Können Träume töten? - Mika Lotharson - E-Book

Können Träume töten? E-Book

Mika Lotharson

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Beschreibung

Nur wer mit der Vergangenheit im Reinen ist, kann in der Gegenwart bestehen, und ist für die Zukunft bereit. . . Christian Langenbeck, Kriminalhauptkommissar beim LKA in Hamburg, erleidet bei einem Einsatz eine Schussverletzung. Nach seiner Entlassung aus der Klinik, quälen ihn schreckliche Albträume, die von blutigen Gewalttaten und einem geheimnisvollen Fremden handeln, der ihn immer wieder auffordert, ihm zu folgen. Gibt es etwa einen Zusammenhang zwischen den Lügen seiner Mutter und der verzweifelten Suche nach seinem Vater? Und was ist das für ein tausendjähriger Fluch...? Gleichzeitig ereignen sich im familiären Umfeld des bekannten Hamburger Konzernchefs Karl-Heinz Wedekind unerklärliche Morde. Christian Langenbeck ist der Verzweiflung nahe, als ihm während seiner Ermittlungen klar wird, dass er von diesen Morden geträumt hat. Er verfügt über detaillierte Kenntnisse, die nur der Mörder haben kann. Alle Indizien scheinen nun gegen ihn zu sprechen...

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Nachwort

Danksagung

1

Klappt das mit Doro und dir eigentlich wieder…?« Er wollte mit Jonas Böhm, seinem besten Freund und langjährigen Kollegen hier beim Hamburger Landeskriminalamt, einfach nur ein paar harmonische Stunden verbringen. Ein Männerabend, wie immer bei einigen Flaschen eisgekühltem Flens. Seine Frage kam daher völlig unerwartet und erinnerte ihn schmerzlich an ein Thema, das er seit einiger Zeit so gut es ging verdrängte.

»Nicht wirklich, Jonas! Du kennst Doro! Sie trägt mir meine Trennung von Mara immer noch nach!« Wenn Christian Langenbeck es sich genau überlegte, war dies vermutlich nur einer der Gründe für ihre ständigen Konflikte. Eine schwierige Phase, die in einem radikalen Entschluss mündete. »Es herrscht absolute Funkstille. Ich weiß überhaupt nicht mehr, wann ich das letzte Mal mit ihr gesprochen habe!«

»Das tut mir leid, Chris!« Jonas bedauerte dies offenbar mehr als er selbst. Warum sollte er auch auf sie sauer sein? Für Christian war diese Haltung absolut nachvollziehbar.

Doro und Jonas haben sich schon immer bestens verstanden. Und warum sollte sich an ihrem Verhältnis etwas geändert haben?

»Apropos Mara! Hat deine Ex endlich beigedreht? Beim Verkauf eures Hauses und den anderen Streitigkeiten!«

Jonas sprach damit weitere Baustellen an, die ihm immer wieder Kopfschmerzen bereiteten.

»Natürlich nicht! Seit unserer Scheidung denkt sie sich immer neue Stories aus«, hastig nahm er einen kräftigen Schluck aus seiner Pulle. »Einmal ist es das Preistief am Immobilienmarkt. Beim nächsten Mal ist der Makler ein unfähiges Arschloch! Und wenn alles nichts mehr hilft, ist der Kredit der angeblichen Kaufinteressenten kurzfristig geplatzt! Unser gemeinsames Auto hat sie ohnehin behalten!«

»Du hast dir damals tatsächlich ein schlaues Täubchen eingefangen…«, Jonas‘ Worte klangen provokant, denn er beäugte diese Verbindung mit Mara von Anfang an äußerst skeptisch. Zu Beginn nahm Christian noch an, dass er seinem Freund möglicherweise die Beute weggeschnappt hatte. Aber als Jonas sich dann während der fast dreijährigen Ehe immer weiter zurückzog, erklärte er dies mit dessen unverblümter Abneigung Mara gegenüber. Ihre Freundschaft litt jedenfalls beträchtlich unter dieser Antipathie.

»Eine weitere Unverschämtheit sind ihre ständigen Anrufe. Meistens erkundigt sie sich, ob es bei unseren Ermittlungen gegen Wedekind etwas Neues gibt!«

Christian redete sich in Rage.

»Ist doch klar«, Jonas hatte offenkundig seine eigene Erklärung dafür. »Du hast doch erwähnt, dass sie jetzt mit ihrem Chef, diesem Redakteur vom Abendblatt, zusammen ist. Der spannt Mara vermutlich vor seinen Karren und stiftet sie an, dich auszuhorchen!«

»Könnte gut möglich sein«, gab er Jonas recht, »dieser arrogante, karrieregeile Vogel scheint vor nichts zurückzuschrecken!«

»Dann hat ja die liebe Mara endlich den richtigen Partner gefunden!«

Jonas wird sie auch in hundert Jahren nicht mögen, dachte er amüsiert. »Wenn ich’s mir recht überlege, haben wir uns vor meiner Hochzeit viel öfter gesehen!« Christian war froh, dass ihre Freundschaft daran nicht zerbrochen war. Er genoss es schließlich seit je her, mit ihm über vergangene Zeiten zu quatschen.

»So kann man das sehen! Es gab Zeiten, da waren wir wirklich unzertrennlich!« Jonas schien sich ebenfalls an diese unbeschwerten Jahre zu erinnern. Sein breites Grinsen sprach zweifellos dafür. Das gemeinsame Flens war für diesen Anflug von Melancholie jedenfalls nicht verantwortlich. Nicht nach nur einer Flasche ihres Lieblingsgetränks.

»Es war einfach eine schöne Zeit, damals in Borgfelde!« Christian hatte diese Jahre in ihrem Kiez stets genossen. »Was haben wir den Malzweg unsicher gemacht! Die Jungs aus der Alfredstraße hatten wirklich nichts zu lachen, damals in den Neunzigern!«

»Die haben wir ganz schön aufgemischt«, wie es schien, erinnerte sich Jonas ebenfalls an diese alten Zeiten. »Das war alles irgendwie anders, im letzten Jahrtausend!«

Sie stießen erneut an und spülten die Reste in ihren Flaschen hinunter.

»Würdest du eigentlich nochmal bei unserem Haufen anfangen? Sei ehrlich…!«

»Da bin ich mir nicht so sicher, Chris! Aber Augen auf bei der Berufswahl! Das rate ich mittlerweile jedem!«, dieser Spruch war typisch für ihn. Er pflanzte sich erneut auf die Sitzecke und stellte die nächsten beiden Bierflaschen auf den Tisch.

Dieses leidige Thema kam bei ihnen immer mal wieder hoch. Auch am heutigen Sonntagabend ließen sie ihrem gemeinsamen Frust freien Lauf. Sie betrieben damit so was wie: »Schadensbegrenzung in Sachen fehlender Motivation«, und die war in den meisten Fällen von Erfolg gekrönt.

»Mensch, wenn ich darüber nachdenke, wie lange wir die ganze Scheiße schon zusammen durchziehen!« Jonas brachte es auf den Punkt, denn sie waren damals beinahe zeitgleich in den Dienst der Hamburger Polizei eingetreten. Aber jetzt, nach fast fünfundzwanzig Jahren, machte sich allgemeine Ernüchterung breit.

»Prost, Herr Oberkommissar…!« Christian schnippte den Verschluss seines eisgekühlten Flens mit dem typischen Plopp nach oben und hielt Jonas die Flasche entgegen.

»Prost, Herr…, ach ja, Hauptkommissar!« Christian hörte aus seiner Stimme diesen sarkastischen Unterton heraus.

»Ach komm, nicht schon wieder«, Christian ärgerte sich jedes Mal, wenn Jonas sein Dauerthema anschnitt. »Du weißt genau, dass ich dieses mitleidige Gejammer nicht mehr hören kann!«

»Und trotzdem bist du einmal mehr befördert worden! Ich frage mich ernsthaft, wieso ist das so…?«

Jonas und sein unbegründeter Minderwertigkeitskomplex nervten ihn schon seit Jahren. Warum will er es einfach nicht verstehen? »Du weißt genau, dass es lediglich mit deinem Einstellungsdatum zusammenhängt! Du bist halt ein halbes Jahr später eingetreten. Also hat alles seine Richtigkeit!« Christian war schon länger bewusst, dass Jonas diese Systematik einfach nicht akzeptierte.

»Ja, ja! Und mein Notendurchschnitt ist auch einen Tick schlechter. Ich weiß, ich weiß!« Jonas blickte ihn verständnislos an, so wie er es immer tat, wenn ihm die Argumente ausgingen.

