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Eine helfende Hand.
Fernsehjournalistin Kajsa Coren dreht einen Dokumentarfilm über ihre Mutter, als ihr Gerüchte über falsch verabreichte Medikamente und verdächtige Todesfälle in dem Pflegeheim, in dem auch Bibbi untergebracht ist, zu Ohren kommen. Als die Krankenschwester Ingrid brutal ermordet wird, richtet Kajsa ihre Kamera nicht mehr allein auf ihre Mutter. Was hat Ingrid über die plötzlichen Todesfälle im Heim gewusst – und war ihr genau dieses Wissen zum Verhängnis geworden? Kajsas Unruhe wächst, als ein zehnjähriger Junge vom Fußballplatz vor dem Pflegeheim spurlos verschwindet. Dabei ahnt sie nicht, wie nah ihr dieser Fall noch gehen wird …
Kajsa Corens zweiter Fall – ein packender Roman von der norwegischen Bestsellerautorin.
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Seitenzahl: 346
Die helfende Hand.
Fernsehjournalistin Kajsa Coren dreht einen Dokumentarfilm über ihre Mutter, als ihr Gerüchte über falsch verabreichte Medikamente und verdächtige Todesfälle in dem Pflegeheim, in dem auch Bibbi untergebracht ist, zu Ohren kommen. Als die Krankenschwester Ingrid brutal ermordet wird, richtet Kajsa ihre Kamera nicht mehr allein auf ihre Mutter. Was hat Ingrid über die plötzlichen Todesfälle im Heim gewusst – und war ihr genau dieses Wissen zum Verhängnis geworden? Kajsas Unruhe wächst, als ein zehnjähriger Junge vom Fußballplatz vor dem Pflegeheim spurlos verschwindet. Dabei ahnt sie nicht, wie nah ihr dieser Fall noch gehen wird …
Kajsa Corens zweiter Fall – ein packender Roman von einer internationalen Bestsellerautorin.
Über Trude Teige
Trude Teige, Jahrgang 1960, ist eine bekannte Journalistin und gehört zu den erfolgreichsten Kriminalautorinnen Norwegens.
Im Aufbau Taschenbuch liegen bisher folgende Romane mit Kajsa Coren vor: »Totensommer«, »Das Mädchen, das schwieg«, »Die Frau, die verschwand« und »Der Mann, der nicht vergessen konnte«.
Gabriele Haefs übersetzt aus dem Schwedischen, Norwegischen, Dänischen, Englischen, Niederländischen und Irischen, u.a. Werke von Jostein Gaarder, Anne Holt und Camilla Grebe. Sie hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, darunter den Akademika-Preis der Universität Oslo und den norwegischen Ritterorden 1. Klasse. Sie lebt in Hamburg.
Andreas Brunstermann übersetzt Romane und Sachbücher aus dem Norwegischen und Englischen. Er lebt in Berlin.
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Trude Teige
Das Haus, in dem das Böse wohnt
Kriminalroman
Aus dem Norwegischenvon Gabriele Haefs und Andreas Brunstermann
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Impressum
Ich weiß gar nicht richtig, wo ich anfangen soll …
Aber als Erstes möchte ich gern sagen, dass mich niemand daran hindern wird, das mir widerfahrene Unrecht zu rächen. Das ist das Wichtigste. Auf alles andere werde ich dann nach und nach zurückkommen; wie das Böse aussieht, wo es zu finden ist.
Frau Albertsen klatschte in die Hände. »Einfach verschwunden. Puff!«
Die alte Dame saß im Aufenthaltsraum neben Bibbi, Kajsas Mutter, in ihrem Sessel. Ihre Augen waren weit aufgerissen.
Vor drei Monaten hatte Kajsa mit den Aufnahmen für eine Fernsehdokumentation über ihre Mutter begonnen. Am Heiligabend hatte sie zum ersten Mal die Kamera in das Pflege- und Seniorenheim Solgløtt in Asker mitgenommen. Die Anfangsszene sollte die von Kindern und Enkeln umgebene Mutter zeigen.
Seit fünf, sechs Jahren war Kajsa als Politikjournalistin bei Kanal 4 für die Berichterstattung über die norwegische Gesundheitspolitik und Altenfürsorge verantwortlich. Das Thema hatte sie lange Zeit persönlich nicht betroffen; erst als ihre Mutter im Solgløtt-Heim gelandet war, hatte Kajsa verstanden, wie es eigentlich um diese Dinge bestellt war. Als Angehörige hatte sie jetzt die einzigartige Möglichkeit, eine realistische Darstellung der Zustände in einem Bereich vorzunehmen, der in Wahljahren stets die Aufmerksamkeit der Politiker auf sich zog, gleichwohl nie die dringend benötigten Ressourcen zugeteilt bekam.
Kajsa hatte vorab die Heimbewohner, die Angestellten und die Angehörigen von ihrem Projekt unterrichtet. Nur einige wenige Personen wollten nicht gefilmt werden. In der ersten Zeit hatten sich viele seltsam künstlich verhalten, sobald sie die Kamera einschaltete, so dass sie sich angewöhnt hatte, das Gerät die ganze Zeit mit sich herumzutragen, auch wenn es nicht lief. Nach einer Weile schien sich niemand mehr daran zu stören, und die Aufnahmen wirkten viel authentischer.
Ohne Frau Albertsen zu antworten, griff Kajsa in die Handtasche, nahm die Kamera hervor, legte sie beiläufig auf den Schoß, drückte auf den Aufnahmeknopf und sah auf dem kleinen Bildschirm an der Seite, dass sie einen schönen Ausschnitt von der alten Dame eingefangen hatte. »Was haben Sie gesagt?«, fragte sie dann.
»Noch eine«, erwiderte Frau Albertsen. »Einfach verschwunden. Puff!«
Sie beugte sich vor und legte eine Hand auf Kajsas Arm. Ihre Augen waren blass, mit dunklen Ringen um die Pupillen, so wie die Augen alter Menschen häufig aussehen. Sie schielte zu Kajsa herüber, von der Nasenwurzel zogen sich zwei tiefe Falten über ihre Stirn. Ihr Blick war eindringlich.
Kajsas Mutter lebte jetzt seit fast zwei Jahren im Altenheim, und Kajsa hatte enge Bekanntschaft mit Frau Albertsen geschlossen. Eine krummgebeugte Dame von zweiundachtzig Jahren. Ihre Gesichtshaut ähnelte der Schale einer getrockneten Weintraube. Sie war ungeheuer mitteilsam, sprach viel und lange mit allen, denen sie begegnete, und zuallererst mit sich selbst. Während der Besuche bei ihrer Mutter empfand Kajsa es mitunter als bedrückend, all diese alten Menschen zu sehen, die sich in ihrer eigenen Welt befanden und häufig ganz unverständliche Dinge sagten.
