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Überleben in dunklen Zeiten für Zukunft und Liebe Ihr Großvater Konrad war immer der Fels in der Brandung für die junge Juni. Doch nie hat er von dem Ort gesprochen, der ihn am meisten geprägt hat. Erst jetzt erfährt Juni, wo ihr liebevoller Großvater gelernt hat, mit den Wellen zu atmen. 1943: Das Handelsschiff der Brüder Konrad und Sverre wird im Indischen Ozean angegriffen. Im Krankenhaus verliebt sich Konrad in die Krankenschwester Sigrid. Doch ihr Glück ist bedroht: Getrennt geraten sie in Gefangenschaft. Welche Zukunft wartet auf sie hinter dem Meer? Ein Roman, der zeigt, was wahre Menschlichkeit bedeutet und wie uns die Vergangenheit prägt bis in die nächsten Generationen. Die dramatische Geschichte von Konrad, dem Großvater aus »Als Großmutter im Regen tanzte«, erzählt von der Enkelin Juni. Eine große Fortsetzung, aber auch ganz unabhängig zu lesen. »Egal, ob es stürmt oder ganz ruhig ist, die Wellen treffen das Land immer im gleichen Rhythmus. Und wenn du Angst hast oder traurig bist, musst du mit dem Meer atmen.« Konrad »Trude Teige zeigt erneut, wie gut sie erzählen kann. Ein beeindruckendes, mitreißendes Buch.« Verdens Gang »Übertrifft sogar noch den Vorgänger-Roman.« Jyllandsposten Eine ergreifende Geschichte von Schicksal, Hoffnung und Freundschaft. Das bewegende neue Werk der renommierten norwegischen Autorin Trude Teige über ein unbekanntes Stück Geschichte.
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Seitenzahl: 384
Trude Teige
Roman
»Egal, ob es stürmt oder ganz ruhig ist, die Wellen treffen das Land immer im selben Rhythmus. Und wenn du Angst hast oder traurig bist, musst du mit dem Meer atmen.«
Konrad und Sigrid treffen sich schweren Zeiten in einem Krankenhaus auf Java. Konrad hat nur knapp eine Odyssee überlebt: Die Japaner hatten sein Handelsschiff torpediert, auf dem auch sein Bruder Sverre arbeitete. Während Konrad sich erholt, verlieben er und Sigrid sich ineinander. Von Sverre gibt es noch immer keine Nachricht.
Inzwischen hat Japan, im Weltkrieg verbündet mit den Deutschen, weite Teile von Südostasien besetzt. Immer mehr europäische Zivilisten werden in Arbeitslager geschickt. Auch Konrad und Sigrid werden interniert. Im Frauenlager versucht Sigrid, ihre Mutter und ihre kleine Schwester Ingerid durchzubringen. Im Männerlager findet Konrad Halt in der Freundschaft mit anderen Europäern. Gemeinsam versuchen sie, ihr Überleben zu sichern.
Können sie alle die Hoffnung und ihre Menschlichkeit bewahren – für eine Zukunft, die über sie hinausweist?
Die dramatische Geschichte von Konrad, dem Großvater aus »Als Großmutter im Regen tanzte«, erzählt von der Enkelin Juni.
»Übertrifft sogar noch den Vorgänger-Roman.« Jyllandsposten
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Trude Teige ist eine der bekanntesten Autorinnen, TV-Moderatorinnen und Journalistinnen Norwegens. In ihren Romanen bietet sie einen bewegenden Einblick in unbekannte Stücke der Kriegs- und Nachkriegszeit und zeigt, wie das Schicksal auch die folgenden Generationen prägt. »Als Großmutter im Regen tanzte« stand monatelang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Auch ihr zweiter zeitgeschichtlicher Roman, »Und Großvater atmete mit den Wellen« wird in in viele Sprachen übersetzt. Trude Teige hat drei erwachsene Kinder und lebt mit ihrer Familie am Oslofjord.
Günther Frauenlob ist Übersetzer, Moderator und Literaturagent. Seit vielen Jahren überträgt er erzählende Literatur und Sachbücher aus dem Norwegischen und Dänischen. Seine Erfahrung und Einfühlsamkeit kamen ihm bei der Übersetzung von »Als Großmutter im Regen tanzte« und »Und Großvater atmete mit den Wellen« zugute.
[Widmung]
Vorwort
1943. Kapitel
4. April
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
1944. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
1945. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
53. Kapitel
54. Kapitel
55. Kapitel
56. Kapitel
57. Kapitel
58. Kapitel
59. Kapitel
60. Kapitel
61. Kapitel
62. Kapitel
63. Kapitel
64. Kapitel
65. Kapitel
66. Kapitel
67. Kapitel
68. Kapitel
69. Kapitel
70. Kapitel
1947. Kapitel
71. Kapitel
72. Kapitel
73. Kapitel
74. Kapitel
75. Kapitel
76. Kapitel
77. Kapitel
Nachwort
Dank
Für Papa, Kriegsheld und mein persönlicher Held
Wenn der Wind auffrischte und die Wellen weiße Kämme bekamen, nahm Großvater mich gerne mit zum höchsten Punkt der Insel, auf der wir wohnten. Von dort aus sah man in allen Richtungen das Meer. Er erzählte mir, dass wir beim Schlafen im Takt mit den Wellen atmen, die an Land schlagen. »Egal, ob es stürmt oder ganz ruhig ist, die Wellen treffen das Land immer im gleichen Rhythmus«, sagte er. »Und wenn du Angst hast oder traurig bist, musst du mit dem Meer atmen.«
Ich fragte mich, woher er so etwas wusste, doch wenn ich ihn fragte, sagte er nur lächelnd, dass er das schon vor langer Zeit von jemandem gelernt habe.
»Von wem?«, wollte ich wissen.
»Darüber reden wir ein andermal, wenn du groß bist«, lautete seine Antwort. Er wuschelte mir durch die Haare und erzählte von all den Orten, wo er als Seemann gewesen war. Die Namen der Städte wollten mir kaum über die Zunge: New York, Buenos Aires, Honolulu, Rotterdam, Bremerhaven. Ich liebte es, wenn er mich mit ans Meer nahm und mir von all dem erzählte, was er als junger Mann gesehen und erlebt hatte.
Großvater hat mir nie gesagt, von wem er gelernt hat, mit den Wellen zu atmen, aber schon als Kind dachte ich bei mir, dass er es nicht von Großmutter haben konnte. Sie atmete meistens viel zu schnell.
Erst als sie, Großvater und meine Mutter nicht mehr waren, fand ich heraus, dass meine Großmutter ihr ganzes Leben hindurch ein dunkles Geheimnis gehütet hatte. Sie war ein »Deutschenmädchen« gewesen. Erst nach ihrem Tod begann ich mich zu fragen, warum auch Großvater mir nie erzählt hatte, wie es ihm im Krieg ergangen war. Wo war er gewesen, was hatte er erlebt?
Jetzt, viele Jahre später, weiß ich, dass er bei all den Städten, von denen er mir als Kind erzählte, kein einziges Mal den Ort erwähnte, der ihn am meisten geprägt und fast gebrochen hatte. Wo er gelernt hatte, mit dem Meer zu atmen. Was dort und in der Zeit danach passiert ist, muss ihn aber zu dem sanften, feinfühligen Mann gemacht haben, der mir meine ganze Kindheit hindurch eine Sicherheit gab, wie sie weder meine Großmutter noch meine Mutter jemals in sich trugen.