Die leidige Beförderungssystematik blieb wieder einmal ihr einziger Streitpunkt, denn ansonsten verlief der Abend genauso, wie sie es sich vorgenommen hatten. Von alten Zeiten zu quatschen, lenkte dabei recht zuverlässig von den aktuellen Sorgen und Problemen ab. Mit Jonas konnte er ohnehin über alles reden. Auch die eher nachdenklichen Angelegenheiten klammerten sie dabei keineswegs aus.

»Mal was ganz anderes! Wir haben nie so richtig darüber gesprochen, Chris!« Jonas wechselte das Thema. »Es war doch bestimmt seltsam für dich, die ganzen Jahre ohne Vater aufzuwachsen!« Er schnitt damit etwas an, über das er sich sogar mit Doro nie so recht ausgesprochen hatte.

»Mir ist damals nichts dabei eingefallen. Es war einfach so!«, erklärte er lapidar. Trotzdem fehlte ihm an manchen Tagen etwas, ohne es als Kind konkret benennen zu können. Die Besuche bei Freunden hielten ihm allerdings oftmals vor Augen, dass es auch andere Familienverhältnisse gab. Obwohl die Partner in vielen Fällen ebenfalls nicht verheiratet waren, übernahmen dort die Lebensgefährten zumindest die Rolle des Vaters. »Offiziell habe ich Doro in dieser Sache nie Vorschriften gemacht! Aber ihr wenig ausgeprägtes Bedürfnis, einen Partner kennenzulernen oder sogar eine feste Bindung einzugehen, fand ich dann spätestens als Zwölfjähriger doch etwas merkwürdig!«

Jonas nickte und schien zu verstehen, wie er die ganzen Jahre damit um gegangen war.

»Du hattest später ja auch keinen Vater mehr!« Er spielte auf die Scheidung von dessen Eltern an.

»Das war doch ganz was anderes! Ich habe meinen Vater zumindest ein paar Jahre zuhause erleben dürfen!« Jonas versuchte eindeutig, dieses Argument zu entkräften.

»Du warst damals acht oder neun! Stimmt’s?« Christian erinnerte sich und sah weiterhin gewisse Parallelen im Verlauf ihrer Jugend. »Ich glaube, allein deshalb haben wir uns immer schon bestens verstanden. Wir waren ja quasi Leidensgenossen!«

»Vielleicht wurden unsere Mütter gerade deshalb gute Freundinnen?«, räumte Jonas ein, »sie waren schließlich junge Mütter, alleinerziehend, mit fast gleichaltrigen Söhnen!«

»Und weil wir so oft zusammen pappten, wie die Kletten, haben wir eigentlich fast alles zusammen erlebt!« Christian überlegte einen Moment. »Schule, Abi, unsere gemeinsamen Freunde!«

»Und dann gingen wir kurz nacheinander zur Polizei. Nur unsere Mädels haben wir uns nie geteilt. Glaube ich zumindest!«, resümierte Jonas mit forschendem Blick.

»Was vielleicht ein Fehler war, wenn ich es mir recht überlege!« Christian ließ in Gedanken dessen Verflossene Revue passieren. »Das eine oder andere Sahneschnittchen war damals schon dabei!«

»Du stehst doch eher auf blond! Und meine waren meistens dunkelhaarig!« Jonas durchschaute wohl seine Gedankenspiele.

»Obwohl! Mara ist ja auch nicht blond, und die habe ich sogar geheiratet. Naja okay, so was wie dunkelblond ist sie schon…«, musste er schließlich zugeben.

»Und zur Polizei wolltest du ja nur, weil du schon immer gerne Sport getrieben hast! Das legendäre Bewegungswunder, Christian Langenbeck, die Pferdelunge!«, fasste Jonas in seiner süffisanten Art zusammen. »Wir hatten da wohl völlig falsche Vorstellungen!«

»Stimmt eigentlich! Es handelte sich tatsächlich um den wahren Grund für meine damalige Entscheidung«, überlegte er kurz, »nach der Grundausbildung, und später im Streifendienst, haben wir jede Woche noch sehr viel Sport betrieben! Aber heute bei der Kripo? Da fällt Dienstsport viel zu oft flach, und du weißt warum!« Er schloss damit den Kreis ihrer Überlegungen.

»Willkommen in der Realität!« Jonas brauchte nichts weiter zu sagen, denn ihre dienstliche Überlastung beim LKA diskutierten sie nicht zum ersten Mal.

»Aber vielleicht wird es ab sofort besser! Tobias hat ja für Morgen angekündigt, uns mit einer neuen Kollegin zu beglücken!«

Diese Information schien einmal mehr seiner größeren Neugier geschuldet. Jonas ist wieder bestens im Bilde, räumte Christian ein. Seine eigene Wissbegierde hielt sich dagegen zumeist in Grenzen. Mit den privaten und dienstlichen Problemen beschäftigte er sich gemeinhin öfter. Da blieb für den täglichen Flur Funk wenig Raum.

»Sie soll übrigens Diplom Psychologin sein«, setzte Jonas seine News fort. »Jung, hoch intelligent und obendrein eine beeindruckende Schönheit! So wenigstens die Einschätzung von Tobias! Er ist ja schließlich der Einzige, der sie bereits zu Gesicht bekommen hat!«

Was Jonas so alles aufschnappt! Christian war beeindruckt. »Wir werden sehen! Hauptsache wir kriegen etwas Verstärkung im Dezernat! Und eins weißt du auch! Schönheit liegt stets im Auge des Betrachters…!«

»Du bist viel zu rational, Chris!« Jonas ließ seine nüchterne Einschätzung nicht gelten, schnitt nun aber ein völlig anderes Thema an. »Hast du übrigens gewählt? Ich habe diesmal per Briefwahl abgestimmt!« Jonas schien seine staatsbürgerlichen Pflichten als Demokrat sehr ernst zu nehmen. Die diesjährige Wahl zur Hamburger Bürgerschaft beschäftigte Christian dagegen nur am Rande.

»Ich mache das Theater schon lange nicht mehr mit!« Seine Entscheidung, nicht zur Wahl zu gehen, hatte er bereits vor vielen Jahren getroffen. »Mir fehlen einfach die kompetenten Köpfe, für die man seine Kreuze machen soll. Wenn ich mir nur diesen Wedekind und seine Bürgerliste ansehe«, Christian merkte, dass er sich wieder in etwas hineinsteigerte. »Wir sammeln seit Wochen Indizien gegen diesen Betrüger. Zudem ist die Steuerfahndung hinter ihm her! Und so einer will allen Ernstes in die Bürgerschaft gewählt werden? Ne, auf solche Typen habe ich absolut keinen Bock!«

Jonas schaute unvermittelt auf seine Uhr, ehe er hektisch nach der Fernbedienung griff. »Ich schalte mal kurz den Fernseher an! Es ist gleich 22 Uhr, da liegen bestimmt schon Ergebnisse vor!«

Auf dem Flachbildschirm erschien das NDR-Wahlstudio, wo in diesem Augenblick eine neue Hochrechnung vorgestellt wurde. Christian kümmerte sich lieber um die letzten beiden kalten Flens aus dem Kühlschrank. Derweil studierte Jonas gebannt die aktuellen Zahlen der Infografik.

»Das ist jetzt nicht wahr! Chris, sieh‘ dir das mal an! Der Wedekind hat es tatsächlich geschafft…!«

***

»Wir schalten jetzt live in die Parteizentrale der Bürgerliste Wedekind - Die Hanseaten! Dort steht die Kollegin Marion Detmers, umringt von Anhängern der Senkrechtstarter dieses Wahlabends! Ihr Jubel scheint ohne Grenzen! Marion, wie ist die Stimmung vor Ort?«

»Danke, Klaus, und einen schönen guten Abend, meine sehr verehrten Damen und Herren! Was niemand für möglich gehalten hätte, ist mittlerweile zur Gewissheit geworden! Die Bürgerliste Wedekind, hat es nach den neuesten Hochrechnungen aus dem Stand auf satte 7,9 Prozent der abgegebenen Stimmen gebracht! Man hatte dieser neuen Wählervereinigung, die erstmalig bei einer Bürgerschaftswahl angetreten ist, kaum Chancen eingeräumt. Die Umfrageergebnisse der letzten Wochen bestätigten dies auf eindrucksvolle Weise.