Kajsa betrachtete die alten Männer und Frauen, die um sie herumsaßen. Einige von ihnen schliefen, andere sabberten, ein älterer Mann versuchte aufzustehen, schaffte es aber nicht. Er sank in seinen Sessel zurück, ein Anflug von Resignation huschte über sein Gesicht, aber er sagte nichts. Er blieb bloß sitzen und starrte in die Luft, während er mit langen, dünnen Fingern am Stoff der Armlehne herumzupfte. Eine Frau in der Nähe flüsterte vor sich hin, lächelte und nickte dabei, als ob sie sich mit jemandem unterhielte. Dann wurde sie still. Eine andere Frau stand am Fenster und sah hinaus, ein paarmal klatschte sie in die Hände, als gäbe es dort draußen etwas, das sie in Begeisterung versetzte.
Martin Roland saß in seinem großen elektrischen Rollstuhl vor dem Fernseher und schaute irgendeine amerikanische Seifenoper. Woran er dabei wohl dachte? An das Leben? Wie es war, ohne Kinder zu leben, zwischen alten Menschen, die seine Eltern, ja, sogar seine Großeltern sein konnten?
Er saß nicht oft mit den anderen im Aufenthaltsraum, überwiegend hielt er sich in seiner Wohnung auf. Ein kleines Wohnzimmer mit Teeküche, Schlafzimmer und Bad. Ab und zu schaute Kajsa bei ihm auf einen Schwatz herein. Martin Roland konnte zwar nicht sprechen, hatte aber ein Rolltalk. Mithilfe dieses Geräts konnte er den Fernseher einschalten, den Kanal wechseln, das Licht ein- und ausknipsen, ins Internet gehen oder mit anderen Menschen kommunizieren, indem er auf einem Computer schrieb. Er hatte eine Brille mit Maus-Funktion, und wenn er den Kopf bewegte, konnte er den Cursor auf einem Bildschirm bewegen. Über einen kleinen Schalter, der an seiner Hand befestigt war, ließen sich Symbole, vorprogrammierte Wörter oder einzelne Buchstaben anklicken.
Vier Jahre zuvor hatte Martin einen Verkehrsunfall erlitten und war seitdem vom Hals abwärts gelähmt. Da war er gerade Vater seines dritten Kindes geworden. Kajsa schätzte ihn auf etwa vierzig. Bevor ihre Mutter ins Altenheim gezogen war, war Kajsa ihm nie persönlich begegnet, wusste aber, wer er war. Vor dem Unfall hatte Martin Roland für Ärzte ohne Grenzen gearbeitet. Der NRK hatte ihn etwa sechs Monate lang auf seinen Reisen in verschiedene Kriegs- und Katastrophengebiete begleitet. Sie hatten seine Tränen und sein Lachen gezeigt, seinen Einsatz für die Schwächsten und seine unverhohlene Wut auf Kriegsherren und Nationen, die nicht genug taten, »um den Irrsinn zu stoppen« und »die Unschuldigen zu retten«. Dabei waren hart gegeneinander geschnittene Szenen entstanden, zu Hause mit seinen eigenen Kindern, die unter Tränen einen Vater verabschiedeten, der hinausfuhr, »um die Welt zu retten«, gefolgt von Aufnahmen, die ihn in einem notdürftig eingerichteten OP-Zelt zeigten, während er ein Kind betrauerte, für das er nichts mehr hatte tun können.
Mittlerweile war von dem starken und eloquenten Mann nicht mehr viel übrig. Kajsa glaubte nicht, dass sie ihn wiedererkannt hätte, wenn sie nicht gewusst hätte, wie er hieß. Sein Gesicht war etwas angeschwollen, vermutlich eine Folge der Medikamente. Er war extrem dünn, einer seiner Füße war völlig verdreht. Sein langes Haar, das er früher als Pferdeschwanz getragen hatte, war – vermutlich aus praktischen Gründen – auf wenige Millimeter hinuntergestutzt.
Frau Albertsens Stimme riss Kajsa aus ihren Gedanken. »Ja«, sagte sie und blickte Kajsa durchdringend an. »Einfach verschwunden, sie auch.«
»Wer denn?«, fragte Kajsa und ließ die Kamera weiterlaufen.
Aber Frau Albertsen gab keine Antwort. »Verschwunden«, flüsterte sie nur und verstärkte den Druck um Kajsas Arm.
Kajsa blickte sie an. Hätte sie nicht gewusst, dass die alte Dame völlig in ihrer eigenen Welt lebte, hätte sie geglaubt, dass sie sich fürchtete.
»Was …«, setzte Kajsa an.
»Psst!«, entgegnete Frau Albertsen, als einer der Krankenpfleger hereinkam. Laut fing sie an zu summen, als wollte sie davon ablenken, dass sie etwas gesagt hatte.
»Wie schön Sie singen, Frau Albertsen«, bemerkte der Pfleger.
Sturla Bjerke war der Charmeur der Abteilung und der jüngste des festen Personals. Mit seinem goldenen Hautton, den dunklen Augen und dem halblangen, lockigen Haar weckte er Assoziationen an einen »griechischen Gott«. Er kam zu ihnen, legte den Arm um Kajsas Schulter, zog sie an sich und wiegte sie singend hin und her. »Kleine Vöglein sangen so schön im Gras, so schön, dass ich alles vergaß. So vieles geschah am Ufer des Fjords, als in der Abendsonne ich saß.«
Kajsa löste sich aus seiner Umarmung und ließ die Kamera von Frau Albertsen über die Mutter zum Krankenpfleger und wieder zurück schweifen. Sturla setzte sich zu Bibbi und nahm jetzt sie in die Arme. Wie unfassbar nervig er sein kann, dachte Kajsa. Ständig tauchte er irgendwo auf und schob sich vor das Objektiv, wenn sie Aufnahmen machte. Sie zoomte an das Gesicht der Mutter heran. Bibbi saß ganz still da und starrte Sturla verwundert an, lächelte nicht und sang auch nicht mit.
Als Kajsa die Kamera wieder in den Schoß legte, stand Sturla auf und ging hinaus. Kajsa folgte ihm. »Ist jemand gestorben?«, fragte sie.
»Frau Bakke«, erwiderte er.
»Ging es ihr so schlecht?« Kajsa konnte sich gut an Frau Bakke erinnern. Die ganze Zeit hatte sie gestrickt, im Aufenthaltsraum, im Gang, auf ihrem Zimmer. Immer hatte sie gesagt, sie stricke Pullover und Jacken, aber es waren nur lange Streifen, die zu nichts verwendet werden konnten.
»Wie man’s nimmt … Etwas krank sind hier ja alle«, sagte Sturla. »Deshalb sind sie ja auch im Pflegeheim«, fügte er hinzu und lächelte breit in die Kamera.
