Das Herodes Komplott - Mika Lotharson - E-Book

Das Herodes Komplott E-Book

Mika Lotharson

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Beschreibung

Packender Thriller im Herzen des Dritten Reichs! Ein junger Soldat und ein jüdischer Journalist im Sog von Macht, Geheimnissen und den düsteren Schatten des Zweiten Weltkriegs. Reichshauptstadt Berlin, im Januar 1940: Hitlers Überfall auf Polen ist erst wenige Wochen her, als Spezialisten der SS in einer Synagoge nahe Warschau eine geheimnisvolle Entdeckung machen. Ihr Fund ruft das Reichssicherheitshauptamt auf den Plan, denn man ist sich sicher, dass die bisher erfolglosen Verhandlungen mit dem Vatikan durch diese Entdeckung wieder Fahrt aufnehmen. In Berlin keimt die Hoffnung, dass Papst Pius XII. endlich seine ablehnende Haltung gegenüber Reich und Führer aufgeben wird. Der junge deutsche Soldat Karl Otto Hoffmann und der jüdische Journalist David Waltz sind in diesen Tagen mit ihren eigenen Problemen beschäftigt. Karl Otto wird nach Berlin versetzt und tritt dort einen neuen Dienstposten an. David hingegen muss schmerzlich erkennen, dass seine Ehe mit Klara im nationalsozialistischen Deutschland keine Zukunft hat. Noch ahnen beide nicht, dass für jeden von ihnen bald nichts mehr so sein wird wie zuvor. Denn die folgenden dramatischen Ereignisse haben für alle Beteiligten weitreichende Konsequenzen...

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Bisher von Mika Lotharson erschienen:

Können Träume töten?

Tausend Monde wie eine Nacht 978-3-7534-9533-0

Das Herodes Komplott 978-3-7562-2369-5

(Die Titel sind auch als E-Book erhältlich)

Über den Autor:

Mika Lotharson, geboren 1955 in Koblenz, arbeitete unter seinem bürgerlichen Namen zunächst viele Jahre als daktyloskopischer Sachbearbeiter und Zeichner von Phantombildern, später dann als Sachverständiger für Daktyloskopie im Kriminaltechnischen Institut eines Landeskriminalamtes.

Nach dem Eintritt in den Ruhestand, konnte er sich endlich intensiver seiner schon lange vorhandenen Leidenschaft, dem kreativen Schreiben, widmen.

2021 veröffentlichte er dann seinen Debütroman, den Mystery-Thriller »Können Träume töten?« -Tausend Monde wie eine Nacht.

Mika Lotharson lebt, gemeinsam mit Ehefrau Iris und Kater Rudi, in Heidesheim, inzwischen ein Stadtteil der Rotweinstadt Ingelheim am Rhein.

Weitere Informationen zum Autor finden Sie auf seiner Web-Seite:

www.mikalotharson.net

Die dokumentierte Vergangenheit der Menschheit bezeichnen wir allgemein als »Weltgeschichte« Aber was ist mit all jenen Begebenheiten, die vielleicht niemals erzählt, oder jemals von offiziellen Stellen schriftlich fixiert wurden? Haben diese bislang unbekannten Ereignisse demnach auch nicht stattgefunden? Wer kann das mit letzter Sicherheit behaupten ...?

(Mika Lotharson)

Ein Pakt mit dem Teufel kennt am Ende nur Verlierer ...!

Für meinen väterlichen Freund

Unsere legendären Diskussionen zu all den wichtigen Dingen des Lebens werde ich niemals vergessen.

Deine Freundschaft und Dein Rat werden mir fehlen ...

Mein lieber Ferdi

R.I.P. (verstorben am 24. Juli 2022)

Zum Verständnis ...

Der Roman »DAS HERODES-KOMPLOTT« erzählt die Geschichte der beiden Protagonisten Karl Otto Hoffmann und David Waltz. Die damalige Reichshauptstadt Berlin ist dabei die Bühne, auf der im Januar 1940 die dramatischen Ereignisse rund um die Protagonisten ihren Anfang nehmen.

Bei einer rein fiktiven und zudem spekulativen Story wie dieser, möchte ich zum besseren Verständnis zunächst die folgenden Hinweise vorausschicken:

Sämtliche Protagonisten, Nebenfiguren und die Handlung dieses Romans sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten bzw. lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und wären demzufolge reiner Zufall.

Einigen öffentlichen Institutionen der damaligen Zeit, sowie Personen, die tatsächlich gelebt haben, wie zum Beispiel Papst Pius XII., den Mitgliedern des damaligen Naziregimes, Adolf Hitler, Heinrich Himmler Reinhard Heydrich und anderen, werden in dieser spekulativen Geschichte explizit Handlungen unterstellt, die sich so nie zugetragen haben. Auch ihre Dialoge untereinander, oder mit anderen beteiligten fiktiven Personen des Romans, haben in dieser Form nie stattgefunden. All dies entspringt einzig und allein meiner Fantasie als Autor.

Im Übrigen liegt es mir jederzeit fern, die Katholische Kirche oder deren Würdenträger pauschal zu diskreditieren. Vor allem möchte ich die individuellen religiösen Empfindungen der Leserinnen und Leser dieses Romans auf keinen Fall verletzen. Dies will ich an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich betonen.

Der Roman beschreibt im Kern einen alternativen und daher rein spekulativen Geschichtsverlauf, der zwar grundsätzlich denkbar ist, allerdings - nach heutigem Kenntnisstand - so nie stattgefunden hat.

Jenseits aller heutzutage in Mode gekommenen Verschwörungstheorien, hat mich dieser besondere Ansatz dazu inspiriert, die Grundidee der Story so und nicht anders voranzutreiben.

Zweifellos bleibt aber gerade eine solche Geschichte nur so lange eine Fiktion, bis sie vielleicht eines Tages von der Realität eingeholt wird.

Vor dem Beginn der Lektüre dieses Romans sollte daher jede Leserin, jeder Leser für die folgende Frage offen sein:

»Könnte es dieses Herodes Komplott möglicherweise doch gegeben haben ...?«

Nur die Entdeckung entsprechender Beweise, könnte diese Frage endgültig beantworten. Ansonsten werden wir es vermutlich niemals erfahren ...!

Mika Lotharson, im Juli 2022

Dramatis Personae:

(ab Januar 1940)

Die Deutschen: Karl Otto Hoffmann (SS-Rottenführer, Protagonist)Thea Merz (Verlobte von Karl Otto Hoffmann)Klaus Breitbach (SS-Untersturmführer, Adjutant von Ludwig Schwaab)Ludwig Schwaab (SS-Brigadeführer im Reichsaußenministerium)Klara Waltz (Ehefrau von David Waltz)Alfred Dexheimer (Vater von Klara Waltz & Bernhard Dexheimer)Herta Dexheimer (Mutter von Klara Waltz & Bernhard Dexheimer)Bernhard Dexheimer (Bruder von Klara Waltz)Wilhelm Breuer (SS-Obersturmbannführer im RSHA)Georg Krollmann (SS-Hauptsturmführer/Kunsthistoriker)

Die Juden: David Waltz (Journalist, Ehemann von Klara Waltz, Protagonist)Paul Waltz (Sohn von David und Klara Waltz)Sarah Waltz (Tochter von David und Klara Waltz)Professor Baruch Sternheim (Onkel von David Waltz)Jakub Weiss (Bester Freund und Arbeitskollege von David Waltz)

Der Vatikan: Pius XII. (Papst, bürgerlicher Name Eugenio Maria Giuseppe Giovanni Pacelli)Luigi Kardinal Maglione (Kardinalstaatssekretär von Pius XII.)Francesco Tomaso (Priester, Privatsekretär und Vertrauter des Papstes)Salvatore Tozzi (Monsignore und Gelehrter)

Die Antagonisten: Adolf Hitler (Führer und Kanzler des Deutschen Reiches)Heinrich Himmler (Reichsführer SS)Reinhard Heydrich (Leiter des Reichssicherheitshauptamtes - RSHA)Joachim von Ribbentrop (Reichsaußenminister)

Personen im Prolog und/oder Epilog:(im November 2025)Margarete Kramer, geb. Hoffmann (Tochter von Karl Otto Hoffmann)Melanie Dahlberg (Urenkelin von Karl Otto Hoffmann, Rechtsanwältin)Joachim Dahlberg (Ehemann von Melanie Dahlberg, Journalist)

Inhaltsverzeichnis

Zum Verständnis ...

