr versteckt. Eine Uhr mit der Macht, das Ende der Welt herbeizuticken. Als ihm sein neuer Schulfreund das nicht glaubt, beschließt Lewis kurzerhand, selbst zu zaubern. Mit furchtbaren Folgen …

Der Autor

John Bellairs (1938–1991) war ein bekannter amerikanischer Autor. Seine Reihe um den Waisenjungen Lewis Barnavelt zählt seit Langem zu den Klassikern der fantastischen Kinder- und Jugendliteratur. Nach seinem Universitätsabschluss in Englischer Literatur arbeitete Bellairs zunächst als Lehrer am College, ehe er sich nach seinen ersten Erfolgen ganz dem Schreiben widmete. Das Haus der geheimnisvollen Uhren erschien (unter dem Titel Das Geheimnis der Zauberuhr) erstmals in den Siebzigerjahren und verkaufte sich gemeinsam mit den Folgebänden der magischen Serie millionenfach.

JOHN BELLAIRS

DASHAUSDER

GEHEIMNISVOLLEN

UHREN

ROMAN

Aus dem Amerikanischen

von Alexander Schmitz

Die Originalausgabe erscheint unter dem Titel A HOUSE WITH A CLOCK IN ITS WALLS bei Puffin Books, Penguin, New York

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 1973 by John Bellairs

Published in agreement with the author, c/o Baror International, Inc., Armonk, New York U.S.A.

Copyright der deutschen Übersetzung © 1977 Diogenes Verlag AG, Zürich

Copyright © 2018 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkterstr. 28, 81673 München

(Copyright © 2000 unter dem Titel »Das Geheimnis der Zauberuhr« by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München)

Alle Rechte sind vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Motivs von © 2018 Universal Studios and Storyteller Distribution Co., LLC

Innenillustrationen: © Das Illustrat, München

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-23574-1V001

Für Priscilla, die mich sein lässt

KAPITEL 1

Lewis Barnavelt rutschte unruhig hin und her und wischte sich die feuchten Handflächen am Sitz ab. Der Bus ratterte weiter Richtung New Zebeedee. Es war ein warmer, windiger Sommerabend des Jahres 1948, jedenfalls im Freien. Lewis sah, wie sich die monderhellten Bäume draußen am Fenster vorbeibewegten, aber das Fenster konnte man – wie alle in diesem Bus – leider nicht öffnen.

Er sah hinunter auf seine blaurote Cordhose, eine von jener Art, bei der mit jedem Schritt der aneinanderreibende Stoff ein Geräusch machte. Er hob seine Hand und strich sich durchs Haar, das in der Mitte gescheitelt war und durch sein Wildwurz-Öl fest am Kopf anlag. Die fettigen Finger wischte er sich wieder am Sitz ab. Seine Lippen bewegten sich geräuschlos, und er sprach ein Gebet, das er während seiner Ministrantenzeit gelernt hatte:

Quia tu es, Deus, furtitudo mea; quare me repulisti, et quare tristis incedo, dum affligit me inimicus?

Da Du, o Herr, meine Kraft und meine Stärke bist, warum hast Du mich verstoßen und warum bin ich mit Sorgen beladen, während der Feind mir droht?

Er versuchte, sich an andere Gebete zu erinnern, doch das einzige, das ihm noch einfiel, drückte wiederum nur Zweifel aus:

Quare tristis es anima mea, et quare conturbas me?

Warum trauerst du, meine Seele, und warum quälst du mich?

Es kam Lewis vor, als bestünden alle seine Gedanken in diesen Tagen nur aus Fragen und Zweifeln: Wohin werde ich fahren? Welchen Menschen werde ich begegnen? Werde ich sie mögen? Was wird mit mir geschehen?

Lewis Barnavelt war zehn Jahre alt. Bis vor Kurzem hatte er noch mit seinen Eltern in einer kleinen Stadt in der Nähe von Milwaukee gelebt. Aber sein Vater und seine Mutter waren eines Nachts bei einem Autounfall ums Leben gekommen, und jetzt war Lewis auf dem Weg nach New Zebeedee, der Kreisstadt im Capharnaum County in Michigan. Er sollte bei seinem Onkel Jonathan wohnen, den er noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Natürlich hatte Lewis vorher schon einiges über Onkel Jonathan gehört, zum Beispiel, dass er rauchte und trank und Poker spielte. Das waren zwar für eine katholische Familie nicht unbedingt Todsünden, aber Lewis hatte zwei ältere, allein lebende Tanten, die Baptistinnen waren, und die hatten ihn vor Jonathan gewarnt. Er hoffte, dass sich die Warnung als unnötig herausstellen würde.