Kragerø, Juni 2021
Juni Bjerke
Indischer Ozean vor der Küste von Java
Ein kräftiger Scheinwerfer tastete die drei Rettungsboote ab. Die Männer saßen stumm auf den Ruderbänken und starrten auf das U-Boot, das vor ihnen aus dem Meer ragte. Ein Netz wurde an der Außenseite heruntergelassen.
»Who is the captain?«
Niemand antwortete, und der japanische Offizier an Deck des U-Boots schrie: »Where is the captain?«
Kapitän Olaussen lag am Boden eines der Boote, er konnte sich kaum noch rühren. Er war auf dem Rettungsboot aufgeschlagen, als er von Bord der M/S Anitra ins Wasser zu springen versucht hatte, und hatte starke Schmerzen im Rücken. Als der Japaner keine Antwort erhielt, legten zwei der Soldaten an Deck des U-Bootes die Gewehre an.
Olaussen hob den Arm. »I … I am the captain.«
Nach einer kurzen Diskussion ließen die Japaner eine Trosse mit einem Haken daran zu dem Rettungsboot herab. Wild gestikulierend und in einer Mischung aus Japanisch und gebrochenem Englisch befahlen sie den Männern, Olaussen eine Leine um den Körper zu binden. Der Kapitän war hart im Nehmen, doch als er auf das Deck des U-Boots gehievt wurde, schrie er vor Schmerzen. Danach rief der japanische Offizier erneut etwas. Dieses Mal wollte er wissen, wer der erste Steuermann war. Niemand antwortete. Der Einzige, der Offiziersuniform trug, war der zweite Steuermann. Der Japaner deutete mit einem Revolver auf ihn und gab ihm zu verstehen, dass er an Bord des U-Boots kommen sollte. Tønnesen kletterte über das Netz am Rumpf nach oben, während der Japaner weitere Titel brüllte. »Funker!«
Sverre Bjerke saß still da. Eine Gefangennahme durch die Japaner bedeutete den sicheren Tod. Er hatte genügend Geschichten darüber gehört, wozu sie imstande waren. Auf keinen Fall würde er an Bord dieses U-Boots gehen. Seine Chancen waren auf einem offenen Rettungsboot größer als in japanischer Gefangenschaft. Er würde diesen verfluchten Krieg überleben und sein Bruder ebenso.
Wieder huschte das Licht des Scheinwerfers über die Männer. Sverre schirmte seine Augen mit der Hand ab und sah von Mann zu Mann. Es war windstill. Doch um in der leichten Strömung an der Seite des U-Boots zu bleiben, wie die Japaner es ihnen befohlen hatten, mussten sie trotzdem rudern. Wo war Konrad? In den Rettungsbooten waren kaum mehr als dreißig Mann. Was war mit den anderen Mitgliedern der zweiundfünfzigköpfigen Besatzung passiert?
Mittlerweile war es fast völlig dunkel, nur ein graublauer Streifen am Horizont erinnerte noch an den Tag. Im Maschinenraum der Anitra brannte es, und durch ein großes Loch im Rumpf lief das Dieselöl aus, das sie geladen hatten. Jederzeit konnte es sich entzünden, und dann würde das Meer in Flammen stehen. Weitere Soldaten tauchten auf dem Deck des U-Boots auf und montierten ein Gestell. Es war für ein Maschinengewehr bestimmt.
»Der da!«, rief plötzlich einer auf Englisch. »Das ist unser Funker!«
Sverre drehte sich um und sah, dass der chinesische Koch auf ihn zeigte. Was zum …! Der Offizier auf dem Deck richtete den Lauf seiner Waffe auf ihn.
»You?«, schrie er. »Get over here!«
Sverre stand auf und griff nach dem Netz am Rumpf des U-Boots. Er war schon fast oben, als er jemanden seinen Namen rufen hörte, sich umblickte und in einem der Rettungsboote einen Mann wild winken sah. Der Scheinwerfer streifte über die Boote, und für den Bruchteil eines Moments erkannte er Konrad. Sverre atmete erleichtert auf. Das Festland war weit entfernt, aber vielleicht würden die Männer ja von Schiffen der Alliierten aufgelesen, oder sie schafften es selbst nach Java oder besser noch nach Australien, wo sie wirklich in Sicherheit wären.
Der Himmel war dunkel und sternenlos, als er gemeinsam mit den vier anderen Offizieren der Anitra an Deck des U-Boots stand. Neben Kapitän Olaussen warteten dort der zweite Steuermann Tønnesen, der dritte Steuermann Hødnebø und Maschinist Larsen. Olaussen konnte sich kaum aufrecht halten, weshalb Sverre und Tønnesen ihn zwischen sich nahmen. Als Sverre den Fuß auf die oberste Sprosse der Leiter setzte, die ins Innere des U-Boots führte, explodierte die Anitra. Sverre sah noch, wie Konrad sich rücklings ins Meer warf. Dann schlugen auch schon Flammen und schwarzer Qualm nach oben. Er wurde weiter nach unten ins Boot gestoßen, als oben an Deck das Knattern des Maschinengewehrs begann.
Einige Stunden zuvor
Konrad Bjerke lag in seiner Koje auf der Anitra und verfluchte den Krieg. Seit er ein kleiner Junge gewesen war, bewunderte er seinen fünf Jahre älteren Bruder. Er wollte wie Sverre werden, es so machen wie er, alle Weltmeere befahren und in weit entfernten Häfen an Land gehen: New York, Buenos Aires, Honolulu, Madras. Alles Orte mit aufregendem, fremdem Klang, die er auf dem Globus seines Großvaters gesucht hatte. »Du hast ein helles Köpfchen«, hatte sein Bruder gesagt. »Dir stehen alle Möglichkeiten offen. Außerdem ist die Arbeit auf See wirklich verflucht hart. Mach eine gescheite Ausbildung, Konrad, du liest doch so gerne.«
Inzwischen bereute Konrad es, nicht auf seinen großen Bruder gehört zu haben. 1938 hatte er mit gerade einmal achtzehn Jahren als Leichtmatrose auf der Anitra angeheuert, wo Sverre als Funker arbeitete. Sein Plan war es gewesen, Steuermann zu werden, doch als der Krieg ausgebrochen war, hatte er all seine Ambitionen auf Eis legen müssen.
Die Anitra verkehrte zwischen Asien und Australien, und Konrad hatte sich glücklich geschätzt, so weit von dem Krieg in Europa entfernt zu sein. So konnte man sich irren! Er hätte nie gedacht, dass Japan in den Krieg eintreten würde. Aber dann war ein Jahr und achtzehn Monate nach der deutschen Besetzung Norwegens der Angriff auf Pearl Harbor erfolgt, und die USA hatten Japan den Krieg erklärt.
