Das Herz der Puppe - Rafik Schami - E-Book

Das Herz der Puppe E-Book

Rafik Schami

4,5

Beschreibung

Nina und Widu - ein Mädchen und eine Puppe - verbindet eine tiefe Freundschaft. Widu stammt vom Flohmarkt und ist die tollste Puppe der Welt. Sie kann sprechen und weiß die schönsten Geschichten, und wenn man sie fest in den Arm nimmt, ist jede Angst wie weggeflogen. Widu ist wie für Nina gemacht, und sie kommt im richtigen Moment: als Nina gerade umgezogen ist und noch keine neuen Freunde gefunden hat. Doch Widu spürt die Sehnsucht, so zu sein wie das Menschenmädchen, dem sie gehört. Dazu fehlt ihr ein Herz, und das ist für Puppen eigentlich nicht vorgesehen. Aber wenn sie es sich sehr, sehr wünscht, gibt es trotzdem einen Weg ... Endlich wieder ein Kinderbuch des Erfolgsautors.

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Rafik Schami

Das Herz der Puppe

Mit Bildern von Kathrin Schärer

Carl Hanser Verlag

ISBN 978-3-446-23956-2

© Carl Hanser Verlag München 2012

Satz im Verlag

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

Für

Nicki, Nelly, René, Heinerle, Nunu, Emil, Mimi,

Freddy und Verena

als Dank für unvergessliche Stunden und

Geschichten

»Ich glaube an die

unsterbliche Seele der Marionetten

und Puppen … Es ist etwas Göttliches in ihnen,

wie klein sie auch immer sein mögen.

Sie leben nicht wie unsereiner, und doch leben sie.

Sie leben wie die unsterblichen Götter.«

Anatole France

Das klare Glück an einem trüben Tag

Es war eintrüber Samstag im Frühjahr, als diese unglaubliche Geschichte so harmlos anfing. Der Morgen hätte auch zu einem verirrten Novembertag gehören können. Der graue Himmel konnte die schweren Wolken kaum noch tragen. Sie hingen so tief, dass sie schon fast die Häuser berührten. Alles war grau: Erde und Himmel. Sogar Ninas Vater und Mutter sahen auf einmal irgendwie grau aus.

Nina stand am Fenster und schaute zum Stadtpark hinüber, dessen Bäume schon seit einer Woche Tag für Tag mit Regenwasser gewaschen wurden. Viele ihrer Blüten fielen zu Boden, nachdem sie lange vergeblich auf die Bienen gewartet hatten. Aber welche Biene war schon so verrückt und flog bei dem Wetter in der Gegend herum? Auch die Bienen blieben lieber in ihren warmen Behausungen und überließen die Blüten ihrem nassen Schicksal.

Vom dritten Stock, wo Nina wohnte, konnte sie auch viele Häuser sehen. Die Balkone, die an Schönwettertagen so bunt und lebendig waren, wirkten jetzt traurig und einsam. Wie verlassen standen die Häuser da, als wären sie nur ein Haufen nasser Steine. In einigen Häusern brannte sogar Licht, obwohl es schon lange Tag war.

Zu Julian durfte Nina nicht gehen. Er hatte Fieber und lag im Bett, und seine Mutter sagte, seine Krankheit sei ansteckend. Mit Julian war Nina seit dem Kindergarten befreundet. Aber dann waren sie in diese komische Gegend gezogen, und Nina musste in eine andere Schule gehen. Seither sah sie Julian kaum noch. Manchmal hatten seine Eltern keine Lust, die Kinder hin und her zu fahren, und manchmal ihre. Jetzt war er also auch noch krank. In Ninas Klasse hatten auch viele Kinder Schnupfen. Den kleinen Lukas hatte sogar eine schwere Lungenentzündung erwischt, und er lag im Krankenhaus.

Ohne Freunde ist graues Wetter noch grauer, dachte Nina, als sie in die Küche ging, wo ihre Eltern noch beim Frühstück saßen.