Als der Bus in eine Kurve fuhr, betrachtete Lewis sein Spiegelbild im Fenster neben seinem Sitz. Er sah ein dickes Mondgesicht mit glänzenden Wangen. Seine Lippen bewegten sich – Lewis fing wieder an, seine Ministranten-Gebete aufzusagen, diesmal allerdings, um Onkel Jonathan schon jetzt günstig auf ihn einzustimmen. Judica me, Deus … Richte mich, o Herr … Nein, richte mich nicht, hilf mir lieber, ein bisschen Glück zu haben.

Es war fünf vor neun, als der Bus vor dem Heemsoth’s Rexall Drug Store in New Zebeedee hielt. Lewis erhob sich, wischte sich die Hände an der Hose ab und zerrte an dem gewaltigen Koffer, der weit über das stählerne Gepäckgitter hinausragte. Lewis’ Vater hatte diesen Koffer Ende des Zweiten Weltkriegs in London erstanden. Er war mit halb abgerissenen und ausgeblichenen Aufklebern der Schifffahrtsgesellschaft Cunard Line bedeckt. Lewis zog kräftig, und der Koffer landete schwankend auf seinem Kopf. Er stolperte zurück in den Gang und hielt den Koffer bedenklich unsicher hoch in der Luft, saß dann plötzlich wieder auf seinem Sitz, und der Koffer landete mit großer Wucht auf seinem Schoß.

»Na, nun ist’s aber gut! Bring dich doch nicht um, bevor ich überhaupt Gelegenheit hab, dich kennenzulernen!«

Im Gang stand ein Mann vor ihm mit buschigem rotem Bart, der an manchen Stellen weiße Strähnen zeigte. Seine Khaki-Hose war vorne über seinem dicken Bauch ausgebeult, und er trug eine rote Weste mit Goldknöpfen über einem dicken blauen Wollhemd. Lewis bemerkte, dass die Weste vier Taschen hatte. Aus den oberen beiden schauten Pfeifenreiniger heraus, während die beiden unteren mit einer Kette aus Büroklammern verbunden waren. Das eine Ende der Kette war mit dem gewundenen Aufziehknopf einer goldenen Uhr verhakt.

Jonathan van Olden Barnavelt nahm seine qualmende Pfeife aus dem Mund und streckte ihm seine Hand entgegen.

»Hallo, Lewis, ich bin dein Onkel Jonathan. Ich habe dich gleich erkannt, nach dem Foto, das mir dein Vater mal geschickt hat. Herzlich willkommen in Zebeedee.«

Lewis schüttelte ihm die Hand und bemerkte dabei, dass Onkel Jonathans Handrücken von einer gekräuselten Schicht roter Haare bedeckt waren. Sie reichten bis zu seinen Manschetten und verschwanden dann darunter. Lewis fragte sich, ob Onkel Jonathan wohl am ganzen Körper so rote Haare hatte.

Jonathan nahm den Koffer und stieg die Stufen im Bus hinunter.

»Donnerwetter, ist der aber schwer! Da sollten besser Räder drunter sein. Huch! Mal ehrlich, hast du ein paar Ziegelsteine von eurem Haus mitgebracht?«

Lewis’ Gesicht wurde so traurig bei der Erwähnung seines Zuhauses, dass Jonathan gleich beschloss, das Thema zu wechseln. Er räusperte sich und sagte: »Na dann! Wie gesagt, willkommen im Capharnaum County und im schönen, alten Zebeedee. Es hat sechstausend Einwohner, nicht mitgerechnet …«

Über ihnen begann eine Uhr zu schlagen.

Jonathan unterbrach sich. Er erstarrte zur Salzsäule, ließ den Koffer fallen, und seine Arme hingen schlaff herab. Lewis sah erschrocken zu ihm auf. Jonathans Augen blickten völlig glasig.