Japan führte schon seit ein paar Jahren Krieg in China, und es kursierten Gerüchte, dass die Japaner die Europäer aus allen Ländern Südostasiens vertreiben wollten, um ein neues, großes Imperium mit Kaiser Hirohito an der Spitze zu errichten. Die Geschehnisse in Asien hatten Konrad nicht sonderlich gekümmert, doch als Deutschland den USA vier Tage nach Pearl Harbor den Krieg erklärte, waren er und die anderen Männer an Bord der Anitra mit einem Mal mitten drin gewesen. Aus zwei getrennten Kriegen, einem in Asien und einem in Europa, war ein einziger, großer, weltumspannender Krieg geworden, der auf allen Weltmeeren ausgetragen wurde. Schon nach kurzer Zeit hatten die Japaner Hongkong, die britische Bastion Singapur, Burma, die Philippinen, die Salomon-Inseln, Britisch-Malaya und Niederländisch-Ostindien erobert.
Das permanente Gefühl, in Gefahr zu sein, zerrte an den Nerven. Alle an Bord spähten unablässig über die Reling und hielten nach Bewegungen auf dem Meer oder in der Luft Ausschau. Jeder schlief mit seinem Pass in der Innentasche, der Rettungsweste neben sich und geöffneten Kabinentüren, damit man sofort zu den Rettungsbooten laufen konnte, sollte der Alarm losgehen. Die Besatzung bestand aus Männern unterschiedlichsten Alters und Rangs, doch die Gefahr schweißte sie zusammen, und jeder wusste, dass sein Leben am nächsten Tag oder schon im nächsten Augenblick zu Ende sein konnte. Niemand redete darüber, als würde die Angst kleiner, wenn man so tat, als gäbe es sie nicht. Es brauchte aber nur ein Topf in der Kombüse zu Boden fallen oder irgendwo eine Tür zu knallen, und alle zuckten zusammen. Am schlimmsten war es für die Männer im Maschinenraum tief im Bauch des Schiffes, die nur eine dünne Stahlwand vor den feindlichen Geschossen schützte. Konrad war einmal dort unten gewesen, als in der Nähe Wasserbomben detonierten. Reflexartig hatte er sich zu Boden geworfen, während die anderen zu seinem Erstaunen nur für ein paar Sekunden mit ihrer Arbeit innegehalten hatten. Doch jedes Mal, wenn die Maschinisten auf Wacht gingen, verfinsterten sich ihre Mienen; das war ihm nicht entgangen. Sie hatten den weitesten Weg zu den Rettungsbooten und riskierten, bei einem Treffer hilflos im Schiffsrumpf eingeschlossen und mit in die Tiefe gezogen zu werden. Alle dachten daran, aber niemand sprach darüber.
Die Anitra war auf dem Weg von Abadan im Iran nach Darwin in Australien, beladen mit 13000 Tonnen Dieselöl für die Kriegsschiffe der Alliierten. Konrad hatte vor einer Stunde Dienst im Ausguck am vorderen Mast gehabt und dabei wieder einmal geglaubt, an Backbord eine Bewegung am Horizont ausgemacht zu haben. Möglicherweise ein auftauchendes U-Boot – das nasse Metall des Bootsrumpfs glänzte dabei immer wie ein Spiegel.
Wenn sie erst in Australien waren, wollte er seinen Bruder überreden, mit ihm dort zu bleiben. Es war bestimmt möglich, irgendwo weitab vom Krieg in einem Dorf Arbeit zu finden und abzuwarten, bis alles vorüber war. Ständig mit der drohenden Katastrophe im Hinterkopf zu leben, hielt er nicht länger aus. Obwohl sie sich in den Tropen befanden und es tagsüber unerträglich heiß wurde, steckte ihm die Angst wie Kälte in den Knochen. Er hatte seit Tagen nicht mehr richtig geschlafen und musste jede Nacht aufstehen und oben an Deck eine Zigarette rauchen, um sich zu beruhigen. Überall auf dem Indischen Ozean lauerten die Japaner, trotzdem hatten sie keine Eskorte bekommen. Er nahm sein Tabakspäckchen und stieg an Deck. Der Tag ging zu Ende, die Sicht war gut, und es wehte eine leichte, südliche Brise. Er genoss die milde Abendluft, während die Sonne sich dem Horizont näherte.
Am schlimmsten waren die Nächte, wenn die Dunkelheit alles verbarg. Konrad befeuchtete das Zigarettenpapier, versiegelte die Zigarette mit dem Finger und steckte sie sich zwischen die Lippen, ehe er die Verschnürung der Rettungsweste öffnete. Er lehnte sich an die Reling, zündete die Zigarette mit einem Streichholz an, nahm einen Zug und spürte, dass er ruhiger wurde. Es würde auch dieses Mal gut gehen, und in ein paar Tagen wären sie dann in Darwin.
Sverre hastete vom Funkraum auf die Brücke. Kapitän Nils Olaussen hatte ihn gerufen.
»Was ist los?«, fragte er.
Olaussen hielt das Fernglas in der Hand. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich etwas gesehen habe«, sagte der Kapitän angespannt und reichte Sverre das Glas.
»Wo?«
»Steuerbord vor dem Bug. Ein gutes Stück entfernt. Sehen Sie etwas?«
»Nein … ich glaube nicht«, antwortete Sverre nach einer Weile.
»Da war so ein Lichtschein. Es kann ein Flugzeug oder das Mündungsfeuer einer Schiffskanone gewesen sein.«
Sverre suchte noch einmal die Steuerbordseite ab. »Da ist nichts«, sagte er schließlich.
Olaussen atmete kurz und heftig durch die Nase. »Gut, dann sollten wir wie geplant mit den Schießübungen anfangen, bevor es dunkel wird.«
Die Anitra war mit einer Kanone und zwei doppelläufigen Lewis-Maschinengewehren auf beiden Seiten der Kommandobrücke ausgestattet, mit denen sie regelmäßig übten.
»Glauben Sie, dass wir jemals in einen Nahkampf geraten?«, fragte Sverre.
»Ich glaube gar nichts«, antwortete Olaussen und lächelte kurz. »Als wir in Abadan lagen, habe ich einen Rotkreuz-Brief von zu Hause erhalten. Ich bin Großvater eines kleinen Mädchens geworden. Wenn dieser Krieg vorbei ist, werde ich nach Hause fahren, um sie zu sehen. Ich freue mich schon darauf. Sind Sie verheiratet, Bjerke?«
»Ja.«
»Und haben Sie die größte Freude einer jeden Ehe erleben dürfen?«
»Was?« Sverre sah ihn etwas überrascht an.
»Ich meine, ob Sie Kinder haben? Was haben Sie denn gedacht?«, fragte er und sah Sverre verschmitzt an.
»Ja … äh … ich habe Zwillinge. Zwei Mädchen. Vier Jahre alt. Ich habe sie das letzte Mal kurz nach ihrer Geburt gesehen.«
»Ich bin Vater von fünf Jungs, da freue ich mich besonders, ein kleines Mädchen in der Familie zu haben«, sagte Olaussen. Plötzlich beugte er sich angespannt vor. »Da!« Er streckte den Arm aus. »Da war wieder dieses Blitzen.«
Er nahm das Fernglas, doch bevor er es an die Augen legen konnte, knallte es auch schon.
