Rolfesheim - Mika Lotharson - E-Book

Rolfesheim E-Book

Mika Lotharson

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Beschreibung

Drei Freunde, drei Blutsbrüder, drei Schicksale ... Niemand kann sich in diesen dunklen Zeiten sicher sein, ob all das, was heute gilt, auch morgen noch Bestand haben wird. Die drei Freunde, Heinrich Glasner, Klaus Schultheis und Aaron Seligmann, verleben eine ganz normale Kindheit in ihrer be-schaulichen Heimat Rheinhessen. Auf ihrem Weg zu jungen Erwachsenen hält das Leben allerdings recht unterschiedliche Schicksale für sie bereit. In diesen Jahren wird ihnen erst nach und nach bewusst, welche Rolle jedem Einzelnen in diesen dramatischen Zeiten zufällt. Drei Lebenswege in den dunklen Jahren des Nationalsozialismus, wie sie gegensätzlicher nicht verlaufen können. Wenn aus Freundschaft blanker Hass wird ...

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Bisher von Mika Lotharson erschienen:

»Können Träume töten?« - Tausend Monde wie eine Nacht -

»Das Herodes Komplott«

»ROLFESHEIM« - Wir waren doch Blutsbrüder -

978-3-7534-9533-0

978-3-7562-2369-5

978-3-7583-7245-2

Über den Autor:

Mika Lotharson, geboren 1955 in Koblenz, arbeitete unter seinem bürgerlichen Namen zunächst viele Jahre als daktyloskopischer Sachbearbeiter und Zeichner von Phantombildern, später dann als Sachverständiger für Daktyloskopie im Kriminaltechnischen Institut eines Landeskriminalamtes.

Nach dem Eintritt in den Ruhestand, konnte er sich endlich intensiver seiner schon lange vorhandenen Leidenschaft widmen, dem kreativen Schreiben.

Im Juni 2021 veröffentlichte er seinen Debütroman

»Können Träume töten?« - Tausend Monde wie eine Nacht -

Im September 2022 erschien dann sein zweiter Roman:

»Das Herodes Komplott«

Und nun liegt mit diesem Roman bereits sein drittes Buch vor:

Mika Lotharson genießt seinen Ruhestand und das Leben als Autor, gemeinsam mit Ehefrau Iris und seinem frechen Maine-Coon-Kater »Balou«, in Heidesheim am Rhein, inzwischen ein Stadtteil der Rotweinstadt Ingelheim.

Weitere Infos, einschließlich regelmäßiger Neuigkeiten zum Autor und dessen Arbeit, finden sie auf seiner Homepage:

www.mikalotharson.net

Gedanken des Autors:

Gerade einmal zehn Jahre nach der unfassbaren Zeit des Nationalsozialismus wurde ich geboren. Die Jahre dieser Diktatur habe ich daher selbst nicht mehr miterlebt und kann somit keine Beurteilungen aus eigener Erfahrung zu diesem Thema einbringen. Was ich allerdings feststellen kann, ist eine andere Tatsache. Eine konkrete Beschäftigung mit dieser schändlichen Ideologie fand in meiner Schulzeit, von 1961 bis 1971, nicht einmal ansatzweise statt. Soweit ich mich noch daran erinnere, endete der Lehrstoff im Fach Geschichte mit der Weimarer Republik. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus, dem sogenannten »Tausendjährigen Reich«, war offenkundig in den sechziger bis weit in die siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts in den Lehrplänen der Schulen nur halbherzig oder gar nicht vorgesehen.

Für meine Generation muss ich also schlichtweg konstatieren, dass eine Aufarbeitung des Nationalsozialismus lediglich durch eigene Initiative möglich war. Von meiner Elterngeneration war zu diesem Thema ebenfalls wenig zu erwarten. Viele aus dieser Altersgruppe, die zwischen 1920 und 1930 geboren wurden, verdrängten diese schrecklichen Ereignisse, oder sie behaupteten standhaft, von all dem nichts gewusst zu haben. Andere Zeitzeugen argumentierten beharrlich: »Was hätten wir als Einzelne denn großartig ausrichten können?«

Selbst wenn die Menschen damals aus den unterschiedlichsten Gründen in die N.S.D.A.P. eintraten, darf man sie deshalb längst nicht alle als »fanatische Nazis« bezeichnen. Sie galten als sogenannte »Mitläufer«, die das Regime einfach als gegeben hinnahmen. Aber auch durch ihr Schweigen zu den unglaublichen Verhältnissen in dieser Diktatur, haben sie sich letztendlich schuldig gemacht.

Bei all unserer heutigen Kritik an der scheinbaren Gleichgültigkeit dieser Generation, sollten wir uns allerdings auch selbst einmal die Frage stellen: »Wie hätten wir uns verhalten, wenn wir damals gelebt hätten?«

Eine Frage, die unter Berücksichtigung unserer derzeitigen Lebensverhältnisse, sehr schwierig zu beantworten ist. Wir alle, dies gilt zumindest für uns Westdeutsche, dürfen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in einer funktionierenden Demokratie leben. Die Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR hingegen, haben von 1933 bis 1989 durchgängig in einer Diktatur zugebracht, mit natürlich völlig unterschiedlichen politischen Ausprägungen.

Für uns Westdeutsche, mit all den positiven Erfahrungen in unseren demokratischen Strukturen, ist also Meinungsfreiheit, der Diskurs oder öffentlich geäußerte Kritik an den politischen Akteuren, zu einem hohen Gut geworden.

Steht es uns also zu, die Generation unserer Eltern und Großeltern für ihr damaliges Verhalten zu verdammen?

Ich gebe zu, dass ich mir dazu auch nach all den Jahren immer noch keine abschließende Meinung gebildet habe.

Worin unsere heutige Gesellschaft allerdings niemals nachlassen darf, ist die Erhaltung einer funktionierenden Erinnerungskultur an diese unsägliche Zeit. Vor allem sind wir geradezu verpflichtet, den aktuell erneut aufkommenden Nationalismus in Deutschland nicht wieder salonfähig zu machen oder sogar zur Staatsideologie zu erheben.

Politische Ränder mit extremen Ansichten und demokratiefeindlichen Grundeinstellungen gab es leider schon immer, aber die bürgerliche Mitte unseres Landes, mit all ihren politischen Facetten, muss weiterhin das Grundgesetz, das Fundament unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung, mit ganzer Kraft verteidigen.

Was mir dabei ein wenig Hoffnung macht, ist die Tatsache, dass in den Schulen inzwischen weitaus offener mit der Zeit des Nationalsozialismus umgegangen wird. Aber die Generation der jüdischen Zeitzeugen, die den Kindern in den Schulen von ihrem Martyrium in den Konzentrationslagern berichten, wird bald nicht mehr am Leben sein. Wie geht es also weiter, wenn diese Stimmen in ein paar Jahren endgültig verstummt sind und die Gräueltaten in Auschwitz oder Treblinka immer weiter in Vergessenheit geraten?

Eine beängstigende Entwicklung unserer Tage, und dass inzwischen nicht nur in den neuen Bundesländern, ist allerdings der Trend, die über Jahrzehnte etablierten demokratischen Parteien in Deutschland zunehmend abzulehnen und zudem die Demokratie als Ganzes in Frage zu stellen. Diese Menschen verschaffen dabei einer Partei am äußeren rechten Rand des politischen Spektrums immer mehr Zulauf. Eine beängstigende Entwicklung.

Völlig surreal mutet dabei an, dass es sich bei dieser Partei um eine nachweislich rechtsextreme Vereinigung handelt und in Teilen sogar als rechtsradikal bezeichnet werden muss. Deren Rhetorik sollte jeden aufrechten Demokraten aufschrecken lassen, denn sie erinnert stark an Zeiten deutscher Geschichte, die wir als längst überwunden glaubten. Auch an der Verbreitung von aberwitzigen Verschwörungstheorien und haarsträubenden »Fake News« hat diese Partei maßgeblichen Anteil. Wer Journalisten als »Lügenpresse« diffamiert, nur weil sie rechtes Gedankengut aus gutem Grund anprangern und als solches entlarven, hat sich von unserem Grundgesetz längst verabschiedet.

Der Wortführer des sogenannten rechten Flügels dieser Partei darf inzwischen sogar, untermauert durch ein höchstrichterliches Urteil, offen und ohne Einschränkungen als Faschist bezeichnet werden.

In unserem demokratischen Deutschland dürfen nicht noch einmal völkisch nationalistische Kräfte die Oberhand gewinnen. Alle anderen Parteien sind daher aufgerufen, dieser Tendenz, mit aller Macht und allen demokratischen Mitteln entgegenzutreten.

Dazu gehört allerdings auch, dass sich die aktuell politisch Handelnden wieder für die Interessen »aller« Bürgerinnen und Bürger unseres Landes einsetzen, und die Sorgen und Nöte der Bevölkerung endlich ernst nehmen. Die Politik für Lobbyisten und sonstige Klientel muss ein Ende haben. Der Blick für das Notwendige und Wesentliche muss wieder geschärft werden, denn letztlich steht unsere Demokratie auf dem Spiel.

Unseren Wohlstand zu erhalten, sozial verträglich und möglichst klimaneutral, sollte dabei im Vordergrund stehen. Um dies zu erreichen, bedarf es enormer Anstrengungen, die nur gemeinsam durch alle demokratischen Kräfte unseres Landes möglich sein werden. Politisches Gezänk ist dabei unbedingt zu vermeiden, denn dies stärkt nur die politischen Ränder, die ein anderes Deutschland, oder gar ein anderes Europa anstreben.