Dramatis Personae

Prolog

Phase 1: Konflikte

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Phase 2: Konsequenzen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Phase 3: Katastrophen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Phase 4: Das Komplott

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Epilog

Anhang

Schicksale

Successores Petri

Glossar

Prolog

Bad Vilbel/Taunus, im November 2025

Nein, ich will keinen Pfarrer, auf gar keinen Fall«, schrie Großmutter sie mit wutverzerrtem Gesicht an. Dabei drohte die prall gefüllte Ader auf ihrer Stirn jeden Moment zu platzen.

Melanie Dahlberg spürte den unbändigen Hass und die totale Abneigung, ihren gut gemeinten Vorschlag zu akzeptieren. Aber was hat sie bloß gegen die Anwesenheit eines Priesters? Sie fand für dieses befremdliche Verhalten einfach keine Erklärung.

Die Ärzte der Frankfurter Klinik hatten Großmutter bereits vor knapp zwei Wochen zum Sterben nach Hause entlassen. Eine Behandlung mit Antikörpern war leider fehlgeschlagen, und wegen weiterer niederschmetternder Heilungsprognosen verzichteten die Mediziner danach auch auf die sonst übliche Bestrahlung oder eine Chemotherapie. Sie ersparten ihr damit den Verlust ihrer Haarpracht. Auf eine perfekte Frisur hat Oma ja schon immer größten Wert gelegt. Irgendwie seltsam, dass Melanie dieser Gedanke gerade jetzt in den Sinn kam. Vielleicht aber auch, weil ihre schweißnassen, grauen Haare an Kopf und Hals klebten und dadurch einen ungepflegten Eindruck vermittelten. Nur gut, dass jetzt kein Spiegel in ihrer Nähe ist. Sie wäre zutiefst unglücklich mit ihrem derzeitigen Erscheinungsbild. Auch dieser Gedanke war vermutlich völlig absurd. Jedenfalls beim Anblick einer Todkranken.

Ein paar widerspenstige Strähnen hatten sich selbstständig gemacht und verbargen einen Teil ihres schmerzverzerrten Gesichts. Das Karzinom in ihrer Leber und die unzähligen Metastasen, die weitere lebenswichtige Organe befallen hatten, hinterließen seit Wochen immer deutlichere Spuren.

»Oma, soll ich nicht doch Pfarrer Reuter Bescheid geben?«

»Melanie, lass mich einfach damit in Ruhe«, röchelte sie kraftlos. »Ein scheinheiliger Pope ist der letzte, den ich an meinem Bett sehen möchte. Halt mir also diesen Reuter vom Leib.«

»Aber Oma, es geht dir danach vielleicht sogar besser«, Melanie versuchte es ein weiteres Mal, sie umzustimmen.

»Ich weiß selbst am besten, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis ich abtreten werde. Aber der Reuter, der soll bleiben wo der Pfeffer wächst.«

Wie unverblümt sie ihre Abneigung zeigte, war Melanie unerklärlich. Der Hass und die damit verbundene Schärfe in ihrer Stimme sind nicht zu begreifen. Wenn man genau hinhörte, klang sogar Verbitterung aus ihren derben Worten.

Plötzlich bemerkte sie Großmutters unbeholfenen Versuch, sich über die Bettkante zu beugen.

»Einen Moment ...!«

Gerade noch rechtzeitig ergriff Melanie die auf dem Nachttisch stehende Plastikschüssel, bevor Großmutters Mageninhalt mit einem beklagenswerten Würgen nach oben drängte. Dass sie überhaupt noch etwas erbrechen kann, wunderte sie sich. Schließlich hat sie seit Tagen kaum etwas zu sich genommen.

»Das ist ja gerade noch mal gut gegangen«, redete Melanie hinterher tröstend auf sie ein. Dabei war sie vorsichtig darum bemüht, ihr die klebrigen Speichelfäden aus den Mundwinkeln zu tupfen.

»Geht‘s wieder, Oma ...?«

»Ja ja, keine Sorge, mein Kind, alles gut!« Großmutter schluckte mehrmals angestrengt. »Wir sollten allerdings ... noch etwas ... besprechen.« In den kurzen Pausen zwischen ihren Worten, rang sie immer wieder nach Luft.

»Soll ich Pfarrer Reuter vielleicht doch ...?«

»... jetzt hör’ endlich mit diesem Pfaffen auf«, fiel sie Melanie störrisch ins Wort. »Es bleibt mir nicht mehr viel Zeit. Wir müssen noch über eine ganz andere Sache reden. Und dabei kann uns der Reuter ohnehin nicht weiterhelfen.«

Nur mit Mühe wies sie mit ihrer knochigen, ausgemergelten Hand in Richtung ihres Biedermeierschranks an der gegenüberliegenden Wand.

»Sei bitte so gut, und sieh‘ in der rechten Schublade nach. Dort wirst du einige alte Notizbücher finden.« Sie versank keuchend in ihrem Kopfkissen und stierte erschöpft zur Decke.

Sie tat wie ihr geheißen und kam rasch zum Bett ihrer Großmutter zurück. »Meinst du etwa die hier?«

Melanie hielt ihr mehrere ziemlich ramponierte Tagebücher entgegen. Deren abgewetzte Einbände sprachen dafür, dass sie nicht immer unter den besten Bedingungen aufbewahrt wurden.

»Genau, die habe ich gemeint! Es sind die persönlichen Aufzeichnungen meines Vaters, also deines Urgroßvaters Karl Otto. Den hast du ja nicht mehr kennenlernen dürfen«, flüsterte sie mit brüchiger Stimme. »Du musst die Bücher an dich nehmen und alles bis zur letzten Seite lesen.«

Melanie zögerte einen Augenblick. »Was hat denn dein Vater darin aufgeschrieben?«

»Es sind seine Erlebnisse als junger Mann. In der Zeit als Soldat in Berlin und anderen Orten. Einige Passagen, Melanie, werden zunächst vielleicht etwas verstörend auf dich wirken ...«, erklärte sie und schloss dabei immer wieder ihre Augen, »... aber es ist das Vermächtnis deines Urgroßvaters an unsere Familie. Wenn du alles gelesen hast, wirst du besser verstehen, warum ich Pfarrer Reuter nicht an meinem Bett sehen will. Lies einfach selbst ..., was mein Vater erlebt und aufgeschrieben hat. Ich selbst ... habe meine Schlüsse längst ... daraus gezogen und ...!«

Melanie fehlten für einen Moment die Worte. »Und warum zeigst du mir die Bücher erst jetzt ...?« Ein kurzer Blick hinüber zum Bett genügte, um zu erkennen, warum sie darauf keine Antwort bekam. Ihre Großmutter hielt die Augen fest geschlossen, und ein gleichmäßiges Schnaufen war zu hören. Sie ist eingeschlafen.