Der erste Torpedo traf mittschiffs. Nur Sekunden später schlug ein zweiter am Bug ein. Das Schiff zitterte. Sverre und der Kapitän warfen sich zu Boden und hielten sich die Hände über den Kopf. Metallsplitter und Scherben flogen um sie herum. Gleich darauf knallte es ein drittes Mal. »Setzen Sie einen Funkspruch ab!«, rief der Kapitän und gab den Befehl, die Maschinen zu stoppen, ehe er aus dem Ruderhaus ins Freie trat. Das Vordeck bestand nur noch aus verbogenem Stahl, und im Schiffsrumpf klaffte ein großes Loch. »Alle Männer in die Rettungsboote! Sofort!«, schrie er.
Sverre hastete in den Funkraum, sah aber gleich, dass der Strom unterbrochen war. Er versuchte noch einen Funkspruch über die Notbatterie abzusetzen, doch es geschah nichts. Dann hörte er Schritte, Rufe, das Geräusch von Ketten und Tauen und begriff, dass die Beiboote zu Wasser gelassen wurden. Rauch schlug ihm entgegen, als er die Tür zum darunterliegenden Kabinendeck aufriss. »Konrad!«, schrie er, bekam aber keine Antwort. Die Codebücher, dachte er plötzlich, stürmte zurück in den Funkraum, nahm einen Lederbeutel, stopfte ein Bleilot hinein und ging an Deck. Noch einmal hielt er nach Konrad Ausschau, konnte ihn aber nirgends sehen. Die Mannschaft hatte drei Rettungsboote zu Wasser gelassen, und viele Männer waren bereits ins Meer gesprungen.
Sverre warf den Lederbeutel mit den Codebüchern ins Wasser, ehe er über die Reling kletterte. Auch in den Rettungsbooten entdeckte er Konrad nirgendwo. Die See um sie herum war wie ausgestorben, weit und breit kein anderes Schiff zu sehen. Wo war der Torpedo hergekommen? Die Männer in den Rettungsbooten begannen von der Anitra wegzurudern; das Schiff brannte an verschiedenen Stellen und drohte zu explodieren, und sollte es untergehen, liefen sie Gefahr, von dem Sog in die Tiefe gerissen zu werden. Auf dem Meer lag bereits eine glänzende Schicht Öl. Sverre hielt die Luft an. Dann ließ er die Reling los und sprang ins Wasser.
Er schwamm hinter einem der Rettungsboote her, doch als er zu rufen versuchte, bekam er Öl in den Mund und musste ausspucken.
»Da ist der Funker!«, hörte er plötzlich.
Eines der Rettungsboote machte kehrt, und gleich darauf wurde er von starken Armen an Bord gezogen. Als sein Blick wieder zur Anitra ging, sah er den Kapitän. Gerade als er springen wollte, geriet das Schiff in Schieflage, so dass er den Abstand falsch berechnete und auf eines der Rettungsboote schlug, bevor er ins Wasser fiel. Der Kapitän schrie vor Schmerz, als die Männer ihn an Bord zogen. Aus dem brennenden Schiff stieg schwarzer Rauch auf, der sie kaum atmen ließ. Sie ruderten aus aller Kraft. »Pullt, pullt!«, riefen die Männer.
Nach einer Weile hatten sie den Ölteppich hinter sich. Die Männer an den Rudern machten eine kurze Pause, saßen schweigend da und sahen zur Anitra, die immer mehr Schlagseite bekam.
Um das Schiff war das Meer blank wie ein schwarzer Spiegel. Da wurde die Stille plötzlich von einem Motorengeräusch durchbrochen, und ein Schatten kam auf sie zu.
Es war ein U-Boot.
Die Turmluke öffnete sich, und ein japanischer Offizier in schwarzer Uniform kam zum Vorschein. Hinter ihm folgten weitere Soldaten. Jeder einzelne schwer bewaffnet.
4. April, Catherine Booth’s Hospital, Java, Indonesien
Sigrid Greve blieb stehen und verbeugte sich vor dem japanischen Soldaten, der am Tor des Krankenhauses Wache hielt, ehe sie weiter durch den Garten ging und den Duft der gelben Kletterrosen neben der Treppe einsog. Auf der obersten Stufe blieb sie stehen, fuhr sich mit den Fingern durch die langen, blonden Haare, teilte sie zu drei Strähnen und flocht sie langsam zu einem Zopf.
Das Krankenhaus war ein typisches Landhospital, ursprünglich ein alter Bungalow, erbaut vor mehr als hundert Jahren als Landsitz eines Plantagenbesitzers. Ein Dach erstreckte sich über die Veranda, die mit kleinen Tischen, Lehnstühlen und Sofas als Außenraum eingerichtet worden war. Hier konnten Patienten, denen es gut genug ging, vor der Sonne geschützt ausruhen.
Der Morgendunst lag wie ein seidenes Band um die Palmen und großen Birkenfeigen. Weiter oben an den Hängen verdeckte er die Reisfelder und die bunten Rosenbüsche an den terrassierten Hängen. Wenn die Sonne zum Vorschein kam, glänzten die Tautropfen wie Kristalle. An manchen Stellen war der Nebel durchsichtig, die Luft noch frisch, doch bald würden Sonne und Hitze wieder die Oberhand gewinnen. Eine Gruppe Männer kam aus dem Dunst den Pfad herunter. Die Körbe, die sie an Stangen über den Schultern trugen, waren voller Früchte und Gemüse. Hinter ihnen folgten Frauen mit Körben voller Blumen. Einige trugen Säuglinge in ihrem Selendang, einem langen Tuch, das sie um Schultern und Oberkörper geschlungen hatten. Sie alle waren auf dem Weg von den kleinen, überall verstreuten Dörfern zu dem Markt in der Stadt, um ihre Waren zu verkaufen. Ein paar kleine Mädchen sprangen mit weißen Blüten in den Haaren zwischen ihnen hindurch. Sigrids Blick ging an ihnen vorbei zu den Bergen und Hügelzügen dahinter. »Blauende Berge« hatte ihr Vater das einmal genannt, als sie Ferien in den Fjorden an der norwegischen Westküste gemacht hatten. Sie war zehn Jahre alt gewesen, als ihre Familie von Kristiansand nach Java gezogen war, jetzt war sie zwanzig. Manchmal sehnte sie sich nach Norwegen zurück, wo alles so anders war als hier. Winter mit Strickmützen und Handschuhen, Schnee und Skiern und Sommer mit Krabbenfischen, Lagerfeuern und Sonnenbaden auf flachen Uferfelsen gemeinsam mit Cousins und Cousinen. Nachdem die Japaner Java besetzt hatten, war die Sehnsucht größer geworden. Doch jetzt war es völlig unmöglich, irgendwohin zu reisen.
Sigrid fand ein Band in ihrer Tasche und knotete es um das Ende ihres Zopfes. Wie so oft vor der Arbeit hatte sie den Pfad genommen, der an den Felsen entlangführte. Ihre Gedanken waren weit weg gewesen, bei ihren Verwandten auf der anderen Seite der Erde. Das Meer war wie eine Brücke, die ihre beiden Welten miteinander verband. Zu Hause sprach sie mit ihren Eltern und ihrer Schwester immer nur Norwegisch, und jeden Donnerstag gab es norwegisches Essen. Ihre Mutter hatte den Koch gelehrt, Fleischbällchen mit Erbsenpüree, Kohlrouladen und Fleisch in brauner Soße zu machen. Und sogar einige Nachtische hatte er gelernt – Pflaumenkompott, Karamellpudding und Verschleierte Bauernmädchen.