Deshalb muss sowohl für alle Politiker, als auch für die Bürgerinnen und Bürger weiterhin gelten, die Lehren aus den Fehlern der Weimarer Republik zu ziehen und sich immer wieder bewusst zu machen: » Wehret den Anfängen ...!«

Und natürlich dürfen alle Demokratinnen und Demokraten auch nicht nachlassen, ohne Wenn und Aber zu fordern:

»Nie wieder Faschismus ...!«

Nicht nur in Deutschland, auch in vielen anderen Ländern der Erde, scheint man inzwischen zu der Ansicht zu gelangen, dass die Demokratie nicht mehr die ideale Staatsform sei. Der Aufstieg diverser Autokraten und Despoten schreitet daher weltweit immer weiter fort. Damit einher gehen die Unterdrückung von Minderheiten, Rassismus, Antisemitismus und Menschenrechtsverletzungen ungeahnten Ausmaßes.

Die aktuellen Ereignisse, seit Anfang Oktober des vergangenen Jahres, haben meine ursprünglichen Gedanken zum Zustand unserer Demokratie inzwischen überrollt. Die deutschlandweiten antisemitischen Ausschreitungen nach dem erneuten Aufflammen des seit vielen Jahren schwelenden Nahostkonflikts zwischen Israel und den Palästinensern, machen leider deutlich, dass die Gefahren für unsere Demokratie längst nicht nur vom politischen rechten Rand drohen.

Auch ich habe den negativen Einfluss von Zuwanderung in diesem Punkt leider unterschätzt. Antisemitismus hat in Deutschland keinen Platz, gleichgültig ob von rechts oder links. Darüber hinaus muss dies zweifellos auch für alle Migranten in unserem Lande gelten!

Allen Zuwanderern, die hier bei uns ihre neue Heimat finden möchten, muss deutlich vor Augen geführt werden, dass ein dauerhafter Aufenthalt in Deutschland nur den Menschen gewährt werden kann, die unsere freiheitlich demokratischen Werte vorbehaltlos anerkennen. Auch dies ist die Aufgabe unserer Politiker, die dafür Sorge tragen müssen, dass jederzeit die strikte Einhaltung dieser Werte durch geeignete Maßnahmen durchgesetzt werden.

Der Begriff »Ungläubige« wird auch in unserem Land immer häufiger verwendet, um andere Religionen zu diskreditieren. Das Grundgesetz gewährt jeder Bürgerin, jedem Bürger unseres Landes Religionsfreiheit. Aber diese Freiheit darf niemals dazu missbraucht werden, gegen Andersgläubige zu Gewalt aufzurufen.

Zu welchen Exzessen politischer oder religiöser Fanatismus führen kann, haben uns die Ereignisse am 7. Oktober des vergangenen Jahres im Süden Israels auf schreckliche Weise vor Augen geführt.

Der Antisemitismus ist ein Jahrhunderte altes Phänomen, das weltweit immer wieder zu Pogromen oder anderen Gewalttaten führt. In dieser Hinsicht haben vorausgegangene Generationen unseres Landes ebenfalls schwere Schuld auf sich geladen.

Aus diesem Wissen heraus ist es umso wichtiger, dass sich die heutige Generation, gegen diese neuen Formen des Antisemitismus mit aller Kraft entgegenstemmt.

Ein »Wehret den Anfängen!« oder ein »Nie wieder!« einzufordern, ist daher die Aufgabe aller Demokraten.

Kämpfen wir jeden Tag dafür, denn noch ist es nicht zu spät!

Obwohl auch ich diese Entwicklung mit Sorge verfolge, habe ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass die Demokratien unserer Erde die kommenden schweren Jahre überdauern werden. Auch wir in Deutschland dürfen deshalb den Glauben daran nicht verlieren.

Unsere Demokratie ist wehrhaft und stark. Um sie zu erhalten, bedarf es allerdings mehr als nur Lippenbekenntnisse.

Treten wir also im Alltag jederzeit aktiv für unsere freiheitlich demokratische Grundordnung ein. Dazu ist jeder Einzelne von uns aufgerufen, denn

»Nie wieder ist jetzt ...!«

(Mika Lotharson, im März 2024)

Widmung:

Die Schicksale der Protagonisten dieses Romans stehen beispielhaft für all das unsägliche Leid, das so vielen Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus widerfahren ist.

Möge das vorliegende Buch dazu beitragen, dass das unrühmlichste Kapitel deutscher Geschichte niemals in Vergessenheit gerät.

Ähnliche Entwicklungen und Ereignisse, die hier in der fiktiven rheinhessischen Gemeinde Rolfesheim beschrieben werden, gab es in diesen dunklen Zeiten überall in Deutschland. So etwas darf in unserem Land nie wieder geschehen.

Verstehen wir dies als Mahnung und Auftrag zugleich.

In Gedenken an alle Familien, die unter dem Terrorregime Nazi-Deutschlands gelitten haben

Dramatis Personae:

Die Blutsbrüder:

Heinrich Glasner Klaus Schultheis Aaron Seligmann

und deren Familien:

Emil Glasner

(Vater von Heinrich Glasner/Winzer und Obstbauer/Nationalsozialist)

Franziska Glasner, geb. Hentschel

(Mutter von Heinrich Glasner/Hausfrau)

Waltraud Glasner (später verh. Lukas)

(Schwester von Heinrich Glasner)

Irmgard Glasner (später verh. Wentzel)

(Schwester von Heinrich Glasner)

Albert Schultheis

(Vater von Klaus Schultheis/Kommunist/Maurer)

Magda Schultheis, geb. Wilhelm

(Mutter von Klaus Schultheis/Hausfrau)

Ruben Seligmann

(Vater von Aaron Seligmann/Buchhändler)

Sarah Seligmann, geb. Baum

(Mutter von Aaron Seligmann/Klavierlehrerin)

weitere beteiligte Personen:

Dr. Helmut Wissmann

(Direktor an der Volksschule in Rolfesheim)

Arthur Schollmeyer

(Klassenlehrer der Blutsbrüder, Fächer Deutsch und Geschichte)

Siegfried Hentschel

(Neffe von Franziska Glasner/ Cousin von Heinrich, Waltraud und Irmgard)

Sergeant Timothy Bloom

(Amerikanischer GI aus Cleveland/ Ohio)

Ohne dabei eine Wertung vorzunehmen, werden alle anderen Personen, die in der Geschichte mitwirken, an dieser Stelle nicht gesondert erwähnt)

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Rolfesheim / Rheinhessen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Rolfesheim / Rheinhessen

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Deutschland im Wandel

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Deutschland im Krieg

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Deutschland im Krieg

Kapitel 25

Kapitel 26

Die letzten Kriegswochen

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Viele Jahre später

Kapitel 30

Kapitel 31

Epilog

Anhang

Glossar

Prolog

Gegenwart

Geschichten von Freundschaften sind so alt wie die Menschheit selbst. Dass diese Verbindungen ein Leben lang halten, ist zwar nicht die Regel, aber dennoch nicht ungewöhnlich. Meist verlaufen diese Lebenswege nicht so geradlinig, wie die Beteiligten es sich gewünscht hätten. Dies ist vor allem auf die Tatsache zurückzuführen, dass Menschen im Laufe ihres Lebens einem persönlichen Wandel unterworfen sind und sich Meinungen oder Charakterzüge mit der Zeit verändern. Oft sind es aber auch Dinge, für die man den Einzelnen nicht ausschließlich verantwortlich machen kann. Ist dies vielleicht doch der Fall?

Die Ursachen für gesellschaftliche oder politische Phänomene können nicht nur auf den Herdentrieb der Menschen zurückgeführt werden. Dabei werden auch immer ethische Aspekte berührt. Wenn der Einzelne diesen Umstand außer Acht lässt, bleibt die Moral auf der Strecke.

In Deutschland lebte es sich mit einer gehörigen Portion Opportunismus deutlich besser, als sich der staatlichen Ideologie zu widersetzen. Die Anpassung an das System war in dieser unrühmlichen Zeit deutscher Geschichte eine der Grundtugenden der meisten Bürgerinnen und Bürger. Es war wichtig, niemandem voreilig zu widersprechen, um nicht den Zorn der Obrigkeit heraufzubeschwören.

Ist es mir also überhaupt erlaubt, mich in diesem Zusammenhang zum Moralapostel zu erheben und andere Menschen für ihr Verhalten zu verurteilen? Denn in dieser Geschichte geht es nicht um mich, sondern um Heinrich Glasner, Klaus Schultheis und Aaron Seligmann. Im Mittelpunkt des Geschehens steht einzig und allein Ihre Freundschaft. Eine zunächst kindliche Kameradschaft, wie sie millionenfach gelebt wurde und wahrscheinlich bis heute immer wieder vorkommt. Ich habe die Jungs lange Zeit dafür beneidet, da ich nicht Teil dieser engen Verbindung sein durfte.

Wenn ich nur vorher gewusst hätte, was ich heute weiß ...!

Diese Ausrede wird allerdings niemand als Entschuldigung gelten lassen, warum ich es nicht wenigstens versucht habe, einige dieser schlimmen Dinge zu verhindern.

Könnte es also sein, dass ich ein Feigling war?

Nein ..., so würde ich es nicht bezeichnen! Ich gehörte einfach nur zu diesen bereits erwähnten Opportunisten, und von denen gab es in all den Jahren leider viel zu viele ...!

Allerdings bin ich mir vollkommen sicher, dass ich die Zeit des Nationalsozialismus gerade deshalb unbeschadet überstanden habe.

Warum gebe ich in diesem Moment nicht meinen Namen und meine Rolle in dieser Geschichte preis?

Weil ich bislang zu alldem beharrlich geschwiegen habe. Und dafür schäme ich mich bis heute ...!

Rolfesheim / Rheinhessen

Im Herbst 1932

Kapitel 1

Durch den Beruf seines Vaters genoss Aaron Seligmann ein Privileg, das außer ihm wohl nur recht wenigen Jungs seines Alters vergönnt war. Aber diese Tatsache wurde ihm erst viele Jahre später bewusst.

Vaters kleiner Buchladen, in der beschaulichen rheinhessischen Gemeinde Rolfesheim, war nicht nur ein beliebter Treffpunkt literaturbegeisterter Menschen, sondern er ermöglichte es Aaron, seine eigene Leselust nachhaltig zu befriedigen.