»Ganz in der Nähe ist ein Flohmarkt«, sagte der Vater, der aus purer Langeweile in einem der Werbeblättchen blätterte, die immer kostenlos im Briefkasten steckten und die er »Käseblätter« nannte.

»Ach, das wäre doch was!«, rief die Mutter. Sie war froh über die rettende Idee für den trüben Tag.

Nina ging gern auf Flohmärkte. Das Suchen war spannend. Wonach? Tja, das wusste Nina selbst nicht so genau. Wenn ihre Mutter sie fragte, sagte sie immer: »Mal sehen. Vielleicht finde ich es ja.« Auf dem Flohmarkt eilte sie von Tisch zu Tisch und von Kiste zu Kiste. Am liebsten suchte sie unter den Tischen, dort, wo Erwachsene meistens gar nicht hinsahen. Da lagen die spannenden Sachen für Kinder.

Nina war schon mindestens zehn Mal auf Flohmärkten gewesen. Sie hatte schon eine Holzlokomotive, ein kleines Schaukelpferd, eine Puppenküche und einen Trompeter aus Holz erstanden. Der Trompeter war bisher der schönste Fund und hatte einen besonderen Platz auf dem Fenstersims in Ninas Zimmer. Er spielte eine Melodie, wenn man ihn hochhob. In letzter Zeit war er allerdings alt geworden und irgendwie durcheinander. Er spielte manchmal, ohne dass man ihn berührte, und blieb dafür stumm, wenn man ihn bewegte. Die Eltern waren überzeugt, dass er kaputt war. Dabei war der Herr Trompeter, wie Nina ihn nannte, nur ein bisschen launisch. Die Eltern lachten, wenn Nina es ihnen erklärte.

Ninas Eltern kauften ihr alles, was sie sich wünschte, und auf dem Nachhauseweg fragte ihr Vater manchmal beiläufig: »Na, hast du gefunden, was du gesucht hast?«

Und Nina überlegte jedes Mal kurz und sagte dann: »Nein, eigentlich noch nicht.«

Als sie diesmal auf dem Flohmarkt ankamen, hörte gerade der Regen auf. Es war zwar immer noch kalt und grau, aber man konnte wenigstens herumstöbern, ohne nass zu werden. Der Flohmarkt fand auf einem großen Parkplatz statt und war riesig. Ninas Eltern machten sich auf die Suche nach einer alten Lampe, die zum Bauernschrank im Wohnzimmer passen sollte, und Nina blieb ein paar Schritte hinter ihnen. Nicht lange, da entdeckte sie ein hölzernes Krokodil, dem der Unterkiefer herunterhing. Es sah aus, als würde es lachen. Aber das Krokodil jammerte.

»Ein Himmelreich! Ein Fischteich für einen Zahnarzt! Ich brauche einen Zahnarzt, einen mutigen Zahnarzt«, hörte Nina es sagen.

»Warum denn einen mutigen?«, fragte sie leise.

»Weil alle Zahnärzte, die bisher vorbeikamen, Angst hatten, ich könnte ihnen den Arm abbeißen«, antwortete das Krokodil und lachte jetzt doch, dass sein Unterkiefer wackelte.

An einem anderen Stand sah Nina einen traurigen Pinocchio mit abgebrochener Nase.

»Ich habe die Wahrheit gesagt und wurde dafür ziemlich heftig belohnt«, sagte er.

Nina schlenderte weiter. Sie sah noch einen einarmigen Bären, einen Gockel mit Glatze, einen Elefanten ohne Rüssel und einen einohrigen grauen Esel und tröstete sie alle, so gut es ging.

Dann sah sie in einer großen weißen Schüssel unter einem Tisch die Puppe liegen. Die Schüssel war tief, und Nina sah erst nur ein Bein, das steif in die Luft ragte. In ihrem Herzen aber wusste sie, dass sie gleich genau das finden würde, wonach sie die ganze Zeit gesucht hatte. Sie kniete sich nieder und zog die Puppe an sich. Sie sah ihr tief in die grünen Augen und bewunderte ihr feuerrotes Haar. Dann strich sie ihr vorsichtig über den Kopf.

