Das Haus der Lügen - Trude Teige - E-Book
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Das Haus der Lügen E-Book

Trude Teige

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Beschreibung

Knochenfund in der norwegischen Nordmarka.

Die Journalistin Kajsa Coren dreht einen Dokumentarfilm über ihre Studienfreundin Anki, die kürzlich zurück in ihr Elternhaus in Oslo gezogen ist und behauptet, in ihrem eigenen Bett vergewaltigt worden zu sein. Kein Nachbar hat etwas von einem Eindringling mitbekommen. Als sich weitere Fälle nach demselben Muster ereignen, steht fest: Ein Serientäter treibt sein Unwesen. Doch was hat all das mit dem Fund menschlicher Überreste in einem Waldgebiet zu tun? Als Kajsa auf erste Antworten stößt, verschwindet Anki plötzlich spurlos ... 

Scandi-Crime von der Spiegel-Bestseller-Autorin von »Als Großmutter im Regen tanzte«.

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Seitenzahl: 289

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Über das Buch

Als Anki Ulstein in ihrem Haus in Røa von einem Unbekannten vergewaltigt wird, nimmt sich die Journalistin Kajsa Coren der Geschichte ihrer ehemaligen Studienfreundin an. Doch in Kajsas Dokumentarfilm soll es um mehr gehen als das, was Anki in jener Nacht passiert ist. Während die Polizei Zweifel an den Behauptungen des Opfers hat, zieht Kajsa andere Schlüsse aus dem Arsenal an Medikamenten, die sie in Ankis Badezimmer findet. Denn da ist noch das zerrissene Familienfoto, aus dem Ankis Mutter herausgetrennt wurde. Aber was hat der Fall Anki mit dem Fund menschlicher Knochen in der Nordmarka zu tun? Um die Wahrheit herauszufinden, muss Kajsa tief in Ankis Vergangenheit eintauchen – und sieht sich mit einem unaussprechlichen Verbrechen konfrontiert.

Über Trude Teige

Trude Teige, Jahrgang 1960, ist eine bekannte Journalistin und gehört zu den erfolgreichsten Kriminalautorinnen Norwegens.

Im Aufbau Taschenbuch liegen bisher folgende Kriminalromane mit Kajsa Coren vor: »Totensommer«, »Das Mädchen, das schwieg«, »Die Frau, die verschwand« und »Der Mann, der nicht vergessen konnte«.

Gabriele Haefs übersetzt aus dem Schwedischen, Norwegischen, Dänischen, Englischen, Niederländischen und Irischen. Sie hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, darunter den norwegischen Ritterorden 1. Klasse. Sie lebt in Hamburg.

Andreas Brunstermann übersetzt Romane und Sachbücher aus dem Norwegischen und Englischen. Er lebt in Berlin.

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Trude Teige

Das Haus der Lügen

Ein Norwegen-Krimi

Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs und Andreas Brunstermann

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Kapitel 1

Nacht auf Samstag, den 30. Oktober

Kapitel 2

Kapitel 3

Sonntag, 31. Oktober

Kapitel 4

Montag, 1. November

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Dienstag, 2. November

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Mittwoch, 3. November

Kapitel 24

Freitag, 5. November

Kapitel 25

Kapitel 26

Nacht auf Samstag, den 6. November

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Montag, 8. November

Kapitel 30

Dienstag, 9. November

Kapitel 31

Mittwoch, 10. November

Kapitel 32

Donnerstag, 11. November

Kapitel 33

Nacht auf Freitag, den 12. November

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Montag, 15. November

Kapitel 37

Kapitel 38

Dienstag, 16. November

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Mittwoch, 17. November

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Donnerstag, 18. November

Kapitel 46

Freitag, 19. November

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Montag, 22. November

Kapitel 50

Kapitel 51

Dienstag, 23. November

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Mittwoch, 24. November

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Fünf Tage später

Kapitel 71

Fernsehnachrichten, sechs Monate später

Impressum

Wer von diesem Kriminalroman begeistert ist, liest auch ...

1

Nacht auf Samstag, den 30. Oktober

Ruth Bakke saß im Dunkeln am Küchenfenster und spähte hinaus. Herrje, wie leid sie es doch war, hier oben zu sitzen und zu warten. Konnte er nicht bald kommen?

Ein Auto mit Anhänger kam die Straße heruntergefahren und bog auf das Nachbargrundstück ein.

Wie seltsam, dachte sie, dass Nielsen, der doch Taxifahrer ist, mit seinem Anhänger zu allen möglichen Zeiten rein- und rausfährt.

Nielsen hatte gerade den Wagen abgestellt, als Ruths Blick auf eine Nachbarin fiel. Wie sie wusste, hieß die Frau Anki Ulstein, aber sie hatte noch nie mit ihr gesprochen. Die Nachbarin war erst vor sechs Monaten in das schäbige Haus auf der anderen Straßenseite gezogen. Jetzt stand sie vor der Haustür und kramte in ihrer Handtasche.

Sie findet den Schlüssel nicht. Die Außenlampe ist nicht eingeschaltet, vermutlich sieht sie nichts. Ist sie betrunken?, überlegte Ruth. Ja, ich glaube, das ist sie, sie wirkt wackelig auf den Beinen, war wohl wieder mal in der Stadt. Tja, so was kann man halt machen, wenn’s keinen Mann und keine Kinder gibt, die etwas von einem verlangen.