Anfangs hatte sein Vater offenbar kein gutes Gefühl dabei, als er ihn bat, ihm den ein oder anderen Schmöker aus seinem Laden auszuleihen. Er befürchtete wohl, dass ich, mit gerade einmal zwölf Jahren, noch nicht alt genug war, die neuen Bücher mit der erforderlichen Sorgfalt zu behandeln. Dies führte er damals allerdings als seine einzige Begründung ins Feld. Schließlich wollte er sie auch noch danach guten Gewissens seinen Kunden verkaufen.

»Aaron wird sicherlich keine Eselsohren hinterlassen, und die Bücher auch nicht mit fettigen Fingern anfassen. Dafür ist er einfach zu ordentlich, Ruben. Du solltest mehr Vertrauen zu deinem Sohn haben!«

Erst dieser Einwand seiner Mutter schien Vater einigermaßen zu überzeugen, denn ab diesem Zeitpunkt erlaubte er ihm, regelmäßig auf das umfangreiche Sortiment seines Ladens zurückzugreifen.

»Außerdem solltest du froh sein, dass Aaron gerne seine Nase in Bücher steckt«, argumentierte sie weiter. »Zudem ist dein Sohn ein guter Schüler, und die Lektüre von Büchern macht ihn sicherlich nicht dümmer!«

»Wenn er wenigstens etwas Anspruchsvolles lesen würde, Sarah!«

Offensichtlich schien seinem Vater lediglich die Art von Büchern zu missfallen, die er sich bei ihm ein ums andere Mal auslieh.

»Dieser Karl May mit seinen haarsträubenden Indianergeschichten ist bestimmt nicht dazu geeignet, seinen Wissenshorizont zu erweitern.«

Aaron hörte diesen Einwand damals zum ersten Mal, aber die Geschichten von Karl May gefielen ihm nun einmal bedeutend besser, als die langweiligen Bücher, die angeblich für Jungs in seinem Alter verfasst wurden.

Old Shatterhand, Winnetou und die anderen Gestalten im fernen Wilden Westen Nordamerikas, zogen Aaron einfach magisch an. Er tauchte immer wieder in die spannenden Erzählungen Karl Mays ein, und in manchen Nächten träumte er inzwischen sogar davon, gemeinsam mit dem Häuptling der Apachen über die Prärie zu reiten. Dann wurde er eins mit den Geschichten und erlebte diese Abenteuer, als wäre er selbst dabei gewesen.

»Aaron sollte sich besser für Thomas Mann oder andere bedeutende deutsche Schriftsteller begeistern«, hörte er seinen Vater dann einmal sagen, als er zufällig ein Gespräch seiner Eltern belauschte. Aber Mutter hielt weiterhin zu ihm. »Dafür ist er einfach noch nicht alt genug, Ruben. Es wird die Zeit kommen, dann wird er sich auch an diese Klassiker heranwagen. Lass ihm einfach die nötige Zeit dazu. Im Moment ist es vielleicht sogar besser, wenn er etwas liest, was seine Fantasie beflügelt.«

Karl May beflügelt also meine Fantasie, dieser Gedanke gefiel Aaron. Und außerdem passiert in unserem stinklangweiligen Rolfesheim sowieso nichts Aufregendes, machte er sich bewusst. Deshalb fand er ja Winnetou und die anderen Beteiligten in Karl Mays Geschichten so interessant. Sie erlebten gefährliche Abenteuer und machten Erfahrungen, die es hier in seiner Heimat niemals geben würde. Schließlich gab es hier weder Indianerüberfälle, noch Schießereien in verrauchten Saloons. Jedenfalls hatte er in Rolfesheim und dem Rest Rheinhessens von solchen Ereignissen noch nie gehört. Aber ob ich solche Dinge tatsächlich selbst erleben möchte? Aaron gab sich die Antwort darauf selbst, denn bei seinen Klassenkameraden galt er ohne Zweifel eher als ängstlich und zurückhaltend. Die Erzählungen Karl Mays kamen ihm daher gerade recht. Schließlich bringen sie mich nicht wirklich in Gefahr, eine beruhigende Tatsache, die er sich immer wieder ins Gedächtnis rief, wenn er eines der Bücher aufklappte, um darin weiterzulesen.

Inzwischen war es Aaron gelungen, seinen Vater sogar davon zu überzeugen, auch andere Werke von Karl May beim Verlag zu bestellen. Er tat dies, obwohl dessen Geschichten sicherlich nicht zu den Büchern in seiner Buchhandlung gehörten, die in größerer Stückzahl über die Ladentheke wanderten. Er hatte sich ohnehin auf ein ganz anderes Sortiment spezialisiert und galt mittlerweile im Großraum Mainz wohl als Geheimtipp für besonders kostbar verarbeitete Bücher.

So hatte es Aaron schließlich schon mehrfach gehört, wenn sich die Erwachsenen über Vaters Buchladen unterhielten. Zu seinem Sortiment gehörten auch enorm dicke Wälzer, die wohl von besonderem Wert waren und offenbar von ganz bestimmten Leuten gekauft wurden.

Einige seiner Kunden kamen daher nicht nur aus Rolfesheim und Umgebung. Aaron hatte einmal mitbekommen, als seine Eltern sich darüber unterhielten, dass sogar zwei Männer aus Frankfurt hier nach Rolfesheim anreisten, und mehrere teure »Folianten« mitnahmen. So nannte Vater damals diese kostbaren Bücher.

Nur, um bei Papa Bücher einzukaufen? Einfach unglaublich! Aaron begriff auch mit seinen jungen Jahren bereits, dass es sich dabei wohl um ganz besondere Geschäfte handelte. Es waren daher nicht die hohen Stückzahlen, die sein Vater verkaufte, sondern die wenigen wertvollen Stücke aus seinem Angebot.

Ohne Zweifel liefen die Geschäfte inzwischen nicht mehr so gut. Auch diese Tatsache war Aaron nicht entgangen, denn seine Eltern machten immer wieder gewisse Andeutungen, die er dann oftmals nicht sofort einzuordnen wusste. Zumeist dann, wenn er irgendwelche Worte noch nie zuvor gehört hatte.

»Was ist eigentlich Inflation oder Arbeitslosigkeit?«, fragte er daher eines Abends, als sie alle am Esstisch versammelt waren. »Und was haben diese Worte mit Papas Laden zu tun?«

Die besorgten Blicke seiner Eltern machten ihm augenblicklich klar, dass es sich wohl um unangenehme Dinge handelte.

»Nun ja, Aaron ...«, gab sein Vater ihm schließlich nach einigem Zögern zu verstehen. »Es gibt in den letzten Jahren leider immer mehr Menschen, die ihren Beruf nicht mehr ausüben können, weil es immer weniger Arbeit gibt. Nicht nur in den großen Städten, sondern auch hier bei uns in Rheinhessen.«

»Und dadurch haben die Leute weniger Geld, um bei dir Bücher zu kaufen?« Aaron versuchte, diese Situation mit seinen eigenen Worten zu beschreiben.

»Genauso ist es, mein Sohn. Sie brauchen das wenige Geld mittlerweile für wichtigere Dinge«, ergänzte seine Mutter. »Etwa für das immer teurere Essen zu kaufen, oder auch um ihre Rechnungen zu bezahlen. Für den Kauf von Büchern bleibt dann meistens nichts mehr übrig. Weißt du was ich meine ...?«

Aaron begriff damals zum ersten Mal die Zusammenhänge, schob dann allerdings eine weitere Frage hinterher. »Und das hat dann auch damit zu tun, dass nicht mehr so viele Schülerinnen und Schüler zu dir kommen?«

Seine Mutter schaute ihn danach traurig an und schien mit den Tränen zu kämpfen.

»Deine Mutter hat auch zu spüren bekommen, dass es im Augenblick wichtigere Ausgaben für die Menschen gibt, als Geld für Klavierunterricht auszugeben.« Vater übernahm seinerzeit die Antwort auf Aarons Frage, denn seine Mutter schien dazu offensichtlich nicht in der Lage.

»Und außerdem hat es auch etwas damit zu tun, dass wir ...!« Sein Vater wollte wohl etwas nicht aussprechen.

Was meint er nur damit? Aaron kannte ihn als einen schlagfertigen Menschen, der nie um eine Antwort verlegen war. Ganz im Gegensatz zu mir, gestand Aaron sich schon damals ein, denn in der Schule oder unter anderen Gleichaltrigen zog er es oftmals vor, lieber zu schweigen.

»Weil wir Juden sind, Aaron. Das wollte dein Vater damit sagen ...!« Seine Mutter hatte offensichtlich ihre Sprache wiedergefunden.

»Na und ...?«, antwortete er seinerzeit trotzig. »Warum sollten die Menschen deswegen keine Bücher mehr in Papas Laden kaufen, oder bei dir das Klavierspielen lernen?«

»Die Zeiten haben sich gewandelt. Das bekommen wir auch langsam hier in Rolfesheim zu spüren.«

War das wirklich die Erklärung für diese Veränderungen?

»Und wenn dieser Hitler und seine Nazi-Bande bei der nächsten Wahl noch mehr Stimmen bekommen sollten? Ich weiß nicht, zu was dieser Mensch und seine Partei noch alles fähig sein werden ...!«

Vater klang damals erbost, aber auch ein wenig ängstlich. So hatte ihn Aaron bislang noch nie erlebt. Und warum um alles in der Welt finden eigentlich alle diesen Hitler so interessant? In der Schule hatte er zwar schon mehrmals von einem Mann dieses Namens gehört, aber Politik und solche Dinge interessierten ihn normalerweise überhaupt nicht.

Auf seinen Klassenlehrer machte dieser Hitler wohl ebenfalls mächtig Eindruck, denn Herr Schollmeyer erwähnte diesen Namen immer mal wieder im Unterricht. Und auf dem Schulhof war dieser Hitler ganz offensichtlich auch Thema gewesen, als der sich mit Direktor Wissmann unterhielt. »Wenn wir noch mehr von solchen Männern hätten, Herr Kollege, dann ginge es endlich wieder aufwärts mit Deutschland!«

Der Direktor schien nicht ganz Schollmeyers Meinung zu sein, denn er schüttelte mehrfach mit dem Kopf. »Das bleibt abzuwarten. Ich bin mir da nicht so sicher!«

Was die Beiden dann noch weiter über diesen Hitler sprachen, bekam Aaron seinerzeit nicht mehr mit, denn sie entfernten sich immer weiter von ihm.