Melanie konnte ihrem inneren Drang nicht widerstehen. Sie öffnete den ersten Einband und führte ihn vorsichtig an ihre Nase. Das Buch schien tatsächlich sehr alt zu sein, denn sie atmete den Geruch von verwittertem Leder ein. Die einzelnen Seiten rochen dagegen leicht modrig. So riecht also das vergangene Jahrhundert, dachte sie kurz. Aber vermutlich war dies ja auch nur eine Folge von jahrelanger unsachgemäßer Lagerung. Die Bücher waren einfach nur längere Zeit Nässe oder anderen ungünstigen Einflüssen ausgesetzt. Wahrscheinlich die überzeugendere Erklärung für ihren schlechten Zustand.

Der Geruch von kaltem Rauch machte sich in ihrer Nase breit. Vielleicht bilde ich es mir ja nur ein? Dieser Gedanke war nicht ganz abwegig, schließlich hatte ihre Großmutter immer wieder davon erzählt, dass ihr Vater bei allen als leidenschaftlicher Pfeifenraucher bekannt war. So riechen Bücher heutzutage einfach nicht mehr, stand für sie fest. Zumindest gilt das für die, die ich bislang in meinen Händen gehalten habe. Melanie nahm die fremden Eindrücke mit all ihren Sinnen auf.

Großmutter atmete immer noch regelmäßig und schien friedlich zu schlummern. Melanie wandte sich daher der ersten beschriebenen Seite des Tagebuches zu.

»19. Januar 1940«, las sie mit leiser Stimme. »Heute werde ich Thea sagen, dass meine Bewerbung in Berlin erfolgreich war. Ich bin gespannt, ob sie sich genauso darüber freut.«

Neunzehnhundertvierzig! Wie seltsam es sich anhört! Total surreal, machte sie sich bewusst, denn schließlich waren inzwischen mehr als achtzig Jahre vergangen.

Sie las die nächsten Stunden ohne eine einzige Unterbrechung. Durch ihr Studium und nun als Rechtsanwältin mit eigener Kanzlei, war sie es gewohnt, komplexe Schriftsätze oder andere längere Texte recht zügig zu überfliegen. Dabei entging ihr in der Regel kein einziges Detail.

Auch die enge, zunächst etwas gewöhnungsbedürftige Handschrift ihres Urgroßvaters bremste ihren Lesefluss daher kaum. Zumeist nur dann, wenn er einzelne Einträge in offenbar schwierigen oder emotionalen Momenten niedergeschrieben hatte.

Seine ansonsten elegante Handschrift verliert in diesen Passagen ihren Schwung, wirkt verkrampft und krakelig, analysierte sie nüchtern. Und darunter leidet dann ihre Lesbarkeit. An solchen Stellen kam es deshalb vor, dass sich Melanie den ein oder anderen Absatz mehrmals durchlesen musste. Aber den Fortgang ihrer Lektüre behinderten diese Ausnahmen nur selten.

Ein gelegentlicher Blick hinüber zum Bett ihrer Großmutter genügte, um sich von ihrem tiefen Schlummer zu überzeugen. Die Bettdecke bewegte sich dabei in einem regelmäßigen Rhythmus auf und ab.

Nach etwa zwei Stunden klappte sie bereits das zweite Tagebuch zu und griff sofort zum nächsten. Die Aufzeichnungen ihres Urgroßvaters zogen sie immer weiter in ihren Bann.

Am Anfang handelte es sich dabei eher um persönliche Anmerkungen über den Fortgang der Beziehung zu seiner Verlobten Thea und seine ersten Tage in Berlin. Die machten einen wesentlichen Teil der Notizen aus. Die späteren Einträge wurden dann aber immer interessanter, und zuweilen geheimnisvoller.

Erst nach weiteren Stunden, sie hatte inzwischen das vierte Buch beendet und nahtlos mit dem fünften begonnen, begriff sie schließlich, was es mit diesem immer wieder erwähnten Herodes Komplott auf sich hatte. Diese Angelegenheit füllte zum Teil ganze Seiten der Tagebücher, und die Lebensgeschichte ihres Urgroßvaters bekam offenbar eine entscheidende Wendung.

Aber nicht nur für ihn selbst hatte dies zu folgenschweren Konsequenzen geführt. Auch an seiner Tochter gingen diese Erkenntnisse wohl nicht spurlos vorüber. Die merkwürdigen Andeutungen ihrer Großmutter, erschlossen sich Melanie inzwischen fast vollständig.

Melanie schaute nach längerer Zeit wieder einmal zu ihrer Großmutter hinüber. Täusche ich mich jetzt, oder ist es tatsächlich seltsam still geworden? Dieser Eindruck verhieß jedenfalls nichts Gutes. Melanie sprang auf, hastete ans Bett und beugte sich besorgt zu ihr hinunter.

Sie atmet nicht mehr! Ihre rationale Feststellung konnte nur eines bedeuten. Mit zwei Fingern versuchte sie, an Großmutters Hals den Puls zu ertasten.

Nichts ...! Absolut nichts ...!

Auch das regelmäßige Auf und Ab der Bettdecke hatte aufgehört. Es konnte dafür nur eine Erklärung geben.

Melanie ließ sich auf den Stuhl nieder, auf dem sie seit Wochen und Monaten am Bett ihrer Großmutter ausgeharrt, gehofft, gebangt und dabei ihre Hand gehalten hatte.

Ihre Augen waren geschlossen und sämtlicher Schmerz aus ihrem Gesicht gewichen. Melanie hatte noch nie einen so nahen verstorbenen Angehörigen gesehen. Beim frühen Tod ihrer Eltern war sie noch zu jung gewesen, um diese Tatsache restlos zu begreifen. Zudem war ihr Autounfall ein nicht vorhersehbarer Schicksalsschlag. Daher absolut nicht vergleichbar mit dem langsamen Sterben ihrer Großmutter. Trotzdem konnte sie sich lange Zeit nicht vorstellen wie es wohl sein würde, wenn es dann eines Tages passierte. Schließlich hat Oma damals den Platz meiner Eltern eingenommen. Sie war seither der Mittelpunkt ihrer Familie.

»Jetzt bist du also friedlich eingeschlafen, ohne mir vorher Bescheid zu geben.« Melanie sprach diese Worte laut aus und wusste augenblicklich, dass dieser Vorwurf völlig irrational und zudem absolut töricht war. Warum hättest du mich dafür um Erlaubnis bitten sollen? Du hast ja selbst davon gesprochen, dass es bald so weit sein würde. Melanie ließ ihren Gedanken freien Lauf. Sie hat es also geahnt. Und dass sie Pfarrer Reuter einfach nicht dabei haben wollte ..., Melanie wusste ja inzwischen warum. Die Aufzeichnungen ihres Urgroßvaters hatten ihr darauf eine Antwort gegeben.

»Das war nicht nett von dir, meine liebe Frau Kramer, geborene Hoffmann«, murmelte sie vor sich hin und bemerkte dabei, wie ihr eine dicke Träne über die Wange kullerte. »Stirbst einfach und hinterlässt mir eine solche Verantwortung. Ich muss sagen, ganz schön gemein von dir.«

Melanie stand auf und schaute zum Wecker auf dem Nachttisch. Halb fünf! Vielleicht noch etwas früh, um Doktor Schröder anzurufen, überlegte sie. Ich sollte einfach noch ein wenig warten. Dann ist es immer noch früh genug, den Hausarzt zu informieren!

Nachdenklich verließ sie das Zimmer, schloss hinter sich die Tür und ging schweigend die Treppe hinunter. Sie wollte Joachim nicht aufwecken, deshalb schlich sie vorsichtig in ihr Schlafzimmer. Dort schlummerte ihr Mann tief und fest. Vielleicht sollte ich mir auch noch etwas Schlaf gönnen. Jedoch war dieser Gedanke nicht so leicht in die Tat umzusetzen, denn die Erkenntnisse der letzten Stunden ließen sie nicht so schnell zur Ruhe kommen. Großmutters Tod und die Aufzeichnungen ihres Urgroßvaters hatten eindeutig Spuren hinterlassen.