Ruth beugte sich vor und entdeckte Nielsen, wie war noch gleich sein Vorname? Er war gar nicht zu sich hineingegangen, sondern stand hinter der Hecke am Zaun und sah zu Anki Ulstein hinüber. Ruth Bakkes Blick wanderte zwischen den beiden hin und her. Jetzt hatte Anki offenbar den Schlüssel gefunden. Sie schloss die Tür auf und ging ins Haus, und sofort verschwand auch Nielsen. Morten hieß er, ja. Morten Nielsen.

*

Er stand im Schatten eines Ahorns und verfolgte ihre Bewegungen im Haus. Es regnete leicht, ein kalter Windhauch ließ die Blätter am Baum rascheln und trug den Geruch von Herbst heran: eine Mischung aus Erde und verrottetem Gras. Erst ging sie in die Küche, das Fenster lag neben dem Eingangsbereich, aber das Licht wurde nach kurzer Zeit wieder gelöscht, als sei sie nur hineingegangen, um sich ein Glas Wasser zu holen. Er bewegte sich langsam, blieb in der Dunkelheit am Rande des Rasens, ging an einem kleinen künstlichen Teich vorbei, der mit Blumen gesäumt war. Für ein paar Minuten war das Licht im Badezimmer eingeschaltet, dann kam ihre Silhouette am Schlafzimmerfenster zum Vorschein, wo sie die Jalousie herunterließ. Nicht lange darauf verschwanden auch die schwachen Lichtstreifen an der Seite des Fensters, und der größte Teil des Hauses lag im Dunkeln. Er sah auf die Uhr, es war zehn nach eins.

Gemächlich trat er zurück in den Schatten unter dem Baum, lehnte sich an den Stamm und verharrte zwanzig Minuten reglos, ehe er dünne Plastikhandschuhe, Überschuhe und eine Skimaske aus dem Rucksack nahm.

Während er sich aufmerksam umsah, ging er auf die Vortreppe zu und betrat die Terrasse. Nur das schwache Rauschen des nicht weit entfernten Flusses war zu hören. Er nahm einen Dietrich aus der Tasche, und einen Moment später befand er sich im Innern des Hauses. Vom Wohnzimmer trat er in den Gang, blieb reglos stehen. Eine Tür dort war angelehnt, er lauschte ein paar Sekunden, und schob sie dann auf. Das Zimmer war dunkel. Er hörte ihren gleichmäßigen Atem. Ging dicht an das Bett heran und betrachtete sie im schwachen Licht, das vom Gang hereindrang. Dann atmete er geräuschlos ein und schnell wieder aus, ehe er ihr den Mund zuhielt.

*

Ruth Bakke ging ins Bad, putzte sich die Zähne, wusch sich das Gesicht mit einem heißen Waschlappen und trug ihre Feuchtigkeitscreme auf, ehe sie in ihr Nachthemd schlüpfte. Es war neu, schwarz mit weißer Schrift: Today I will be amazing, but first coffee. Mit schnellen, kräftigen Bewegungen bürstete sie ihr graues Haar, ging dann erneut in die Küche, setzte Wasser auf, nahm mit einer Tasse Tee an dem Tisch vor dem Fenster Platz und spähte über den Rand der Scheibengardine, derweil sie wartete. Kam er nicht bald?

Die Uhr an der Küchenwand zeigte zehn nach zwei. Bei Anki Ulstein war nur ein wenig Licht im Gang zu sehen. Aber was war denn das? Sie riss die Augen auf und starrte hinaus. Eine Gestalt lief über den Rasen. Sie verschwand genauso schnell, wie sie aufgetaucht war. Das musste der Mann sein, den sie dort schon einmal gesehen hatte. Ruth Bakke trank langsam ihren Tee und verspürte einen Hauch von schlechtem Gewissen, weil sie Anki Ulstein nicht erzählt hatte, wer dort schon zweimal in ihrem Garten gewesen war. Aber das musste warten, sie wollte sich in die Angelegenheiten der Nachbarn nicht weiter einmischen. Jedenfalls nicht jetzt. Sie könnte es vielleicht später erzählen, mal sehen.

Im selben Moment hörte sie jemanden an der Haustür. Sie stand auf und blickte in den Gang. »Du bist ja reichlich spät«, sagte sie. »Du weißt doch, dass ich nicht schlafen kann, bevor du nach Hause kommst. Wo hast du dich denn rumgetrieben?«

2

Der Anruf ging Freitagnacht um fünf nach halb drei ein. Er kam von der zentralen Notaufnahme in Oslo. Eine Frau präsentierte sich als Sozialarbeiterin und fragte, ob sie Anki Ulstein kenne. Kajsa Coren war sofort hellwach. Anki? Das war lange her, dachte sie und bejahte die Frage. »Was ist denn mit ihr? Ist etwas passiert?«

»Sie ist hier bei uns in der Notaufnahme und hat uns gebeten, Sie anzurufen und zu fragen, ob Sie herkommen können.«

»Was macht sie denn da?«

Die Sozialarbeiterin ignorierte die Frage. »Können Sie ihr ein paar Sachen zum Anziehen mitbringen?«

»Okay, ich komme sofort.«

Kajsas Lebensgefährte Karsten Kjølås drehte sich um und sah sie schläfrig an.

»Wer war das?«, murmelte er.