Die Uhr schlug weiter. Lewis blickte nach oben. Der Klang kam von einem hohen, backsteinernen Kirchturm auf der anderen Straßenseite. Die Fensterbögen des Glockenturms sahen aus wie ein riesiger Mund mit zwei glotzenden Augen darüber. Unter dem Mund war ein großes, matt erleuchtetes Zifferblatt mit eisernen Zahlen zu erkennen.

Bamm! Noch ein Schlag. Er kam von einer heiser und irgendwie unheimlich klingenden gusseisernen Glocke, und Lewis fühlte sich bei ihrem Klang verlassen und hilflos. Glocken dieser Art riefen immer dasselbe Gefühl in ihm wach. Aber was war mit Onkel Jonathan los?

Die Glockenschläge hörten auf. Jonathan erwachte aus seiner Trance, schüttelte heftig den Kopf und hob mit einer ruckartigen Bewegung seine Hand zum Gesicht. Er schwitzte jetzt stark und wischte sich die Stirn und seine Wangen ab.

»Hm … puh! Uff! Oje! Verzeih, Lewis, ich … ich, mir fiel nur eben ein, dass ich … dass ich einen Kessel mit kochendem Wasser auf dem Herd vergessen habe. Ich gerate jedes Mal völlig aus dem Häuschen, wenn mir etwas einfällt, was ich vergessen habe … oder andersrum. Der Boden von dem Kessel dürfte hin sein. Komm jetzt, lass uns weitergehn.«

Lewis sah seinen Onkel ungläubig an, sagte aber nichts. Zusammen machten die beiden sich auf den Weg.

Sie verließen die hell erleuchtete Hauptstraße, und nach kurzer Zeit marschierten sie eine lange, von Bäumen eingerahmte Promenade entlang, die Mansion Street. Die überhängenden Äste verwandelten die Mansion Street in einen langen, raschelnden Tunnel. In der Ferne sah man helle Flecke vom Licht vieler Laternen und Lampen. Während sie weitergingen, erkundigte sich Jonathan nach Lewis’ Schulnoten und ob er wüsste, was für eine Schlagquote der Baseballspieler George Kell in diesem Jahr hätte. Er machte ihm klar, dass er nun, da er in Michigan lebte, ein Anhänger der Tigers werden müsse. Jonathan beklagte sich zwar nicht mehr über den Koffer, blieb jedoch in regelmäßigen Abständen stehen und schüttelte seine Hand aus, die schon ganz rot war.

Lewis kam es vor, als ob Jonathan in den dunklen Abständen zwischen den Straßenlaternen viel lauter sprach als sonst, aber warum er das tat, blieb ihm ein Rätsel. Erwachsene hatten doch eigentlich keine Angst im Dunkeln,und außerdem befanden sie sich auch auf keiner einsamen Straße. In den meisten Häusern brannte Licht, und Lewis konnte hören, wie die Leute drinnen lachten, erzählten und Türen schlugen. Sein Onkel war zweifellos ein seltsamer Mensch, aber irgendwie auf gute Weise seltsam.

An der Ecke Mansion und High Street blieb Jonathan stehen. Er stellte den Koffer ab vor einem Briefkasten mit der Aufschrift NUR FÜR BRIEFPOST. »Da oben wohne ich, auf dem Hügel«, sagte Jonathan und wies hinauf.

High Street war genau der richtige Name. Es ging hinauf, immer höher, in leicht gebeugter Haltung kämpften sie sich mühsam vorwärts. Lewis fragte Jonathan mehrmals, ob er ihm nicht den Koffer abnehmen solle, doch jedes Mal antwortete Jonathan: »Nein, danke, es geht schon.« Lewis begann sich Vorwürfe zu machen, dass er all seine Bücher und die ganzen Bleisoldaten eingepackt hatte.

Als sie oben auf dem Hügel angelangt waren, stellte Jonathan den Koffer ab, holte ein buntes Taschentuch hervor und wischte sich über das Gesicht.

»Tja, da sind wir also, Lewis. Barnavelt’s Folly. Gefällt’s dir?«

Lewis sah sich um.

Er sah ein dreistöckiges steinernes Herrenhaus mit einem hohen Turm an der Vorderfront. Das ganze Haus war erleuchtet, im Erdgeschoss, im ersten Stock und im Dachgeschoss. Sogar das kleine ovale Fenster, das wie ein Auge zwischen den Schindeln oben am Turm hervorlugte. Im Vorhof wuchs eine riesige Kastanie, deren Blätter im warmen Sommerwind rauschten.