Etwa fünfundachtzig Jahre zuvor ...!

Phase 1

Konflikte

Kapitel 1

Rostock/Mecklenburg, 19. Januar 1940

Dann kannst du ja zu meinem Geburtstag vielleicht gar nicht zu Hause sein ...«, Theas Stimme klang trotzig. »Und du bist dir wirklich sicher, dass du nach Berlin gehen willst?«

»Diese Chance darf ich mir einfach nicht entgehen lassen«, Karl Otto Hoffmann kämpfte um Verständnis für seine Entscheidung. Er wollte seiner Verlobten irgendwie klar machen, dass sich eine solche Gelegenheit nicht jeden Tag ergab. »Und außerdem ist Berlin doch gar nicht so weit weg. Keine vier Stunden mit dem Zug und ich bin wieder zuhause.« Er strich Thea liebevoll über die Wange aber bemerkte sofort, dass sein Trost nicht die gewünschte Wirkung erzielte.

»In der großen Stadt werden dir bestimmt alle Frauen nachlaufen!«

Theas tiefbraune Augen schimmerten wässrig, und Karl Otto merkte sofort, was er mit seiner Nachricht angerichtet hatte. Er konnte daher nicht anders und nahm sie zärtlich in seine Arme. »Dummerchen, du weißt doch ganz genau, dass ich nur dich liebe. Andere Frauen interessieren mich nicht.« Karl Otto nahm ein Taschentuch und trocknete damit ihre Tränen.

»Das musst du mir aber auch versprechen. Ich möchte dich einfach nicht verlieren.«

Sie presste sich fest an ihn, schlang beide Arme um seinen Hals und bedeckte Karl Ottos Gesicht mit ihren Küssen.

»Mein liebes Fräulein Merz«, begann er nachsichtig. »Du weißt doch, solange ich diese Stelle in Berlin habe, muss ich auch nicht nach Polen oder sonst wo hin.« Karl Otto wusste zwar, dass seit Anfang Oktober des vergangenen Jahres der Feldzug im Osten für beendet erklärt wurde, aber eines Tages doch noch zu einem anderen gefährlichen Auftrag abkommandiert zu werden, dafür gab es als Mitglied der Waffen-SS absolut keine Garantie.

Diese Aussicht hatte ihn hauptsächlich dazu bewegt, sich als Fahrer eines Brigadeführers im Ministerium des Äußeren zu bewerben. Obwohl ich am Anfang überhaupt nicht daran glaubte, tatsächlich eine realistische Chance zu haben, dieser Gedanke beschäftigte ihn schon während der gesamten Zeit seiner Bewerbung.

»Als dann die Nachricht von Untersturmführer Breitbach, dem Adjutanten des Brigadeführers, im Briefkasten lag, war ich natürlich außer Rand und Band.«

»Du warst also keinen Moment traurig darüber, das wir uns jetzt nicht mehr jeden Tag sehen werden?« Thea schaute ihn herausfordernd an und erwartete nun wohl eine zufriedenstellende Antwort.

»Natürlich gefällt mir das auch nicht, aber ...«, beteuerte er wie aus der Pistole geschossen.

»Überlege dir gut, was du jetzt sagst ...«, fiel sie ihm aufgebracht ins Wort. »Wenn dir diese Stelle in Berlin wichtiger ist als mit mir zusammen zu sein, dann ...!«

Diesmal war er an der Reihe, seine Verlobte zu unterbrechen. Aber nicht mit Worten, sondern mit einem langen, innigen Kuss, der den kleinen Wutanfall Theas abrupt beendete. »Und im Sommer heiraten wir. Das verspreche ich dir!«

Thea wand sich aus seiner Umarmung und blickte ihn mit großen Augen an.

»Ich nehme dich beim Wort, Karl Otto Hoffmann ...«, ihr bezauberndes Lächeln, dass ihn bereits seit ihrer ersten Begegnung magisch anzog, war zurückgekehrt. »Und irgendwelche Ausreden lasse ich künftig nicht mehr gelten, da kannst du sicher sein.«

Er war froh, dass sie sich wieder beruhigt hatte und traute sich nun, mit weiteren Einzelheiten herauszurücken.

»Am Wochenende werde ich packen und Sonntagmittag mit dem Zug nach Berlin fahren. Der Adjutant des Brigadeführers erwartet mich am Montagmorgen in seinem Büro und dann ...!«

»Und dann ...?«, offensichtlich wollte Thea jetzt noch mehr wissen.

»Dann sehen wir weiter«, Karl Otto wusste ja selbst noch nicht so genau, was in Berlin auf ihn wartete. Aus der Ausschreibung ging damals lediglich hervor, dass es sich um die Besetzung einer Stelle in der Fahrbereitschaft handelte. Also um Fahrten zu dienstlichen Terminen des Brigadeführers, oder auch um Kurier- und Versorgungsfahrten innerhalb der Stadt.

»Aber an den Wochenenden hast du dann frei und kommst nachhause?« Für Thea wohl eine Selbstverständlichkeit.

»Auch das weiß ich doch jetzt noch nicht.«, Karl Otto wollte ehrlich zu ihr sein. »Das kommt vermutlich auf die Termine meines neuen Chefs an. Da wird der ein oder andere Wochenenddienst vermutlich nicht zu vermeiden sein. Und Einsätze in anderen Ländern sind ebenfalls denkbar. Ich arbeite ja schließlich für das Außenministerium.«

Offenbar flammten in Thea neue Zweifel auf, denn ihr Schmollen war unübersehbar. »Also doch ...«, all ihre Bedenken schienen sich jetzt zu bestätigen. So konnte er es zumindest aus ihrer Miene ableiten.

»Ich werde natürlich versuchen, so oft wie möglich hier in Rostock zu sein«, er wusste genau, dass er ihr das eigentlich nicht versprechen durfte. Aber was soll ich Thea denn anderes sagen? Nach den ersten Tagen werde ich erst sehen, wie mein Dienstplan tatsächlich aussieht. Mit seinen eigenen Vermutungen wollte er Thea erst gar nicht belasten.

»Dann sind es ja nur noch zwei Tage bis zu deiner Abreise nach Berlin.«

»Sei einfach froh, dass ich nicht nach Polen oder sonst wohin muss ...«, Karl Otto spürte genau, dass seine Worte sie wenig überzeugten, »... es kann ja auch weiter Krieg geben, und wie lange der dann dauert, weiß sowieso niemand. Die Franzosen und Engländer werden uns das mit Polen vermutlich nicht durchgehen lassen. Da ist ein Posten in Berlin wohl die eindeutig bessere Wahl. Na, was meinst du?«

Thea nickte zaghaft, aber er hatte sie wohl immer noch nicht restlos überzeugt.

»Und außerdem haben wir ja noch den ganzen Samstag und den halben Sonntag«, schob er eilig hinterher, »das Wochenende werden wir also nochmal richtig genießen.«

Ob sie es tatsächlich genießen konnten, würde sich noch herausstellen. Und danach ...? Karl Otto wusste es einfach nicht.

Kapitel 2

Berlin-Charlottenburg, 22. Januar 1940

Es schneite nun schon seit Tagen. Nur in den eisigen Nächten dazwischen, wenn die Temperaturen auf fast zwanzig Grad unter null sanken, legte Frau Holle manchmal eine kleine Verschnaufpause ein.

So viel Schnee hatten wir hier schon lange nicht mehr. David Waltz konnte sich jedenfalls nicht mehr daran erinnern. Ein tiefer Zug aus seiner Selbstgedrehten ließ ihn zwar etwas ruhiger werden, allerdings blickte er weiterhin kopfschüttelnd hinunter auf die tief verschneite Wilmersdorfer Straße. Es ist einfach nicht zu fassen.