Kajsa berichtete, was die Sozialarbeiterin gesagt hatte. »Aber sie hat nicht erzählt, wieso Anki in der Notaufnahme ist. Ihr muss irgendetwas zugestoßen sein, meinst du nicht?«

»Wenn sie nicht direkt ins Krankenhaus weitergeschickt wurde, ist es wohl nichts Ernstes.«

»Da hast du recht.«

»Aber wieso haben die dich angerufen? Das muss doch einige Jahre her sein, seit du sie zuletzt getroffen hast?«

Anki und Kajsa hatten sich vor fast zwanzig Jahren beim Journalismusstudium kennengelernt. Sie waren eine vierköpfige Mädchenclique gewesen, die sich eine Wohnung geteilt und in den drei Jahren zusammengehalten hatte. Danach waren sie in Kontakt geblieben, bis die meisten von ihnen vom Familienleben mit kleinen Kindern eingeholt und die Abstände zwischen den einzelnen Begegnungen immer länger wurden. Seit Kajsa vor fünf Jahren an Brustkrebs erkrankt war, hatte sie keine der anderen wiedergetroffen. Anki hatte als Einzige der Frauen keine Familie gegründet und war diejenige gewesen, mit der Kajsa am meisten Kontakt hatte, bis sie einen Engländer kennenlernte und etwa gleichzeitig mit Kajsas Erkrankung nach England zog.

»Die Frau am Telefon hat mich gebeten, ihr ein paar Sachen zum Anziehen mitzubringen«, sagte Kajsa. »Ist das nicht seltsam? Was ist denn mit ihren Sachen passiert?« Kajsa stellte die Füße auf den Boden und stand auf. »Ich sollte dann mal los.«

»Fahr vorsichtig«, sagte Karsten und gähnte.

Kajsa schlich langsam die Treppe hinunter, um die Kinder nicht zu wecken.

*

Kajsa meldete sich am Schalter der Notaufnahme und wurde unmittelbar in einen abgeschirmten Raum geführt. Anki saß auf einer Untersuchungsbank an der Wand, und zwei Frauen stellten sich als Ärztin und Krankenschwester vor. Anki trug eine graue Jogginghose und ein weißes T‑Shirt. Ihr rotes Haar war in Unordnung geraten, ein paar Strähnen hatten sich mit der Mascara verklebt, die ihr die Wangen heruntergelaufen war und an ausgetrocknete Bachläufe erinnerte. Mit ausgebreiteten Armen trat Kajsa auf sie zu, wurde aber von der Ärztin gewarnt. »Bitte keine Umarmung. Wir müssen sie erst untersuchen«, sagte sie. »Es ist gut, dass Sie kommen konnten«, fügte sie hinzu. »Anki wollte Sie gern als Unterstützung dabeihaben, während wir das Geschehnis durchgehen.«

Geschehnis, dachte Kajsa, das klang nüchtern und undramatisch.

Die Ärztin reichte Anki eine Schachtel Papiertücher. Sie wischte sich über die Augen und schnäuzte sich.

»Wir haben in solchen Situationen feste Abläufe«, sagte die Ärztin. »Wichtig ist, dass Sie ein paar Entscheidungen treffen müssen.« Ihr Blick wanderte von Anki zu Kajsa. »Es ist gut, jemanden bei sich zu haben, mitunter ist es schwierig, alles zu begreifen, was wir hier sagen. Ihre Freundin kann Ihnen helfen und Sie unterstützen.«

Kajsa nickte zustimmend.

Die Ärztin konzentrierte sich wieder auf Anki. »Sie können wählen, ob Sie nur untersucht werden wollen, oder ob Sie möchten, dass wir eine Spurensicherung vornehmen. Falls Sie die Vergewaltigung anzeigen möchten, ist das wichtig.«

Kajsa war der Gedanke schon gekommen, aber sobald die Ärztin das Wort benutzt hatte, fühlte sich alles anders an. Realer und schrecklicher. Anki stierte mit leerem Blick vor sich hin.

»Anki, willst du Anzeige erstatten?«, fragte Kajsa.

»Was?« Anki wirkte verwirrt. »Ich weiß nicht.«

»Ich finde, du solltest das tun.«

»Ja … okay.«

»Dann führen wir eine medizinische Untersuchung mit Spurensicherung durch«, sagte die Ärztin. »Sie haben ausgesagt, dass Sie sich nur an wenig erinnern, das ist völlig normal, aber Sie glauben, dass er Handschuhe trug?«

Anki nickte. »Ja, Handschuhe und Skimaske.«

»Hat es sich um einen abgeschlossenen Geschlechtsakt gehandelt?«

»Ja.«

»Hat er ein Kondom benutzt?«

»Ja … ich glaube schon.«

»Vaginal, anal oder beides?«

»Vaginal.«

»Gibt es Stellen an Ihrem Körper, wo er Ihrer Meinung nach Spuren hinterlassen haben kann? Sperma, Speichel, Haut, Blut?«

»Nein … ich weiß nicht, und außerdem … ich habe gebadet.«

»Gebadet?«, sagte die Ärztin und runzelte die Stirn.

»Er hat mich gezwungen, danach zu baden.«

Sie wurde vergewaltigt und dann gebadet?, dachte Kajsa.

»Sind Sie auf der Toilette gewesen?«, fuhr die Ärztin fort.

»Ja.«

»Dann gehen wir hier hinein«, sagte die Ärztin und betrat einen Raum nebenan. Dort gab es einen Untersuchungsstuhl. Anki setzte sich auf die Kante, und die Ärztin erklärte, was jetzt geschehen würde. Ziel war es, eventuelle DNA-Spuren zu sichern, Verletzungen an Ankis Körper zu dokumentieren, sie auf Geschlechtskrankheiten zu untersuchen und herauszufinden, ob sie unter Drogeneinfluss stand.