Java gehörte zu Niederländisch-Ostindien, und Sigrid war auf eine niederländische Schule gegangen. Außerdem sprach sie Javanisch, da sowohl ihr Kindermädchen als auch der Koch Einheimische waren. Der Gärtner war obendrein Japaner und hatte ihr genug Japanisch beigebracht, um einfache Gespräche zu führen. Englisch und Französisch hatte sie in der Schule gelernt.
Die beinahe still stehende Luft war angefüllt von dem Duft der Blumen im Krankenhausgarten. Sigrid glaubte, die Wellen zu hören, die in der Ferne gleichmäßig an die Felsen schlugen. Auf dem Rasen vor dem Haus stolzierte ein Pfau herum, und große Schmetterlinge mit schwarz-weißen Flügeln schwirrten hin und her. Dann übernahm die Sonne langsam die Regie, der Dunst löste sich auf, und Gras und Bäume begannen zu dampfen.
Gleich darauf durchbrach ein kräftiges Motorengeräusch die Idylle. Ein Lastwagen fuhr vorbei. An der Seite prangte eine rote Sonne mit kräftigen Strahlen auf weißem Grund. Auf der Ladefläche standen dicht an dicht japanische Soldaten. Die Bajonette auf ihren Gewehren zeigten zum Himmel und erinnerten an einen Wald.
Vor etwas mehr als einem Jahr hatten die Japaner Java besetzt. Die Alliierten hatten sich ergeben, und das Personal im Krankenhaus hatte das Schlimmste befürchtet, schließlich kursierten Gerüchte über Massaker an Patienten und Angestellten in anderen von den Japanern besetzten Ländern. Es war aber nicht viel passiert, ein japanischer Offizier hatte lediglich alle Angestellten in den Garten beordert und ihnen mitgeteilt, dass das Krankenhaus nun unter japanischer Leitung stehe und sie als Angestellte keinerlei Rechte mehr hätten. Gleiches gelte für die Heilsarmee, unter deren Leitung das Krankenhaus vorher gestanden hatte. Es war ein Wachmann am Tor platziert worden, um zu kontrollieren, wer kam und ging, sie hatten aber weiterhin verletzte Australier, Niederländer und britische Soldaten behandeln dürfen. Viele, die sich in den Bergen versteckt hatten, waren mit der Zeit von den Japanern aufgegriffen worden. Waren die Patienten gesund genug, wurden sie abgeholt und in das Gefangenenlager außerhalb der Stadt gebracht, so dass sie mittlerweile nur noch wenige alliierte Soldaten betreuten.
Hinter ihr wurde die Tür geöffnet. Einer der Ärzte, der Holländer Cornelis van Hoosen, trat neben sie und wünschte ihr einen guten Morgen. Mit einem ärgerlichen Hupen scheuchte der Lastwagen in der Kurve ein entgegenkommendes Auto zur Seite. Dem Fahrer gelang es gerade noch auszuweichen, und als der Wagen gleich darauf am Krankenhaus vorbeifuhr, sah Sigrid einen Mann und eine Frau mit zwei Kindern auf der Rückbank. Auf dem Dach waren Matratzen befestigt, und auf dem übervollen Anhänger erkannte sie zwischen Kisten und Kästen einen Schrank.
»Es ist zu spät, man kommt hier nicht mehr weg«, sagte Cornelis. »Wir sind auf allen Seiten vom Meer umgeben, und Schiffe, die uns nach Europa bringen könnten, gibt es nicht. Wir sind verurteilt zu bleiben.«
»Was glaubst du, wird mit uns geschehen?«, fragte Sigrid.
»Das weiß niemand, aber die Niederlande haben Japan den Krieg erklärt, als Erstes werden sie es wohl auf uns abgesehen haben.«
»Aber was wollen die denn hier?«
»In erster Linie geht es ihnen vermutlich ums Öl. Aber sie haben auch Größenphantasien. Sie wollen unter ihrem heiligen Kaiser ein Weltreich errichten. Nur die Götter wissen, was die mit uns anstellen werden.«
»Mit den Holländern?«
»Ja, mit uns und all den anderen Imperialisten und Vertretern der Kolonialmächte. Wir haben den Javanern ihr Land genommen, und jetzt haben die Japaner es uns genommen. Die Alliierten sind überall in Südostasien besiegt worden. Zehntausende, vielleicht Hunderttausende Soldaten sind in Gefangenschaft geraten. Und jetzt verhaften sie auch Zivilisten. Vorläufig haben sie es nur auf die Männer abgesehen, aber was passiert mit den Frauen, wenn die Männer interniert sind? Wie sollen all diese verwöhnten, gintrinkenden Kolonialherrinnen, die Diener und Kindermädchen gewohnt sind und sich nur für die nächste Cocktailparty interessieren, zurechtkommen, wenn alles in Auflösung gerät und ihre Männer fort sind?«
Eine perfekte Beschreibung meiner Mutter, dachte Sigrid.
»Das Leben wird ein anderes sein. Sie werden sich darin nicht zurechtfinden«, fuhr er fort. »Und nicht nur die Japaner hassen die Europäer. Auch die Einheimischen werden sich erheben, wenn sie sehen, dass die Reiche ihrer Kolonialherren zusammenbrechen. Sie wollen hier weder die Japaner noch die Europäer haben. Das Leben auf Java, wie wir es kennen, ist für immer zu Ende.«
»Wie kannst du dir da so sicher sein?«
»Früher oder später wird das Volk aufstehen. Es ist die Unterdrückung leid. Ob in Krieg oder Frieden, sie werden sich gegen die Invasoren erheben, gegen die Japaner ebenso wie gegen uns, die wir schon vor mehreren hundert Jahren hierhergekommen sind.«
Sigrid betrachtete ihn nachdenklich. Cornelis war der jüngste der drei Ärzte, die im Krankenhaus arbeiteten. Er war unverheiratet und vielleicht zehn Jahre älter als sie. Sein autoritärer Charme beruhte auf seiner Kompetenz als Arzt, sonderlich attraktiv war er aber nicht. Die rötlichen Haare waren dicht, seine Haut eher rot als braun, und zwischen seinen Schneidezähnen klaffte eine große Lücke, wodurch sein Lächeln etwas schelmisch wirkte. Sigrid mochte ihn, er war lustig, offen und hatte einen guten Draht zu den Patienten.
»Bushidō«, sagte er.