Kajsa ging zurück zu ihrer Mutter. Die Wanduhr zeigte halb vier. Sie hatte völlig vergessen, dass sie eine Verabredung mit Ingrid Steffensen hatte, die als Krankenschwester hier arbeitete.
Ingrid hatte sich Kajsas Mutter besonders angenommen, als sie ins Pflegeheim Solgløtt gezogen war. Kajsa hatte sich oft mit Ingrid unterhalten, und nach einer Weile waren sie vertraut miteinander geworden. Ingrid war nicht nur eine gute Pflegerin, sondern auch ein warmherziger Mensch, mit dem sich leicht plaudern ließ.
In der letzten Woche hatte Bibbi einen ihrer vielen Angstanfälle bekommen, während Kajsa zu Besuch gewesen war. Mehrere Angestellte, darunter auch Ingrid, waren dazugekommen, um sich um sie zu kümmern. Kajsa hatte weinend danebengestanden und hilflos zugesehen, wie sie ihre Mutter beruhigten und ihr eine Spritze gaben.
Als Kajsa sich dann zum Gehen anschickte, war Ingrid zu ihr gekommen. Kajsa hatte sich alle Sorgen um ihre Mutter unmittelbar von der Seele gesprochen. Ingrid hatte daraufhin erwidert, sie werde sich Zeit für ein intensiveres Gespräch nehmen, wenn sie am Montag die Abendschicht übernähme.
»Sie müssen mehr über den Zustand Ihrer Mutter erfahren«, hatte Ingrid gesagt. »Außerdem würde ich gern noch über etwas anderes mit Ihnen reden«, hatte sie hinzugefügt. »Ich brauche einen Rat.«
»Ach so?«
»Ja, Sie sind doch Journalistin und daran gewöhnt, Dinge für sich zu behalten?«
»Aber sicher«, hatte Kajsa erwidert.
Kajsa stand auf, um nach Ingrid zu suchen. »Tschüss, Mama«, sagte sie und drückte Bibbis Hand.
Bibbi, die gerade wach zu werden schien, sah Kajsa an.
Kajsa hatte noch immer die Kamera in der Hand und zoomte nah an Bibbis Gesicht heran.
»Was tue ich hier?«, fragte die Mutter.
»Aber Mama, du wohnst doch hier«, sagte Kajsa mit sanfter Stimme.
»Hier wohnen? Ich wohne doch nicht hier, ich will nach Hause!«
»Möchtest du vielleicht eine Tasse Kaffee?«, fragte Kajsa.
»Warum bringst du mich nicht von hier weg?«, fragte die Mutter. Sie hatte Tränen in den Augen. Kajsa erwiderte ihren Blick, merkte, dass Bibbi sie erkannte und wieder sie selbst war.
Das beklemmende Gefühl in ihrer Brust verstärkte sich, sie schaltete die Kamera ab, setzte sich wieder hin und streichelte Bibbis Wange. »Es ist zu deinem eigenen Besten«, sagte sie mit belegter Stimme.
Ihre Mutter entgegnete nichts.
Kajsa blieb ein paar Minuten bei ihr sitzen, bis sie sich beruhigt hatte. Als sie aufstand, blickte die Mutter sie an und sagte in formellem Ton: »Danke, dass Sie gekommen sind. Ihr Besuch hat mich gefreut.«
Wer bist du?, sagte ihr Blick.
Draußen im Gang traf Kajsa auf eine der anderen Pflegerinnen und erkundigte sich nach Ingrid, die aber noch nicht gekommen war.
»Komisch«, sagte die Frau. »Ingrid hätte schon längst hier sein müssen. Sie ist nie zu spät, sie muss krank sein.«
Kajsa hatte keine Zeit zu warten, sie musste wohl einen neuen Termin mit Ingrid vereinbaren. Sie hatte versprochen, um halb vier zu Hause zu sein, wenn Thea und Anders aus dem Schulhort kämen.
Sie freute sich sehr auf die Kinder. Die beiden vertrieben die Verzweiflung, die sie immer überkam, wenn sie zuvor im Pflegeheim gewesen war.
Immerhin funktionierte etwas in ihrem Leben. Es war gut, dass die Kinder größer und selbstständiger wurden. Anders besuchte die vierte Klasse, Thea die erste. Jeden Tag gingen sie gemeinsam zur Schule und zurück.
Mit ihr und Aksel lief es schlechter.
Es war ihre Schuld, aber sie konnte nichts dafür. Es war zu schwierig, etwas daran zu ändern, sie wusste einfach nicht wie.
»Du bist traumatisiert, du brauchst ein Debriefing«, hatte Aksel gesagt, der als Psychiater arbeitete und traumatisierte Menschen behandelte.
Sie wollte kein Debriefing, wollte nicht darüber reden, was sie vor fast drei Jahren erlebt hatte, als sie von zu Hause entführt und von einem Serienmörder über mehrere Tage gefangen gehalten worden war. Sie wollte nicht über den späteren Zusammenbruch reden, wollte jene Angst nicht noch einmal erleben.
Alles, was sie wollte, waren normale Tage. Normale Alltage mit normalem Zeitstress: arbeiten, nach Hause kommen, Essen kochen, Hausarbeit erledigen, eine Runde joggen, sich neben Aksel ins Bett legen und müde sein, unmittelbar einschlafen. Ohne zu denken. Alles sollte so sein, wie es zuvor gewesen war; sie wollte nicht als krank bezeichnet, diagnostiziert und dann behandelt werden.
Nicht von Aksel. Und auch von sonst niemandem. Sie würde schon klarkommen.
Wenn ich sterbe, werde ich bald darauf vergessen sein, und niemand wird wissen, wer ich war, womit ich mich befasst habe. Deswegen habe ich diese Kamera gekauft.
Langsam gewöhne ich mich daran, laut zu reden, meine eigene Stimme zu hören in diesem Haus, in dem ich stets geschwiegen habe.
Ich will, dass es jemand weiß.
Noch habe ich nicht entschieden, was ich mit den Aufnahmen tun werde, aber mir fällt schon noch etwas ein.
»Hallo, hier ist Petter Skoglund.«
»Oh, hallo«, erwiderte Kajsa überrascht. Sie hatte auf das Display geschaut, um nachzusehen, wer anrief, aber dort hatte »unterdrückte Rufnummer« gestanden.
Es war Dienstagnachmittag, und Kajsa war gerade im Pflegeheim angekommen, um zu filmen. Sie hoffte, dass Ingrid wieder bei der Arbeit wäre, damit sie sich unterhalten könnten.
Kajsa schaltete um auf Freisprechfunktion.
»Wie geht’s dir?«, fragte sie, während sie die Tür zur Abteilung öffnete und nach ihrer Mutter Ausschau hielt.