»Ich habe Wein getrunken«, sagte Anki.

»Uns interessiert mehr, ob Sie unter Drogen gesetzt wurden.«

Die Ärztin öffnete eine Schachtel. Kajsa sah, dass es sich um ein Untersuchungsset handelte.

»Ich habe ein paar Schmerzpillen genommen«, sagte Anki.

»Okay, gut, dass Sie das sagen.«

Die Krankenschwester half Anki, sich zu entkleiden, und legte alle Sachen in eine Papiertüte. Anki trug nur noch BH und Unterhose, als die Schwester ihr Blut abnahm, ihr ein Wattestäbchen in den Mund schob, ein anderes über ihre Lippen führte, ein weiteres über die Haut an Hals und Armen, und mit einem spitzen Holzstäbchen unter ihren Fingernägeln stocherte. Danach kämmte die Krankenschwester Ankis Haar, ehe diese die Unterwäsche ablegen und ebenfalls in eine Papiertüte legen musste. Sie war jetzt völlig nackt und schlug die Arme um den Oberkörper.

»Sie haben ihr etwas zum Anziehen mitgebracht?«, fragte die Krankenschwester und blickte Kajsa fragend an.

Kajsa nahm die Sachen hervor, und Anki konnte sie anziehen, jedoch nur am Oberkörper.

Als die Ärztin mit dem Stuhl heranrollte und sich zum Unterleib vorbeugte, fing Anki an zu weinen. »Kann ich ihre Hand halten?«, fragte Kajsa, und die Ärztin nickte. Anki drückte Kajsas Hand so fest, dass es wehtat. Ein paarmal gab sie einen tiefen, monotonen Laut von sich.

»Versuchen Sie, sich zu entspannen, atmen Sie in den Bauch hinein«, sagte die Ärztin und justierte die Beleuchtung. »Ich mache so schnell ich kann.«

In der Schachtel mit den Untersuchungsgeräten lag ein kleiner Kamm, und als die Ärztin anfing, Ankis Schamhaare zu kämmen, wandte Kajsa sich ab. Nach einer Weile sagte die Ärztin: »Jetzt nehme ich Proben, um eventuelle DNA-Spuren zu sichern, und ich überprüfe, ob Sie Verletzungen davongetragen haben. Ich teste Sie auch auf Geschlechtskrankheiten.«

Kajsa fand, dass es lange dauerte, bis die Ärztin schließlich fertig war. Behutsam streichelte sie Ankis Arm.

Endlich war die Untersuchung überstanden. Anki setzte sich auf, und Kajsa reichte ihr die restliche Kleidung. Die ganze Zeit weinte die Freundin still vor sich hin, und als sie angezogen war, fiel sie Kajsa in die Arme.

Eine Frau wartete im Büro nebenan. Es war die Sozialarbeiterin, die Kajsa angerufen hatte. »Sie haben jetzt das Recht auf Unterstützung durch eine psychiatrische Pflegekraft sowie kostenlose Beratung durch einen Rechtsanwalt«, sagte sie. »Wenn Sie möchten, können wir das für Sie organisieren. Wollen Sie das?«

»Ich weiß nicht …«

»Sie müssen sich nicht sofort entscheiden, wir können später darauf zurückkommen. Wir bewahren die Proben und Ihre Kleidung für drei Monate auf. Die beiden Polizeibeamten, die Sie hergebracht haben, sitzen draußen. Die wollen natürlich eine detailliertere Schilderung, aber die müssen Sie nicht sofort abgeben.«

Anki sah Kajsa an.

»Was soll ich machen?«

»Schaffst du es, mit denen zu reden?«

»Ich habe ihnen bereits alles gesagt, woran ich mich erinnere, mein Kopf ist völlig leer.«

»Viele können sich erst später an mehr erinnern«, sagte die Sozialarbeiterin. »Gleich im Anschluss ist alles chaotisch. Oft ist es gut, ein wenig zu warten, weil man die Dinge besser erläutern kann, wenn man etwas zur Ruhe gekommen ist.«

»Dann machst du das später«, sagte Kajsa. »Jetzt fahren wir erst mal zu uns nach Asker.«

»Danke«, flüsterte Anki.

*

Während sie nach Hause fuhren, warf Kajsa immer wieder kurze Blicke auf Anki, aber die Freundin saß schweigend da, hatte den Kopf ans Seitenfenster gelehnt und schaute hinaus.

Karsten war aufgestanden und wartete auf sie. Kajsa hatte ihm eine SMS geschickt und erklärt, was Anki zugestoßen war. »Was möchtest du gern? Kaffee, Tee, was Stärkeres?«, fragte er Anki.

»Habt ihr Whisky?«

Sie setzten sich ins Wohnzimmer. Anki strich sich über die Augen, ehe sie die Hände in die Ärmel der Strickjacke schob, die Kajsa ihr geliehen hatte. Kajsa blickte Karsten an, sie wusste, dass dies ein Fall war, der womöglich auf seinem Schreibtisch landen würde. Er war Kommissar in der Sektion für Mordermittlungen und Gewaltverbrechen bei der Polizei in Oslo.

»Bist du vernommen worden?«, fragte er.

»Nein, aber ich habe den beiden Polizisten das erzählt, woran ich mich erinnere.«

Karsten stand auf und ging aus dem Zimmer. Kajsa hörte ihn telefonieren.

»Bist du schon lange wieder in Norwegen?«, fragte Kajsa.

»Etwa ein halbes Jahr. Ich wohne in meinem Elternhaus in Røa.« Mit dem Jackenärmel wischte sie sich über die Augen.