Jonathan stand breitbeinig da, die Hände auf dem Rücken verschränkt, und fragte noch einmal: »Gefällt’s dir hier, Lewis?«

»Super, Onkel Jonathan! Ich hab mir schon immer gewünscht, einmal in so einem Haus zu wohnen, das ist doch ganz bestimmt sehr alt, oder?«

Lewis ging zu dem verschnörkelten Zaun und berührte eine der eisernen Kugeln, die in regelmäßigen Abständen oben zur Zierde angebracht waren. Er starrte auf das Schild mit der Nummer 100, das rot beleuchtet war.

»Ist es auch wirklich da, Onkel Jonathan? Ich meine, das Haus …«

Jonathan beobachtete ihn mit einem seltsamen Ausdruck. »Ja … ja … ja, natürlich ist es wirklich da. Lass uns hineingehen.«

Jonathan hob die Schlaufe aus Schnürsenkel, die als Türriegel diente.

Das Tor öffnete sich quietschend, und Lewis lief die Auffahrt hinauf. Jonathan folgte dicht hinter ihm mit dem Koffer. Sie stiegen die Freitreppe empor. Die Vorhalle war zwar dunkel, aber ganz hinten war ein Licht zu sehen. Jonathan setzte den Koffer ab und legte Lewis seinen Arm um die Schultern.

»Na los. Gehn wir hinein. Du brauchst nicht schüchtern zu sein. Du bist ja jetzt hier zu Hause.«

Lewis durchquerte die weite Eingangshalle. Sie kam ihm schier endlos vor. Am anderen Ende gelangte er in einen Raum, der in einem warmen gelblichen Licht erstrahlte. An den Wänden hingen Bilder in schweren Goldrahmen, der Kaminsims war mit Krimskrams vollgestellt, und in der Mitte des Raumes stand ein großer, runder Tisch. Drüben in der Ecke presste eine grauhaarige Frau in einem sackartigen purpurnen Kleid ihr Ohr an die Wand und lauschte.

Lewis blieb stehen und starrte sie an. Es kam ihm vor, als hätte er jemanden dabei ertappt, wie er etwas Verbotenes tat. Er dachte eigentlich, dass er und Jonathan beim Hereinkommen ganz schön viel Lärm gemacht hätten, aber ganz offensichtlich war die Dame, wer immer sie auch sein mochte, von seinem Eintreten überrascht worden. Überrascht und verlegen wirkte sie, genau wie er.

Jetzt richtete sie sich auf, strich ihr Kleid glatt und sagte herzlich: »Hallo. Ich bin Mrs. Zimmermann. Ich wohne gleich nebenan.«

Ein von so vielen Falten durchzogenes Gesicht hatte Lewis noch nie in seinem Leben gesehen, aber die Augen blickten ihn freundlich an, und all die Falten waren bei genauerem Hinsehen eher Lachfältchen. Sie gaben sich die Hand.

»Das ist Lewis, Florence«, sagte Jonathan. »Du erinnerst dich doch, Charlie schrieb mir seinetwegen. Zur Abwechslung war der Bus mal pünktlich. Wahrscheinlich haben sie dem Fahrer ordentlich Alkohol verpasst. Hey! Hast du mir etwa Münzen geklaut?«

Jonathan ging zum Tisch hinüber. Jetzt erkannte Lewis, dass das rotkarierte Tischtuch über und über mit Haufen und Säulen von Münzen bedeckt war, alle Sorten von Münzen, die meisten von ihnen ausländische. Arabische Münzen mit einem Loch in der Mitte und mit lauter Pfadfinderabzeichen drum herum und ein Stapel dunkelbrauner Kupfermünzen, auf denen ein glatzköpfiger Mann mit einem an den Enden nach oben gedrehten Schnurrbart aufgeprägt war. Es gab große, schwere, englische Pennies, die Königin Victoria in ganz unterschiedlichen Porträts zeigten, und es gab winzige silberne Münzen, die nicht dicker als ein Fingernagel waren. Er sah einen eiförmigen mexikanischen Silberdollar und eine echte römische Münze, die grün angelaufen war. Aber die meisten waren in goldschimmernden Stapeln aufgetürmte Messingmünzen mit dem Aufdruck Bon Pour Un Franc. Lewis fand den Spruch lustig, und weil er kein Französisch konnte, verdrehte er ihn in seinem Kopf so lange, bis Bonjour One Frank herauskam.