»Danke, alles bestens«, erwiderte Skoglund. »Und dir?«
»Gut.« Kajsa lief durch den Gang, öffnete die Tür zum Zimmer ihrer Mutter einen Spalt und spähte hinein. Bibbi saß im Sessel am Fenster.
»Du arbeitest wieder Vollzeit?«, fragte Skoglund.
»Ja, ich habe gerade wieder angefangen, hundert Prozent zu arbeiten. Fünfzig Prozent für die Nachrichten und fünfzig mit einer Dokumentation über das Pflegeheim, wo meine Mutter lebt.«
»Deine Mutter lebt im Pflegeheim? Ich dachte, sie wäre noch gar nicht so alt?«
»Ist sie auch nicht. Sie ist neunundsechzig und hat Alzheimer.«
»Ach, wirklich?«, sagte er abwesend und fuhr fort: »Du … ich hab da eine Sache, die ist aber etwas … wie soll ich sagen … delikat.«
Kajsa durchquerte den leeren Gang mit den vielen geschlossenen Türen. »Diese Unterhaltung hat nicht stattgefunden«, entgegnete sie mit einem Lächeln in der Stimme, als sie an Martin Rolands offen stehender Wohnungstür vorbeikam. Sie sah den Rücken von Sturla Bjerke, dem Krankenpfleger, der sich über ihn beugte. Martin stieß ein paar gutturale Laute aus. Es war unmöglich, sie zu deuten, sie konnten Ausdruck von Freude oder von Schmerzen sein. Kajsa blieb stehen und beobachtete die beiden. Sturla hielt etwas in der Hand, das wie ein dicker Kugelschreiber aussah.
»Du kannst nicht sofort damit an die Öffentlichkeit gehen«, fuhr Skoglund fort, »ich möchte das erstmal mit dir besprechen.«
»Okay«, sagte Kajsa, drehte sich um und ging zurück zum Zimmer ihrer Mutter.
Kajsa und Petter Skoglund kannten sich schon, seitdem sie vor über fünfzehn Jahren zusammen an der Uni Vergleichende Politikwissenschaft studiert hatten. Sie waren in derselben Kolloquiumsgruppe gelandet und hatten sich nach einer Weile auch in derselben Clique bewegt. Zu jener Zeit hatte Petter sich zur Überraschung aller als schwul geoutet. Während des Studiums war er politisch bei den Jungen Konservativen aktiv gewesen, und vor dreieinhalb Jahren war er zum Staatssekretär im Fischereiministerium berufen worden.
»Wir können das nicht am Telefon besprechen, kann ich diese Woche mal abends bei dir vorbeikommen?«, fragte Petter.
Er will nicht, dass uns jemand zusammen sieht, dachte Kajsa. Irgendetwas Großes muss im Gange sein. Skoglund hatte ihr schon verschiedentlich Hinweise auf politische Angelegenheiten gegeben, die dann in der Nachrichtensendung von Kanal 4 gelandet waren. Er war eine nützliche Quelle, von der Kajsa seit längerer Zeit nichts gehört hatte.
Petter Skoglund fuhr fort: »Ich befürchte, die Sache gerät außer Kontrolle und platzt in Kürze.«
Kajsa war neugierig geworden: »Wann passt es dir denn?«
»Morgen bin ich den ganzen Tag unterwegs, aber Donnerstag würde passen.«
»Da arbeite ich bis sieben, aber wenn es dir nicht zu spät ist, kannst du gern gegen neun vorbeikommen.«
Sie einigten sich auf Donnerstagabend. Gerade, als sie das Gespräch beendete, sah Kajsa, dass Rolf Røren, der Abteilungsleiter, den Gang mit einer großen grünen Samtdecke auf dem Arm durchquerte. Kajsa erstarrte mitten in der Bewegung und blieb vor dem Zimmer der Mutter stehen. Sie hatte diese Decke schon einmal gesehen; sie wurde verwendet, wenn verstorbene Heimbewohner zurechtgemacht wurden, so dass die Angehörigen vorbeikommen und Abschied nehmen konnten. Kajsa beobachtete den Abteilungsleiter. In welches Zimmer ging er wohl? Nummer 307. Sie wusste, wer dort wohnte. Frau Albertsen.
Kajsa blieb in dem leeren Gang stehen. Es war ganz still, kein Laut zu hören, kein Mensch zu sehen. Dann fing in einem Zimmer weiter vorn einer der alten Menschen zu jammern an. Niemand kam, um nachzusehen, worum es ging. Im Gang roch es streng, als sei gerade jemand mit einer Bettpfanne vorbeigekommen. Eine plötzliche Übelkeit überkam Kajsa.
Es war ein Mann, sie konnte es plötzlich genau hören, dass es ein Mann war, der klagte. In den Bauch atmen, in den Bauch atmen, befahl Kajsa sich selbst. Sie schloss die Augen, atmete ruhig ein, spürte ihren Puls sinken. Das helle Licht der Leuchtstoffröhren und die kalten hellblauen Wände ließen sie blinzeln, als sie die Augen wieder aufmachte. Wieso wurde hier solch ein Farbton verwendet?, dachte sie. Er wirkte kalt und unangenehm. Sie lenkte den Blick auf eine Stelle, wo die Farbe großflächig abgeplatzt war, drückte dann den Rücken durch und betrat das Zimmer ihrer Mutter.
Bibbi saß am Fenster und schaute hinaus, sie nahm Kajsa gar nicht wahr.
Was ging nur mit ihr vor? Kajsa nahm die Hand der Mutter und drückte sie, aber es erfolgte keine Reaktion.
Wieso geht es ihr in letzter Zeit so viel schlechter?, dachte sie.
Sie hatte geglaubt, dass es Bibbi im Pflegeheim besser gehen würde, dass sie Pflege und Behandlung bekommen, andere Menschen um sich herum haben und weniger einsam sein würde. Doch stattdessen entfernte sie sich immer weiter. Sie befand sich nicht nur öfter in ihrer eigenen Welt, sondern hatte auch körperlich stark abgebaut. Bevor sie ins Pflegeheim gekommen war, war sie ziemlich fit gewesen. Jetzt saß sie oft ganz still da oder lag im Bett, als hätte sie jegliche Energie verloren. Sie rührte sich kaum noch, die Muskeln wurden immer schwächer, und ziemlich dünn war sie auch geworden. Andererseits konnte sie manchmal auch sehr unruhig werden und durchlebte schreckliche Angstanfälle. Dann schrie und weinte sie wie ein verschrecktes Kind, es war kaum auszuhalten. Doch meistens saß sie, so wie jetzt, bloß da und starrte ins Leere.