»Es ist schon spät. Wir können gern morgen weiterreden, falls …«, begann Kajsa, aber Anki unterbrach sie. Sie wollte reden.

»Ich … ich wurde wach, weil ich nicht atmen konnte«, sagte sie. »Er stand über mich gebeugt und hat mich so festgehalten.« Sie legte sich eine Hand auf den Mund, die andere um den Hals.

»Er trug eine Skimaske und hat mir ein Messer an den Mund gehalten, um mich zum Schweigen zu bringen. Dann hat er mich auf den Bauch herumgedreht und … und …« Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen und weinte eine Zeit lang, ehe sie fortfuhr. »Es war ein Gefühl, als ob ich meinen Körper verlasse, als ob es nicht mit mir passierte. Ich war gar nicht da.«

Kajsa nickte. »Die Urinstinkte kommen zum Vorschein: Fight, flight or freeze.«

»Ich habe keine Ahnung, wie lange es gedauert hat, Minuten oder Stunden, ich weiß es nicht.« Anki fing abermals an zu weinen, sie schluchzte eine Weile vor sich hin und beruhigte sich dann wieder. »Tut mir leid«, schniefte sie, »so was sieht mir gar nicht ähnlich, ich …«

»Dir muss gar nichts leidtun, deine Reaktion ist völlig normal«, sagte Karsten von der Tür her. »Ich habe Frauen getroffen, denen ähnliche Dinge passiert sind, und auch wenn es im Augenblick undenkbar erscheint, so kommen doch irgendwann wieder gute Tage. Du bekommst jede erdenkliche Hilfe, um dir dein Leben zurückzuerobern. Ich weiß es, Anki, weil ich erlebt habe, dass es möglich ist.«

»Habt vielen Dank, dass ich hier bei euch sein kann.«

»Wegen meiner Arbeit kann ich nicht mit dir über die Geschehnisse reden, solange du hier bei uns wohnst«, sagte Karsten. »Meine Abteilung wird sich mit dem Fall beschäftigen. Ich möchte nur, dass du das weißt.«

»Okay.«

»Anders ist ausgezogen«, sagte Kajsa. »Er studiert in Oslo und teilt sich eine Wohnung mit ein paar Freunden. Du kannst in seinem Zimmer schlafen.«

Anki stand auf. »Danke, kann ich bei euch duschen?«

3

Sonntag, 31. Oktober

Er band sich die Schuhe zu, stand auf und betrachtete sich im Spiegel. Die Unruhe war verschwunden, er schlief nachts gut, erwachte nicht mit dem Gefühl von Händen, die über seinen Körper strichen, der flüsternden Stimme im Ohr, dem Geräusch von fließendem Wasser und dem Duft von Seife. Er war jetzt ganz ruhig. Viel zu lange hatte er es in sich eingekapselt. Dann war der Druck zu groß geworden, und alles war explodiert. Jedes Mal fühlte es sich so an; dass es unumgänglich war, ja absolut notwendig. Der Hass und die Scham mussten hinaus. Die Klaue um seinen Hals, der schnelle Puls und die bösen Träume – jetzt war alles wie weggeblasen. Als ob er eine Tür geöffnet hätte und an die frische Luft getreten wäre. Er zog die Mütze tief in die Stirn und lief in ruhigem Tempo los. Erst am Eingang zum Friedhof Vestre gravlund hielt er an. Langsam und zielbewusst ging er auf ein Grab zu, blieb lange stehen und betrachtete mit verbissenem Gesichtsausdruck den Grabstein. Um ihn herum befanden sich gepflegte Gräber, geschmückt mit grünem oder burgunderrotem Zierkohl, Purpurglöckchen und Heidekraut.

Auf diesem Grab gab es nur Gras und Unkraut, der Stein war verdreckt. Während er nach links und rechts spähte und einen Blick über die Schulter warf, knöpfte er langsam die Hose auf, öffnete dann den Reißverschluss und zog die Boxershorts herunter.

Der Urin traf auf den Grabstein und tropfte über den Namen der Frau, die 2011 hier begraben worden war, und die Inschrift darunter: Die Erinnerungen leben weiter fort.

Verflucht, das tun sie wirklich, dachte er und zog den Reißverschluss wieder hoch.

Dann joggte er ruhig weiter.

4

Montag, 1. November

Kriminalbeamtin Beth Ross hielt vor dem Zaun der grauen Villa in Ullevål Hageby an und drückte kurz auf die Hupe. Ein paar Sekunden später öffnete ihr Kollege Tom Lohne die Haustür. Er hob den Arm zum Gruß. Tom hatte vor einem halben Jahr in Beths Abteilung angefangen, und oft arbeiteten sie im Team. Seine Lebensgefährtin tauchte hinter ihm auf, er drehte sich um und gab ihr schnell einen Kuss.