»Sollen sich die Erwachsenen darüber den Kopf zerbrechen«, war damals auch die Antwort seines Klassenkameraden Klaus, als er ihm von diesem Gespräch erzählte.

»Mein Vater schimpft zuhause zwar auch manchmal über diesen Mann, aber meine Mutter sagt dazu immer, dass er sich da in etwas hineinsteigert.«

Aber wenn die Erwachsenen sich um solche Dinge Sorgen machen, scheint tatsächlich etwas nicht zu stimmen. Aaron wollte einfach nicht weiter darüber nachdenken, denn es gab heute eindeutig wichtigere Dinge zu erledigen. Er wollte sich am Nachmittag schließlich noch mit seinen besten Freunden Klaus und Heinrich treffen.

Dazu hatten sie sich zuhause bei Heinrich verabredet, dessen Eltern in Rolfesheim das Obst- und Weingut Glasner gehörte. Für Aaron eine völlig andere Welt, denn dort herrschte stets rege Betriebsamkeit, wenn fast das ganze Jahr über irgendeine Obsternte anstand, oder die Weinlese der verschiedenen Rebsorten keinen Aufschub duldete. Auch Klaus und er halfen manchmal mit, wenn Heinrich keine Lust hatte, seinen Eltern alleine bei der Obsternte zu helfen.

Diese Arbeiten waren überhaupt nicht zu vergleichen mit dem ruhigen und eher beschaulichen Tagesablauf in seinem eigenen Zuhause. Zumal sich die Anzahl der Klavierschülerinnen und - schüler seiner Mutter auf nur wenige Einzelpersonen beschränkte. In Vaters Buchladen ließen sich ohnehin nur noch sporadisch Kunden blicken. Den Grund dafür kannte er ja mittlerweile.

Aaron schaute kurz hinauf zur Kirchturmuhr.

Sie warten bestimmt schon auf mich, befürchtete er und spurtete die Dorfstraße hinauf. Das Gut der Glasners lag am Ortsrand von Rolfesheim, glücklicherweise nur einige hundert Schritte von seinem Zuhause entfernt.

»Mensch Heinrich! Wie soll das mit dir bloß weitergehen?« Die Stimme seiner Mutter klang zwar besorgt, aber das war Heinrich inzwischen schon gewohnt. Immer, wenn es um das leidige Thema Schule ging, stellte er seine Ohren inzwischen auf Durchzug und ließ von den ganzen Vorwürfen wenig an sich heran. »Hast du überhaupt schon deine Hausaufgaben gemacht?«

»Habe ich dir doch schon gesagt, Mama. Die erledige ich später zusammen mit Klaus und Aaron.« Heinrich nervten diese Fragen einfach nur noch. Wenn ihm seine Mutter nicht damit auf den Wecker ging, dann waren es seine beiden Schwestern. Waltraud, die ältere von beiden, hielt sich zwar meistens etwas zurück, aber hauptsächlich Irmgard war es, die sich zuweilen wie ihre Mutter anhörte. »Du musst einfach mehr lernen, Heinrich. Sonst bleibst du am Ende noch sitzen, oder bekommst keinen Abschluss!«

Mit solchen Ansagen war sie schnell bei der Hand und stand ihrer Mutter dabei in nichts nach. Der einzige Vorteil bei Irmgard war, dass er ihr die ein oder andere Kopfnuss verpassen konnte, wenn er sich damit wegen irgendwelcher Sprüche seiner Schwester zur Wehr setzte. Obwohl Heinrich fast zwei Jahre jünger war als sie, spielte er in solchen Momenten seine körperliche Überlegenheit aus. Er musste einfach nur darauf achten, dass niemand sonst in der Nähe war und ihn dabei beobachtete.

Einzig sein Vater ließ ihn mehr oder weniger mit derartigen Nörgeleien in Ruhe. »Die Schule ist zweifellos wichtig«, war seine Meinung zu diesem Thema. »Aber man kann unseren Hof irgendwann auch ohne einen guten Abschluss übernehmen. Wenn ich da an meine Schulzeit denke! Ich zählte früher auch nicht zu den Strebern.«

Das klang zwar wesentlich besser als aus dem Munde seiner Mutter und der Schwestern, aber die Pläne seines Vaters schmeckten Heinrich ebenso wenig. In dieser Hinsicht gab es auch mit Vater die ein oder andere Diskussion, wenn es darum ging, bei der Ernte oder anderen Arbeiten im elterlichen Betrieb mitanzupacken.

Das klagende Rufen eines Käuzchens, ihr übliches Zeichen, wenn einer der Freunde sich bei den anderen bemerkbar machte, drang durch das geöffnete Küchenfenster. Heinrich antwortete ebenfalls mit diesem Ruf und machte sich augenblicklich auf den Weg nach draußen.

»Denk daran ...«, rief ihm seine Mutter hinterher, »... dein Vater braucht dich später noch!«

»Weiß ich doch, Mama, aber jetzt muss ich los!«

Das muss Klaus sein, Aaron klingt anders, war er überzeugt, denn er konnte inzwischen die Käuzchen Rufe seiner beiden Freunde einwandfrei auseinanderhalten.

Seinen Vater sah Klaus Schultheis in den letzten Wochen immer seltener. Diesen Umstand empfand er allerdings nicht als einen Mangel an väterlicher Zuwendung, denn seine Mutter hatte ihm schließlich erklärt, warum er sich zuhause so rar machte.

»Du weißt doch, dass dein Vater bei Herrn Diefenbach arbeitet ...,« redete sie in nachsichtigem Ton auf ihn ein, »... und der hat im Augenblick nicht so viele Aufträge. Das bedeutet, dass er deinen Papa nicht den ganzen Tag in der Firma beschäftigen kann.«

Klaus wusste sehr wohl, dass Herr Diefenbach ein Bauunternehmer war, der mit seinen Bautrupps so ziemlich alles erledigte, wenn es in Rolfesheim und Umgebung etwas zu mauern gab. »Aber warum ist Papa dann nicht öfter zuhause, wenn es weniger Arbeit gibt?« Seine Frage war naheliegend, daher erwartete er auch eine entsprechende Antwort.

»Ganz einfach, Klaus! Papa arbeitet in der restlichen Zeit bei irgendwelchen Leuten, die etwas zu erledigen haben, auch wenn es einmal nicht um das Mauern von Wänden geht.«

Seine Mutter bemerkte wohl, dass er sie weiterhin fragend ansah, denn sie setzte sich neben ihn auf die Gartenmauer und legte eine Hand auf sein Knie.

»Papa hilft diesen Menschen auch bei anderen Dingen, wenn sie diese Arbeiten nicht selbst erledigen können oder keine Zeit dafür haben.«

Klaus nickte, denn er hatte kapiert, was seine Mutter damit meinte. »Ach so, und dafür bekommt er dann von diesen Leuten Geld.«

»Genau ..., denn von Herrn Diefenbach bekommt er ja nicht mehr so viel Lohn, weil er ja auch weniger Stunden für ihn arbeitet!«

Klaus gab sich mit dieser Auskunft fürs Erste zufrieden, denn er wusste nur zu gut, dass sein Vater auch noch andere Verabredungen hatte, von denen er Mutter wohl nichts erzählte. Durch Zufall hatte er einmal ein Gespräch mit einem anderen Mann mitbekommen, wohl ein Arbeitskollege oder ein Freund seines Vaters. Dabei fielen mehrfach die Worte Versammlung oder Sitzung. Mit den Begriffen »Gewerkschaft« beziehungsweise »Partei« konnte Klaus ebenfalls nicht viel anfangen, zumindest im Zusammenhang mit seinem Vater. Und Mutter kann ich dazu auch nicht befragen, war ihm vollkommen klar. Wenn ihr Papa das bislang verschwiegen hat, gibt es nur Streit zwischen den Beiden. Und dies wollte er unter allen Umständen vermeiden. Deshalb verkniff er sich weitere Fragen und beließ es bei den bisherigen Auskünften.

»Musst du nicht los? Du wolltest doch ...!« Mutters Frage erinnerte ihn augenblicklich daran, dass er sich heute Nachmittag wieder einmal mit Heinrich und Aaron verabredet hatte.

»Stimmt …! Bin schon unterwegs!«

Hoffentlich hatte Heinrich nicht wieder die üblichen Probleme bei den Hausaufgaben? Seine Faulheit nervt mittlerweile gewaltig, dies wurde ihm seit einiger Zeit immer klarer. Er verlässt sich inzwischen nur noch auf Aaron und mich. Klaus wusste aber auch, warum es sich bei ihrer engen Freundschaft manchmal auch nur um eine reine Zweckgemeinschaft handelte. Aber jeder von uns hat schließlich seinen Nutzen davon. Immer wieder kam er zu derselben Erkenntnis, auch wenn er noch so oft darüber nachdachte.

Inzwischen war er auf dem weitläufigen Gelände des Glasner-Hofs angekommen. Mit beiden Händen formte er vor seinem Mund eine Höhle, in die er dann mehrfach hineinblies. Der traurige Ruf eines Käuzchens ertönte, ihr gemeinsames Erkennungszeichen. Wie ein Echo erklang dieser Ruf auch aus einem der geöffneten Fenster. Kurze Zeit später erschien Heinrich in der Haustür.

»Ich hab’s gewusst ...!« Heinrich setzte ein breites Grinsen auf und schlurfte auf Klaus zu.

»Was hast du gewusst ...?«

»Das du derjenige bist, der draußen auf mich wartet.«

»Bist du über Nacht zum Hellseher geworden?« Klaus begriff immer noch nicht, woran Heinrich ihn erkannt hatte.