Sehnt sie sich nach Hause?, dachte Kajsa. So sehr, dass sie sich aufgegeben hat? Könnte sie vielleicht bei uns wohnen?
Kajsa ging hinüber zum Schwesternzimmer, um nachzusehen, ob Ingrid zurück zur Arbeit gekommen war. »Sie hat sich nicht blicken lassen«, sagte Sturla. »Und natürlich haben wir auch keinen Ersatz bekommen«, fügte er entnervt hinzu.
Auf dem Rückweg begegnete sie dem Abteilungsleiter. Er kam aus dem Zimmer von Frau Albertsen. »Ist Frau Albertsen gestorben?«, fragte sie.
Rolf Røren sah sie mit traurigem Blick an und faltete die Hände über dem Bauch. »Ja, jetzt ist es vorüber«, sagte er.
»Aber ich habe erst gestern mit ihr gesprochen«, entgegnete Kajsa.
»Ja, es ging schnell«, sagte er.
»Aber sie war doch so vital«, fuhr Kajsa fort. »Ist sie krank geworden?«
Røren musterte sie. »Warum fragen Sie so etwas?« Sein Gesicht war gerötet. »Sie war alt, es kam also nicht völlig unerwartet«, fuhr er mit ruhiger Stimme fort und war wieder der Alte.
Im selben Moment stürzte ein Mann zur Tür des Abteilungsleiters hinein, und Røren ging ihm entgegen. Kajsa erkannte ihn wieder, es war Frau Albertsens Sohn. Er sah traurig aus, und Røren legte ihm die Hand auf die Schulter.
Erneut verspürte Kajsa Übelkeit. Frau Bakke. Frau Albertsen. Zwei Tote in zwei Tagen. Zwei Frauen, die körperlich agiler gewirkt hatten als die meisten anderen hier. War so etwas völlig normal in einem Pflegeheim? Konnte auch Kajsas Mutter jeden Moment sterben?
Kajsa eilte hinaus an die frische Abendluft.
Dieses Haus ist viel zu groß.
Leer.
Und still.
Einmal, es muss lange her sein, da träumte ich davon, diese Zimmer mit normalem Leben zu füllen; mit einer Familie.
Das Lachen glücklicher Kinder sollte das Schweigen vertreiben.
Aber nichts hat sich verändert.
Es hatte ein paar milde Tage gegeben, die das nahende Ende des Winters ankündigten, doch als Kajsa am Mittwochmorgen am Pflegeheim Solgløtt aus dem Wagen stieg, blies ein eiskalter Wind. Schnell eilte sie vom Parkplatz zum Haupteingang und passierte dabei die im Erdgeschoss liegenden Räume, die auf die Straße hinausgingen. Sie brauchte jemanden zum Reden und hoffte, dass Ingrid wieder gesund wäre. Seit einiger Zeit konnte sie nicht gut schlafen, lag bis tief in die Nacht wach und sorgte sich um ihre Mutter. Sie wollte Ingrid nach Frau Albertsen und Frau Bakke fragen und überlegte, worüber Ingrid wohl mit ihr sprechen wollte.
Ein alter Mann im Rollstuhl saß in seinem Zimmer am Fenster. Kajsa hob die Hand und winkte ihm zu. Doch er sah sie nur an. Sein Gesicht war ausdruckslos. Sie blieb am Eingang stehen und drehte sich um. Der Mann am Fenster war ihr mit dem Blick gefolgt.
Kajsa nahm die Kamera aus der Handtasche, lief über den Parkplatz zurück, schaltete sie ein und fing das ganze Gebäude des Pflegeheims mit dem Objektiv ein. Ganz unten in der einen Ecke saß der Mann am Fenster. Sie fokussierte auf ihn und dachte dabei: Jedes Mal wenn ich meine Mutter besuche, komme ich an dem Mann am Fenster vorbei. Ich kenne ihn nicht, ich weiß nicht, wer er ist. Jedes Mal winke ich ihm zu, aber er winkt niemals zurück. Vielleicht schafft er es nicht zu winken oder zu lächeln und sitzt da ganz allein, während die Menschen von einem Ort zum nächsten eilen, wichtige Dinge tun und dabei reden, lächeln, winken?
Kajsa schaltete die Kamera aus, hielt sie aber weiter in der Hand, als sie das Pflegeheim betrat. Würde die Mutter sie heute erkennen? Würde sie wütend, ängstlich, apathisch, klar oder niedergeschlagen sein? Die stets wiederkehrenden Gedanken verdichteten sich zu einem Klumpen im Bauch; der war bereits spürbar, als sie sich vor dem Haus in den Wagen setzte, auf dem Weg zum Pflegeheim wurde er größer und verwandelte sich schließlich in einen schweren Stein, während sie das Gebäude betrat und den Aufzug in die zweite Etage nahm. Er drückte sie beinahe zu Boden, als sie die Tür zur Abteilung öffnete und nach ihrer Mutter Ausschau hielt.
Bibbi war nicht auf dem Gang, weshalb Kajsa auf den Aufenthaltsraum zusteuerte.
Freddy Bøe und Mona Lycke waren da, wie immer mittwochs.
Anfangs hatte Kajsa gedacht, sie seien verheiratet und besuchten ihre Angehörigen. Dann stellte sich heraus, dass sie zum Freundeskreis Solgløtt gehörten: eine Gruppe von Freiwilligen, die bei Bewohnern, Angehörigen und Angestellten in einer Einrichtung mit Personalmangel sehr willkommen waren. Sie arrangierten verschiedene Aktivitäten und machten Ausflüge mit den alten Menschen. Der Freundeskreis hatte noch andere Mitglieder, doch Mona und Freddy kamen am häufigsten.
Mona Lycke lächelte Kajsa freundlich an. »Wie läuft’s denn mit dem Dokumentarfilm?«, fragte sie.
»Danke, gut«, erwiderte Kajsa.
Mona war eine große, kräftige Frau in den Vierzigern, die sich offenbar nicht viel um ihr Äußeres scherte. Ihr grau meliertes Haar war kurz geschnitten. Es ließ sie leicht maskulin erscheinen, stand ihr aber ausgezeichnet. Sie wirkte munter und sportlich.
Mona und Freddy waren ein ungleiches Paar: Sie war still und bescheiden, er humorvoll und etwas großspurig. Freddy, einen halben Kopf kürzer als Mona, war ein kleines Muskelpaket, das täglich im Sportstudio trainierte. Oft konnte man sogar auf weite Entfernung sein kräftiges und brummendes Lachen hören, wenn er sich in der Abteilung aufhielt.