»Was ist das?«
»Der Ehrenkodex der Japaner. Es ist besser zu sterben, als in Schande zu leben. Und was die Frauen angeht … Frauen werden als unterlegen betrachtet, als eigensinnig und dumm.« Er stieß sie leicht in die Seite und hatte ein Zwinkern in den Augen. »Genau deine Eigenschaften, Sigrid.«
»Woher weißt du das alles?«
»Ich habe ein Jahr lang in einem Krankenhaus in Tokio gearbeitet. Da kam ich gerade frisch von der Universität.« Er sah sie ein paar Sekunden lang voller Ernst an, ehe er sagte: »Du darfst einem japanischen Soldaten nie direkt in die Augen blicken, Sigrid. Vergiss das nie.«
Konrad saß auf der Reling des Rettungsbootes und sah seinen Bruder, den Kapitän und drei andere Offiziere an Bord des U-Bootes gehen. Als Sverre gerade Anstalten machte, im Turm des U-Boots zu verschwinden, explodierte die Anitra mit einem gewaltigen Knall. Für einen Moment war Konrad zurück in seiner Kindheit, fünf Jahre alt, im Hafen von Kristiansand. Er roch das brennende Öl, stand im Rauch, der sich als dicker Teppich über den Kai legte, und hörte seinen Vater rufen: »Lauf, lauf, sieh zu, dass du wegkommst!« Instinktiv ließ er sich rücklings ins Wasser fallen und verharrte hinter dem Rettungsboot, während der Puls in seinen Ohren pochte. Er rang nach Atem. Gleich darauf hörte er dumpfe Einschläge im Boot und im Wasser, Projektile schwirrten wie ein Schwarm wütender Wespen um ihn herum. Erst als die Männer in den Rettungsbooten zu schreien begannen, verstand er, was da vor sich ging.
Die Japaner beschossen sie mit dem Maschinengewehr!
Er holte tief Luft, tauchte unter und schwamm in Richtung U-Boot. Um ihn herum war das Meer in Scheinwerferlicht gebadet, so dass er den Rumpf des U-Boots gut erkennen konnte. Aus Angst, dass die Japaner ihn entdeckten, schwamm er so schnell wie möglich. Erst ganz dicht am Boot tauchte er auf. Leise atmend drückte er sich an den kalten Stahl und strich sich das Wasser aus den Augen. Die Schreie seiner Kollegen in den Rettungsbooten vermischten sich mit den Kommandorufen der Soldaten, die weiterhin auf die wehrlosen Seeleute feuerten. Der Motor des U-Boots arbeitete im Leerlauf, und nach kurzer Zeit hörte Konrad nur noch leises Jammern. Er bog den Kopf zurück und sah nach oben. Über ihm standen die Japaner, der Lauf des Maschinengewehres zeigte noch immer auf die Rettungsboote. Wenn sie nach unten blickten, würden sie ihn sehen, da er nur zum Teil von der Wölbung des U-Bootrumpfes verborgen wurde. Ein Kommando ertönte, und eine weitere Gewehrsalve wurde über ihm abgefeuert. Konrad holte tief Luft und tauchte erneut unter. Er konzentrierte sich darauf, ruhig und mit langsamen Zügen zu schwimmen, ohne zu viel Kraft aufzuwenden – wie wenn er zu Hause in Grimstad vom Torskeholmenkai sprang und lange unter Wasser blieb, um sich beim Wettschwimmen über den Fjord zum Sommerpensionat auf Rønnes einen Vorsprung herauszuarbeiten. Als er sich der anderen Seite des U-Boots näherte, fühlte es sich an, als wollten seine Lungen zerspringen.
Noch ein bisschen, noch ein kleines Stück, ich schaffe das, redete er sich zu. Als er auftauchte, hatte er nicht das kleinste Fitzelchen Luft mehr in seinem Körper. Nach einer Weile verstummten die Schüsse. Dann wurde die Turmluke mit einem metallischen Geräusch geschlossen. Kurz darauf kam Leben in den Motor, und das U-Boot begann langsam Fahrt aufzunehmen. Konrad stieß sich mit den Füßen vom Rumpf ab, um möglichst weit von der Schraube wegzukommen, spürte in Höhe des Achterendes aber den Sog. Er kraulte mit aller Kraft weiter, und gerade als er dachte, dass er nun wirklich nicht mehr konnte und dass nun alles vorbei sei, nahm der Sog ab und das Schiff verschwand langsam im Dunkel.
Als der Mond herauskam, sah er nicht weit entfernt eines der Rettungsboote. Er drehte sich auf den Rücken und blieb einen Moment erschöpft liegen, um Kraft zu sammeln. Dann kam ihm in den Sinn, dass das Blut der Toten Haie anlocken würde! Über ihm schob sich der Mond zwischen zwei Wolken. Das Rettungsboot trieb langsam von ihm weg. Für einen Moment übermannte ihn Hoffnungslosigkeit, dann riss er sich zusammen und begann zu schwimmen. Gerade als er die Reling packen wollte, glaubte er hinter sich ein Geräusch zu hören. Seine Finger fanden an der öligen Kante keinen Halt und rutschten ab. Dafür bekam er die Leine des Bootes zu fassen, die im Wasser trieb. Gleichzeitig sah er hinter sich eine Bewegung. Das Geräusch kam näher. Er biss die Zähne zusammen, packte die Reling erneut mit einer Hand, schob den anderen Arm hinüber und winkelte ihn wie einen Haken an. Mit letzter Kraft zog er sich über den Rand, schwang das andere Bein hinterher und landete im Rettungsboot auf einem toten Kameraden. Wie gelähmt sah er sich um und bemerkte die anderen. Einige saßen am Boden, andere lagen halb übereinander. Im Mondlicht erkannte er die großen dunklen Flecken auf ihren Kleidern. Es war Blut. Kein Zeichen von Leben. Nur das Gurgeln des Wassers in den Einschusslöchern war zu hören. Er sah über die Reling und nahm einen Schatten dicht am Boot wahr. Im nächsten Moment war der Mond wieder hinter den Wolken verschwunden, und alles wurde finster.
Es fühlte sich an, als wäre die Welt untergegangen. Mit ihm als einzigem Überlebenden.
Er musste sich um die Toten kümmern, er musste Holzzapfen finden, um die Löcher abzudichten, er musste … Dennoch saß er in den nächsten Minuten einfach nur da, ohne etwas anderes zu tun, als zu weinen.
Irgendwann versiegten die Tränen, er wischte sich die Nase mit dem Handrücken ab und begann die Männer zu untersuchen. Als er den ersten Toten über die Reling hievte, sah er eine Bewegung im Wasser. Der Hai war wieder da. Und es war nicht nur ein Hai, es waren zwei oder noch mehr. Er hielt sich die Hand vor den Mund, um sich nicht zu übergeben, während die Haie um den toten Körper stritten, und zwang sich weiterzumachen. Ein Toter nach dem anderen landete in dem vom Kampf der gierigen Haie aufgewühlten Meer. Sein letzter Kamerad war der zwanzig Jahre alte Jakob aus Flekkefjord, den sie nur »Blitz« genannt hatten.
Irgendwo auf dem Atlantik hatten sie, als das Meer einmal ganz still gewesen war und das Schiff sich kaum bewegt hatte, einen Wettbewerb abgehalten. Die Männer waren vom Bug über das Vordeck hinauf zur Brücke gelaufen, dann wieder hinunter und über das Achterdeck zurück zum Bug. Insgesamt fünf Runden. Der Kapitän hatte oben neben der Kommandobrücke gestanden und die Zeit genommen. Jakob hatte souverän vor Konrad gewonnen und sich damit seinen Spitznamen verdient. Neben seinem Bruder Sverre war Jakob Konrads engster Vertrauter gewesen. Er hatte im Maschinenraum gearbeitet und damit einen der risikoreichsten Posten gehabt. Die Brücke mag der Kopf sein, im Maschinenraum aber schlägt das wahre Herz des Schiffes, hatte er immer gesagt. Sie beide hatten viel Spaß miteinander gehabt, sowohl an Bord als auch in den Häfen. In Singapur hatten sie sich um Kopf und Kragen gesoffen, in Hongkong hatte Jakob ihn in ein Haus mit roten Laternen geschleppt und in Rotterdam hatte er ihn überredet, sich auf dem rechten Unterarm tätowieren zu lassen. Eine Meerjungfrau mit spitzen Brüsten. Damals hatte Konrad die Idee richtig gut gefunden, er hatte sich wie ein echter Seemann gefühlt.