»An deinem Huhu natürlich ...!«

»An meinem was ...?«

»An unserem Erkennungszeichen, dem Käuzchen!«

Klaus schüttelte ungläubig mit dem Kopf, gab sich aber mit dieser Erklärung zufrieden. »Wo bleibt eigentlich Aaron ...?«, wechselte er das Thema, »... der ist doch sonst der Pünktlichste von uns.«

In diesem Augenblick hatte sich seine Frage allerdings erledigt, denn Aaron schoss mit hochrotem Kopf um die Ecke und schien völlig außer Atem zu sein.

»Du pumpst ja wie ein Maikäfer, du Sportskanone!« Heinrich konnte sich diese Bemerkung wohl nicht verkneifen, aber er hackte danach nicht weiter auf Aaron herum, denn Klaus bedachte ihn mit einem strafenden Blick.

Aaron griff sich immer wieder in die Seite und schnappte weiter nach Luft.

»Hast wohl Seitenstechen, Kleiner ...?« Heinrichs unnötige Frage drückte seine pure Schadenfreude aus.

»Heinrich, es reicht jetzt ...!«, fuhr ihm Klaus energisch ins Wort. »Geht man so mit Freunden um ...?

»Ich war einfach nur spät dran, und ...«, Aaron versuchte wohl, sich für die für ihn peinliche Situation zu entschuldigen.

»Schluss jetzt mit diesem Thema! Du brauchst dich dafür nicht zu rechtfertigen. Vor allem nicht vor Heinrich.« Klaus erstickte damit weitere Gemeinheiten Heinrichs im Keim. »Und du?! Meinst du nicht, dass du am meisten von Aaron profitierst? Also halt’ dich gefälligst zurück und überlege gut, was du sagst!«

Aaron war einfach nicht schlagfertig genug, um auf Heinrichs ständige Beleidigungen angemessen zu reagieren. Klaus musste sich daher immer öfter einschalten, denn in letzter Zeit übertrieb es Heinrich mit diesem Verhalten.

»Ist ja schon gut ...«, schlug er endlich versöhnlichere Töne an. »Komm her, du Zwerg! War nicht so gemeint!«

Heinrich griff sich daraufhin seinen schmächtigen Freund und schloss ihn für seine Verhältnisse geradezu liebevoll in die Arme. Aber an Aarons nervösen Zappeln erkannte Klaus bereits nach kurzer Zeit, dass dieser Grobian seine Kräfte einfach nicht unter Kontrolle hatte.

»Jetzt lass’ in endlich los«, ging Klaus dazwischen, denn er befürchtete Schlimmeres.

Aaron wirkte dann auch sichtlich erleichtert, als er sich endlich aus der massiven Umklammerung Heinrichs befreien konnte.

»Wir haben heute noch viel vor. Der Schollmeyer hat uns jede Menge Hausaufgaben aufgebrummt!«

Aaron schien Heinrichs Verhalten nicht weiter kommentieren zu wollen, denn er richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den eigentlichen Grund ihres heutigen Treffens.

»Dann kommt mit rein«, ging auch Heinrich zur Tagesordnung über. »Meine Mutter wird sich darüber freuen, euch zu sehen!«

Heinrich hatte wohl immer noch nicht so recht kapiert, dass er auf ihre Unterstützung angewiesen war. Aber manchmal brauchen wir auch seine Hilfe, musste Klaus zugeben. In der ein oder anderen Situation kam der Beistand eines Kraftprotzes, wie Heinrich einer war, gerade zur rechten Zeit. Zumal sich Aaron in der Schule überhaupt nicht durchsetzen konnte. Für ihn war es daher besonders wichtig, Heinrich zum Freund zu haben. Schließlich überragte er die meisten anderen Mitschüler um fast einen Kopf. Zudem hatte er inzwischen eine tiefere Stimme bekommen, denn er gehörte zu den wenigen Jungs in ihrer Klasse, die schon ihren Stimmbruch hinter sich hatten. Dies machte natürlich mächtig Eindruck, flößte jedem gehörigen Respekt ein und so war es nicht verwunderlich, dass sich niemand mit ihm anlegen wollte.

Sie betraten Heinrichs Zuhause nicht zum ersten Mal und Frau Glasner freute sich tatsächlich immer wieder aufs Neue über ihren Besuch. Klaus machte das hauptsächlich an dem frisch gebackenen Kuchen fest, den sie ihnen an solchen Nachmittagen auftischte. Natürlich gehörte auch der Apfel- oder Traubensaft aus eigenem Anbau dazu. Auch wenn Heinrich manchmal ein richtiges Scheusal sein konnte, eine Tatsache war für Klaus unumstößlich: Wir sind schließlich die allerbesten Freunde! Und die halten in jeder Situation zusammen. Auch wenn es zuweilen schwerfiel, Heinrichs Launen zu ertragen.

Kapitel 2

Guten Morgen Herr Schollmeyer!«

So begrüßte der stimmgewaltige Chor der Siebten Klasse der Volksschule Rolfesheim ihren Deutsch- und Geschichtslehrer zu Beginn jeder Unterrichtsstunde.

Aaron Seligmann war sich sicher, dass man aus diesem Chor von insgesamt einunddreißig Schülerinnen und Schülern, seine eigene Stimme nicht heraushören würde. Sein Selbstbewusstsein hatte er wie üblich auf dem Weg zur Schule zurückgelassen. Obwohl er es sich immer wieder vornahm, diese Tatsache irgendwann einmal zu überwinden, fand dieser Vorsatz spätestens beim Betreten ihres Klassenzimmers ein jähes Ende.

»Bevor wir mit dem Unterricht beginnen, habe ich für euch noch eine Mitteilung!« Schollmeyers bellende Stimme erfüllte den gesamten Klassenraum. Die Anwesenheit ihres Klassenlehrers trug ebenfalls maßgeblich dazu bei, Aarons Selbstwertgefühl auf niedrigster Stufe zu halten. Dieser Mensch erdrückte ihn schier mit seiner Dominanz und seinem geradezu aggressiven Auftreten.

»Wie ihr vielleicht schon mitbekommen habt, ist der Kollege Schneider für längere Zeit außer Gefecht, sodass ich dazu eingeteilt wurde, bis auf Weiteres auch euren Sportunterricht zu übernehmen.« Schollmeyer blickte lauernd von einem zum anderen und schien auf Reaktionen zu warten. Doch alle schauten betroffen unter sich, was ihn wohl erst recht herausforderte.

»Ich hoffe, dass es unter euch ein paar Kandidaten geben wird, die wenigstens in diesem Fach ihre wahre Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen werden.«

Ein kurzer Blick hinüber zu Heinrich genügte Aaron, um zu erahnen, dass die nächste Konfrontation mit ihrem Klassenlehrer bevorstand.

»Glasner ...? Dein impertinentes Grinsen ist völlig unangebracht!« Schollmeyer bedachte Heinrich mit einem betont mürrischen Gesichtsausdruck, um ihm dann einen Seitenhieb zu erteilen. »Ich habe zwar schon einiges von deinem sportlichen Talent gehört, aber ich möchte mir dann doch eine eigene Meinung dazu bilden. Wenn ich mir deine Leistungen in meinen beiden anderen Fächern betrachte, dann kommen mir da ernsthafte Zweifel.«

Schollmeyer schien allerdings mit seinem Rundumschlag noch nicht fertig zu sein,

»Und unser Herr Professor ...?« Der Blick seines Lehrers schien ihn fast zu durchbohren und saugte den letzten Rest von Selbstvertrauen aus Aaron heraus. »Auf deine Leistungen in Deutsch und Geschichte kannst du dich im Sportunterricht nicht berufen. Dort werden dann ganz andere Qualitäten gefragt sein.«

Aaron spürte sämtliche Blicke aus dreißig Augenpaaren seiner Klassenkameradinnen und -kameraden wie Nadelstiche auf seiner Haut. Er hätte am liebsten seinem inneren Drang nachgegeben und wäre gerne lautschreiend aus dem Klassenraum geflohen. Aber das genaue Gegenteil war der Fall. Er schien fest mit seiner Schulbank zu verwachsen und sämtliche Fingernägel krallten sich verzweifelt in seine Oberschenkel.

Dieser Moment kam ihm wie eine kleine Ewigkeit vor, doch Klaus, eine Reihe hinter ihm, meldete sich mit einem unüberhörbaren Fingerschnippen, und beendete die lähmende Stille mit seinem Zwischenruf: »Herr Schollmeyer! Sie wollten uns doch heute weiter von ihren Erlebnissen im letzten Krieg gegen die Franzosen erzählen!«

Aaron war heilfroh, dass sich die Aufmerksamkeit von Schollmeyer und dem Rest der Klasse wieder einem anderen Thema zuwendete. Zumindest schien ihn Klaus mit seinem geschickten Ablenkungsmanöver, vorerst aus der Schusslinie zu nehmen. Allerdings hatte Schollmeyer für die heutige Geschichtsstunde ganz offensichtlich andere Pläne.

»Wir werden in der heutigen Stunde einmal nicht in die Vergangenheit zurückblicken, sondern unsere Aufmerksamkeit auf die nächsten Wochen richten.«

Die Überraschung in der Klasse war perfekt. Aber zum Glück begann Schollmeyer endlich mit seinem Unterricht, und beschäftigte sich wenigstens nicht weiter mit seinen üblichen Gemeinheiten. Ihn für dieses Verhalten zu hassen, selbst dafür fehlte Aaron immer wieder der Mut.

»In der Reichshauptstadt Berlin herrscht das Chaos. Der Reichstag wurde aufgelöst und im November wird es Neuwahlen geben.« Erwartungsvoll wanderte Schollmeyers Blick über die Köpfe seiner Schülerinnen und Schüler. »Und diese wichtigen Neuwahlen sollen heute unser Thema sein!«

Aaron verstand nicht so ganz, was Schollmeyer damit bezweckte, aber es schien etwas damit zu tun zu haben, was sein Vater zuhause bereits angesprochen hatte.