Sowohl Freddy als auch Mona bezogen Frührente, beide waren Angehörige von ehemaligen Pflegeheimbewohnern gewesen. Kajsa hatte Mona einmal gefragt, wen sie früher besucht habe, doch sie hatte nur mit dem Kopf auf Martin im Rollstuhl gedeutet und gesagt: »Lange Geschichte … Verkehrsunfall.« Kajsa hatte instinktiv begriffen, dass es ihr schwerfiel, darüber zu reden. Vielleicht hatte ihr schwer verletzter Mann hier einst gelebt. Kajsa wunderte sich, dass Mona es über sich brachte, so oft hier zu sein, nach dem, was sie als Angehörige durchlebt haben musste.
Kajsa ging weiter, um nach ihrer Mutter zu suchen. Sie schaltete die Kamera ein und öffnete behutsam die Tür zu ihrem Zimmer. Die Mutter lag angezogen auf dem Bett. Kajsa blickte sie an und sah, dass Bibbi sie erkannte. Ein schwaches Lächeln glitt über ihr Gesicht.
»Hallo, Mama«, sagte Kajsa, trat ans Bett und umarmte ihre Mutter.
»Kajsa«, sagte Bibbi. »Liebes …«
Kajsa zog einen Stuhl heran und setzte sich, nahm die Hand der Mutter in ihre. Bibbis Blick folgte ihr, ihre Augen glänzten.
»Was ist denn, Mama?«, fragte Kajsa. »Geht’s dir nicht gut?« Schnell überprüfte sie den Bildausschnitt auf dem Kameraschirm.
»Ich bin bloß so müde«, sagte die Mutter. »So furchtbar müde.«
»Vielleicht solltest du ein bisschen schlafen«, schlug Kajsa vor.
»Ja, ich muss jetzt schlafen«, entgegnete Bibbi. »So müde …« Sie holte Luft und seufzte. Dann fügte sie hinzu: »Ich wünschte, ich würde nie wieder aufwachen.«
Kajsa wollte erwidern, dass sie so etwas nicht sagen dürfe, ließ es aber sein. Wozu sollte sie auch wieder wach werden? Es gab nicht mehr viel, weder für die Mutter noch für den Mann am Fenster.
Als Bibbi eingeschlafen war, trat Kajsa zwei Schritte vom Bett zurück und filmte sie. Zoomte dicht an ihr Gesicht heran.
Das ist mir zu nahe. Das tut zu sehr weh. Was mache ich hier eigentlich? Drehe einen Film über das bedauernswerte Leben meiner Mutter? Was würde sie sagen, wenn es ihr bewusst wäre? Würde sie es akzeptieren?
Sie schaltete die Kamera aus, setzte sich wieder ans Bett, legte ihren Kopf an den der Mutter, umarmte sie dabei. Plötzlich spürte sie Bibbis Hand auf ihrem Kopf. Sie bleib ruhig liegen, während die Mutter ihr immer wieder behutsam über das Haar strich.
Sie hörte, wie die Tür geöffnet wurde und drehte den Kopf, um nachzusehen, wer hereinkam. Allerdings sah sie nur, wie die Tür langsam wieder zuglitt. War das vielleicht Ingrid, die nach ihr sehen wollte?
Kajsa blieb liegen, bis Bibbis Hand zur Ruhe kam. Als sie sicher war, dass die Mutter schlief, nahm sie die Hand und legte sie behutsam auf die Bettdecke.
Auf dem Gang draußen traf sie auf Rolf Røren.
»Haben Sie etwas von Ingrid gehört?«, fragte Kajsa.
»Ja, sie hat eine SMS geschickt und mitgeteilt, dass sie krank ist«, sagte er.
»Heute?«, fragte Kajsa.
»Nein, gestern«, erwiderte er mit einer Miene, welche zu sagen schien, dass sie das gar nichts anging.
»Gut«, sagte sie. »Wann kommt sie denn wieder zur Arbeit?«
»Ich weiß nicht«, sagte Røren. »Sie wollte sich wieder melden, sowie es ihr besser geht, hat sie geschrieben.«
»Aber wieso hat sie sich dann nicht gleich am Montag krankgemeldet?«
»Woher soll ich das wissen?«, entgegnete Røren leicht gereizt.
»Sie hat mir erzählt, dass sie allein wohnt.«
»Ja, aber sie hat eine Tochter.«
»Ach ja? Dann ist ja alles gut.«
»Von ihr ist nicht viel Hilfe zu erwarten, sie ist drogenabhängig. Eine von denen, die an einschlägigen Orten in Oslo herumhängen. Aber jetzt wissen wir ja, dass sie krank ist, das ist gut«, sagte er erleichtert. »Also, ich meine … äh … gut, dass wir das wissen, nicht, dass sie krank ist.« Eilig blickte er auf ein paar Papiere, die er in den Händen hielt und ging in sein Büro.
Røren irritierte Kajsa. Sie bekam ihn nicht zu fassen. Mehrmals hatte sie darauf hingewiesen, dass ihre Mutter so verändert sei, und gefragt, ob es vielleicht an den Medikamenten liegen könne. Er hatte erwidert, so sei es eben mit Alzheimer-Kranken, die Medikation habe er gut unter Kontrolle und achte auf eventuelle Nebenwirkungen. Sein ganzes Gehabe hatte etwas übertrieben Demütiges an sich. Ständig beobachtete Kajsa, wie großzügig er Umarmungen und Bibelworte austeilte, offenbar war er sehr religiös. Ab und zu setzte er sich im Aufenthaltsraum ans Klavier und spielte und sang, überwiegend Choräle. Diese Vorstellungen waren äußerst beliebt, die Alten strömten nur so herbei, wenn sie ihn spielen hörten.
Einmal hatte Kajsa zufällig mitangehört, wie einer der Angestellten ihn als »die Dame« tituliert hatte. Sie hatte es sofort verstanden: Die Art, wie er sich bewegte, ja, sein ganzes Auftreten hatte etwas Feminines an sich. Die eigentliche Ursache für seinen Spitznamen schien allerdings in seinem eher weiblichen Hobby begründet zu liegen: Wenn er sich zu den Älteren in den Aufenthaltsraum setzte, hatte er oft eine Handarbeit bei sich.
Er erinnerte sie an jemanden. Sie wusste nur nicht, an wen.
Auf dem Rückweg ging sie an Martin Rolands Wohnung vorbei. Dort war eine Party im Gange. Der Mittwochsclub war zu Besuch. Drei von Martins alten Freunden. In all den Jahren, seit Martin im Pflegeheim lebte, kamen jeden Mittwoch, außer in der Urlaubszeit, einer oder mehrere dieser Freunde zu Besuch. Einer von ihnen winkte Kajsa zu. »Martin hat Geburtstag«, rief er.
Kajsa ging zu Martin und umarmte ihn. »Alles Gute zum Geburtstag«, sagte sie.
»Setzen Sie sich doch und trinken ein Bier mit uns«, sagte ein anderer und deutete auf einen Stuhl.