»Guten Morgen«, sagte er munter, nachdem er sich in den Wagen gesetzt und den Sicherheitsgurt umgelegt hatte. »Vergewaltigung? Was weißt du?«

»Unbekannter Täter im Haus einer alleinstehenden Frau. Es handelt sich um ein Einfamilienhaus mit drei Eingängen: Haustür, Keller und Terrasse. Das Opfer hat ausgesagt, der Mann habe Handschuhe und eine Skimaske getragen. Er hat sie danach gebadet.«

»Das ist ja mal originell. Wer ist sie?«

»Sie heißt Anki Ulstein und ist eine Freundin der Lebensgefährtin vom Chef. Kajsa Coren.«

»Die Journalistin? Ist die mit Karsten Kjølås zusammen? Das wusste ich nicht.«

Beth bog vom Lerkevei in den Lerkestubb ab. Es handelte sich um eine schmale Straße, eine Sackgasse mit drei Häusern auf jeder Seite, die vermutlich alle um die gleiche Zeit erbaut worden waren. Typisch siebziger Jahre, dachte sie. Alle Häuser waren einstöckig, mit Walmdächern, großen Gärten und Souterrains, die zur Hälfte aus dem Boden herausragten. Herbstlich bunte Hecken trennten die Häuser voneinander. Aus einer Zeit, bevor die Thuja sich ausgebreitet hatte, dachte Beth. Vor der Nummer 3, dem mittleren Haus auf der rechten Seite, sah sie den Wagen der Kriminaltechniker. Sie hielt neben dem Zaun an. Als sie ausstiegen, klingelte Toms Telefon, und Beth blickte umher, ehe sie Wegwerfhandschuhe und Plastikpuschen überzog.

Das Haus war weiß gestrichen. Eine Schiefertreppe mit drei Stufen führte zu einem überdachten Eingangsbereich, der auf zwei runden, verzierten Säulen ruhte. Rechts und links neben der aus Mahagoni gefertigten Haustür gab es ein schmales hohes Fenster, auf der obersten Treppenstufe stand ein leerer blauer Blumentopf. Die Einfahrt war mit Kopfsteinpflaster ausgelegt, eine Doppelgarage bildete eine Verlängerung des Hauses zur einen Seite. Davor stand ein roter Toyota Corolla. Auf der anderen Seite des Eingangsbereichs lagen Steinplatten, die zu einer kleinen Treppe führten, über die man vom Rasen auf eine Terrasse gelangen konnte. Mitten im Garten stand ein großer Ahorn, dessen Blätter herbstlich verfärbt waren. Ein weißer Lattenzaun grenzte das Areal zur Straße hin ab. Beth ließ den Blick über die Fassade gleiten. Das Haus wirkte heruntergekommen, die weiße Farbe war an einigen Stellen schmutziggrau geworden. Sie legte den Mundschutz an und spähte zum Haus gegenüber. Ein halber Kopf ragte über den Rand der Scheibengardine am Küchenfenster, verschwand aber schnell wieder.

Aufgrund mangelnder Ressourcen hatten die Beamten, die in der Nacht zu Samstag ausgerückt waren, den Tatort bis auf Weiteres abgesperrt. Die am Wochenende diensthabenden Kriminaltechniker hatten mit einem verdächtigen Todesfall in Manglerud sowie einem Schusswechsel in Grünerløkka zu tun gehabt. Jetzt war Montag, und die beiden Techniker im Haus hatten bereits zwei Stunden gearbeitet.

Obwohl Anki Ulstein erst Anfang vierzig war, wirkte die Einrichtung des Hauses altmodisch. Im Gang gab es gelben Glasfaserbodenbelag in Fischgrätenmuster. In der Küche, die sich hinter der ersten Tür rechts befand, waren die Wände hellblau, und es gab abgenutzte weiße Küchenmöbel. Beth und Tom achteten darauf, nur auf das Papier zu treten, das die Kriminaltechniker ausgelegt hatten, und blickten ins Wohnzimmer hinein. Alle Möbel waren aus dunklem Holz. In der einen Ecke des Zimmers stand eine rote Sitzgruppe. Die Vorhänge waren blau, mit Zickzackmuster in Rot, Gelb und Grün. Eine Tür führte auf die Terrasse und den dahinterliegenden Rasen, es gab Ausblick auf ein Freigelände mit dichtem Gebüsch hinter einem Maschendrahtzaun.

Beth zeigte auf die Terrassentür. »Laut Aussage der Beamten, die hier in der Nacht auf Samstag waren, ist sie unverschlossen gewesen«, sagte sie.

Gleich gegenüber der Küche gab es einen Gang mit mehreren Türen. Beth rief, ob sie eintreten dürften. Gleich darauf kam ein Gesicht zum Vorschein. Es war Esther Wiik, eine ältere Kriminaltechnikerin mit fünfundzwanzig Jahren Erfahrung bei der Osloer Polizei. »Wir sind fast fertig«, sagte sie. »Aber ihr dürft noch nicht ins Schlafzimmer oder ins Bad gehen.«

Beth und Tom spähten zur Türöffnung hinein. Das Schlafzimmer war klein, es gab ein schmales Doppelbett, einen Nachttisch und einen eingebauten Kleiderschrank. An der Wand über dem Bett hing eine große Schwarz-Weiß-Fotografie von Marilyn Monroe. Erstaunlicherweise war dem Zimmer kaum anzusehen, dass die Kriminaltechniker hier gearbeitet hatten. Lediglich Laken sowie Kissen- und Bettbezug waren entfernt worden, an einigen Stellen war Fingerabdruckpulver zu sehen.

»Was habt ihr denn bis jetzt?«, fragte Beth.

»Wir haben ein paar Haare vom Bett sichern können. Es gibt weder Sperma noch Blut oder Speichel. Wir haben auch frische Fingerabdrücke gefunden, aber hauptsächlich an Stellen, wo sie sehr wahrscheinlich vom Opfer selbst stammen. Und es gibt keinerlei Einbruchspuren.«

»Seid ihr im Garten schon fertig?«

»Ja. Keine Fußabdrücke. Aber auf verdorrtem und trockenem Rasen sind die auch nicht leicht zu finden. Da drüben sind Steinplatten, die vom Eingangsbereich entlang der Hauswand zur Terrassentreppe führen, aber weder auf denen noch auf der Terrasse haben wir Spuren gefunden.«

Sie warfen einen Blick ins Badezimmer. »Was ist denn mit ihren Sachen? Was hat sie getragen?«, fragte Tom.