»Das ist sie«, flüsterte sie und spürte dabei ihr Herz klopfen. Sie schaute sich um. Ihre Eltern sprachen gerade mit dem Händler, unter dessen Tisch die Puppe gelegen hatte. Es ging um eine alte Lampe aus Messing und grünem Glas.

Die Haare der Puppe erinnerten Nina an ihre Freundin Luisa, und ihre grünen Augen waren die von Julian. Nur waren die der Puppe noch frecher.

»Wie viel kostet die Puppe?«, fragte Nina, doch der Händler beachtete sie nicht. Er schwärmte gerade in den höchsten Tönen von der herrlichen Lampe.

»Wie viel soll sie denn nun kosten?«, unterbrach der Vater ihn ungeduldig.

»Mein letztes Wort: hundertfünfzig. Im Antiquitätenladen zahlen Sie dafür dreihundert«, antwortete der Händler.

»Und die Puppe?«, rief Nina dazwischen. »Wie viel kostet die Puppe?«

Der Händler schob seine Wollmütze zurück, kratzte sich am Kopf, sah Nina mit der Puppe an, rieb sich den Stoppelbart und lächelte. »Drei Euro«, flüsterte er und wandte sich auch schon einer Dame zu, die ein altes Bild in Händen hielt, auf dem Kinder auf einem wackeligen Steg mit ihrem Schutzengel zu sehen waren. »Zwanzig«, sagte der Händler, ohne dass die Dame danach gefragt hätte.

»Zwei«, rief Nina, die von ihren Eltern gelernt hatte, dass man auf dem Flohmarkt handelt. Ihr Vater hörte sie, stupste ihre Mutter an und lächelte.

Der Händler wusste nun, zu wem das kleine Mädchen gehörte, und spielte den Eltern zuliebe das Spiel mit.

»Mein Gott«, stöhnte er verzweifelt, »dann eben zwei! Obwohl das eine ganz besondere Puppe ist.«

»Ich weiß«, flüsterte Nina ernst.

Dann einigte sich der Händler auch mit den Eltern und verkaufte die Lampe für hundertzwanzig Euro. Sorgfältig wickelte er sie in Zeitungspapier und übergab sie dem Vater, dankte und verabschiedete sich freundlich.

»Und du passt gut auf die Puppe auf«, sagte er zu Nina. »Es waren schon viele da, die sie haben wollten, aber sie hat auf dich gewartet. Sie hat sich immer so gut versteckt, dass ich sie manchmal erst zu Gesicht bekommen habe, wenn ich wieder zu Hause war. Seit zwei Jahren ist sie jetzt schon bei mir, und genauso lange versteckt sie sich auf jedem Flohmarkt unterm Tisch. Du passt gut auf sie auf, versprochen?«

»Versprochen«, sagte Nina, drückte die Puppe fest an die Brust und atmete ihren Geruch ein. Sie roch angenehm nach feuchtem Stroh.

»Er ist ein Gauner«, flüsterte die Puppe. »Es stimmt gar nicht, dass ich mich verstecke. Ich wollte schon immer fort, aber er hat mich jedes Mal so hingelegt, dass mich keiner finden konnte. Es war nämlich klar, dass ich ihm nicht viel Geld einbringe, und nur was Geld einbringt, wird schön oben auf dem Tisch präsentiert. Alles andere wird in Kartons und Kisten unter den Tisch geworfen. Sogar in eine hässliche Schüssel!«

Als sie ein paar Stände weiter waren, erklärte Nina ihren Eltern, wie das mit den teuren und billigen Sachen funktionierte.

»Hört, hört, unsere Nina wird allmählich zu einem Flohmarktprofi«, lachte die Mutter, und der Vater freute sich mit. Die beiden waren stolz auf ihr Mädchen, das alles so schnell lernte.

»Und wo warst du davor?«, fragte Nina die Puppe, als sie wieder für sich waren. Sie flüsterte leise, damit niemand sie hörte.