Ich verschaffe mir zunächst einmal etwas Platz, denn das Gedränge und die ausgelassene Stimmung hier in der umdekorierten Lounge der Reederei Wedekind, haben immer noch nicht nachgelassen. Neben mir steht jetzt der Spitzenkandidat der Bürgerliste, Karl-Heinz Wedekind. Zunächst einmal herzlichen Glückwunsch! Wie ist ihre momentane Gefühlslage, nach diesem doch eher unerwarteten Ergebnis? Haben sie überhaupt mit einem solch überwältigenden Zuspruch der Wählerinnen und Wähler gerechnet?«

»Vielen Dank Frau Detmers! Ihre Frage kann ich nur mit einem klaren Ja beantworten! Wir haben in der Tat von Anfang an mit einem Ergebnis über der Fünf-Prozent-Marke gerechnet. Schon in den langen Wochen des Wahlkampfs haben wir es deutlich gespürt. Die BLW trifft die Stimmungslage, den Nerv der Bevölkerung. Die BLW hat sich stets die Sorgen und Nöte der Bürgerinnen und Bürger angehört, und ist danach programmatisch gezielt darauf eingegangen. Aber dass wir uns am Ende bei fast acht Prozent bewegen, ist, bei all unserem Selbstbewusstsein, eine ziemliche Überraschung! Und vor allem, es sind ja erst Dreiviertel der Stimmbezirke ausgezählt. Somit steht das amtliche Endergebnis noch lange nicht fest! Aber lassen sie mich schon einmal ein Wort des Dankes sagen, an all die Wählerinnen und Wähler, die unserer Bürgerliste ihre Stimme gegeben haben! Uns wurde heute ein Vertrauensvorschuss gewährt, der uns nicht nur mit einem eindeutigen Mandat ausstattet, sondern wir werden durch dieses Wahlergebnis künftig eine wichtige Rolle in der Hamburger Bürgerschaft spielen! Sollte es am Ende bei den Ergebnissen der aktuellen Hochrechnungen bleiben, und die Verluste der anderen Parteien sich auf diesem Niveau bestätigen, dann wird es nicht nur einen neuen Ersten Bürgermeister geben, sondern man wird an unserer Partei nicht vorbeiregieren können!«

»Sie gehen also in jedem Fall davon aus, dass die BLW künftig an einer neuen Regierungskoalition beteiligt sein wird?«

»Wie man sieht, ist die bisherige Regierung klar abgewählt worden. Deshalb werden sich neue Konstellation formieren müssen. Aber erst die weiteren Verhandlungen werden zeigen, ob sich die erforderlichen Schnittmengen für eine künftige Zusammenarbeit ergeben werden. Zudem gehe ich davon aus, dass die stärkste Fraktion, die dann auch den Ersten Bürgermeister stellen wird, mit allen demokratischen Parteien, also auch mit unserer Vereinigung, in konstruktive Verhandlungen eintreten wird! In den Parteigremien werden wir dann Morgen das amtliche Wahlergebnis zunächst intern besprechen. Und dann wird man einfach die künftigen Verhandlungen abwarten müssen! Dies halte ich im Übrigen in einer funktionierenden Demokratie für einen ganz normalen Vorgang!«

»Herr Wedekind, vielen Dank für ihre erste Einschätzung an diesem spektakulären Wahlabend!

Und damit, Klaus, gebe ich zurück ins Studio!«

***

»Habt ihr das Spektakel gestern Abend gesehen? Unser aller Freund Wedekind hatte seinen großen Auftritt im Fernsehen!« Jonas war der Erste, der in der heutigen Kaffeerunde, den Ausgang der gestrigen Bürgerschaftswahl thematisierte.

»Ich frage mich ernsthaft, wer diese Partei überhaupt gewählt hat?« Kollege Schellers Äußerung schien keine weiteren Diskussionen auszulösen. Offenkundig setzten sich nur Jonas und er mit dem Ergebnis der Wahl auseinander.

Da Christian selbst nicht gewählt hatte, trottete er kommentarlos zur Kaffeemaschine, und füllte seine Tasse mit dem frisch aufgebrühten Wachmacher.

Kollegin Merz bearbeitete derweil gelangweilt ihren Kaugummi und starrte dabei wie hypnotisiert in ihr Smartphone. Von ihr wusste Christian zuverlässig, dass sie sich für solche Themen überhaupt nicht interessierte. Wenn sie sich einmal dazu äußerte, dann bestenfalls über das coole Aussehen oder die Frisur von Politikern. Typisch Susi eben! Unser Nesthäkchen! Obwohl…! Sie zeigt sich inzwischen absolut lernfähig und engagiert, räumte Christian in Gedanken ein. Das bislang einzige weibliche Mitglied ihrer Arbeitsgruppe, tickte zuweilen völlig anders.

Ihre anfänglichen, penetranten Flirtversuche nervten allerdings. Eine Zeit lang zog sie alle Register und gab ihm damit deutlich zu verstehen, dass er zu ihrem Beuteschema zählte. Die Kleine war offenbar ständig auf der Suche nach neuen Herausforderungen. Aber was fand sie nur an ihm? Einem fünfzehn Jahre älteren Scheidungsopfer, wie er sich inzwischen bezeichnete. Wenn sie nur an einem schnellen Fick zwischendurch interessiert war? Den konnte sie haben. Aber damit war die Sache für Christian dann erledigt. Dieser belanglose One-Night-Stand, und sein allzu offen gezeigtes Desinteresse an einer längeren Beziehung, forderte bei ihr eine übertrieben trotzige Reaktion heraus. Dies überraschte ihn dann doch. Zumal er die Vorstellung hatte, dass die jungen Dinger solche Erfahrungen heutzutage viel leichter wegsteckten.

Er selbst war ohnehin ein hoffnungsloser Fall. Ich bin eben ein unvermittelbarer Sonderling! Damit hatte er sich bereits kurz nach seiner Scheidung abgefunden.

»Acht Komma eins Prozent, aus dem Stand!«, las Jonas aus der Zeitung vor, und riss Christian damit aus seinen Gedanken.

»Dann wird ihm aber unsere Vorladung in der nächsten Woche nicht schmecken!« Kurt Scheller schien das Thema Wahl immer noch zu beschäftigen.

Christian sah das völlig anders, denn ihm gingen die politischen Konsequenzen für Wedekind komplett am Arsch vorbei.

»Wollte Tobias uns heute nicht die Neue vorstellen?« Er lenkte den Fokus der Runde bewusst auf ein anderes Thema. Weitere Diskussionen zur Politik, wollte er damit für heute abwürgen. Und über die Karriereaussichten eines Karl-Heinz Wedekind wollte er schon gar nicht diskutieren. Darauf hatte er an diesem Montagmorgen überhaupt keinen Bock.

»Tobias wollte so gegen zehn mit ihr hier sein!« Die Kollegin Merz erwachte aus ihrer scheinbaren Lethargie. Sie hatte trotz der intensiven Daddelei an ihrem Handy wohl doch mehr mitbekommen, wie er vermutete.

»Wie die hier schreiben, ist Wedekind sogar für einen Senatorenposten im Rennen!« Jonas biss sich weiter am Thema Bürgerschaftswahl fest.

»Wieso kommt die eigentlich schon heute? Ist doch erst der Vierundzwanzigste!« Christian schaute auf seine Uhr. »Und außerdem ist es schon nach zehn. Unser Chef ist doch sonst immer pünktlich!«

»Die hat wohl nichts Besseres vor! War eigentlich erst für den 1. März vorgesehen. Jetzt kommt sie wohl ein paar Tage früher zu uns!«

Die liebe Susi scheint bestens informiert zu sein! So hatte er es nicht von ihr erwartet. Oder ist es einfach nur Stutenbissigkeit? Sie wittert wohl eine vermeintliche Konkurrentin!

»Woher weißt du das eigentlich, Susi…?« Jetzt wollte er es genau wissen.

»Du weißt genau, dass ich es nicht mag, wenn du mich so nennst!« Diese Antwort klang einen Tick zu schnippisch, um ihren Unmut über diese Frage vollständig zu verbergen. Oder das Wort Susi erinnerte sie zu sehr an ihre kurze Affäre. »Man muss eben nur genau hinhören, wenn unser Chef etwas bekanntgibt…!«.

»Und außerdem sollten wir froh sein, dass unser Dezernat endlich ein wenig Zuwachs bekommt!« Jonas hatte die Zeitung zusammengefaltet und beiseitegelegt. »Trotzdem ist es nicht seine Art…«, er hielt abrupt inne.

»So, so…, was ist also nicht meine Art?« Tobias hatte soeben den Besprechungsraum betreten. In seiner Begleitung eine äußerst bezaubernde, junge Frau, die jeden Einzelnen von ihnen selbstbewusst mit ihren Blicken scannte.

»Obwohl wir ein paar Minuten über die Zeit sind«, konterte Tobias souverän den latenten Vorwurf. »Darf ich euch Frau Dr. Pohl vorstellen? Unsere neue Kollegin. Sie wird unsere Truppe ab sofort unterstützen!«

»Den Doktor lassen wir dann aber künftig weg! Übrigens, ich heiße Sabrina…!«

Mit ausgestrecktem Arm lief die Neue auf die Mitglieder der Arbeitsgruppe zu. Das folgende kollektive Händeschütteln gestaltete sich dann noch etwas förmlich. Trotzdem entging es Christian nicht, dass ihr Händedruck bei ihm ein wenig intensiver ausfiel. Ihr vielsagendes Lächeln, und vor allem der exotische Duft ihres Parfüms, verwirrte ihn dann vollends. Es war schon einige Zeit her, dass er sich von einem weiblichen Wesen dermaßen angezogen fühlte.