Die Straßen und Wege verschwanden mittlerweile fast völlig unter der weißen Pracht. Nicht nur hier in Charlottenburg kämpften die Menschen seit Tagen tapfer gegen dieses gewaltige Wetterchaos an. Bei aktuell knapp zwanzig Zentimetern Schnee ein fast unmögliches Unterfangen.

Die Straßen und Bürgersteige einigermaßen freizuhalten glich einer Herausforderung, die nicht immer gelang. So viel Schnee sind wir hier in Berlin einfach nicht gewohnt, dachte David, während er das Küchenfenster öffnete und seine Zigarettenkippe nach draußen schnippte. David beobachtete dabei fasziniert den wilden Tanz der unzähligen Schneeflocken im fahlen Licht der Straßenlaternen. Der Winter hat uns ganz schön im Griff.

»Dich bedrückt doch etwas, David? «, hörte er plötzlich hinter sich die Stimme seiner Frau. Klara schlang zärtlich ihre Arme um seine Taille. Seine innere Unruhe war offenbar auch ihr nicht entgangen. Sie machte das wohl auch daran fest, dass er heute eine Zigarette nach der anderen rauchte. Eigentlich sollte sie mittlerweile wissen, was mich am meisten beschäftigt, David hatte für diese Überlegung einen überzeugenden Grund. Klara will einfach nicht wahrhaben, wie man in Deutschland mit uns Juden verfährt. Seit ihrer Hochzeit vor etwa zehn Jahren, hatte sich hier fast alles zum Nachteil verändert. David machte sich in dieser Hinsicht längst nichts mehr vor.

»Ach lass nur ...«, wiegelte er genervt ab. Sie weiß ganz genau, worum sich unsere Konflikte drehen, erinnerte er sich an die stets gleichen Diskussionen. Ich bin Jude, du und deine Familie nicht. So einfach ist das.

»Geht‘s wieder mal um deine Arbeitslosigkeit?«

Klara ist immer noch auf dem Holzweg, stellte er resigniert fest. »Nein, das ist es nicht ...«, ihre Naivität strapazierte ein ums andere Mal seine Geduld. »Ich bekomme schon wieder Arbeit, spätestens dann, wenn ...«.

»Wenn was ...?«, Klara schob eine ihrer blonden Haarsträhnen hinters Ohr und schaute ihn dabei herausfordernd an.

Was erwartet sie jetzt von mir? Sie weiß es doch selbst am besten. Ihre Gespräche drehten sich seit Wochen und Monaten im Kreis. Unsere finanziellen Verhältnisse waren von Anfang an recht überschaubar, rief er sich ins Gedächtnis. Seit der Weltwirtschaftskrise und der beispiellosen Geldentwertung vor dreiunddreißig, deutete sich ein langsamer, aber stetiger Aufstieg zu bescheidenem Wohlstand an. Zum Glück habe ich immer wieder darauf bestanden, kein Geld von den Dexheimers anzunehmen, obwohl Klara diese Möglichkeit ständig ins Spiel brachte. Für sie, als verwöhnte Tochter einer recht vermögenden Familie aus dem Berliner Großbürgertum, vermutlich völlig unverständlich. Klara hat es mir schließlich immer wieder zu verstehen gegeben. Selbst als er vor knapp zwei Jahren von heute auf Morgen arbeitslos wurde, lehnte David weiterhin jegliche Unterstützung seiner Schwiegereltern ab.

Auf Druck der Nationalsozialisten musste sein jüdischer Arbeitgeber das Erscheinen seiner Tageszeitung einstellen. Das neue NS-Schriftleitergesetz führte seither zu vielen Schließungen dieser Art, und die Pressefreiheit in Deutschland war seither Geschichte. Nun gab es für ihn keine Möglichkeit mehr, seinen über alles geliebten Beruf als Journalist auszuüben. Warum sollten mich dieselben Leute finanziell unterstützen, die mich gleichzeitig nicht mehr in meinem Beruf arbeiten lassen wollen? David zählte schließlich auch die Dexheimers zu den absolut linientreuen deutschen Familien, die aus ihrem Judenhass inzwischen keinen Hehl mehr machten.

»Du weißt genau, dass nicht nur jüdische Journalisten zurzeit arbeitslos sind.«

Es ärgerte David jedes Mal, wenn Klara die eindeutige Ausgrenzung und Erniedrigung von Juden in Deutschland einfach verdrängte. Und warum? Die politisch unbedarfte Tochter eines erzkonservativen Ministerialbeamten darf dieses System einfach nicht anzweifeln. Aus gutem Grund warf er Klara diese Einsicht bislang nicht vor. Es würde zu nichts führen, außer zu noch massiveren Konfrontationen.

»Du glaubst also ernsthaft, deine Arbeitslosigkeit beruht nur darauf, dass du ein deutscher Jude bist?« Klara stellte ihm diese Frage zum ersten Mal.

Offensichtlich beschäftigt sie sich inzwischen doch mehr mit diesem Thema, wunderte er sich. Eine gute Gelegenheit, dieses Thema zu vertiefen.

»Du willst den Zusammenhang einfach nicht sehen! Der Verleger meiner Zeitung, fast alle Vorgesetzten und die meisten meiner Kollegen in der Redaktion, sie alle sind ebenfalls Juden ...«, brach es aus ihm heraus. »Bist du immer noch der Meinung, dass das nichts damit zu tun hat?« David redete sich in Rage. »Und noch was! Selbst die Tatsache, dass ich mit der Tochter eines NSDAP-Funktionärs und hohen Ministerialbeamten verheiratet bin, hat nichts daran geändert. In Deutschland haben Juden einfach keine Zukunft mehr!«

Klaras Miene verfinsterte sich schlagartig, denn offenbar hatten seine Worte Wirkung gezeigt. »Mach‘ jetzt nicht deine Religion und meine Familie dafür verantwortlich, dass du ohne Arbeit dastehst«, antwortete Klara aufgebracht.

Unser Gespräch eskaliert. Er hatte es zwar schon immer befürchtet, aber an diesem Punkt gab es nun kein Zurück mehr. »Der Begriff Jude ist in Deutschland mittlerweile zum Schimpfwort verkommen, und das hat wirklich nicht nur was mit Religion zu tun. Oder hast du die brennenden Synagogen und geplünderten Geschäfte schon wieder vergessen? Selbst dir müsste das inzwischen klar geworden sein!« David erkannte sofort, dass er Klara mit seinem letzten Satz verletzt hatte.

»Du bist also der Meinung, dass ich nicht in der Lage bin, solche Zusammenhänge zu erkennen? Du hältst mich also für zu dumm und naiv, mich mit meinem Mann über solche Dinge auf Augenhöhe zu unterhalten?«

Das hatte gesessen, und es tat ihm daher augenblicklich leid, dass ihr Gespräch dermaßen ausartete. »Natürlich nicht, mein Schatz ...«, David ahnte zwar, dass weitere Erklärungen wenig ausrichten würden, aber er wollte es zumindest versuchen, »... sieh’ doch endlich ein, dass ...«, David verstummte betroffen, denn Klara drehte sich trotzig um und verließ schweigend den Raum.

Das war’s dann wohl für heute, David begriff sofort, dass er Klara aktuell nicht umstimmen konnte. Ich sollte sie endlich in meinen Plan einweihen und nicht darauf warten, bis man mich abholt. Wie schon so viele andere, die spurlos von der Bildfläche verschwunden sind.

David hatte immer noch keine Ahnung, wie er ihr sein Vorhaben näherbringen sollte. Gleichzeitig wusste er aber, dass die Zeit zu handeln längst gekommen war.