»In einem alten Haus auf dem Dachboden. Als die alte Hausbesitzerin starb, verkauften ihre Söhne ihren ganzen Krempel, wie sie es nannten, und mich gaben sie dem Händler gratis dazu.«

»Du Arme«, flüsterte Nina und zog die Puppe wieder fest an sich. »Haben sie dich dort nicht lieb gehabt?«

»Sie hatten mich lieb, als sie noch klein waren, aber dann haben sie mich und ihre Liebe vergessen.«

»Ich werde dich immer lieb haben.«

»Warten wir’s ab«, antwortete die Puppe ein wenig spitz.

»Ich dich auch«, sagte die Mutter und drückte zärtlich Ninas Hand.

Da wunderte sich Nina erst, aber dann verstand sie, dass die Mutter nur sie hören konnte. Die Puppe hörten die Erwachsenen offenbar nicht. Das war merkwürdig, aber Nina sagte nichts.

Die Eltern kauften noch eine alte Wanduhr, dann fuhren sie mit Nina nach Hause.

Als Erstes ging Nina mit der Puppe dort von Zimmer zu Zimmer und erklärte ihr, was sich wo befand. Die Puppe hörte aufmerksam zu. Schließlich kamen sie zu der Tür, auf der in bunten Buchstaben Ninas Name stand.

»Und hier wohne ich«, sagte Nina stolz.

»Das weiß ich doch. Es steht ja an der Tür«, erwiderte die Puppe.

So erfuhr Nina, dass die Puppe auch lesen konnte.

Kurz darauf gab es auf der Straße einen lauten Knall. Nina bekam einen ordentlichen Schreck, dann hörte sie ihre Mutter sagen, unten auf der Straße sei ein Auto gegen einen Laternenpfahl gefahren. Sie ermahnte Nina, in ihrem Zimmer zu bleiben, und lief mit ihrem Mann hinunter auf die Straße.

»Wenn du Angst hast, drück mich einfach ganz fest. Dann sauge ich dir die Angst aus dem Herzen«, sagte die Puppe, und ihre Stimme klang dabei warm und weich. Als Nina sie fest an sich drückte, lächelte sie geheimnisvoll.

»Und? Wie fühlst du dich jetzt?«, fragte sie und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, als hätte sie gerade Eis geschleckt.

»Ich habe keine Angst mehr. Aber wie hast du das gemacht?«, fragte Nina, die den schrecklichen Knall schon fast vergessen hatte.

Die Puppe lächelte wieder geheimnisvoll, dann hielt sie eine kleine Rede, und Nina hörte zu.

»Wir Puppen kommen aus ganz unterschiedlichen Familien«, erklärte sie. »Es gibt Puppen, die bringen dich allein durch ihren Anblick zum gähnen. Wir nennen sie ›Schlafbringer‹. Andere Puppen ermuntern zum Reden. Die nennen wir ›Zungenkitzler‹. Es gibt sogar Puppen, die bringen die Menschen dazu, zu waschen und zu bügeln. Wir nennen sie ›Glattmacher‹. Auch ›Aufräumer‹ sind eine sehr seltsame Puppenart. Wirf eine solche Puppe in einen Haufen Müll, und du kannst sicher sein, dass du in einer Woche den ganzen Krempel fein säuberlich in Säcke gepackt findest – und obenauf thront die Puppe höchstpersönlich.

Dann gibt es bei den Puppen die große Familie der ›Sauger‹. Einige saugen ihren Gastgebern die Zeit fort, andere die Aufmerksamkeit und wieder andere die Trauer oder Langeweile. Ich selbst gehöre zu den ›Angstsaugern‹, und leider haben wir auch Verwandte, die unserem Ruf schaden. Das sind die ›Verschlinger‹. Gott schütze dich vor denen. Sobald sie in eine Wohnung kommen, verschwinden nach und nach Dinge, die dort seit Jahr und Tag ihren festen Platz haben. Es fängt ganz harmlos an, doch wenn man nicht aufpasst, räumen einem diese Biester die ganze Wohnung leer.