» Mit Frau Pohl erfährt unser Dezernat und die Arbeitsgruppe endlich die vom Präsidenten schon lange in Aussicht gestellte Verstärkung!«

Wie auf ein geheimes Zeichen erschien Jonas und balancierte ein Tablett mit Gläsern und einer Flasche Sekt. Der alte Schwerenöter ist offenbar bestens vorbereitet! Von wegen Wahlanalyse am Montagmorgen! Sein Freund und Kollege hatte wohl in weiser Voraussicht ein paar Flaschen kaltgestellt. Und jetzt spielt er auch noch den Gentleman!

»Ich denke, ein Glas Sekt ist dem heutigen Anlass angemessen! Wann haben wir schon einmal die Gelegenheit, eine so charmante neue Kollegin in unseren Reihen begrüßen zu dürfen?«

Dieser Jonas, Kavalier alter Schule! Er gibt wieder einmal alles! Christian versuchte krampfhaft, nicht den Neidhammel zu geben, aber es schien ihm nicht ganz zu gelingen,

»Sie sehen, Sabrina, unsere Truppe weiß, was sich gehört!« Christian wunderte sich immer mehr über seine Kollegen, denn auch Tobias lief jetzt zu großer Form auf.

»Dann erstmal vielen Dank für den herzlichen Empfang! Aber vielleicht sollte ich ein paar Worte zu meiner Person verlieren!« Sabrina Pohl trank einen Schluck, und nahm dann neben Tobias am Besprechungstisch Platz.

»Ich will jetzt nicht pathetisch werden, aber sie sollten wissen, dass ich mich sehr freue, hier beim Landeskriminalamt eine neue berufliche Perspektive zu erhalten!«, dabei schaute sie voller Optimismus in die Runde. »Bereits während meines Psychologiestudiums, habe ich Fachseminare zu den Themenbereichen Kriminologie und Täter-Profiling besucht!«

Sabrina berichtete eloquent über ihr Studium und das dort erworbene Fachwissen. Christian entging nicht, dass sie dabei immer wieder längeren Augenkontakt mit ihm aufnahm. Oder bilde ich mir das alles nur ein? Dieser Gedanke verunsicherte ihn mehr, als er sich eingestehen wollte. Er ertappte sich sogar dabei, dass ihn nur noch einzelne Wortfetzen von Sabrinas Vorstellung erreichten. Ihre faszinierenden grünen Augen, und der nach wie vor betörende Duft ihres Parfüms, zogen ihn unwiderstehlich an.

Hallo! Was passiert da gerade…? Christian bemühte sich, weiterhin entspannt zu wirken, aber dies gelang ihm nicht wirklich. Er benahm sich wie ein liebestoller Sechzehnjähriger. Hoffentlich bemerkt sie nichts davon? Und die anderen Kollegen natürlich auch nicht! Christian war nicht in der Lage, sich der Anziehungskraft dieser Frau zu entziehen.

»…ja, so war das! Und nach dem Studium habe ich mir dann einen Doktorvater gesucht. Ein, über die Stadtgrenzen hinaus, geschätzter Dozent hier an der Uni Hamburg, Professor Stoltenberg. Bei ihm durfte ich dann relativ zeitnah promovieren! Und nach meiner Dissertation, habe ich mich dann hier beim LKA beworben!«

»Sehr interessant, Frau Kollegin!«, Tobias riss ihn aus seinen Gedanken. »Ich gehe davon aus, dass gerade ihr Wissen, künftig eine Bereicherung für unseren Arbeitsbereich sein wird!«

Jonas hatte eine weitere Flasche geöffnet und die Gläser wieder aufgefüllt.

Seit ein paar Minuten bemerkte Christian, dass die kleine Susi die neue Kollegin immer argwöhnischer beäugte. Um alles in der Welt, bitte keinen Zickenalarm, kam ihm augenblicklich in den Sinn. Sie wird ohnehin den Kürzeren ziehen! Nicht etwa, weil sie als Dummchen rüberkam, aber die Neue war da ein völlig anderes Kaliber. Und am nötigen Selbstbewusstsein mangelte es ihr offenkundig auch nicht.

»Ich denke, dass ich noch eine ganze Zeit brauchen werde, um ihre Erwartung erfüllen zu können! Dafür fehlt mir doch noch zu sehr der berufliche Background. Und vor allen Dingen die nötige Erfahrung!«, legte sie bescheiden nach. Äußerst geschickt, die Frau Doktor! Erstmal den Ball schön flach halten! Christian bewunderte ihre angenehme Zurückhaltung. Ob dies alles nur inszeniert war, würde sich bald herausstellen.

»Danke für ihre sympathische Vorstellung, Sabrina! Aber jetzt zum Tagesgeschäft, Kolleginnen und Kollegen«, Tobias hantierte mit seinen Unterlagen. »Frau Dr. Pohl…, Verzeihung…, Sabrina, kommt gerade recht, um an den Vorbereitungen zu der anstehenden Durchsuchung in St. Pauli teilzunehmen!«

Alle, außer ihrer neuen Kollegin, waren zwar schon über den generellen Ablauf eingeweiht. Tobias überließ allerdings nie etwas dem Zufall. Die Zeiger der Wanduhr waren inzwischen auf zwanzig vor elf gewandert.

»Die anderen Kolleginnen und Kollegen vom SEK, Dezernat Rauschgift und der Schutzpolizei, werden etwa gegen elf Uhr zu uns stoßen! Wir werden dann im Einzelnen die gesamte Aktion nochmals durchspielen, und abschließend koordinieren!«

Christian bemerkte die wachsende Anspannung im Team. Selbst nach so vielen Jahren, kam vor solchen Einsätzen immer wieder diese undefinierbare Nervosität auf. Ihre Professionalität erforderte gleichwohl den nötigen Eigenschutz. Es galt daher, auf alles perfekt vorbereitet zu sein.

»Die Kollegin Sabrina wird als Neuling natürlich nicht in vorderster Linie agieren! Sie werden daher im Hintergrund bleiben, und begleiten Oberstaatsanwalt Schubert zum Einsatzort! Sie haben dann auch die Gelegenheit, sich miteinander bekannt zu machen. Er ist im Übrigen in beiden aktuellen Arbeitsgruppen, der AG Rotlicht und der AG Wedekind, unser wichtigster Ansprechpartner!«

Sabrina schien nicht ganz unglücklich darüber, bei ihrem ersten polizeilichen Einsatz, keine Hauptrolle zu spielen. Die toughe Frau Doktor hat offenkundig Respekt vor ihrer Aufgabe! - Christian vermutete dies zwar nur, aber er registrierte in ihrem Gesicht deutliche Zeichen von Nervosität.

»Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht! Wir warten jetzt noch ab, ob die Kollegen irgendwelche Änderungen geplant haben«, Tobias wirkte zufrieden, » aber ich glaube nicht, dass wir etwas übersehen haben!«

Für alle stand fest, dass sie auch auf diesen Einsatz wieder einmal bestmöglich vorbereitet waren.

2

Das ohrenbetäubende Geräusch von zersplitterndem Holz, gefolgt vom metallischen Kreischen eines berstenden Türschlosses, beendete abrupt die frühmorgendliche Stille. Einer der SEK-Beamten benötigte nur zwei kurze, routinierte Schläge, um mit seiner Ramme den Widerstand der schweren Eichentür zu brechen. Der Weg für die wartenden Kollegen war damit frei.

»Go, go, go…! Polizei…! Auf den Boden, Hände hinter den Kopf…!«

Die bellenden Kommandos hallten vielstimmig durch den dunklen Hausflur. Die waffenstarrenden Spezialkräfte der Hamburger Polizei schwärmten nach dem vorbereiteten Einsatzplan in die angrenzenden Zimmer aus.

Mit einigem Abstand zu den voranstürmenden Kollegen, betrat Christian Langenbeck den Ort des Geschehens. Es war ihre Absicht, die Bewohner des Hauses zu überraschen. Und dieser Plan schien aufzugehen. Das SEK traf lediglich Personen an, die sich schlaftrunken zu orientieren versuchten. Zusätzlich sorgten die eingesetzten Blendgranaten für die nötigen Schrecksekunden, um eine Gegenwehr im Keim zu erstickten.

Christian tastete sich mit gezogener Waffe langsam voran, stets darauf vorbereitet, eine drohende Attacke frühzeitig zu vereiteln. Da war es wieder. Dieses eigentümliche Kribbeln im Nacken und den Rücken hinunter. Es war kein Zeichen von Angst, sondern das Ergebnis absoluter Konzentration.