»Im Schlafzimmer war bloß ein T‑Shirt. Eine Unterhose haben wir nicht gefunden. Auch nicht bei der Schmutzwäsche oder in der Waschmaschine.«

»Sie hat gesagt, der Täter habe sie gebadet. War da Wasser in der Badewanne, als ihr gekommen seid?«, fragte Tom.

»Nein.«

Sie waren schon auf dem Weg nach draußen, als Esther ihnen nachrief. »Ich hab noch was vergessen. Der Medizinschrank ähnelt einer kleinen Apotheke.«

»Was für Medikamente hat sie da?«

»Clonazepam, das wirkt gegen Angst und Panikattacken. Trazodon, ein Antidepressivum, und schließlich noch OxyContin. Ein morphinähnliches Medikament gegen Schmerzen. Das kann extrem abhängig machen.«

5

Ruth Bakke saß am Küchentisch und beobachtete die Polizeibeamten, die bei Anki Ulstein ein- und ausgingen. Ihr Sohn Kjell, ein hochgewachsener dünner Mann Ende dreißig mit großem Gesicht und halblangen Haaren, saß ihr gegenüber und aß Fischfrikadellen in weißer Sauce mit Kartoffeln und Möhren.

»Ich frage mich, was passiert ist«, sagte sie. »Diese Leute mit ihren weißen Overalls und Schuhüberzügen sind immer noch beschäftigt. Sieh mal, da kommt noch ein Wagen.« Sie reckte den Hals. »Ein normales Auto, mit einem Mann und einer Frau. Die tragen keine Uniformen.«

»Ich mag keine Fischfrikadellen«, sagte Kjell.

»Vielleicht sind das ja andere Polizisten als die, die vorher hier waren. Solche, die nicht nach Spuren suchen, sondern mit den Leuten reden und herauszufinden versuchen, was passiert ist. Ich hoffe nur, dass sie nicht hierherkommen.«

Sie hob die Gabel an, aß aber nicht weiter. »Oh«, rief sie, »jetzt kommen sie.«

Gleich darauf klingelte es an der Tür.

»Wir warten«, sagte sie. »Vielleicht gehen sie ja wieder, ich will mit der Polizei nichts zu tun haben.«

Es klingelte erneut. Ruth Bakke blieb sitzen. Als es jedoch zum dritten Mal klingelte, erhob sie sich seufzend.

»Ich will nicht mit denen reden«, sagte Kjell.

»Aber nein, ich lass die schon nicht rein, das weißt du doch.«

Sie öffnete die Tür einen Spalt. »Ja?«, sagte sie und musterte das Paar vor der Tür.

Die Frau sah nicht nach einer Polizistin aus. Sie hatte rosa Haar, lange grüne Fingernägel und sehr viel Schwarz um die Augen. Der Mann war fast einen Kopf größer als sie. Er hatte dunkelblonde Locken, die er sich hinter die Ohren gestrichen hatte.

»Hallo«, sagte die Frau und lächelte, »wir sind von der Polizei.« Sie nannte ihrer beider Namen und zeigte ihren Dienstausweis vor, der um ihren Hals hing. Ruth beugte sich vor und tat so, als inspizierte sie ihn genau, obwohl sie ohne Lesebrille eigentlich nichts sah.

»Was ist denn passiert?«, fragte Ruth.

»Wie heißen Sie, bitte?«, fragte die Frau und lächelte freundlich.

»Ruth Bakke. Worum geht es denn?« Ihr entging nicht, dass der Polizist ihren Namen notierte.

»Wir untersuchen ein Vorkommnis bei Ihrer Nachbarin gegenüber. Wohnen Sie hier allein?«

»Nein, ich bin verheiratet, ich wohne mit meinem Mann zusammen, aber er ist krank und schläft gerade. Hat es einen Einbruch gegeben?«

»Wie heißt denn Ihr Mann?«

»Henrik Bakke.«

»Leben nur Sie beide hier?«

»Unser Sohn wohnt im Souterrain.«

»Ist er zu Hause?«

»Nein, er arbeitet.«

»Wo arbeitet er denn?«

»Beim Produktions- und Dienstleistungszentrum Oslo. Das ist ein geschützter Betrieb für Menschen, die Unterstützung im Arbeitsleben brauchen.«

»Wann wird er wieder hier sein?«

»Gegen vier oder fünf.«

»Und wie heißt er?«

»Kjell.«

»Kennen Sie Anki Ulstein, Ihre Nachbarin?«, fragte die Polizistin und deutete auf das Haus gegenüber.

»Nein. Sie ist vor einem halben Jahr hergezogen. Davor war das Haus viele Jahre an Studenten vermietet. Jede Menge Lärm und Partys.«

»Sind Sie Freitagabend und in der Nacht auf Samstag zu Hause gewesen?«

»Ja.«

»Haben Sie Anki Ulstein vielleicht gesehen?«

»Sie ist eine Minute nach eins zurückgekommen.«

»Woher wissen Sie das so genau?«, fragte die erstaunte Polizistin.