Sicherlich geht es wieder um diesen Hitler, reimte er sich daher vorläufig zusammen. Klaus meinte zwar, dass sei eine Sache für die Erwachsenen. Aber wie sich recht schnell herausstellen sollte, war der gute Schollmeyer da ganz offensichtlich anderer Meinung.

»Was bildet sich dieser impertinente Mensch eigentlich ein ...?« Vaters Stimme überschlug sich fast, sprang vom Esstisch auf und nun stapfte er unentwegt im Zimmer umher.

»Ruben, so beruhige dich doch«, redete seine Mutter besänftigend auf seinen Vater ein. »Aarons Lehrer hat bestimmt Gründe, dieses Thema im Geschichtsunterricht anzusprechen. Die Kinder sollen doch verstehen, was in Berlin vorgeht!«

Aaron haderte inzwischen mit sich, ob es eine gute Idee war, seinen Eltern von Schollmeyers letzter Unterrichtsstunde zu erzählen. Ich hätte es mir ja denken können, wie Vater darauf reagiert, warf er sich vor.

»Was dieser Schollmeyer damit bezweckt, ist doch völlig klar!« Vater hatte zwar wieder am Tisch Platz genommen, seine Stimme klang aber immer noch erbost. »Er will Druck auf die Eltern der Kinder ausüben. Schließlich machen die die Kreuze auf den Stimmzetteln im November. Und die Beeinflussung seiner Schüler gehört sicherlich nicht zu den pädagogischen Aufgaben eines Lehrers.«

»Du hast doch auch eine politische Meinung, Ruben. Und der Herr Schollmeyer natürlich auch ...!«

»... aber nicht in der Schule, vor zwölfjährigen Kindern«, fiel er Mutter ins Wort. »Seine politische Meinung kann er an irgendwelchen Stammtischen oder sonst wo kundtun, aber nicht in der Schule!«

Aaron wagte nicht, sich an dem aufgekommenen Disput seiner Eltern zu beteiligen. Er kaute stattdessen auf seinem Käsebrot und trank ein paar Schlucke aus seiner Tasse mit leckerem Tee.

»Ich werde diesen Schollmeyer zur Rede stellen, und ...!«

»... und genau das wirst du nicht tun, Ruben!« Diesmal unterbrach Mutter ihn mit energischer Stimme. »Damit tust du dir und vor allem Aaron keinen Gefallen, das weißt du selbst am besten.«

»Dann werde ich andere Mittel und Wege finden, diesen Schollmeyer in die Schranken zu weisen!«

Vater hielt mit seiner Meinung wie so oft nicht hinterm Berg. Im Gegensatz zu ihm, denn diese Eigenschaft hatte er leider von ihm nicht geerbt.

»Tue bitte nichts Unüberlegtes, Ruben! Haben wir nicht schon Schwierigkeiten genug?«

Mutters Bitte klang flehend, aber sie hatte wohl allen Grund, besorgt zu sein. Aaron war klar, dass seine Eltern schon genug Probleme hatten. Und jetzt noch ein offener Streit mit Schollmeyer? Aaron lief ein kalter Schauer über den Rücken. Das wird nicht gut ausgehen, soviel war auch ihm mit seinen zwölf Jahren bewusst. Mit diesem Gedanken stand er vom Abendbrottisch auf und verabschiedete sich bei seinen Eltern.

»Ich geh Schlafen! Vorher lese ich vielleicht noch ein bisschen!« Aaron holte sich noch einen Gutenachtkuss seiner Mutter ab und verschwand dann in Richtung seines Zimmers. Ich muss Morgen unbedingt mit Klaus darüber reden!

Nachdem Aaron gestern Abend in seinem Zimmer verschwunden war, ging ihr der Auftritt seines Geschichtslehrers lange nicht aus dem Sinn. Zum Glück gelang es ihr, ihren Mann davon zu überzeugen, dass ein direktes Gespräch mit diesem Schollmeyer das Problem nicht aus der Welt schaffen würde.

»Du hast ja Recht, Sarah«, war schließlich seine Antwort gewesen. »Ich werde einmal mit Doktor Wissmann darüber reden. Vielleicht hat er als Direktor der Schule mehr Einfluss auf diesen Schollmeyer und seine zweifelhaften Methoden.«

Sarah Seligmann wollte daher heute Nachmittag, wenn Aaron aus der Schule zurück war, mit ihm darüber sprechen. Sie hatte heute keine Klavierstunden und Ruben ohnehin im Laden zu tun. Die Gelegenheit, mit ihrem Sohn unter vier Augen zu reden, schien ihr daher günstig.

Aaron kam, wie eigentlich fast immer, recht schweigsam von der Schule nachhause. Sie war es inzwischen gewohnt, dass er recht wenig von seinen Erlebnissen erzählte, und sie musste ihm daher das Meiste mühsam aus der Nase ziehen.

»Und ...? Wie war’s heute in der Schule ...?« Sie stellte diese Frage wie üblich, ohne allerdings eine erschöpfende Antwort zu erwarten. Zudem konnte sie sich vorstellen, dass Aaron, nach ihrem gestrigen kontroversen Gespräch beim Abendbrot, künftig noch zurückhaltender mit seinen Informationen aus dem Unterricht umgehen würde.

»Ich habe heute Morgen lange mit Klaus und später auch mit Heinrich über Schollmeyer gesprochen«, sprudelte es geradezu aus ihm heraus. Sarah Seligmann war überrascht, von zwei Klassenkameraden zu hören, denen Aaron sich offensichtlich anvertraut hatte. Also Grund genug, weiter nachzufragen.

»Klaus und Heinrich ...? Von denen hast du uns ja noch gar nichts erzählt.«

»Sie sind in der Schule und auch sonst meine besten Freunde, Mama.«

Aarons Antwort kam wie selbstverständlich über seine Lippen. Also schien er inzwischen doch in der Lage zu sein, selbst auf andere Jungs seines Alters zuzugehen und Freunde zu finden. Diese Erkenntnis löste in ihr zwar eine gewisse Freude und Zuversicht aus, aber warf dabei auch neue Fragen auf. Wer sind diese beiden Jungs? Und vor allem, warum hat er uns bislang nichts von dieser Freundschaft erzählt?

Aaron schien allerdings nichts Besonderes daran zu finden, denn er packte ungerührt seinen Schulranzen aus und bereitete sich auf die Erledigung seiner Hausaufgaben vor. So wie immer, denn sie kannte ihren Sohn als äußerst gewissenhaften Schüler, den sie noch nie dazu auffordern musste, etwas für die Schule zu tun oder gezielt für ein Schulfach zu lernen.

Trotzdem ließ ihr das Schweigen Aarons zu seinen neuen Freunden keine Ruhe.

»Wie heißen deine Freunde denn mit ihren Familiennamen?« Sarah Seligmann tastete sich langsam heran, ohne dabei den Verdacht zu erwecken, besonders neugierig zu sein.

»Klaus Schultheis und Heinrich Glasner«, gab er bereitwillig preis. »Aber die müsstet ihr doch auch kennen?«

»Schultheis sagt mir jetzt nichts, aber Glasner kommt mir bekannt vor. Haben die nicht einen Obsthof hier in Rolfesheim?«

»Genau, und Weinberge haben sie auch.«

Sarah wurde augenblicklich bewusst, dass diese Tatsache neue Probleme aufwerfen würde, spätestens dann, wenn sie Ruben davon erzählen würde. Diesen Glasners sagte man schließlich nach, rechtem Gedankengut und damit dem immer mehr aufkommenden Nationalsozialismus nahezustehen. So erzählt man sich jedenfalls, schränkte sie in Gedanken ein. Schließlich wollte sie nicht einfach etwas nachplappern, nur weil darüber im Ort so oder ähnlich getratscht wurde.

»Klaus hat zuhause auch von Schollmeyer erzählt«, redete er unbeschwert weiter. »Dessen Vater fand es übrigens auch nicht in Ordnung! Genauso wie Papa!« Aaron machte eine kurze Pause. »Und Heinrich hat zuhause erst gar nichts davon erwähnt. Der kriegt in der meisten Zeit ohnehin nicht mit, was im Unterricht passiert. Deshalb helfen Klaus und ich ihm manchmal bei den Hausaufgaben und erklären ihm einiges. Sonst hätte er ja noch schlechtere Noten.«

Sarah Seligmann wunderte sich immer mehr über ihren Sohn. Aber wenn es seinem Selbstbewusstsein hilft, was soll’s? Sie gewann zumindest in diesem Punkt dieser Freundschaft etwas Positives ab.

»Und Klaus und seine Eltern kennst du wirklich nicht?«

Sie schüttelte mit dem Kopf, denn der Name Schultheis sagte ihr tatsächlich nichts.

»Die wohnen gar nicht weit von uns, ein paar Häuser unterhalb von der Kirche.«

Aaron gab sich erkennbar Mühe, ihr auf die Sprünge zu helfen, aber es half ihr überhaupt nicht weiter.

»Sein Papa ist Maurer, und seine Mutter arbeitet zuhause. Sie näht für andere Leute, hat Klaus einmal erzählt.«

Sarah Seligmann ertappte sich dabei, anzunehmen, vielleicht nicht in diesen Kreisen zu verkehren. Nicht, dass sie Ressentiments gegenüber Menschen mit einfachen Berufen hegte, weit gefehlt, schließlich hatten sie als deutsche Juden absolut keinen Grund, irgendwelche Vorurteile zu bedienen. Aber solche Menschen stehen einfach nicht im Verdacht, bei Ruben regelmäßig Bücher zu kaufen, oder bei mir das Klavierspielen zu erlernen. Waren das jetzt vielleicht doch Vorurteile, oder aus welchem anderen Grund kannte sie diese Familie Schultheis nicht?