»Nein, ich hab nicht einen einzigen von deinen heißgeliebten Klimpergroschen gemopst«, sagte Mrs. Zimmermann mit leicht gereizter Stimme. »Ich hab nur gerade die Stapel wieder geordnet. Okay, Zauberbart?«

»Die Stapel geordnet. Das kommt mir doch irgendwie bekannt vor, du alte Hexe. Aber ist ja auch egal. Wir müssen die Münzen sowieso in drei Portionen teilen. Du kannst doch pokern, Lewis, oder?«

»Ja schon, aber mein Vater wollte …« Er konnte nicht weitersprechen. Jonathan sah Tränen in seinen Augen. Lewis schluckte den Schluchzer hinunter und fuhr fort: »Mein Vater wollte nicht, dass ich um Geld spiele.«

»Oh, wir spielen ja auch nicht um Geld«, sagte Mrs. Zimmermann und lachte. »Wenn wir das täten, dann würde das ganze Haus hier mit allem Drum und Dran schon längst mir gehören.«

»Verdammt, das stimmt leider«, sagte Jonathan, sammelte die Karten zusammen und stieß wolkenweise Rauch aus seiner Pfeife. »Verdammt, das stimmt wirklich. Hast du sie schön sortiert, du Wachtel, du? Nein? Na, wenn du endlich fertig bist, dann können wir auslosen, wer gibt, und ich gebe sowieso zuerst. Das ist nun mal kein Spiel für kleine Mädchen wie Topfschlagen oder Blindekuh … ein einfaches, klares Fünferblatt. Nichts dabei.« Er paffte weiter vor sich hin und wollte gerade anfangen zu geben, als sein pfiffiger Blick auf Mrs. Zimmermann fiel.

»Ach ja«, sagte er, »eigentlich könntest du Lewis ein Glas Eistee bringen und meins gleich nachfüllen. Ohne Zucker. Und bring auch noch einen Teller mit Schokoladenkeksen mit.«

Mrs. Zimmermann erhob sich und faltete ihre Hände unterwürfig: »Wie wünschen der Herr die Kekse? Eines nach dem andern in den Hals gestopft oder zerbröselt in den werten Kragen?«

Jonathan streckte ihr die Zunge heraus. »Kümmere dich nicht um sie, Lewis. Sie glaubt, sie kann’s sich leisten, weil sie am College ein bisschen erfolgreicher war als ich.«

»Leisten kann ich’s mir so oder so, du Einfaltspinsel. Entschuldigt mich einen Moment.« Sie drehte sich um und ging in die Küche.

Jonathan verteilte derweil mit geübter Hand die Karten. Als Lewis seine nahm, sah er, dass sie alt und abgegriffen waren. Bei den meisten fehlten die Ecken. Auf den verblichenen blauen Rückseiten war jeweils ein rundes goldenes Wappen mit Aladins Wunderlampe in der Mitte zu erkennen. Und über und unter dem Wappen standen die Wörter:

CAPHARNAUM COUNTY

MAGISCHER ZIRKEL

Mrs. Zimmermann kam zurück mit den Keksen und dem Eistee, und das Spiel fing an. Jonathan nahm die Karten auf, mischte sie drdrdrdrdr! wie ein Profispieler und begann, sie zu verteilen. Lewis schlürfte seinen Tee und fühlte sich sehr wohl und ganz wie zu Hause.

Sie spielten bis Mitternacht, bis Lewis nur noch rote und schwarze Kreise vor seinen Augen sah. Pfeifenqualm hing in dicken Schwaden über dem Tisch und stieg wie eine Säule aus dem Schatten der Bodenlampe empor, die dadurch genauso magisch aussah wie die Wunderlampe auf den Spielkarten. Und noch etwas war magisch an dem Spiel. Lewis gewann. Er gewann sehr, sehr oft. Normalerweise hatte er immer nur Pech, aber in diesem Spiel bekam er Straight Flushes, Royal Flushes und vier von einer Sorte, nicht immer, aber eben doch oft genug.