Kapitel 3

Berlin-Mitte, Wilhelmstraße, 22. Januar 1940

Vom Anhalter Bahnhof waren es nur wenige Schritte bis zur Wilhelmstraße. Karl Ottos erste Überraschung, der Bürgersteig bis zu seiner neuen Dienststelle war längst nicht so tief verschneit wie sonst wo in Berlin. Schon gestern Abend, bei seiner Ankunft aus Rostock, war er erstaunt, wie viel es in der Reichshauptstadt geschneit hatte. In seiner Heimat Rostock fühlten sich die Temperaturen zwar genauso bitterkalt an, aber in Sachen Schnee lag Berlin um Längen vorn.

Karl Otto begriff mehr und mehr, dass er sich nun mitten im Zentrum der Macht bewegte, denn sein erster Eindruck täuschte keineswegs. Die Wilhelmstraße und sämtliche Nebenstraßen des Regierungsviertels, wurden wesentlich besser und offenbar regelmäßig vom Schnee befreit. Die Zentralen des SD, der Gestapo, und die Neue Reichskanzlei in unmittelbarer Nachbarschaft, trugen wohl zusätzlich dazu bei.

Ich darf also künftig im Dunstkreis des Führers arbeiten, machte er sich bewusst, und es erfüllte ihn ein wenig mit Stolz. War wohl doch die richtige Entscheidung, sich um die Stelle beim Brigadeführer zu bewerben, Karl Otto ließ seinen Gedanken freien Lauf und die neuen Eindrücke auf sich wirken.

Das vergangene Wochenende gemeinsam mit Thea, und der tränenreiche Abschied gestern Mittag, hatten ihn noch die gesamte Zugfahrt beschäftigt. Aber nach seiner Ankunft gab es dann andere Dinge zu bedenken. Zum Beispiel hatte er zunächst genug damit zu tun, die Kaserne ausfindig zu machen, in der er vorläufig untergebracht war. Der Adjutant seines neuen Chefs hatte ihm die Adresse zwar aufgeschrieben, aber von den riesigen Dimensionen Berlins hatte er eine völlig falsche Vorstellung. Untersturmführer Breitbach deutete ihm allerdings an, dass er vielleicht schon in ein paar Tagen in eine andere Unterkunft umziehen könne. Etwas näher am Chef, für alle Fälle, so hatte er sich jedenfalls ausgedrückt.

In dieser Hinsicht schien soweit alles geklärt, aber sein Problem mit Thea war dadurch nicht aus der Welt. Ihre Zweifel, dass unsere Trennung nur von kurzer Dauer sein wird, konnte ich leider nicht so ganz ausräumen. Er machte sich deswegen immer noch Vorwürfe, aber kam dabei zu keinem Ergebnis.

Vergiss mich bitte nicht ganz, hatte sie ihm auf dem Bahnsteig in Rostock ins Ohr gehaucht. Karl Otto war froh, dass er ein Mädel wie Thea überhaupt gefunden hatte. Schließlich waren sie fast ein Jahr verlobt und wollten noch in diesem Jahr heiraten. Warum glaubt sie nur, dass ich in Berlin nicht mehr an sie denke und hier jemand anderes kennenlernen könnte? Ihm fehlte jegliches Verständnis für derartige Sorgen. Wir lieben uns doch.

Karl Otto schaute auf seine neue Fliegeruhr, die er sich schon so lange gewünscht hatte. Thea legte sie ihm dann letztes Jahr an Heiligabend tatsächlich unter den Weihnachtsbaum.

Es verblieb noch ausreichend Zeit, denn das Außenministerium kam bereits in Sichtweite. Ich werde also pünktlich sein. Die letzten Schritte legte er dann doch mit einem mulmigen Gefühl und zittrigen Knien zurück. Akribisch überprüfte er noch einmal den perfekten Sitz von Mütze und Uniform. Danach betrachtete er argwöhnisch seine blitzblank geputzten Stiefel. Auf dem ganzen Weg hierher hatte er es sich ausgemalt. Wenn ich jetzt unabsichtlich in einen fetten, klebrigen Hundehaufen ...? Aber nichts dergleichen geschah. Scheint alles in Ordnung! Karl Otto war mit sich im Reinen. Er setzte eine dienstliche Miene auf, nahm zackig eine militärische Körperhaltung ein und klopfte sich die verbliebenen Schneereste aus den groben Profilen seiner Stiefel. Ein letztes Mal befragte er mit einem kurzen Blick Theas Weihnachtsgeschenk. Neun Uhr achtundfünfzig! Also dann mal los ...!

Kapitel 4

Polen, wenige Kilometer vor Warschau, 25. Januar 1940

Sie waren bereits seit gestern unterwegs. Von Berlin aus zunächst mit dem Zug bis weit nach Polen hinein und danach stiegen sie auf einen Kübel um, der in irgendeinem unbedeutenden Nest kurz vor Warschau für sie bereitstand.

Vor Ort hatte man ihnen dann sogar einen Fahrer zugeteilt, der nun versuchte, durch geschickte Fahrmanöver dem Wagen und seiner Besatzung die reichlich vorhandenen Schlaglöcher der maroden Landstraßen so gut es ging zu ersparen. Die Sichtbehinderung durch die angetauten Reste der wässrigen Schneedecke führte allerdings dazu, dass dies in den meisten Fällen zum Scheitern verurteilt war. Krollmann und die restlichen Mitfahrer wurden daher ein ums andere Mal ordentlich durchgeschüttelt.

»Verdammt nochmal, Kress ...«, schnauzte er den Fahrer an und griff dabei nach seiner Schirmmütze, die ihm in den Nacken gerutscht war, »... die Straßen hier sind zwar eine Katastrophe, aber passen sie einfach besser auf!«

»Wir sind hier bei den Pollacken, Chef. Was will man da anderes erwarten?«, Oberscharführer Paulsen kommentierte die widrigen Umstände vom Beifahrersitz aus. »Die Schotterpisten hier in Polen sind halt nicht die Elbchausee.«

»Ich war noch nie in Hamburg, also kann ich da nicht mitreden.« Untersturmführer Scholz setzte ein breites Grinsen auf. Der vierte Insasse des Kübels saß neben Krollmann auf der Rückbank und suchte immer wieder krampfhaft an der Lehne des Fahrersitzes Halt.

Paulsen faltete eine verknitterte Landkarte auf seinen Knien auseinander und fuhr mit dem Finger über die dort markierte Wegstrecke. »An der nächsten Kreuzung geht‘s rechts ab, und dann sollten es noch etwa drei Kilometer sein.«

»Hoffentlich hat unser Voraustrupp nicht zu viel versprochen«, meldete Scholz seine Zweifel an.

»Die Kameraden, die das Judennest ausgehoben haben, sprachen jedenfalls von äußerst lukrativen Funden«, Krollmann ließ sich nichts anmerken, dass er im Grunde keine Ressentiments gegen Juden hegte. Aber innerhalb der SS pflegte man eben eine judenfeindliche Rhetorik. Von einem Offizier erwartete man schließlich diesen Jargon, und dem wollte er daher jederzeit gerecht werden. »Außerdem sind die schon immer fürs Schachern bekannt. Sie tragen seit Jahrhunderten alles zusammen, was irgendwie wertvoll ist.« Wie ich dieses Versteckspiel hasse, Krollmann ekelte sich fast dabei, wenn er diese schrecklichen Worte verwendete. Aber er musste seine Rolle weiterspielen. Bloß nicht auffallen!

»Genau! Und deshalb wird es auch Zeit, den verdammten Itzigs das gehörig auszutreiben«, machte Paulsen aus seinem eigenen Judenhass keinen Hehl.