»Vielen Dank«, entgegnete Kajsa. »Aber ich muss noch fahren.«
»Dann geben Sie Martin eins«, entgegnete er und deutete auf den Kühlschrank.
Kajsa öffnete die Tür. Im untersten Fach lagen mehrere Bierflaschen. In einem anderen Fach wurden ein paar von diesen an dicke Kugelschreiber erinnernden Objekte aufbewahrt. Genau so eines hatte Sturla Bjerke in der Hand gehalten, als Kajsa tags zuvor im Gang gestanden und mit Petter Skoglund telefoniert hatte. Abgesehen davon waren nur noch ein paar Flaschen Limo im Kühlschrank. Vermutlich für die Kinder, dachte Kajsa.
Martin hatte drei wohlgeratene Kinder, denen Kajsa ein paarmal begegnet war: ein vierjähriges Mädchen, das sich im Aufenthaltsraum ständig über Kuchen und Saft der Älteren hermachte und dabei glaubte, von niemandem gesehen zu werden; einen zehnjährigen Jungen, der oft mit Anders spielte, wenn sich die beiden im Pflegeheim begegneten. Und dann noch ein dreizehnjähriges Mädchen, Ingeborg. Sie war anders als die beiden anderen Kinder – verschlossen, wortkarg und immer etwas traurig.
Einmal war Kajsa an Martins Wohnung vorbeigekommen, als sich seine Familie gerade von ihm verabschiedete. Erle, Martins Frau, hatte die Vierjährige hochgehoben, damit sie ihren Vater umarmen könnte. Die Kleine hatte den Arm um den Hals des Vaters gelegt und ihn ein paar Sekunden an sich gedrückt, dann war sie hinausgelaufen und hatte mit fröhlicher Stimme »Tschüss, Papa!« gerufen. Danach hatte sich Martins Sohn auf die Zehenspitzen gestellt und seinen Vater auf die Stirn geküsst. Die Älteste hingegen hatte ihm nur den Rücken zugekehrt und war aus dem Zimmer gegangen.
Nachdem Erle mit den Kindern gegangen war, hatte Kajsa bei Martin hineingeschaut. Normalerweise hätte er den Mundwinkel um einen Millimeter verzogen und dadurch ein Lächeln angedeutet. Doch an diesem Tag war es anders gewesen. Seine Augen hatten traurig gewirkt.
Ein schrecklicher gurgelnder Laut war über seine Lippen gekommen, als wäre er kurz vor dem Ersticken. Kajsa hatte Angst bekommen, aber im selben Moment hatte er mit seinem Rolltalk den Cursor über den Bildschirm gleiten lassen. Ingeborg, hatte er geschrieben. Oft schrieb Martin nur einzelne Wörter oder unvollendete Sätze.
»Sie kommt nicht damit klar, weil sie alt genug ist, um sich daran zu erinnern, wie du früher gewesen bist?«, fragte Kajsa.
Er nickte.
Kajsa blieb eine Weile und redete mit Martin über seine Tochter und die Sorgen, die er sich ihretwegen machte. Sie fragte auch nach dem Unfall, wollte wissen, was passiert war.
Über viele Dinge wurde nie geredet, erwiderte er. Sie wollen mich schonen. Schwierig. Erle hat den Wagen gefahren, schrieb er.
»Das muss ganz schön hart für sie sein?«, fragte Kajsa.
Natürlich. Sie redet nie über den Unfall. Sagt nicht, wie sie sich dabei fühlt.
»Glaubst du, sie gibt sich die Schuld?«
Ja.
»Und was denkst du darüber?«
Nicht ihre Schuld.
»Vielleicht solltest du ihr sagen, wie du darüber denkst?«
Kann nicht, entgegnete er.
Nach dieser Begegnung war Kajsas Verhältnis zu Martin viel enger geworden. Du bist eine meiner engsten Vertrauten, hatte er geschrieben und sein Millimeterlächeln aufgesetzt.
Wenn Kajsa an seiner Wohnung vorbeikam, war Erle oft bei ihm. Sie las ihm aus einem Buch vor, machte Übungen mit ihm, massierte seine steifen Muskeln oder sprach mit ihm via Rolltalk. Immer wirkte sie sehr gepflegt, war geschminkt und frisiert, trug coole Sachen.
Kajsa öffnete die Bierflasche für Martin. »Hier kommt das extra Bier, trink es auf mich, Martin«, sagte sie. Einer seiner Freunde nahm die Flasche, goss das Bier in eine Schnabeltasse und hielt sie Martin behutsam an die Lippen.
»Bist du derzeit öfter bei Facebook, Martin?«, fragte sie.
Er nickte.
Manchmal kommunizierten sie auf diese Weise, oder auch per E-Mail. Martin nutzte täglich die sozialen Medien, um mit seinen alten und neuen Freunden in Kontakt zu bleiben.
»Wollen wir bald chatten?«, fragte Kajsa. »Morgen vielleicht?«
Er nickte noch einmal und schrieb etwas auf dem Bildschirm. Kajsa wartete, bis er sich durch die Buchstaben navigiert hatte: Was ist mit Ingrid los?
»Ich weiß nicht«, erwiderte sie.
Ich auch nicht, schrieb er.
»Findest du das seltsam?«, fragte Kajsa. »Wie hätte sie dir denn Bescheid geben können, wenn sie krankgeschrieben und zu Hause ist?«
Keinen Kontakt über Facebook. Wir nutzen das. Abends. Seit Sonntag nichts. Drei Tage!
»Wahrscheinlich ist sie zu schwach dafür«, sagte Kajsa. »Versuch es morgen wieder. Vielleicht geht es ihr dann besser. Und wir schreiben morgen, okay?«
Er nickte langsam, sein Mundwinkel verzog sich einen Millimeter. Wenn er lächelte, konnte sie ein bisschen von dem alten Martin wiedererkennen. Von dem, der die Welt retten wollte.
Ich könnte vieles über meine Mutter erzählen. Meine Mutter … sie … sie hat mich nie berührt.
Nur dann, wenn sie mich schlug.
Dann gab es mich.
Die meiste Zeit war es so, als ob ich gar nicht existierte.
Sie … nein, ich kann wirklich nicht über sie reden. Später vielleicht.
Am Donnerstag hatte Kajsa eine lange Tagesschicht von neun bis neunzehn Uhr. In der norwegischen Politik geschah nicht das Geringste, worüber sie hätte berichten müssen, und so verbrachte sie die Zeit mit Recherchen für den Dokumentarfilm über das Pflegeheim. Im Laufe des Nachmittags ging sie zu Burger King und kaufte etwas zu essen, einen Cheeseburger und dazu einen Vanille-Milkshake. Sie aß im Büro am Schreibtisch, während sie zahlreiche E-Mails beantwortete, die sich im Laufe ihrer freien Tage angehäuft hatten. Als sie sich nach einer Weile bei Facebook einloggte, entdeckte sie eine Nachricht von Martin.