»Weißt du was, Mama? Ich bringe Klaus und Heinrich einfach mal mit nachhause. Dann wirst du sie ja kennenlernen!«

Aarons Unbefangenheit imponierte ihr eigentlich, aber was wäre, wenn Ruben etwas dagegen hätte? »Genau, bring sie einfach mal mit«, stimmte sie Aaron trotzdem zu. »Ich freue mich ja auch, dass du endlich Freunde gefunden hast!«

»Und was ist jetzt mit Schollmeyer?«

»Du ..., Papa wird nicht mit ihm direkt darüber reden«, antwortete sie etwas unsicher. Von unserem Disput von gestern Abend muss er ja nichts erfahren, beruhigte sie sich. »Er will, wenn überhaupt, mit Direktor Wissmann darüber sprechen. Vielleicht ist das die bessere Lösung.«

Aaron schien diese Herangehensweise zu akzeptieren, denn er nickte kurz und begann danach mit seinen Hausaufgaben.

Das mit den Glasners gefällt mir ganz und gar nicht. Dieser Gedanke beschäftigte sie noch einige Zeit. Und diese Familie Schultheis. Hoffentlich haben die nicht die gleiche Gesinnung? Hauptsächlich für Aaron würde es ihr leidtun. Aber noch war es ja nicht soweit.

Sarah hatte ihm von Aarons neuen Freunden berichtet. Daher fühlte sich Ruben Seligmann darin bestätigt, ein zeitnahes Gespräch mit Direktor Wissmann zu führen. Er war zunächst überrascht, dass er dazu nicht in dessen Büro eingeladen wurde, sondern der Schulleiter bat ihn darum, diese Unterredung in seinem Buchladen zu führen.

»Ich halte dies für weniger auffällig, denn niemand wird Verdacht schöpfen, wenn ich mich als Pädagoge in einen Buchladen begebe, um mich dort nach einschlägiger Fachliteratur zu erkundigen.« Allein diese verklausulierte Formulierung des Schulleiters machte ihm deutlich, dass er offensichtlich ahnte, mit welchen Fragen er ihn zu konfrontieren gedachte. Obwohl meine Andeutungen darüber überhaupt nicht konkret genug waren, diese Vorkehrungen zu treffen. Auch diesen Gedanken ließ Ruben Seligmann zu. Auf ihn wirkte dieses Verhalten geradezu konspirativ.

Dr. Wissmann erwies sich als extrem pünktlich, denn er betrat seinen Buchladen in dem Augenblick, als die Standuhr hinter ihm viermal zur vollen Stunde schlug. Er hatte von diesem Mann zwar nichts anderes erwartet, aber Ruben Seligmann fühlte sich dennoch veranlasst, dessen Pünktlichkeit zu erwähnen.

»Auf die Minute genau, Dr. Wissmann. Ich bin beeindruckt!«

»Was man unserer Generation noch beigebracht hat, sind Pünktlichkeit und vor allem Selbstdisziplin!« Der Schulleiter nahm seinen Hut vom Kopf, begleitet von einer angedeuteten Verneigung.

»Schön, dass sie die Zeit gefunden haben, Herr Doktor!«

»Ich sollte mich entschuldigen, Herr Seligmann, dass ich in der Vergangenheit nicht einmal die Zeit gefunden habe, ihren Laden zu betreten. Wie ich zugeben muss, ein Versäumnis, dass unverzeihlich ist.« Mit einem anerkennenden Nicken machte er deutlich, dass er sich bereits einen groben Überblick zur Vielfalt der angebotenen literarischen Werke verschafft hatte.

»Genauso, wie man es mir bereits geschildert hat.« Er trat an eines der Regale näher heran und nahm dort mit Kennerblick einzelne Werke in Augenschein. »Aber das ist ja nicht der Grund unseres heutigen Zusammentreffens!«

»Gewiss, Herr Direktor«, gab er ihm Recht und gleichzeitig zu erkennen, dass er sich über den Ort ihres Gesprächs doch etwas wunderte. »Gibt es einen Grund, dass wir uns heute hier in meinem Laden treffen?«

»Ich gehe davon aus, dass es sich um Probleme mit dem verehrten Kollegen Schollmeyer handelt?« Wissmanns Frage strotzte vor Sarkasmus und auch sein Gesichtsausdruck machte deutlich, was er von diesem Schollmeyer hielt. »Ihr Sohn Aaron ist im Übrigen ein überdurchschnittlicher Schüler. Daran kann es auch nicht liegen. Reden wir also nicht lange drumherum. Wie kann ich ihnen weiterhelfen?«

»Vielleicht ist es ihnen ja bereits zu Ohren gekommen? Es geht um die Art, wie ihr Kollege den Geschichtsunterricht, in nicht hinzunehmender Weise, für einseitige politische Agitation nutzt.« Ruben Seligmann wunderte sich über sich selbst. Auch wenn er kein Jude wäre, einen solch massiven Vorwurf an den Leiter einer Schule zu richten, war seit einiger Zeit sicherlich nicht mehr ganz unproblematisch.

»Sie haben damit absolut Recht, Herr Seligmann«, gab Wissmann zu erkennen, dass er offensichtlich nicht zu den kritiklosen Ideologen zählte, die sich, vor allem im Staatsdienst, immer weiter breit machten. »In diesem Zusammenhang sage ich ihnen jetzt etwas, was außer mir niemand hier in Rolfesheim weiß.« Seine längere rhetorische Kunstpause machte deutlich, dass er wohl eine brisante Information zu verkünden hatte. »Der verehrte Schollmeyer ist in dieser Hinsicht kein unbeschriebenes Blatt. Sicherlich wäre seine Expertise als Pädagoge dazu geeignet, an weiterführenden Schulen zu unterrichten. Ich denke da an Gymnasien oder private Einrichtungen in weitaus größeren Städten des Reiches.«

Ruben Seligmann hörte aufmerksam zu, fragte sich allerdings, worauf Doktor Wissmann hinauswollte.

»Er würde also weiterhin in Berlin oder einer anderen deutschen Großstadt unterrichten, wenn es da nicht einige Probleme gegeben hätte.«

Jetzt kam er offenbar zum interessanten Teil seiner Ausführungen.

»Sie werden sich also inzwischen wundern, warum jemand wie er, hier in unserem beschaulichen Rolfesheim landen konnte?«

»Sicherlich nicht wegen seiner politischen Einstellung. Dieses Gedankengut ist doch erkennbar stark im Kommen.« Ruben Seligmann versuchte klar zu machen, dass er bis hierher verstanden hatte.

»Seine politische Orientierung hat ihm die Entlassung aus dem Schuldienst erspart. So viel steht fest. Aber warum er hier in Rolfesheim gelandet ist, hat einen völlig anderen Grund.« Wissmann schaute sich kurz um, so als wolle er sich versichern, dass inzwischen niemand unbemerkt den Laden betreten hatte. »Es gibt da in Berlin einige Vorfälle, die ihm diese Strafversetzung eingebracht haben.«

Ruben Seligmann erkannte mittlerweile immer deutlicher, warum es eine gute Idee war, seinen Laden als Treffpunkt zu wählen.

»Schollmeyer hat sich nicht immer unter Kontrolle, wenn es darum geht, sich in der ein oder anderen Situation zu beherrschen. Er neigt zu unverhältnismäßigen Handlungen, wenn es um Bestrafung von Schülern geht. Ich spreche hier im Besonderen von brutalen körperlichen Züchtigungen.«

»Und dieses Verhalten hat dazu geführt, dass er hier in Rolfesheim gelandet ist?«

»Nicht nur das. Ich habe jetzt einen unberechenbaren Schläger im Kollegium, der zudem meine gesamte Aufmerksamkeit fordert.«

»Wie soll ich das verstehen …?«

»Dazu fehlt ihnen eine weitere Information, Herr Seligmann!« Wieder schien er mit seiner Antwort zu zögern, denn er schaute sich erneut um. »Sie müssen wissen, ich bin seit frühester Jugend durch und durch Sozialdemokrat. Und was das in unseren Zeiten bedeutet, können sie sich wohl vorstellen.«

Ruben Seligmann hatte zwar feste demokratisch liberale Ansichten, aber einer politischen Partei gehörte er bis zum heutigen Tag nicht an. Was ihn offenbar mit dem Direktor seines Sohnes verband, war die Tatsache, dass sie beide zu Bevölkerungsgruppen gehörten, die zunehmend folgenschwere Repressalien zu befürchten hatten.

»Sie können sich vorstellen, dass ich in meiner Situation äußerst vorsichtig sein muss.«

»Sie sind also der Meinung, dass ...!« Ruben Seligmann fand keine Worte, denn er erkannte sofort, welches Risiko Direktor Wissmann einging, mit ihm gegen diesen Schollmeyer vorzugehen.

»Verstehen sie mich also bitte nicht falsch, wenn ich sie in dieser Angelegenheit vertrösten muss. Ich bin mir noch nicht sicher, wie ich diesem Schollmeyer Paroli bieten soll. « Doktor Wissmann schien seine Worte aufrichtig zu bedauern, denn er schüttelte ihm etwas verlegen die Hand und setzte sich Richtung Ausgang in Bewegung. »Ich werde mein Möglichstes tun, Herr Seligmann.« Bevor er den Laden verließ drehte er sich nochmal um. »Im Übrigen sollten wir alle hoffen, dass die Wahl im November nicht noch mehr Hiobsbotschaften hervorbringt. Und grüßen sie mir Aaron ...!« Ein letztes Mal stutzte er. »Ich überlasse es natürlich ihnen, ob sie ihm von unserem Treffen erzählen!«

Auf der Straße angekommen, schaute er kurz nach rechts und links.

Wenn selbst Menschen wie er sich ihrer Sache nicht mehr sicher sein können? Ruben Seligmann erkannte nicht zum ersten Mal, dass sie höchst unsicheren Zeiten entgegengingen.

Kapitel 3

Du musst deinem Vater einfach mehr helfen!« Diesen Satz hörte Heinrich nicht zum ersten Mal, und deshalb prallte auch heute dieser Vorwurf völlig an ihm ab.