Ohne große Hoffnungen legte Konrad zwei Finger an Jakobs Hals, doch als er sich bereit machte, ihn über die Reling zu hieven, hielt er mitten in der Bewegung inne und tastete noch einmal nach dem Puls. Dieses Mal legte er die Fingerkuppen direkt neben den Kehlkopf. Nein … Doch! Er hielt sein Gesicht dicht vor Jakobs Lippen.
Er atmete!
Jakobs Kopf war unverletzt, auf seinem Hemd und seiner Hose aber war viel Blut. In einer der Schotten neben dem Erste-Hilfe-Kasten fand Konrad einen Lappen, tauchte ihn ins Meerwasser und wusch damit Jakobs Gesicht. Dann tätschelte er ihm die Wangen. »Jakob!«, rief er mehrere Male. »Hörst du mich?«
Jakob stöhnte leise. Konrad schnitt Hemd und Hose seines Kameraden auf und sah, dass dieser eine Schusswunde im Oberschenkel und eine weitere in der Schulter hatte. »Jakob?« Die Augenlider zuckten leicht. Eine halbvolle Flasche Wasser trieb im Boot. Konrad nahm sie, drückte Jakobs Kopf auf seine Brust und legte ihm die Flasche vorsichtig an die Lippen. Jakob blinzelte und öffnete den Mund ein Stück weit, so dass Konrad ihm ein wenig Flüssigkeit einflößen konnte.
»Wir sind im Rettungsboot«, sagte er.
Jakob flüsterte etwas Unverständliches.
»Du bist verletzt. Wir müssen sehen, dass wir an Land kommen.«
Er setzte sich hinter Jakob, packte ihn unter den Armen und zog ihn zu sich. »Wir haben Ruder, Mast und Segel. Mit ein bisschen Wind werde ich es schon nach Australien schaffen und dich in ein Krankenhaus bringen«, sagte er und versuchte, optimistisch zu klingen.
Jakob antwortete nicht. Konrad war zum Umfallen müde, durfte aber nicht ruhen, er musste das Boot abdichten und das Wasser herausschöpfen. Sein Blick ging über die spiegelblanke Meeresoberfläche. Im Osten zeigte sich bereits ein rosa Schimmer am Himmel, bald würde die Sonne aufgehen. Kein Wind kräuselte das Wasser. Die Haie waren fort. Fünf Männer hatte er ihnen überlassen. Zwei von ihnen waren Norweger gewesen, Morten aus Sandefjord und Håvard aus Bergen. Vielleicht sollte er ein Gebet sprechen und ein paar Worte sagen, wie man es auf Beerdigungen tat, dachte er.
Seit er neun war, hatte er bei seinen Großeltern auf einer Insel bei Grimstad gelebt. Sie hatten jeden Sonntag das Boot genommen und waren gemeinsam zur Kirche gefahren, weshalb er sich nie mit der Frage auseinandergesetzt hatte, ob es Gott wirklich gab.
Jetzt tat er es.
Konrad murmelte: »Wenn es dich gibt, dann kümmere dich bitte um meine Kameraden. Und um Jakob und mich.«
An Bord des U-Bootes wurden Sverre und die vier anderen Norweger in einen Raum gesperrt, der kaum größer als eine Besenkammer war. Die Lampe wurde ausgeschaltet, durch das Ventil über der Tür sickerte aber so viel Licht, dass sie einander vage erkennen konnten, nachdem die Augen sich an das Dunkel gewöhnt hatten.
»Diese verdammten Teufel«, zischte Kapitän Olaussen durch zusammengebissene Zähne. Danach sagte keiner mehr etwas. Sverre saß regungslos da, bis er die Stirn auf die Knie legte, sein Kopf war einfach zu schwer. Niemand schwamm so gut wie Konrad, aber hatte ihn das vor den Maschinengewehrsalven retten können?
Etwas später untersuchte Sverre Kapitän Olaussen. Er tastete den Arm vom Handgelenk aufwärts ab und spürte dicht unter dem Ellenbogen etwas, das dort nicht sein sollte. Olaussen stöhnte ein weiteres Mal auf, als Sverre die Fingerkuppen auf die Rippen des Kapitäns legte.
»Ich glaube, Ihr Arm und einige Rippen sind gebrochen«, sagte Sverre. »Der Arm muss geschient werden, und Ihren Rücken sollte sich ein Arzt anschauen. Vielleicht ist ja einer an Bord?«
»Von diesen verfluchten Kerlen fasst mich keiner an«, fauchte Olaussen. »Das wird schon wieder.«
In dem kleinen Raum war es eng und stickig, und der Gestank von Schweiß und Dreck mischte sich mit dem beißenden Geruch des Öls, das ihnen in den Kleidern und Haaren klebte. Der Hunger quälte sie, am schlimmsten aber war der Durst. Nachdem Stunden vergangen waren, ohne dass jemand mit Essen oder Trinken aufgetaucht wäre, hämmerte Larsen, der Maschinist, an die Tür. Allem Anschein nach war draußen ein Wachmann postiert worden, denn sofort öffnete jemand. Larsen deutete auf den Kapitän und tat so, als tränke er aus einer Flasche. »Water, please«, sagte er.
Der Japaner antwortete etwas in seiner Sprache und warf die Tür zu.
Erst Stunden später wurde sie wieder geöffnet und der Kapitän herausgerufen. Trotz seiner offensichtlichen Schmerzen gingen die zwei Soldaten ziemlich unsanft mit ihm um.
»Was passiert jetzt?«, fragte Tønnesen.
Er erhielt keine Antwort. Alle fürchteten das Schlimmste. Erst nach einer ganzen Weile wurde die Tür wieder geöffnet und Olaussen in die Kammer gestoßen. Die Männer legten ihn auf den Boden und sahen im Licht der Deckenlampe, die seit seiner Abwesenheit eingeschaltet war, dass seine Uniform vom Schweiß durchnässt war. Olaussen versuchte etwas zu sagen, brachte aber nur ein schweres Keuchen hervor.
»Haben sie Ihnen etwas angetan?«, fragte Hødnebø.
»Verhör«, flüsterte Olaussen.
Gleich darauf ging die Tür erneut auf. Jetzt war Sverre an der Reihe. Die Wache stieß ihn über den Gang und in eine andere Kabine hinein. Hinkend versuchte er, seine Oberschenkel zu massieren, damit der Blutkreislauf wieder in Gang kam.