Sie hatte ihn völlig vergessen. Hatte er womöglich den ganzen Tag dagesessen und auf ihre Antwort gewartet, oder hatte er irgendwann aufgegeben? Sie klickte die Nachricht an und bekam ihre Frage sogleich beantwortet. Du hast mich also vergessen? ☺, stand da.
Aber nein, antwortete sie, bin nur sehr beschäftigt, und dachte, dass die kleine Notlüge in diesem Fall wohl zu vertreten war. Wie geht’s dir denn?
Kajsa unterhielt sich oft mit Martin über Facebook, wenn sie am Schreibtisch saß und andere Dinge erledigte. Mitunter konnten zwischen ihrer Frage und seiner Antwort mehrere Minuten vergehen, weil er an seinem Bildschirm saß und den Cursor von einem Buchstaben zum anderen bewegte. Während sie jetzt wartete, dachte sie, wie schnell Martin doch unterschätzt wurde, weil er sich kaum rühren, nicht gehen, nicht selbstständig essen, nicht sprechen, nicht laut lachen und aufgrund seiner eingeschränkten Mimik kaum Gefühle zeigen konnte.
Kein Kontakt mit Ingrid, schrieb er als Nächstes.
Dann ist sie wohl immer noch zu schwach, entgegnete sie.
Nach zwei Minuten kam die Antwort: Seltsam. Ungewöhnlich. Ich bin beunruhigt.
Martin berichtete weiter, dass Rakel, die Pflegerin, die mit Ingrid auch neben der Arbeit befreundet war, am Abend zuvor bei ihr gewesen sei und geklingelt habe. Allerdings habe es kein Lebenszeichen von Ingrid gegeben.
Als ihr am Sonntag über Facebook Kontakt hattet, hat sie da gesagt, dass sie krank sei?, fragte Kajsa.
Nein, hat von der Tochter gesprochen, machte sich ihretwegen Sorgen. War außerdem sauer auf Røren, hat sich mit ihm gestritten. Wieso antwortet sie nicht? Wie krank ist sie wohl?
Bestimmt nichts, worüber wir uns Sorgen machen müssen, schrieb Kajsa zurück und aß weiter, während sie auf Martins Antwort wartete. War Ingrid so krank, dass sie nicht am Computer sitzen konnte? Dann musste es ihr ja wirklich schlecht gehen. Kajsa hatte sie am letzten Freitag gesehen. Sie hatte gerade in den Wagen steigen wollen, als sie Ingrid durch den Haupteingang herauskommen sah. Kajsa hatte ihr zugewinkt. In jenem Moment hatte sie bloß gedacht, dass Ingrid sie nicht sah, jetzt aber kam ihr plötzlich der Gedanke, dass sie sich vielleicht bewusst weggedreht hatte, als ob sie nicht gesehen werden wollte. Sie konnte sie gleichsam vor sich sehen: Während sie sich umdrehte, strich sie sich mit der Hand über die Wange. Hatte sie geweint? Vielleicht hatte sie sich – ganz wie Martin berichtet hatte – mit Røren gestritten und war deshalb immer noch aufgebracht gewesen, als sie zwei Tage später mit Kajsa sprach.
Martins Antwort zog sich dahin, und Kajsa öffnete Google. Im Zusammenhang mit dem Dokumentarfilm brauchte sie mehr Informationen über Medikationen und Behandlungsmöglichkeiten. Der erste Artikel, den sie aufrief, stammte von TV2.no. Viele Ältere leiden unter Fehlmedikationen. In großem Umfang sind ältere Menschen falschen Medikationen ausgesetzt. Überdosierungen und Verabreichung von falschen Medikamenten können zu ernsthaften Nebenwirkungen, im schlimmsten Fall zum Tod führen.
Kajsa saß da und starrte auf den letzten Satz. Im schlimmsten Fall zum Tod. Weiter unten äußerte sich ein Professor für Geriatrie: Vielerorts kommt es zu beträchtlichen Überdosierungen, insbesondere bei sogenannten Glückspillen, aber auch bei angstlösenden Medikamenten und solchen, die bei psychischen Erkrankungen eingesetzt werden.
Ist Mama womöglich deshalb so passiv geworden?, dachte sie und las weiter. Könnten die Pillen sie gar umbringen? Was ist mit Frau Bakke und Frau Albertsen?
Ungefähr 40.000 Menschen leben in norwegischen Pflegeheimen. Etwa fünfundzwanzig Prozent erhalten Medikamente gegen psychische Leiden.
Zehntausend? Hatten wirklich so viele Menschen Bedarf daran?
»Wir wissen, dass die Nebenwirkungen von Medikamenten eine Hauptursache für Krankenhauseinweisungen sind, und ganz sicher werden dadurch auch Todesfälle und ernsthafte Komplikationen hervorgerufen«, kommentiert die Leiterin der Gesundheitsbehörde. Sie fürchtet, dass ältere Menschen oft medikamentös behandelt werden, um sie ruhigzustellen, wenn sie zu anstrengend und fordernd werden.
Und wenn sie dann sterben?, dachte Kajsa. Wird dann untersucht, ob es einen Zusammenhang zwischen Überdosierung und Todesfall gegeben hat?
Kajsa ging zurück zu Facebook. Kannst du ihre Tochter anrufen?, hatte Martin geschrieben. Frag, wann sie zuletzt mit ihrer Mutter gesprochen hat. Sie heißt Sissel Steffensen. Ihre Handynummer ist 44414399.
Du hast ihre Nummer?, schrieb Kajsa.
Von der Auskunft. ☺ Bist nicht du hier die Journalistin? Ha!
Sehr witzig? Und sie ist drogenabhängig?
Ingrids größte Sorge, erwiderte Martin.
Okay, ich melde mich wieder, schrieb Kajsa zurück.
Tschüss.
Sie sah auf die Uhr. Noch eine Stunde bis zum Schichtende.
Sie gab »Obduktion und Ältere« ins Suchfeld ein und sah gleichzeitig den intensiven Blick von Frau Albertsen vor sich. »Einfach verschwunden! Puff!« Was hatte sie eigentlich damit gemeint?
In Nettavisen fand Kajsa, wonach sie suchte:
Während beim Tod von Krankenhauspatienten eine Obduktion geradezu Routine ist, werden beim Tod von älteren Patienten in Pflegeheimen nur äußerst selten Obduktionen durchgeführt, stand da. Am Ende des Artikels äußerte sich ein Krankenhausdirektor: »Morde an Pflegeheimbewohnern sind Ereignisse, gegen die man sich ohnehin nicht wappnen kann.«