»Was denn nun? Soll ich Papa helfen oder mehr für die Schule lernen ...?«

»Du machst ja beides nicht, Heinrich«, Mutter ließ nicht locker. »Dann zeige wenigstens deinen guten Willen und pack zuhause an. Schließlich müssen alle kräftigen Jungs in deinem Alter das tun, wenn die Eltern einen Hof zu bewirtschaften haben. Es gibt genug Arbeiten, die sind für mich oder deine Schwestern einfach zu schwer.«

»Hör mir bloß mit meinen Schwestern auf«, giftete Heinrich zurück. »Waltraud hat auch alles andere im Kopf, als jetzt zum Beispiel bei der Weinlese zu helfen. Und das ist bestimmt keine zu schwere Arbeit, auch nicht für ein Mädchen.«

»Wer soll denn später mal den Hof übernehmen?«

Jetzt kommt sie wieder mit diesem Spruch, dachte er genervt. Ich sollte es Papa und ihr ein für alle Mal sagen, dass ich den Hof nicht erben will.

»Darauf hast du wieder mal keine Antwort, was ...?« Die Stimme seiner Mutter klang jetzt nicht mehr enttäuscht, sondern zornig.

»Wenn ihr es genau wissen wollt, ich ...!« Heinrich kam nicht mehr dazu, seinen Satz zu beenden, denn plötzlich stand sein Vater in der Tür.

»Was sollen wir genau wissen ...?« Die Frage und der Blick seines Vaters waren unmissverständlich. Jetzt gab es keine Ausreden mehr. Heinrich musste darauf eine ehrliche Antwort geben.

»Ich habe einfach keine Lust, später einmal als Bauer zu arbeiten.« Heinrich war froh, dass er diesen Satz endlich ausgesprochen hatte. Sein Vater war offensichtlich geschockt, denn es dauerte ein paar Augenblicke, bis er darauf antwortete.

»Das weißt du doch jetzt überhaupt noch nicht«, blaffte er ihn an. »Du bist doch erst zwölf, und in ein paar Jahren wirst du zu schätzen lernen, einen solchen Betrieb zu übernehmen. Andere Jungs wären froh, sie bekämen eine solche Chance.«

»Den Hof nicht übernehmen wollen, aber auch nichts für die Schule lernen«, jetzt mischte sich auch seine Mutter wieder ein. »Wie stellst du dir das denn vor?«

»Und außerdem ..., gibt es nicht schon genug Arbeitslose? Wenn du so weitermachst, wirst du auch auf der Straße landen«, schob sein Vater ein weiteres Argument hinterher.

Heinrich sprang auf und stapfte Richtung Tür. Für heute hatte er genug von seinen Eltern.

»Wo willst du hin, Heinrich? Bleib gefälligst hier ...!«

Die Aufforderung seines Vaters kam allerdings zu spät, denn Heinrich war längst durch die Tür nach draußen gestürmt.

Nichts wie weg, war sein einziger Gedanke. Mir reicht’s jetzt!

Obwohl er genau wusste, dass ihm Klaus oder Aaron in dieser Angelegenheit auch nicht weiterhelfen konnten, schwang er sich auf sein Fahrrad und machte sich auf den Weg zu ihrem geheimen Versteck. Zumindest einer der beiden war dort eigentlich immer anzutreffen, an ihrem Lieblingsplatz am Baggersee.

Das Licht der schon recht tiefstehenden Herbstsonne spiegelte sich auf der glatten Oberfläche des Sees. Die unwirkliche Ruhe rings umher ließ Aaron träumen. Fast so, wie in den Abenteuern meiner Helden in den Geschichten Karl Mays. Dazu der Geruch von wild wachsendem Gras. Genauso wie in der Prärie Nordamerikas, schwärmte er von diesem Anblick. Vielleicht ist aber auch alles ganz anders. Auch diesen Gedanken ließ Aaron zu, denn schließlich entstanden diese Bilder lediglich in seinem Kopf. Karl May beflügelt seine Fantasie, hörte er die Stimme seiner Mutter nochmal sagen. Sicherlich hat sie damit recht.

Aber zweifellos war seine Heimat Rheinhessen nicht mit dem unendlichen Grasland in Karl Mays Romanen zu vergleichen. Diese Ebenen in Nordamerika endeten gewiss nicht am Horizont, so wie hier an ihrem Silbersee. Dort waren an dieser Himmelslinie bereits die ersten Häuser Rolfesheims deutlich zu erkennen.

Und außerdem gab Aaron ihrem unbedeutenden Dorftümpel, mit seinen recht bescheidenen Ausmaßen und der Ausstrahlung eines gewöhnlichen Baggersees, lediglich diesen Fantasienamen. Auch einen Schatz suchte man hier vergeblich. Aber nicht nur Aaron, sondern auch Heinrich und Klaus, fanden den neuen Namen ihres Teichs letztlich gar nicht so übel.

Ihr Silbersee sah nicht nur so aus wie ein Baggersee, denn hier wurde tatsächlich bis Mitte der Zwanzigerjahre Sand und Kies ausgegraben. Daran konnten sich seine Freunde und er zwar nicht mehr erinnern, denn dafür waren sie damals einfach noch zu jung gewesen. Aber zumindest Klaus wusste von seinem Vater, dass damals die Bauunternehmer aus der Gegend, aber auch viele Privatleute dort ihren Sand kauften. Und der muss es wissen, legte Aaron sich fest, der ist ja schließlich Maurer.

Schon oft hatte sich Aaron ausgemalt, wie aufregend es wäre, wenn er hier in ihrem geheimen Versteck, die Bücher aus Vaters Laden lesen könnte. Aber das wird er sicherlich nicht erlauben, bildete er sich zumindest ein. Und daher wagte er erst gar nicht, ihn darum zu bitten.

Ihr Versteck war eigentlich ein ganz normales Baumhaus, das sie sich nach und nach zusammengebaut hatten. Es war recht mühsam gewesen das entsprechende Baumaterial, in Form von Brettern, Pfosten oder auch Nägeln, an diesen abgelegenen Ort zu schaffen. Dazu verwendeten sie einen Handkarren, den sie an ihren Fahrrädern hinter sich herzogen. Kleine Teile verstauten sie manchmal auch nur auf den Gepäckträgern ihrer Räder. Obwohl es in den Geschichten Karl Mays einen solchen Ort nicht gab, nannten sie es dann nach seiner Vollendung »Adlerhorst«. Sie fanden diesen Namen einfach passend, nicht zuletzt wegen der Stelle, die sie für ihr Baumhaus ausgesucht hatten. In der uralten Krone eines mächtigen Apfelbaums, hatten sie eine Plattform errichtet, die ihnen eine unglaubliche Fernsicht auf die Gegend rund um Rolfesheim und dem Silbersee erlaubte. Sie hatten diesen Baum ausgewählt, weil er wohl seit Jahren keine Äpfel in ausreichender Zahl hervorbrachte. Für den Besitzer, den sogar Heinrich nicht kannte, schien er deswegen auch nicht mehr von Nutzen zu sein. Die wenigen Früchte, die dort vereinzelt wuchsen, waren für sie daher willkommene Zwischenmahlzeiten, die zumeist in Griffweite von ihrer Plattform hingen.

Warum sie den ehemaligen Baggersee überhaupt den Namen Silbersee gaben, entbehrte allerdings auch jeglicher Logik. Aaron machte sich darüber inzwischen wohl nur noch als einziger Gedanken, denn keiner seiner beiden Freunde war so tief in diese Geschichte von Karl May eingetaucht wie er. Klaus und Heinrich schien die ganze Sache ohnehin egal zu sein und Aaron selbst fand sich längst damit ab, dass es an ihrem Silbersee weder grünes, kristallklares Wasser gab, noch schroffe Felsen, die bis an die Ufer heranreichten.

Was soll’s ..., beruhigte er sich, wenn wieder einmal Zweifel an ihrer Entscheidung aufkamen, unser Silbersee sieht halt etwas anders aus!

Ein inzwischen vertrautes Geräusch drang plötzlich an sein Ohr.

Schon ein paar Mal hatte Aaron in ihrem Baumhaus Besuch von einem kleinen schwarzen Katerchen bekommen. Sie hatten wohl in seinem Lieblingsbaum ihr »Adlerhorst« errichtet und somit vielleicht sein Revier verletzt. Obwohl! Der kleine Kerl schien seine Anwesenheit offensichtlich nicht als störend zu empfinden, denn bei seinen Stippvisiten suchte er Aarons Nähe und schmiegte sich schnurrend an ihn, um ein paar Streicheleinheiten einzufordern. Inzwischen war es sogar zur Gewohnheit geworden, dass er Berel einige kleine Wurststückchen von zuhause mitbrachte.

Aaron gab ihm diesen Namen, weil er in ihm von Anfang an einen tapsigen Bären sah. Und Berel bedeutete schließlich im Jüdischen »Der Bär«. Zuhause sprachen sie eigentlich alle Hochdeutsch, und auch die jüdischen Rituale und sonstige traditionelle Gewohnheiten, pflegten seine Eltern eher selten. Koscheres Essen zum Beispiel, gab es, wenn überhaupt, nur an den Feiertagen. Vaters Eltern hingegen, gehörten wohl noch zu den orthodoxen Juden, soviel wusste Aaron aus dessen Erzählungen. Deren Lebensweise hatten seine Eltern nicht übernommen. Außerdem gab es hier in Rolfesheim ohnehin weder einen Rabbi, noch eine Synagoge. Die nächste jüdische Gemeinde existierte wohl in Mainz, aber das hatte Aaron noch nie interessiert.

Berel streckte plötzlich seinen Kopf in die Höhe und lauschte ganz offensichtlich einem neuen Geräusch. Es dauerte einen Moment, bis auch Aaron etwas hörte. So erbärmlich quietscht nur ein einziger Drahtesel in ganz Rolfesheim, kam ihm augenblicklich in den Sinn. Und in der Tat erspähte er in einiger Entfernung seinen Freund Heinrich, der mit voller Kraft in die Pedale trat, während die Reifen seines Fahrrades auf dem Feldweg zu ihrem Versteck den Staub mächtig aufwirbelten.