Vielleicht lag es ja daran, dass Jonathan so ein lausiger Pokerspieler war. Mrs. Zimmermann hatte schon recht mit dem, was sie gesagt hatte. Immer, wenn Jonathan mal ein gutes Blatt hatte, schnaufte und kicherte er fröhlich vor sich hin und blies Rauchwolken aus beiden Mundwinkeln, und wenn er ein schlechtes Blatt hatte, kaute und saugte er ungeduldig an seiner Pfeife herum. Mrs. Zimmermann war eine gerissene Spielerin, die jeden mit zwei lumpigen Karos unter den Tisch bluffen konnte, aber an diesem Abend bekam sie einfach nicht die richtigen Karten. Vielleicht war das der Grund für Lewis’ Glückssträhne. Vielleicht. Aber er hatte da seine Bedenken.

Denn zum einen hätte er schwören können, dass ein- oder zweimal, als er nach einer ausgeteilten Karte griff, diese sich verwandelt hatte. Sie verwandelte sich einfach so, während er sie nahm. Das passierte nie, wenn Lewis mit dem Geben dran war, sondern eben nur, wenn Jonathan oder Mrs. Zimmermann austeilten. Und zum anderen war er mehr als einmal drauf und dran gewesen zu passen, als er – auf den zweiten Blick – sah, dass er doch ein gutes Blatt hielt. Das war sehr seltsam.

Die Kaminuhr räusperte sich mit einem Wrrrimm und schlug dann Mitternacht.

Lewis warf Jonathan, der ganz ruhig dasaß und seine Pfeife schmauchte, einen schnellen Blick zu. War er wirklich so ruhig? Auf irgendwas schien er zu lauschen.

Dann fielen all die anderen Uhren im Haus mit ein. Lewis saß da wie in Trance und lauschte schrillen Schlägen, blechernen Schlägen, melodiösen elektrischen Türklingelklängen, dem Kuckuck Kuckuck von Kuckucksuhren und dem tiefen und finster klingenden Baoouung Baoouung! eines dröhnenden chinesischen Gongs. Diese und noch viele andere Uhren mehr klangen durch das ganze Haus und hin und wieder während dieses Konzertes sah Lewis seinen Onkel Jonathan an, doch der erwiderte die Blicke nicht. Er starrte gegen die Wand, und wieder hatten seine Augen diesen glasigen Ausdruck. Mrs. Zimmermann saß einfach nur da und hatte ihren Blick auf das Tischtuch geheftet.

Die letzte Uhr, die schlug, war die alte Standuhr im Arbeitszimmer. Sie lärmte, als klapperte eine Schiffsladung voller Eisenplatten langsam aber sicher eine lange Treppe hinab. Als sie aufgehört hatte zu schlagen, schaute Jonathan auf.

»Hm, ja. Wo waren wir doch gerade? Tja, Lewis, wir haben Mitternacht, nicht wahr? Das Spiel ist aus. Es ist Zeit, ins Bett zu gehen.«

Jonathan räumte fast unwirsch den Tisch ab. Er sammelte die Karten ein, stapelte sie aufeinander und steckte das Spiel unter ein Gummiband. Schnapp! Dann langte er unter den Tisch und holte eine rote Keksdose hervor, auf deren Deckel ein Bild des Gerichtsgebäudes von New Zebeedee zu sehen war. Er schob mit der Hand die klimpernden Münzen in die Dose, drückte den Deckel fest drauf, stieß seinen Stuhl zurück, klopfte seine Pfeife in einer Untertasse aus und faltete die Hände im Schoß.

»So, und wie gefällt dir denn nun die High Street Nummer 100, Lewis?«

»Ich find’s einfach toll, Onkel Jonathan. Ich mag das Haus, ich mag die Stadt, und euch beide hab ich auch furchtbar gern.«

Lewis hatte nicht gelogen. Obwohl sich Onkel Jonathan durchaus etwas komisch benahm und Mrs. Zimmermann gerne andere zu belauschen schien, hatte der erste Abend in New Zebeedee ihm eine Menge Spaß gemacht. Fast den ganzen Abend über hatte er sich ganz schön Mühe gegeben, vor Begeisterung nicht dauernd auf seinem Stuhl auf und ab zu hüpfen. Man hatte ihm eingeschärft, dass sich so etwas in Gesellschaft nicht gehöre.