»Untere Räume gesichert«, gab der SEK-Gruppenführer bekannt und hob seinen rechten Arm. Mit einer weiteren Geste wies er drei seiner Kollegen an, ihm über das nahegelegene Treppenhaus ins Obergeschoss zu folgen. Die restlichen Kräfte führten die Tatverdächtigen ab. Mit derben Stößen bugsierten sie die festgenommenen Personen an Christian vorbei ins Freie.

Mittlerweile hatten Tobias und Jonas zu ihm aufgeschlossen. Durch Handzeichen gaben sie zu verstehen, dass sie dem SEK ins Obergeschoss folgen wollten. Tobias wies ihn zudem an, die Nachhut ihrer Gruppe zu bilden, um das weitere Vordringen abzusichern. Mit einem kurzen Nicken gab Christian zu erkennen, dass er verstanden hatte. Aufmerksam nach unten blickend, bewegte er sich als Letzter die Stufen hinauf.

Das verbaute, spärlich beleuchtete Treppenhaus, war dabei ein unübersichtlicher Engpass auf dem Weg nach oben. Die dort herrschende trügerische Stille wurde, immer wieder durch das verräterische Knarzen der ausgetretenen Holzstufen, unterbrochen. Erhöhte Vorsicht war also geboten. Über ihnen herrschte Stille, denn auch der SEK-Trupp verursachte kaum Geräusche. Offenbar waren sie noch auf keine weiteren Zielpersonen gestoßen. Christian registrierte aus dem Augenwinkel, dass Jonas das Areal über ihnen observierte, denn von der ersten Etage führten weitere Stufen hinauf ins Dachgeschoss. Von der unteren Etage des Hauses schien keine Gefahr mehr auszugehen. Dennoch widmete er sich immer noch der Absicherung nach hinten. Schritt für Schritt gelangten sie weiter hinauf. Der Boden des nächsten Stockwerks befand sich mittlerweile auf Augenhöhe. Nur noch ein paar Stufen trennten sie vom oberen Flur.

»Achtung, Schütze oben rechts…!«, hörte er Jonas hinter sich rufen.

Christian duckte sich instinktiv, aber er brauchte einfach zu lange, um auf diese Warnung schnell genug zu reagieren. Schüsse hallten durch das enge Treppenhaus und klingelten schmerzhaft in den Ohren. Gleichzeitig streifte ihn etwas Heißes am linken Oberarm, ehe sich in seiner Brust ein weiterer dumpfer Schmerz bemerkbar machte. Ich bin getroffen, war sein einziger Gedanke.

»Christian! Nein…!«, brüllte jemand, bevor seine Beine kraftlos einknickten und er nach vorne kippte. Mit einem dumpfen Poltern und ohne jegliche Körperspannung, stürzte er nach unten. Gefährlich nah, und wie in Zeitlupe, glitten die hölzernen Stufen an ihm vorbei. Danach wurde es schlagartig dunkel.

***

Mittwoch, 26. Februar 2025, 9 Uhr - Sonderausgabe NDR-aktuell:

»Guten Morgen, meine sehr verehrten Damen und Herren! Mein Name ist Anna-Lena Tecklenburg. Aus aktuellem Anlass befinden wir uns derzeit hier in einer Seitenstraße der Reeperbahn! Wie sie unschwer erkennen können, hat es in unmittelbarer Nähe einen Einsatz der Hamburger Polizei gegeben. Die Vielzahl von Fahrzeugen im Hintergrund machen deutlich, dass es sich um eine umfangreiche Aktion im Rotlichtmilieu von St. Pauli gehandelt hat. Der Zugriff ist inzwischen abgeschlossen, aber Anwohner berichteten uns, dass gegen Ende der Aktion mehrere Schüsse gefallen seien. Einige davon aus automatischen Waffen, vermutlich ausgelöst durch Kräfte des SEK, dem Sondereinsatzkommando der Hamburger Polizei. Nun scheint tatsächlich alles soweit beendet zu sein. Auch die Bemühungen mehrerer Notärzte und Sanitäter scheinen abgeschlossen. Die verletzten Personen sind inzwischen mit Rettungsfahrzeugen abtransportiert worden! Neben mir steht nun der Pressesprecher der Hamburger Polizei, Oberkommissar Timo Frankfurter!

Herr Frankfurter, was können sie uns zu diesem Einsatz am heutigen Morgen sagen?«

»Moin, moin, Frau Tecklenburg! Es handelte sich um eine geplante Durchsuchungsaktion in den Räumen eines Nachtclubs mit angeschlossenem Bordell. In den frühen Morgenstunden drangen die Einsatzkräfte in die Räume des Etablissements ein. Die Ermittler sahen es als erwiesen an, dass dort nicht nur minderjährige junge Frauen beschäftigt, und gegen ihren Willen festgehalten werden, sondern auch Betäubungsmittel in nicht unerheblichen Umfang konsumiert und vertrieben wird!«

»Darf ich sie kurz unterbrechen? Was können sie uns zum Schusswaffengebrauch der eingesetzten Kräfte sagen, von dem uns berichtet wurde?«

»Das ist richtig! Das SEK und weitere Polizeikräfte stießen im ersten Obergeschoss auf den erheblichen Widerstand des anwesenden Sicherheitspersonals. Wie wir inzwischen wissen, handelt es sich bei diesen Personen um Mitglieder eines bekannten Rockerclubs, die vom Betreiber des Bordells dafür eingesetzt waren.«

»Gab es dabei Verletzte, oder sogar Tote?«

»Soweit wir die Situation bislang überblicken können, gab es bei der Aktion keine Toten zu beklagen. Allerdings wurden drei Mitglieder des Rockerclubs mit nicht weiter bekannten Verletzungen in Hamburger Krankenhäuser verbracht. Leider müssen wir aber auch davon ausgehen, dass einer der beteiligten Kriminalbeamten mindestens eine Schussverletzung erlitten hat. Auch er wurde bereits vor Ort medizinisch notversorgt, und anschließend zur weiteren Behandlung ins Universitätsklinikum eingeliefert!«

»Gibt es bereits Erkenntnisse zur Schwere der Verletzung des Polizeibeamten?«

»Frau Tecklenburg, dazu gibt es noch keine abschließenden Informationen. Laut der Aussage des behandelnden Notarztes, kann man aber durchaus von einer lebensbedrohlichen Verletzung ausgehen. Im Übrigen verweise ich auf die bevorstehende Pressekonferenz der Staatsanwaltschaft und der Hamburger Polizei. Meines Wissens ist diese Veranstaltung gegen zwölf Uhr vorgesehen! Dort wird dann eine umfassende Unterrichtung der Presse und der anderen Medien zu den aktuellen Erkenntnissen erfolgen!«

»Vielen Dank, Herr Frankfurter! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, wenn es Neuigkeiten gibt, insbesondere zum Zustand des verletzten Polizeibeamten, werden wir nochmals aktuell darüber berichten! Bis dahin gebe ich zurück ins Studio!«

***

Dr. Manns war bereits vorab über die Einlieferung eines Polizeibeamten mit Schussverletzungen informiert worden. Jetzt eilte er dem Notarzt und den beiden Sanitätern auf dem schier endlosen Flur der Notaufnahme entgegen. Schon von Weitem erkannte er, dass der Verletzte beatmet wurde. Die Kollegen am Funk hatten also nicht übertrieben.

»Christian Langenbeck, zweiundvierzig Jahre, Kriminalbeamter! Zwei Schussverletzungen! Ein vermutlich lebensbedrohlicher Steckschuss im linken oberen Brustraum! Eine Fleischwunde am linken Oberarm! Vermutlich verursacht durch einen Streifschuss!« Wie in Trance gab der Notarzt die erforderlichen Informationen an Dr. Manns weiter. »Zudem enormer Blutverlust! Blutdruck aber inzwischen normalisiert! Die Atmung des Patienten wird, seit seiner Stabilisierung vor Ort, durch Sauerstoffgabe stimuliert!«

Alle weiteren Auskünfte und Vitalwerte nahm Dr. Manns unaufgeregt und professionell zur Kenntnis.

»Patient in den Schockraum…! CT-Diagnostik vorbereiten und Blutkonserven kreuzen!« Die Anweisungen des erfahrenen Chirurgen erfolgten absolut routiniert.

Im Schockraum übernahm dann das vollständig versammelte Notfallteam die Kontrolle. Zügig, aber mit der gebotenen Vorsicht, lagerten sie den Patienten von der Rettungstrage auf den Behandlungstisch um. Der Verletzte wurde komplett verkabelt, und zu guter Letzt übernahm eine Anästhesistin die Überwachung der Vitalfunktionen. Die vertrauten Bilder der angeschlossenen Monitore mit den dazu gehörenden Kontrolltönen bestimmten nun das Szenario.