»Ich war auf, weil ich nicht schlafen konnte. Und als sie kam, habe ich auf die Wanduhr in der Küche gesehen. Die zeigte eine Minute nach eins.«

»Ist Ihnen irgendwas Ungewöhnliches aufgefallen?«

»Ich glaube, sie war betrunken, weil sie ziemlich lange in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel gesucht hat. Außerdem schien sie wackelig auf den Beinen zu sein. Aber das ist nichts Besonderes. Ich habe sie schon mehrmals spät nach Hause kommen sehen.«

»Haben Sie noch andere auf der Straße oder bei Anki Ulsteins Haus gesehen?«

»Nur Nielsen aus Nummer zwei. Er kam ungefähr zur selben Zeit wie sie, glaube ich. Er hatte einen Anhänger am Wagen. Der fährt damit ständig rein und raus. Wirklich seltsam.«

»Kann Ihr Mann vielleicht etwas gesehen haben?«

»Nein, an dem Abend ist er krank geworden. Er hat sich schon gegen zehn Uhr hingelegt.«

»Und Ihr Sohn, war der zu Hause?«

»Er war aus, kam aber lange vor Anki Ulstein zurück.«

»Wie spät war es, als er nach Hause gekommen ist?«

»Halb zwölf. Aber sagen Sie mal«, Ruth zeigte auf die andere Straßenseite, »was ist denn passiert?«

»Darüber kann ich leider nichts sagen«, erwiderte die Polizistin und bedankte sich für die Unterhaltung.

Der Polizist sagte kein Wort, schrieb nur auf, was sie sagte. Das war unangenehm.

Ruth Bakke kehrte in die Küche zurück. »Ich wüsste zu gern, was passiert ist«, sagte sie. »Was meinst du?«

»Keine Ahnung.«

»Du kennst Anki Ulstein doch gut, du hast sie ja häufiger besucht. Bist du nicht neugierig?«

Kjell Bakke stand auf und stellte den Teller ins Spülbecken, ohne etwas zu sagen.

»Ich habe gesagt, du bist nicht zu Hause, du musst also gar nicht mit denen sprechen. Und dann habe ich noch gesagt, dass du lange vor Anki nach Hause gekommen bist. Halb zwölf, hab ich gesagt. Vergiss das nicht, falls sie dich fragen sollten. Halb zwölf.«

6

Am Montagmorgen stand Kajsa wie üblich um Viertel vor sieben auf. Sie bereitete das Frühstück für Thea und Jonas, und nachdem die beiden zur Schule aufgebrochen waren, deckte sie den Tisch für Anki. Erst um zehn Uhr kam die Freundin herunter. »Wie fühlst du dich?«, fragte Kajsa.

»Nicht so gut.«

»Möchtest du nicht eine Kleinigkeit essen? Ich habe Eier gekocht.«

Anki legte ihren Fuß auf den Stuhl, dann zog sie das Knie zur Brust hin. »Danke, aber ich habe keinen Hunger.«

»Etwas Kaffee vielleicht?«

Anki nickte, und Kajsa füllte ihre Tasse. Ankis Hand zitterte, als sie die Tasse anhob. »Die werden ihn nicht schnappen«, sagte sie. »Das Wochenende ist vorbei, aber die Polizei hat nicht das Mindeste unternommen.«

Karsten hatte Anki erklärt, dass sich die kriminaltechnische Untersuchung verzögern würde, weil die Techniker alle Hände voll zu tun hatten, allerdings sei die Ermittlung in vollem Gang.

»Ich bin sicher, dass die Polizei …«

»Und er hat Handschuhe, eine Skimaske und ein Kondom benutzt«, unterbrach Anki. »Er hat mich sogar gewaschen, vermutlich um Spuren zu entfernen.«

Kajsa hielt es für besser, ihr nicht zu widersprechen. Schweigen breitete sich am Tisch aus. Sie blickte verstohlen zu Anki hinüber. Die Freundin war stets eine Frau gewesen, die man nicht übersah. Sie hatte immer etwas Graziles und Anmutiges ausgestrahlt mit ihrer hellen Haut, den Sommersprossen und den langen kupferroten Locken. Früher hatte sie ein runderes Gesicht gehabt, aber inzwischen waren ihre Grübchen zu zwei tiefen Falten geworden, sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, und ihre Mimik war statisch.

»Ich brauche meine Medikamente«, sagte Anki.

»Die Polizei führt bei dir zu Hause gerade Untersuchungen durch, das könnte also schwierig werden.«

»Ich habe meinem Arzt eine Nachricht geschickt, aber da können Tage vergehen, bevor ich etwas höre. Könntest du bitte in der Praxis anrufen und denen die Situation erläutern, ich schaffe das einfach nicht. Sag, dass ich neue Rezepte brauche. Ich muss noch heute an meine Tabletten herankommen. Kannst du das für mich machen?«

»Aber natürlich«, beeilte sich Kajsa zu sagen. »Du weißt doch, dass ich dir helfe.«

Anki nannte den Namen ihres Hausarztes. »Sobald das erledigt ist, musst du zur Apotheke fahren. Ich gebe dir eine Vollmacht, damit du die Medikamente ausgehändigt bekommst.«

Dann stand Anki auf und ging wieder nach oben.

Das Haus lag auf einer Anhöhe, Kajsa hatte Ausblick auf den Oslofjord. Dichter Nebel hatte sich über die See gelegt, aber auf der anderen Fjordseite war Nesodden zu erkennen. In der Nacht hatte es Frost gegeben, der große Apfelbaum vor dem Küchenfenster war mit Raureif überzogen. Noch immer hingen ein paar Äpfel an den nackten Ästen.