Hinter einem Vorhang saß der Offizier, der an Deck gewesen war. Er trug eine schwarze Uniform mit goldenen Schnüren unterschiedlicher Dicke, die von den Schultern zu den Knöpfen reichten, und weiße Handschuhe. Die Mütze hatte er zusammen mit dem Schwert auf den Tisch gelegt. Neben ihm saß ein Mann in schlichterer Uniform. An der Wand hinter ihnen prangte ein großes Porträt des japanischen Kaisers. Der Mann, der Sverre geholt hatte, brüllte ihm etwas ins Ohr, und als er nicht reagierte, drückte er ihm den Kopf zu einer tiefen Verbeugung nach unten. Der Offizier mit den goldenen Bändern – er musste der Kapitän des U-Bootes sein – stieß ein paar kurze, hart klingende Worte aus, die der andere ins Englische übersetzte.
»Name?«
»Sverre Bjerke.«
»Stellung?«
»Funker.«
»Alter?«
»28 Jahre.«
»Woher kam das Schiff?«
Sverre verstand, dass sie ihm Informationen über das Schiff, die Mannschaft, die Ladung und die Route entlocken wollten, um so etwas über die Versorgungswege der Alliierten zu erfahren. Und sicher auch über die Codes, mit denen sie ihre Nachrichten verschlüsselten. Vermutlich stellten sie den anderen die gleichen Fragen, so dass sie schnell herausfinden würden, wenn jemand log. Nur die Götter wussten, was dann mit ihnen passieren würde.
»Wir kommen aus Abadan«, sagte er.
»Ladung?«
»Dieselöl.«
»Zielhafen?«
»Darwin, Australien.«
Die Japaner hatten viele Fragen, und Sverre antwortete, so gut er konnte.
»Die Anitra gehört der Reederei Claussen in Kristiansand, Brutto-Tonnage 9650 Tonnen«, sagte er. »Sie hatte zwei Dieselmotoren des Typs Burmeister & Wain und macht …« Er korrigierte sich selbst, »sorry, machte, 13 Knoten.«
»Haben Sie ein Notsignal gesendet, als die Torpedos Sie trafen?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Wir hatten keinen Strom.«
»Sie lügen.«
»Nein.«
»Welchen Code nutzen Sie?«
»Das weiß ich nicht.«
»Sie lügen.«
»Nein.«
Der erste Steuermann war im Rettungsboot geblieben, weshalb er zu lügen wagte.
»Nur der erste Steuermann hat Zugang zu den Codes«, sagte er. »Und der ist tot. Sie haben ihn getötet.«
Der Japaner starrte ihn eine Weile an. Dann erhob er sich, kam um den Tisch herum und stellte sich dicht vor Sverre. Ihre Nasenspitzen waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt.
»Sie kennen die Codes, Sie sind Funker.«
»Nein, ich kenne sie nicht.«
Der U-Boot-Kapitän trat einen Schritt zurück und schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. Der Schlag kam für Sverre so überraschend, dass sein Kopf zur Seite kippte. Er richtete sich wieder auf, spürte das Ziehen in seiner Kiefermuskulatur und sagte sich, dass sie ihn nicht brechen würden.
Der Offizier drückte seinen Kopf mit der Hand herunter und zwang Sverre, sich zu verbeugen, bis Oberkörper und Beine einen Neunzig-Grad-Winkel beschrieben. Sverre musste die Hände auf dem Rücken halten, durfte sich nicht auf den Knien abstützen und blieb in dieser Haltung stehen, bis der japanische Offizier irgendetwas schrie. Anschließend wurde er zu den anderen zurückgebracht.
»Ich habe gesagt, dass niemand von uns die Codes kennt, nur der erste Steuermann«, raunte er den anderen zu, ehe der Maschinist aus der Kammer geführt wurde.
Mal saßen sie im Stockdunkeln da, mal brannte das Licht.
Sie wussten weder, ob es draußen Tag oder Nacht war, noch wie viel Zeit zwischen den Mahlzeiten verging. Ihr Hunger sagte ihnen aber, dass sie kaum öfter als einmal am Tag zu essen bekamen. Wasser gab es nur zu diesen Gelegenheiten, so dass sich ihre Münder bald rau wie Sandpapier anfühlten.
Über mehrere Tage hinweg wurden sie immer wieder einzeln verhört. Doch da sie es schafften, sich gegenseitig zu berichten, was sie gefragt worden waren und was sie geantwortet hatten, schienen die Japaner keine Widersprüche in ihren Aussagen finden zu können.
»Sie lügen«, wiederholte der Kapitän bei Sverres nächstem Verhör. »Sie kennen die Codes.«
»Nein«, antwortete Sverre entschieden.
Der Kapitän sagte etwas auf Japanisch, und der Übersetzer deutete auf das Samuraischwert, das vor ihm auf dem Tisch lag. »Legen Sie mal einen Finger an die Klinge.«
Sverre starrte auf das Schwert.
»Kotō tachi«, sagte der Kapitän.
Das lange Schwert, lautete die Übersetzung.
»Strecken Sie die Hand nach vorn.«
Sverre erhielt einen Stoß in den Rücken, und der Kapitän packte seine Hände und drückte einen Finger gegen die Klinge. Sverre zuckte zusammen. Aus einer tiefen Wunde sickerte Blut.
Schließlich beugte der Kapitän sich vor und raunte ihm etwas zu.
»Der Kapitän wird Sie enthaupten, weil Sie lügen«, sagte der Übersetzer. »Er weiß, dass Sie die Codes kennen, die Sie nutzen.«
»Ich sage die Wahrheit«, antwortete Sverre.
Er spürte, wie ihm kalt wurde, während der Kapitän ihn weiter anstarrte, ohne etwas zu sagen.
Dann gab er einen neuen kurzen Befehl, und Sverre wurde abgeführt.
Im Laufe des Tages war es Konrad gelungen, die Einschusslöcher mit Hilfe der Holzzapfen zu verschließen, die zur Ausrüstung des Rettungsbootes gehörten. Er schöpfte das Boot fast vollständig leer und bettete Jakob im Bug des Bootes so komfortabel wie möglich auf eine Persenning. Im Erste-Hilfe-Kasten war eine Flasche Jod. Jakob schrie auf, als Konrad die Schusswunden mit einem Wattebausch abtupfte und anschließend verband. Jakob war durch den Blutverlust geschwächt, aber bei Bewusstsein.
Das Boot hatte auch Notproviant an Bord. Einiges davon war von Kugeln durchsiebt oder durch Salzwasser unbrauchbar geworden, aber ein paar der Milchdosen waren noch heil. Es gelang ihm, Jakob eine halbe Dose davon einzuflößen und ihm noch zwei Kekse in den Mund zu schieben. »Made in Japan« stand auf der Verpackung. Unter dem Proviant waren auch ein paar hellbraune Tabletten mit der Aufschrift »Horlicks«, die sehr nahrhaft sein sollten. Das hatte man ihnen jedenfalls bei der Einweisung in die Ausrüstung der Rettungsboote gesagt. Der Geschmack erinnerte etwas an Karamell, aber auch hiervon hatten sie nur zwei Packungen, der Rest war Opfer des Wassers geworden. Auch der Kocher wollte nicht funktionieren, weshalb er eine Tüte Gemüsesuppe in kaltes Wasser rührte und dann in die Sonne stellte, ehe er die Suppe trank. Jakob wollte nichts davon.