Derweil entfernten zwei OP-Schwestern die Kleidung des Patienten und legten den verletzten Brustbereich frei. Dr. Manns erkannte sofort die Brisanz der Situation. Das Projektil war in gefährlicher Nähe des Herzbeutel eingedrungen.

»Wenigstens scheint die Lunge nicht betroffen zu sein!«, er hoffte inständig, dass seine Diagnose am Ende auch zutraf. Es handelte sich jedenfalls zweifelsfrei um einen Steckschuss, denn beim Umbetten des Patienten hatte Dr. Manns keine Merkmale einer Austrittswunde festgestellt. Diese Tatsache war wohl der Schussweste geschuldet, die den Patienten zwar nicht vollkommen geschützt, aber das Projektil zumindest abgebremst hatte. Dass der Polizeibeamte eine solche Schutzweste bei seinem Einsatz trug, berichtete ihm im Vorfeld bereits der Notarzt, denn zur Bestimmung der einzelnen Verletzungen, hatte er dem Patienten die Weste bereits am Einsatzort abgenommen.

Aber es gab auch positive Nachrichten. Der Schusskanal strebte wohl vom Herzen weg, sodass er es sogar riskieren konnte, ohne eine weitere technische Lokalisierung des Projektils mit der Operation zu beginnen.

»Wichtig wäre, dass wir die Blutung stoppen!« Dr. Manns‘ Sorge war nicht unbegründet, denn ein solch massiver Blutverlust blieb meist nicht ohne Folgen. Sie mussten also verhindern, dass ihnen der Patient durch diese Tatsache auf dem Tisch verstarb.

»Sind die Konserven bereit?« Manns wartete auf das Nicken einer weiteren OP-Schwester, ehe er mit seinen Bemühungen fortfuhr. »Also los, packen wir’s an!«

Doch bevor er überhaupt mit der Operation zu beginnen konnte, vernahm er die warnende Stimme der Anästhesistin. »Blutdruck sinkt rapide! Tun sie etwas, sonst verlieren wir ihn!«

Dr. Manns und die anderen Ärzte rund um den Operationstisch versuchten ihr Möglichstes. Aber die Blutung kam einfach nicht zum Stillstand. Das Projektil zu entfernen, daran war im Augenblick nicht mehr zu denken.

Die LEDs der Kontrollgeräte blinkten immer wilder, und die grellen Warntöne der Apparate, vermischten sich mit den Stimmen und Anweisungen der Teammitglieder zu einem unheilvollen Stakkato.

»Herzstillstand…!« Die durchdringende Stimme der Narkoseärztin ließ alle Anwesenden kurz innehalten.

Wie auf ein geheimes Zeichen wusste dann aber jeder, welche Maßnahmen und Handgriffe in diesem Augenblick gefragt waren. Dr. Manns bearbeitete rhythmisch, mit beiden Händen den Brustkorb des Patienten, ohne dabei den immer weiter zunehmenden Blutverlust zu beachten. Ein nicht endender Schwall der roten Flüssigkeit drang unter der Gewalt der Druckmassage aus der Eintrittswunde.

Aber die Nulllinie auf dem Bildschirm und der schrille Dauerton, blieben konstant erhalten. Alle wussten, was das bedeutete.

***

Gleißende Lichter huschen vorüber…! Aber wo bin ich…? Ich kann mich nicht bewegen…?

Und warum bin ich nur so müde? So unendlich müde…!

Diese schwere Last auf meiner Brust! Was ist nur mit mir los…?

Irgendjemand presst etwas auf mein Gesicht! Wie angenehm, jetzt kann ich wieder besser atmen! Wer hebt mich auf diesen…? Das grelle Licht schmerzt in den Augen! Und der Druck in meiner Brust! Es tut so weh…!

Was ist das jetzt…? Dieser stechende Schmerz in meinem Schädel!

Und warum wird es plötzlich so dunkel! Hat jemand das Licht ausgeschaltet…?

Ich sehe nichts mehr! Aber die Stimmen, all diese fremden Stimmen um mich herum, sie sind immer noch da. Irgendwer zerrt an mir! Und jetzt? Warum sehe ich nichts mehr? Ich bin blind! Oh Gott nein, ich will nicht blind sein! Warum hilft mir denn niemand?

Wo kommt jetzt dieses Rauschen her? Oder ist es ein Surren? Eher ein Pfeifen? Dieses grässliche Klicken hinter, unter, über mir! Oder doch neben mir…?

Wo kommen all diese Geräusche her!

Was ist das jetzt…? Ich kann wieder sehen!

Oh nein! Warum tut keiner was…?

Ich möchte nur schreien…, laut schreien…!

Aber was ist mit meiner Stimme? Ich höre sie nicht! Was passiert mit mir? Das kann doch alles nicht sein…!

Ich schwebe…! Oh nein ich schwebe! Da unter mir auf dem Tisch liegt jemand! Ein Körper! Er bewegt sich nicht und ist fast nackt! Aber wer sind diese vielen Menschen? Alle haben sich um diesen leblosen Körper versammelt!

Ich muss sie doch hören können! Sie sind doch überhaupt nicht so weit weg von mir…!

Stille! Die ganze Zeit nur Stille…!

Sie ist unheimlich, aber trotzdem so friedlich!

Der Druck in meiner Brust! Sogar die Schmerzen sind verschwunden! Warum habe ich keine Schmerzen mehr…?

Außerdem…! Den Menschen da unten kenne ich…! Ich bin das dort unten…! Aber wer ist dann der, der auf diesen Körper hinabblickt? Man kann doch nicht dort unten liegen und gleichzeitig auf sich hinabsehen!

Warum schauen die Anderen alle so ratlos…? Bin ich tot…?

Einer von denen im grünen Kittel presst immer wieder seine Hände auf meine Brust. Oder ist es überhaupt nicht meine Brust? Ich muss tatsächlich tot sein! Es kann nicht anders sein! So fühlt man sich also, wenn man gestorben ist…!

Warum fürchten sich nur alle so vor dem Tod…?

Tot zu sein, ist ein herrlicher, ein so friedlicher Zustand…!

All die Liebe, dieses Glück! Ich schwebe einfach davon…! Alles ist so leicht…!

Ein solches warmes, helles Licht, habe ich noch nie zuvor gesehen! Ich schwebe immer weiter nach oben! Immer weiter und weiter…! Ganz weit weg von diesem kalten, leblosen Körper…!

Es ist so schön, und es darf nie wieder enden…!

Aber was passiert jetzt…?

Die da unten wollen nicht, dass ich tot bin…!

Was machen sie nur…?

Wo ist das Leuchten, das herrliche Licht geblieben…? Es ist nicht mehr da…! Und jetzt dieser Knall, dieser schreckliche Knall…! Ich kann wieder hören, und…!

Ich kann wieder riechen…! Aber was ist das…? Dieser grässliche Gestank in meiner Nase, nach verbranntem Fleisch…!

Und jetzt ist es plötzlich wieder dunkel? Ich will nicht, dass es wieder dunkel wird…!

Oh nein, da sind sie wieder, meine Schmerzen…! Diese unerträglichen Schmerzen…!

***

……»Adrenalin und den Defi, rasch…!« Dr. Manns bellte seine Anweisung der OP-Schwester entgegen. Der fahrbare Tisch mit dem Defibrillator und einer Spritze, wurde augenblicklich herangerollt.

Die Nadel drang tief in die Brust des Verletzten ein. Dr. Manns ergriff die beiden Pole. Gleichzeitig zeigte ein hochfrequentes Pfeifen an, dass das Gerät aufgeladen war.

»Alle weg vom Tisch…!«

Der Oberkörper des Patienten bäumte sich kurz auf, aber die konstante Nulllinie auf dem Monitor zeigte, dass der Stromschlag nichts bewirkt hatte.

»Nochmal aufladen!« Der Mediziner gab die Hoffnung nicht auf. Erneut traten alle zurück und Dr. Manns drückte die beiden Pole zum zweiten Mal auf den Brustkorb nieder.

Die gesamte Crew starrte wie gebannt auf den Monitor. Nach einem Moment der Stille, beendete die Sinuskurve auf dem Überwachungsgerät die Anspannung aller Beteiligten.

»Na also! Ich glaube, wir können weitermachen!« Dr. Manns nahm sicherheitshalber nochmal Blickkontakt mit der Anästhesistin auf und wartete auf ihre Zustimmung.

Der Patient schien für den weiteren Eingriff wieder stabil genug. Die zweite Blutkonserve führte dazu, dass der enorme Blutverlust endlich kompensiert wurde.

Dr. Manns gelang es in den nächsten Minuten, die Hauptblutung zu stoppen, und setzte seine Bemühungen fort, das tief steckende Projektil möglichst schonend nach außen zu befördern.