Die Säuberung der eroberten Gebiete von Juden und sonstigen volksschädlichen Subjekten, so jedenfalls die allgemeine Sprachregelung, hatte bereits wenige Tage nach der Kapitulation Polens begonnen. Obwohl Hauptsturmführer Krollmann und seine beiden Mitstreiter ebenfalls zu den SS-Verbänden gehörten, die für derartige Aktionen vorgesehen waren, hatte er es bislang verstanden, die Drecksarbeit, wie er es in seinen Gedanken bezeichnete, stets anderen zu überlassen. Wir sind doch keine Schlächter, rief er sich immer wieder ins Bewusstsein. Obwohl er in den diversen Junkerschulen des Reiches durchaus die Ideologie der SS und des Nationalsozialismus verinnerlicht hatte, wollte er es tunlichst vermeiden, persönlich Hand an die Menschen zu legen, die sie im Auftrag des Führers verfolgten.

Ich habe nicht jahrelang Kunstgeschichte studiert, um jetzt zum Mörder zu werden, hielt sich Krollmann seinen Lebenslauf immer wieder vor Augen. Ein Staatsanwalt ist schließlich auch nicht gleichzeitig der Henker. Seine oberste Maxime dabei: Jeder erfüllt seine Pflicht am richtigen Platz! Und jeder auf seine Art!

Sie waren längst von der Landstraße abgebogen und näherten sich inzwischen einem unscheinbaren verwitterten Gebäude. Der Weg dorthin war in einem noch armseligeren Zustand. Ihr Fahrer hatte hier überhaupt keine Chance mehr, den tiefen Löchern und Gräben auszuweichen.

»Komisch, die haben hier weniger Schnee als in Berlin«, wunderte sich Paulsen, nachdem er aus dem Kübel gesprungen und in knöcheltiefem Morast versunken war. »Was für eine Sauerei«, schimpfte er beim Anblick seiner völlig verdreckten Stiefel.

Ein zur Bewachung abgestellter Soldat machte Meldung und führte sie ins Innere des Gebäudes, das wohl bis vor Kurzem als Synagoge gedient hatte. Die Kameraden der Vorhut hatten schon ziemlich gute Arbeit geleistet. Im ehemaligen Gebetsraum waren sämtliche Bänke in einer Ecke aufgetürmt worden, um Platz für die eigentlichen Dinge zu schaffen, wegen denen sie die Reise hierher angetreten hatten.

»Das sieht ja schon mal recht vielversprechend aus.« Scholz wirkte überrascht. Offenbar hatte er mit einer solchen Menge an erbeuteten Gegenständen nicht gerechnet.

In der Tat stapelten sich in der Mitte des Raumes eine fast unüberschaubare Anzahl wertvoller Kunstgegenstände. Mit fachmännischem Blick pickte er sich das ein oder andere Objekt aus der Masse heraus und unterzog sie einer ersten kritischen Begutachtung.

»Sakrale Artefakte ..., aber zweifelsfrei mit hohem Goldanteil und damit von entsprechendem Wert«, stellte er erfreut fest. »Es sind zwar auch einige weniger interessante Stücke dabei, aber Berlin wird zufrieden mit uns sein.« Die große Anzahl der einzelnen Beutestücke überraschte Krollmann immer mehr, aber er nahm sich die nötige Zeit, die wirklich wertvollen Gegenstände auszusortieren. Kurz vor dem Ende seiner Untersuchungen, hörte er hinter sich Paulsens mürrische Stimme.

»Verdammt nochmal! Geh doch auf ...!« Der Oberscharführer nestelte verzweifelt an einer Holzkiste herum. Sie ließ sich offenbar nicht auf Anhieb öffnen, denn nur nach einigen gezielten Tritten gegen den verrosteten Verschluss gelang es ihm, den von Holzwürmern zerfressenen Deckel endlich aufzuklappen.

»Was haben wir denn hier ...?« Neugierig geworden, ging Krollmann neben der Kiste in die Hocke und blickte auf deren Inhalt. »Schriftstücke, und dazu noch uralt ...!«, staunte er, denn nach dem ersten Eindruck handelte es sich um über ein Dutzend verstaubter Rollen aus Papyrus. Krollmann zog sich zur Vorsicht Handschuhe über und griff sich kurzerhand eine dieser zerbrechlich wirkenden Rollen. Er legte ein überraschend gut lesbares Dokument frei, dessen Buchstaben ihn an Hebräische Schriftzeichen erinnerten. Wenn man bedenkt, wie alt diese Papyri vermutlich sind ..., schon erstaunlich, wunderte er sich.

»Scheint sich um irgendwelche Judenschmierereien zu handeln!« Erneut machte sich Paulsens Abneigung gegen alles Jüdische bemerkbar. »Die haben doch diese Torarollen, oder wie die Itzigs das nennen. Also für uns völlig wertlos. Die können wir zusammen mit dem restlichen Plunder verbrennen, wenn wir hier fertig sind.«

»Auf gar keinen Fall ...«, protestierte Krollmann entsetzt. »Ehe wir die Schriftstücke nicht eingehend untersucht haben, wird hier nichts verbrannt!«

Der Oberscharführer schaute ihn entgeistert an, was wohl seinem mangelnden Sachverstand geschuldet war.

»Wir nehmen die Kiste mit den Schriftstücken auf jeden Fall mit«, entschied Krollmann energisch.

»Dann verbrennen wir den wertlosen Dreck, wenn wir zurück in Berlin sind.«, murmelte Paulsen uneinsichtig vor sich hin. » Einfach nur lächerlich ...!«

Krollmann wies den Wachsoldaten und zwei weitere seiner Kameraden an, alles auf den draußen bereitstehenden Opel Blitz zu verladen. Ursprünglich wollten sie ja noch zu einem anderen Ziel innerhalb Polens weiterfahren, aber dieser umfangreiche und vermutlich äußerst interessante Fund war für ihn Grund genug, ohne weitere Zwischenstopps sofort nach Berlin zurückzukehren. Dazu brauche ich aber Scholz und Paulsen nicht, überlegte er kurzerhand. »Scholz! Sie begleiten Paulsen zu der anderen Station unserer Expedition, wenn ich das mal so nennen darf. Ich werde Morgen sofort nach Berlin zurückfahren. Sie beide gehen weiter nach Plan vor. Wenn sie damit fertig sind, kehren sie ebenfalls nach Berlin zurück. Kann ich mich auf sie verlassen?«

Der Untersturmführer schaute zwar etwas überrumpelt, machte aber keine Anstalten, sich dem ihm erteilten Befehl zu widersetzen. » Paulsen, sie haben gehört, welche Aufgabe der Hauptsturmführer für uns hat. Geben sie Kress Bescheid. Wir fahren in zehn Minuten los.«

Missmutig trottete Paulsen hinter Scholz nach draußen. »Expedition nennt er das, lachhaft ...!« Er schien den neuen Befehl nur widerwillig zu befolgen, denn von draußen hörte Krollmann ein letztes Mal seine trotzige Stimme: »Kress, aufsitzen! Die nächsten Schotterpisten warten auf uns. Der Hauptsturmführer will es so ...!«

Das Vorkommando hatte einen fast fabrikneuen Horch vor Ort zurückgelassen. Warum auch immer? Dieser Gedanke beschäftigte ihn aber nur kurz. Der ist vor allem ein weitaus bequemeres Transportmittel als der rumpelige Kübel von Kress.

Gut eine Stunde später machte er sich auf den Rückweg, den Opel Blitz im Schlepptau; vollgeladen mit den erbeuteten Artefakten. Kurz bevor er wieder auf die Hauptstraße einbog, blickte er nochmal durch den Außenspiegel zurück. Die Wachmannschaft hatte inzwischen ganze Arbeit geleistet, denn die kleine Synagoge brannte lichterloh. Dabei wirkte die Silhouette der Vororte von Warschau am Horizont im Schein der zuckenden Flammen geradezu gespenstisch.