Jonathan trug Lewis den Koffer nach oben und Lewis betrat zum ersten Mal sein neues Zimmer. Da stand ein großes schwarzes Bett mit hölzernen Verzierungen an Kopf- und Fußende. In der Ecke war ein schwarz umrahmter Spiegel zu erkennen, der genau zu dem Bett passte, und daneben befand sich ein schwarzmarmorner Kamin, auf dem eine sargähnliche schwarze Uhr stand. Ein hoher verglaster Bücherschrank nahm die ganze Höhe und Breite einer Wand ein und obendrauf stand eine Vase mit Schachtelhalm. In der Mitte des Zimmers lag ein großer gemusterter Teppich auf dem Boden; das Muster erinnerte Lewis an eine Karte der Vereinigten Staaten, allerdings eine, die ein Verrückter gezeichnet haben musste. Manchen Kindern wären die vielen dunklen Möbel in diesem alten Raum gewiss unheimlich gewesen, aber Lewis gefielen sie. So etwa, stellte er sich vor, könnte das Schlafzimmer von Sherlock Holmes auch ausgesehen haben.

Lewis zog seinen Schlafanzug an, nahm Bademantel und Hausschuhe und schlurfte den Flur hinunter zum Badezimmer. Als er zurückkam, sah er, dass Jonathan gerade ein Feuer im Kamin entzündet hatte.

Jonathan erhob sich und wischte ein paar Zweige von seiner Weste. »Ah, Lewis, da bist du ja! Brauchst du sonst noch was?«

»Ach was, nein, Onkel Jonathan, bestimmt nicht. Das ist aber ein tolles Zimmer. Ich hab mir schon immer ein Zimmer mit Kamin gewünscht.«

Jonathan lächelte. Er ging hinüber zum Nachttisch und knipste die Leselampe an. »Heute kannst du lesen, solange du willst, Lewis. Die Schule fängt ja sowieso erst in drei Wochen an.«

»Nach dem vielen Gepoker werde ich wohl nicht mehr lesen«, sagte Lewis und gähnte. »Aber trotzdem, vielen Dank für alles. Gute Nacht, Onkel Jonathan.«

»Gute Nacht, Lewis.«

Gerade wollte Jonathan die Tür schließen, da drehte er sich doch noch einmal um: »Ach, übrigens, Lewis. Ich hoffe doch, dass all diese vielen Uhren dich nicht beim Schlafen stören werden. Sie sind schon ein bisschen laut, aber … na ja, ich mag sie halt. Gute Nacht.« Er schloss die Tür hinter sich.

Lewis legte verwirrt die Stirn in Falten. Irgendetwas ging hier vor in diesem Haus, aber er hätte noch nicht sagen können, was. Er erinnerte sich an Jonathan, wie er beim Klang der Kirchturmuhr völlig gelähmt dastand; er erinnerte sich an Mrs. Zimmermann, die an der Wand lauschte. Irgendetwas war seltsam.

Aber na ja, dachte er schulterzuckend, es gibt eben auch komische Leute. Lewis stieg ins Bett und löschte das Licht. Ein paar Minuten später machte er es wieder an. Ihm wurde klar, dass er noch immer aufgeregt und hellwach war.

Er stieg aus dem Bett und ging zu dem etwas wacklig dreinschauenden Bambusregal hinüber, das sich neben dem Wandschrank befand. Was für eine Masse alter verstaubter Bücher! Er zog eins heraus und wischte den Staub mit seinem Ärmel ab. In vergilbten Goldbuchstaben stand auf dem schwarzen Leineneinband zu lesen:

John L. Stoddards

Vorlesungen

BAND IX

Schottland

England

London

Lewis schlug das Buch auf und tauchte in die glatten, glänzenden Seiten hinein. Er hielt das Buch an seine Nase. Es roch nach Old-Spice-Talkumpuder. Lewis liebte es, in Büchern zu lesen, die so rochen. Er warf das Buch auf sein Bett und ging an seinen Koffer; nachdem er eine Weile darin herumgewühlt hatte, beförderte er eine schmale Schachtel mit schokoüberzogenen Pfefferminz-Dragees zutage. Er aß gern Süßigkeiten beim Lesen, und so manches unter seinen Lieblingsbüchern wies statt Eselsohren braune Flecken auf.