»Ich glaube, ich hab’s gleich!«, seine Einschätzung klang zuversichtlich. Stets darauf bedacht, den nur Zentimeter entfernten Herzbeutel nicht zu verletzen, zog Dr. Manns den blutverschmierten Übeltäter behutsam aus der Wunde.

»Ein solches Kaliber müsste verboten werden«, er betrachtete das imposante Projektil und schüttelte dabei fassungslos mit dem Kopf.

»Eigentlich sollte alles, was Menschen verletzten kann, verboten werden!«, outete sich einer der jungen Ärzte im Team als Gegner jeglicher Waffen.

Mit routinierten Handgriffen gelang es Dr. Manns schließlich, auch die letzten Blutungen nachhaltig zu stoppen. Er trat vom OP-Tisch zurück, und überließ dem Rest des Teams die Säuberung und das Verschließen der Schusswunde.

»Sie machen das schon, Keller!«, bat er seinen jungen Kollegen, obwohl es einer solchen ermunternden Aufforderung nicht bedurft hätte.

Die Angehörigen und Kollegen des Patienten sorgten sich vermutlich und warteten auf das glückliche Ende der Notoperation. Auch die Presse erwartete sein ärztliches Bulletin und spekulierte schon auf die neuesten Schlagzeilen.

Die letzte Behandlung einer lebensbedrohenden Schussverletzung liegt schon eine ganze Weile zurück, erinnerte er sich auf dem Weg hinunter in den Eingangsbereich. Gott sei Dank gehören Verletzungen durch Schusswaffen nicht zum Tagesgeschäft! Sogar hier bei uns in Hamburg nicht!

***

Einen ähnlichen Vorfall gab es im Dezernat seines Wissens noch nie. An etwas Vergleichbares konnte sich Tobias Stöcker beim besten Willen nicht erinnern. Bei Einsätzen gab es immer wieder die Androhung von Waffengewalt, doch am Ende dann tatsächlich zu schießen, hatte eine völlig andere Qualität.

Aber dass eine Kollegin oder ein Kollege einmal zu Schaden kommen würde, wollte er sich als Vorgesetzter erst gar nicht vorstellen.

Wie sollte er seinem Team Christians Gesundheitszustand erklären? Er hatte sich auf dem Weg von der Pressekonferenz ins LKA zwar einiges zurechtgelegt, aber jetzt, vor versammelter Mannschaft, fehlten ihm die richtigen Worte. Ein vernünftiger Einstieg, um Trost und vor allem eine gewisse Zuversicht zu verbreiten, gelang ihm erst recht nicht.

Schon beim Betreten des Besprechungsraums fielen ihm die gesenkten Köpfe und leeren Blicke seiner Mannschaft auf. Immerhin ließen alle eine körperliche Nähe zu. Er hatte zumindest das Gefühl, dass eine kurze Umarmung oder ein kameradschaftliches Schulterklopfen, mehr bewirkten, als tröstende Worte.

Jonas und Kurt stierten ihn mit leeren Augen an, und bei Susanne flossen Tränen. Selbst Sabrina die ihren Mitstreiter gar nicht lange kannte, wirkte genauso betroffen und zeigte ihm damit, dass die analytische Psychologin auch eine emphatische Seite hatte.

»Wie geht es Chris…?« Jonas Böhm beendete als Erster die gespenstisch, bedrückende Atmosphäre in der Runde.

»Laut Pressekonferenz den Umständen entsprechend gut«, Tobias bemerkte sofort, dass sich alle eine konkretere Erklärung wünschten. »Ich habe allerdings mit dem Chirurgen, der Chris operiert hat, nach dem offiziellen Teil, kurz sprechen können! Dr. Manns ist sehr besorgt wegen seines Zustandes!« Augenblicklich gingen alle Köpfe aufmerksam nach oben. »Er sagte mir, dass er während der Notoperation einen Herzstillstand erlitten habe. Allerdings habe dann die sofort eingeleitete Reanimation vielleicht etwas zu lange gedauert«, Tobias machte eine Pause, denn was sollte er den Kollegen sagen? »Dr. Manns befürchtet nun, dass es durch die mangelnde Sauerstoffversorgung, zu einer gravierenden Schädigung des Gehirns gekommen sein könnte!«

»Und was heißt das jetzt…?« Jonas sprang erregt auf und fixierte ihn mit weit aufgerissenen Augen.

»Die Operation konnte nach der erfolgreichen Wiederbelebung planmäßig beendet, das Projektil entfernt, und alle Blutungen gestoppt werden. Aber da gibt es noch ein zusätzliches Problem…!«

»Was ist los mit Chris…?« brüllte Jonas und fasste ihn grob an den Schultern.

»Chris ist nach der Operation auf die Intensivstation verlegt worden. Dort ist er dann in ein nicht vorhersehbares und vor allem ungeplantes, Koma gefallen!«

»Ungeplant? Es ist also nicht sicher, dass er wieder aufwacht?« Jonas sprach das aus, was vermutlich alle befürchteten.

Jetzt wischte auch er sich eine Träne der Verzweiflung aus dem Augenwinkel. Alles wurde mit einem Mal zur Nebensache, denn niemand konnte sicher sein, wie diese Angelegenheit endete.

»Schubert hat zugesagt, uns von der Auswertung der Razzia Ergebnisse zu entbinden«, Tobias gab diese Information pflichtgemäß weiter. »Das Dezernat Rauschgift soll das komplett übernehmen!«

Diese Nachricht hätte auch bis Morgen warten können, wurde ihm sofort klar, denn niemand dachte zurzeit an dienstliche Verpflichtungen.

»Jonas, du als sein bester Freund, wärst du bitte so freundlich und informierst seine Mutter? Und seine Ex natürlich auch! Du kennst ja beide! Ich bin der Meinung, sie sollten zeitnah erfahren, was mit Chris los ist!«

Normalerweise stand es ihm als Vorgesetzter zu, eine solche Aufgabe zu übernehmen. In diesem speziellen Fall war sein Freund Jonas aber ohne Frage der Richtige.

»Klar, mach‘ ich! Und um Elvis werde ich mich auch kümmern!«

»Ich würde ganz gerne mitkommen, wenn es keine Umstände macht!« Sabrinas Wunsch verwirrte Tobias etwas, den beleidigten Gesichtsausdruck von Susanne allerdings, wusste er dagegen sofort zu deuten. Er nickte zustimmend, verschwendete aber keinen weiteren Gedanken daran.

Eine andere Sorge beschäftigte ihn wesentlich mehr. Chris muss so schnell wie möglich wieder aus dem Koma erwachen!

3

Der Zustand des Patienten blieb unverändert ernst. Seit der Operation vor vier Tagen, überprüfte Dr. Manns regelmäßig die Einstellungen der Geräte dessen Bett.

»Das gefällt mir ganz und gar nicht…!«

Er war davon überzeugt, dass sie nach der Reanimation und dem Ende der Operation, alles für eine dauerhafte Stabilisierung des Patienten getan hatten.

»Die Vitalfunktionen bewegten sich doch im grünen Bereich! Warum dann diese Krise? Ich verstehe das einfach nicht!«, Dr. Keller wirkte ebenfalls ratlos, denn nichts deutete seinerzeit auf eine solch dramatische Entwicklung hin.

»Die nächsten Stunden werden entscheidend sein, ob der Patient wieder zu Bewusstsein kommt. Jeder weitere Tag im Koma wird seine Prognose verschlechtern«, Manns hatte immer noch Zweifel am vollständigen Erfolg ihrer Reanimation. »Und inwieweit sein Gehirn Schaden genommen hat, müssen wir ohnehin abwarten!«

»Der Herzstillstand dauerte einfach zu lange, und jetzt auch noch das Koma…!«, Keller schienen dieselben Bedenken umzutreiben.

»Wenn es eine Veränderung gibt, informieren sie uns bitte!«, bat Dr. Manns den für den Patienten zuständigen Intensivpfleger, als er zusammen mit Keller die ITS verließ.

»Jetzt hilft nur noch ein mittleres Wunder…!«

Dr. Manns gab zwar die Hoffnung nicht auf, aber in all den Jahren seiner Krankenhauspraxis, führten ähnlich gelagerte Fälle häufig zu irreversiblen Hirnschädigungen.

»Der Patient ist noch relativ jung und in guter körperlicher Verfassung! Vielleicht schafft er es ja!« die Worte seines Kollegen registrierte er mit Genugtuung. Nur mit dieser gesunden Einstellung war es möglich, die Sorgen um die Patienten und die sonstigen Herausforderungen als Arzt zu bewältigen.

***

Dunkelheit umgibt mich! Hüllt mich ein, wie in ein undurchdringliches Leichentuch!

Das in der Ferne hörbare Grollen wirkt durch meine Blindheit noch bedrohlicher!