Die Wintersonne war längst untergegangen, darum wollte er sich zunächst um eine anständige Unterkunft für sich und den Kameraden im Opel Blitz kümmern. Auf der Herfahrt waren ihm bereits einige geeignete Anwesen aufgefallen, in denen deutsche Verbände offenbar schon länger einquartiert waren. Dort sollte es ausreichend Verpflegung und vor allem ein warmes bequemes Bett geben, überlegte er zufrieden. Warum sollten sie selbst hier in Polen auf solche Annehmlichkeiten verzichten?

Kapitel 5

Berlin-Charlottenburg, 25. Januar 1940

David Waltz hatte sich immer noch nicht dazu aufraffen können, Klara in seine Pläne einzuweihen. Für ihn selbst stand allerdings fest, dass es für seine kleine Familie in diesem Deutschland keine Zukunft mehr gab. Trotzdem verschob er das klärende Gespräch mit seiner Frau von Tag zu Tag. Vermutlich wird diese Aussprache in einer Katastrophe enden, diese Sorge trieb ihn um und er befürchtete dabei sogar, die zunehmenden Konflikte, zwischen Klara und ihm, könnten in einer tiefgreifenden Ehekrise münden. Schwiegerpapa und Bruderherz Bernhard bestärken sie ohnehin darin, dass unsere Ehe von Anfang an ein Fehler war.

»Papa hat eben angerufen. Er will heute noch kurz vorbeikommen.«

Klara hat absolut keine Vorstellung davon, was der Besuch dieses Menschen in mir auslöst. David mahnte sich, ruhig zu bleiben, aber es gelang ihm einfach nicht. »Was treibt ihn denn heute um, den werten Herrn Oberregierungsrat?«, er bemerkte augenblicklich, dass er sich wieder einmal wenig Mühe gab, seine Abneigung gegenüber Alfred Dexheimer zu verbergen.

»Was hast du denn jetzt schon wieder?« Klara zog mürrisch ihre Augenbrauen zusammen. »Papa will einfach nur mal wieder vorbeischauen. Kannst du dir nicht vorstellen, dass er die Kinder und mich ab und zu einmal sehen will?«

»Wegen der Kinder und mir taucht er hier bestimmt nicht auf. Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.« Davids Worte sprühten vor Sarkasmus.

»Ich sage den Kindern Bescheid, dass ihr Opa zu Besuch kommt.« Klara ging mit keinem Wort auf seine Reaktion ein und verließ sichtlich verärgert das Wohnzimmer.

David überlegte kurz, ob er der Begegnung mit seinem Schwiegervater aus dem Weg gehen sollte. Macht absolut keinen Sinn, wenn ich mich raus in die Kälte verziehe, nur weil dieser Mensch unsere Wohnung betritt. Er legte sich allerdings schon mal einiges zurecht, falls es zu den üblichen Disputen kommen sollte. Dass es heute mal ohne ein Streitgespräch ausging, diese Möglichkeit zog er dabei erst gar nicht in Betracht.

»Papa, Papa, Opa kommt gleich!«

Die kleine Sarah stürmte ihm freudestrahlend entgegen und kuschelte sich an ihn. Auch Paul und Klara kamen wieder herein.

»Da freust du dich aber.« David ließ sich den Kindern gegenüber schon immer nichts anmerken, wenn es um die Großeltern oder ihren Onkel Bernhard ging. Es kostete ihn allerdings zunehmend Kraft und Selbstbeherrschung, denn David vermutete sogar, dass sein Schwiegervater den Enkeln gegenüber auch nicht ehrlich war. Er hat das üble Wort Halbjude in ihrem Zusammenhang zwar noch nie erwähnt..., machte David sich bewusst, aber es gehörte zweifellos zu seinem Repertoire, wenn es um sein Lieblingsthema ging. Schließlich hat er oft genug lautstark herum posaunt, dass es sich bei Mischehen zwischen Ariern und Juden um »Rassenschande« handelt.

Es dauerte keine drei Minuten, bis es an der Tür klingelte.

»Opa...!«, krähte Sarah und lief zur Tür.

David bemerkte sofort, dass sich wieder dieser Kloß in seinem Hals zusammenballte.

»Hallo Paul, hallo Klara.« Alfred Dexheimer schob Sarah abwehrend vor sich her und begrüßte danach auch seinen erstgeborenen Enkel. Allerdings umarmte er nur seine Tochter. Verhielt sich so ein normaler Großvater?

Wenigstens Paul müsste doch bemerken, wie eigenartig sich sein Opa benimmt, dachte er bekümmert. Aber begreift man das mit knapp zehn Jahren schon? David war sich plötzlich nicht mehr sicher.

»Opa, weißt du was? Die anderen Kinder sind böse zu mir und wollen in der Schule nicht neben mir sitzen. Warum tun sie das...?« Sarah fasste mit dieser naiven Frage die ganze Situation in einem einzigen Satz zusammen. Und dass, ohne zu wissen, worum es dabei überhaupt geht.

Alfred Dexheimer schaute zu Klara hinüber und blies überrumpelt seine Backen auf.

»Also ... weißt du ...«, stammelte er und versuchte immer wieder verzweifelt, Blickkontakt mit seiner Tochter aufzunehmen, »... darüber musst du vielleicht einmal mit deiner Lehrerin sprechen, die kann dir bestimmt ...!«

»Die Frau Reichel hat nur gesagt, dass ich lieber mal meinen Papa danach fragen soll.« Sarah hatte ihn zwar nichts davon erzählt, aber David verwunderte trotzdem ihre Schlagfertigkeit. »Und Rassenschande hat sie auch noch gesagt. Was ist das, Opa ...?«

Seinem ansonsten vollmundigen Schwiegervater schienen plötzlich die Worte zu fehlen.

»Dann erzähl’ deiner Enkeltochter doch mal, was ihre Lehrerin damit gemeint hat.«, brach es aus David heraus.

»Schluss jetzt ...!«, mischte sich Klara energisch ein. »Das ist kein Thema, dass wir vor den Kindern ...!«

»Aha ...! Mit diesem Thema habt ihr Herrenmenschen doch sonst keine Probleme.« David legte jetzt jegliche Zurückhaltung ab. Aber gegenüber seiner Frau benutzte er dieses Wort zum ersten Mal.

»Was sind Herrenmenschen, Papa ...?«, fragte Sarah mit kindlicher Naivität.

»David, siehst du jetzt, was du angerichtet hast? Ich glaube es reicht ...!«, fuhr Klara dazwischen und wollte damit wohl weitere Fragen im Keim ersticken. Paul hatte bislang kein einziges Wort gesprochen, aber er trat nun etwas näher an seinen Großvater heran.

»Das waren auch deine Herrenmenschen.« Dieser Einwand seines Sohnes überraschte ihn nicht nur, sondern er war regelrecht schockiert. Paul schob den Pullover nach oben und zeigte ihm seinen Rücken, der mit unzähligen blauen Flecken und verkrusteten Striemen übersät war.

David erschrak, denn er hatte mit allem gerechnet, nur nicht mit diesem Anblick. Und ich Idiot frage mich die ganze Zeit, ob er schon alles versteht oder mitbekommt, dachte er beschämt. Was hat der Junge vielleicht schon alles durchgemacht? Paul war zwar schon immer eher ein stilles Kind, aber sein Schweigen zu den Misshandlungen seiner Mitschüler, gab David zu denken. Wie schrecklich! Warum hat er denn nichts davon erzählt?

Für einen Moment standen sich alle schweigend gegenüber.

»Ich glaube, du gehst jetzt besser wieder, Papa.« Klara unterbrach als Erste die quälende Stille. »Ich melde mich dann bei euch.«

Alfred Dexheimer schien nicht abgeneigt, dieser Aufforderung unverzüglich nachzukommen, denn er verließ sie, ohne den Vorfall weiter zu kommentieren.