Wo bin ich? Mein Zeitgefühl habe ich völlig verloren! Hastig versuche ich meine Umgebung zu ertasten! Aber es gibt dort nichts zu berühren! Meine imaginären Finger greifen immer wieder ins Leere. Sogar unter mir, wenn es so etwas wie unter mir überhaupt gibt, verspüre ich keinen Widerstand!

Ich schwebe einfach im Nichts…!

Jetzt nur keine Panik aufkommen lassen! Ich muss lediglich meinen Verstand gebrauchen, dann wird alles wieder in Ordnung kommen!

Existierte ich überhaupt? Ich muss es herausfinden!

Meine Finger nähern sich der Stelle, an der sich mein Kopf befinden müsste…!

Aber wieder greife ich nur ins Leere!

Mein Kopf ist einfach nicht da. Der Rest meines unsichtbaren Körpers ebenfalls nicht!

Ich schreie! Aber warum ist kein Ton zu hören?

Das schaurige, tiefe Grollen in der Ferne ist immer noch vorhanden! Warum kann ich dieses Geräusch hören, nicht aber meine Stimme…?

Es ist die einzige Wahrnehmung, die in mein Bewusstsein dringt! Ansonsten herrscht absolute Dunkelheit…!

Schwarze, bedrohliche Finsternis…!

Doch was ist das?

Ein Flimmern, kaum wahrnehmbar, und weit von mir entfernt!

Ein matt leuchtender Fleck in der Nacht!

Und mehr noch! Dieser winzige Punkt scheint rasch näherzukommen. Meine Umgebung wird stetig heller!

Tatsächlich! Es gibt etwas um mich herum!

Der zarte Lichtpunkt verwandelt sich nach und nach in die Umrisse einer Gestalt!

Ganz eindeutig ein menschlicher Körper…!

Der scheint ebenso im absoluten Nichts schweben. Dabei bewegt er sich unaufhaltsam auf mich zu…!

Oh nein…!

Warum wird plötzlich alles rot?

Dieses grässliche Rot! Es besteht aus…, das ist unmöglich…! Es ist Blut…! Rotes, dickflüssiges Blut!

Rings um mich herum ein einziger Vorhang aus fließendem Blut…!

Alles entsteht aus dem Nichts, und genauso verschwindet es wieder in der Unendlichkeit…! Aus diesem blutigen Vorhang streckt sich mir eine Hand entgegen, gefolgt von einem Arm und einer Schulter…!

Allmählich begreife ich, dass es sich um die Gestalt handelt, in die sich der hellstrahlende Punkt verwandelt hatte…!

Quälend langsam drängt sich der ausgestreckte Arm und der Rest des Körpers durch den roten Vorhang, bis diese blutige Gestalt vollständig vor mir schwebt…!

Das dumpfe Grollen in der Ferne ist nicht mehr zu hören…!

Nur noch das Rauschen umgibt mich…! Das Rauschen des Vorhangs aus Blut!

Flüsternde Laute erreichen mich…!

Mehr wie ein Hauchen, ein kaum wahrnehmbares Geraune…!

»Komm‘ zu mir…, die Zeit ist reif…, komm‘ …!«

Was bedeuten die geheimnisvollen Worte?

Sie werden eins mit dem immer stärker werdenden Rauschen des Blutes!

Dunkelheit…! Der Vorhang aus Blut und der Fremde sind verschwunden

Wieder umhüllt mich absolutes Nichts…!

Ich will, dass es aufhört…! Ich schreie…!

Warum hört mich denn niemand…?

***

ITS - dringend! Die blinkende Meldung auf dem Display seines Handys erregte seine Aufmerksamkeit. Dr. Manns befand sich gerade auf dem Weg zur Kantine. Es schien tatsächlich dringend zu sein, denn wegen einer Lappalie wurde er auf diese Weise nicht alarmiert. Er kehrte also augenblicklich um und spurtete Richtung Aufzug. Zwei Stockwerke tiefer erwarteten ihn bereits Dr. Keller und der Pfleger. Sie schienen positive Nachrichten zu haben.

»Der Patient ist in der Aufwachphase, und kommt langsam zu sich!« Dr. Kellers Stimme klang geradezu euphorisch.

»Alle Werte nähern sich dem Normbereich. Selbst sein EEG zeigt bislang keinerlei Auffälligkeiten!« Selbst Pfleger Heilmann strahlte heute Zuversicht aus, denn der Zustand des Patienten schien sich kontinuierlich zu verbessern.

Dr. Manns zog mit Daumen und Zeigefinger die Augenlider Langenbecks nach oben und richtete seine Taschenlampe auf dessen Pupillen. Die erhofften Reflexe stellten ihn dann endgültig zufrieden.

»Es kann nicht mehr lange dauern, bis er vollständig aufwacht!« Manns erwartungsvolle Prognose spiegelte seine gesamte Anspannung wider. Es blieben schließlich einige Zweifel, ob das Gehirn des Patienten nicht doch Schaden genommen hatte.

Es dauerte einige Minuten, bis Christian Langenbeck mit einem zaghaften Blinzeln seine Augen öffnete. Nur zögernd schien er sich an die unangenehme Helligkeit seiner Umgebung zu gewöhnen.

Beim Anblick der vielen Schläuche, Kabel und Apparate um sich herum, begann es offensichtlich in seinem Kopf zu arbeiten.

»Bin ich im Krankenhaus…?«

Dr. Manns Züge entspannten sich augenblicklich. Diese Frage konnte nur eines bedeuten.

»Ja, sie sind in der Tat in einem Krankenhaus«, Dr. Manns strahlte mit seinem jungen Kollegen Dr. Keller und Pfleger Heilmann um die Wette. »Willkommen zurück im Leben, Herr Langenbeck!«

***

Ich kann anpacken, was ich will! Es wird einfach alles zu Gold, Karl-Heinz Wedekind quittierte diesen Gedanken mit einem bereits seit Tagen anhaltenden Dauergrinsen. Er befand sich wie in einem Rausch, dessen Ende absolut nicht absehbar war.

Seine Reederei florierte prächtig. Trotz der winzigen Flaute im letzten Jahr, war es ihm und seinem Vorstand gelungen, einige kleinere Mitbewerber aus dem Rennen zu werfen. Und das mit völlig legalen Mitteln, stellte er schmunzelnd fest. Nur durch die Übernahme der Konkurrenten! Die waren aus unterschiedlichsten Gründen in finanzielle Schieflage geratenen und daher zu leichter Beute geworden.

Sein Konzern hatte schließlich die Spielräume für solche Transaktionen, und so ganz nebenbei fiel das jeweilige Knowhow der Mitbewerber, als eine nicht zu unterschätzende Innovation in die Zukunft, dem eigenen Unternehmen zu.

Jens hat sich fast totgelacht, als die Zusage des Kartellamtes auf dem Tisch lag, erinnerte sich Wedekind an Brunners damalige Reaktion. Sein Freund und Justiziar war sich im Vorfeld der Fusionsanträge überhaupt nicht sicher gewesen, ob die geplanten Zusammenschlüsse ohne Auflagen oder sonstige Bedingungen genehmigt würden. Aber es gab letztlich keine Einwände und alles lief wie am Schnürchen.

Natürlich trug auch der nicht vorhersehbare Wahlerfolg entscheidend zu seiner guten Laune bei. Die Medien und Online-Dienste lobten den Erfolg der BLW in den höchsten Tönen und die Berichte darüber, ließen seit dem Wahlsonntag einfach nicht nach. Zufrieden wischte er über das Display seines iPads. Er konnte sich gar nicht sattsehen, an den vielfältigen Kommentaren. Die gesamte Palette der Meinungsmacher war vertreten. Selbst die politischen Feuilletons der regionalen und überregionalen Tageszeitungen stimmten in diesen Kanon ein. Der NDR hat sich ja fast zu unserem Haussender entwickelt, resümierte er zufrieden. Als die Shootingstars der diesjährigen Bürgerschaftswahl, waren sie täglich in den Medien präsent. Sogar RTL und SAT 1 strahlten ausführliche Reportagen auf ihren Kanälen aus.

Die Stimme von Frau Brentano klang aus dem Lautsprecher der Telefonanlage und unterbrach ihn mitten in seiner Internetrecherche: »Dr. Brunner steht bei mir! Er hat keinen Termin, kann er trotzdem...?«

»Natürlich! Rein mit ihm! Die nächste Zeit möchten wir dann nicht gestört werden!« Wedekind ersparte sich einen zusätzlichen Kommentar, obwohl sein Vorzimmer es mit der Abschottung seiner Person zuweilen übertrieb.

»Ich habe schon länger darüber nachgedacht, mir von der Brentano ein Dauervisum ausstellen zu lassen!« Mit diesem sarkastischen Kommentar betrat Jens das Büro und stürmte auf ihn zu. Sein bester Freund tat nie