Wie gesagt, ich sauge gerne Angst fort, davon ernähre ich mich, und glaub mir: Ich habe einen Bärenhunger. Weißt du, wie lange ich schon auf irgendwelchen Dachböden in Kistenherumliege und mich von der mickrigen Angst von Mäusen, Mücken und Fliegen ernähre? Eine halbe Ewigkeit!«

Nina lachte. »Dann sei nur froh, dass du bei mir und nicht bei Julian gelandet bist. Bei Julian würdest du verhungern, der hat überhaupt nie Angst.«

»Sei da mal nicht so sicher. Vielleicht hat der Junge nur Angst, seine Angst zuzugeben. Das kommt bei Jungs oft vor.«

»Keine Ahnung«, sagte Nina, die darüber noch nie gedacht hatte. »Bei mir wirst du bestimmt satt. Ich habe oft Angst, vor allem nachts, wenn ich von Monstern und Bären träume, die unter meinem Bett liegen. Manchmal wache ich davon erschrocken auf.«

»Oh, lecker! Immer her damit!«

»Gibt’s eigentlich auch Puppen, die gern Lachen essen?«, fragte Nina. »Ich lache nämlich auch sehr viel«, fügte sie schnell hinzu.

»Nein, die gibt es nicht. Von deinem Lachen ernährt sich nämlich dein Schutzengel. Immer wenn er schlapp ist, wartet er sehnsüchtig auf ein Lachen, damit er wieder Kraft tanken kann. Dein Lachen ist sozusagen sein Benzin«, antwortete die Puppe.

Nina lachte bei der Vorstellung, dass ein Engel zu ihr käme, als wäre sie eine Tankstelle. Und sie fühlte sich glücklich. Zum ersten Mal in ihrem Leben hörte sie, dass sie mit ihrem Lachen jemandem half.

Genau da hörte sie ihre Mutter rufen. Sie legte die Puppe aufs Bett, gab ihr den kleinen Kuschelaffen Plums an die Seite und rannte in die Küche, denn es war Mittagszeit.

Beim Essen erfuhr Nina, dass dem betrunkenen Autofahrer nichts passiert war, nur das Auto und die Straßenlaterne waren kaputt. Ninas Vater fand den Anblick der schiefen Straßenlaterne komisch, und die Mutter schaute streng zu ihm hin, weil ein Unfall schließlich keine lustige Zirkusnummer war.

Nina aß sonst nicht so schnell, aber heute musste ihre Mutter sie ermahnen, besser zu kauen. Trotzdem verschlang sie ihre Spaghetti in Windeseile und brauste davon. Die Mutter schüttelte den Kopf.

»Hast du einen dicken roten Filzstift?«, rief Nina wenig später aus ihrem Zimmer.

»Einen Filzstift? Ja, warum?«, fragte die Mutter und brachte ihn auch gleich.

»Ich will ein neues Schild an meiner Tür anbringen. ›Hier wohnen Nina und Widu‹ soll darauf stehen«, erklärte Nina.

»Wer ist Widu?«, wunderte sich die Mutter.

»So heißt meine Puppe«, antwortete Nina ungeduldig. »Wiiiiduuu!«

»Schon gut, schon gut«, sagte die Mutter und gab Nina den Stift.

Nina setzte sich an ihren Tisch, nahm ein Blatt Papier und malte zuerst einen schönen bunten Rahmen.

Den ganzen Nachmittag verbrachte Nina damit, Widu jedes ihrer Kuscheltiere vorzustellen und ein wenig damit zu spielen.

Widu war sehr wählerisch. Sie mochte das grinsende Nilpferd nicht und auch nicht den großen Papagei, der auf seiner Stange schaukelte. Er war aus Holz und gar nicht kuschelig, vielleicht konnte Widu deshalb nichts mit ihm anfangen. Am liebsten hatte sie den kleinen Plums und ein schielendes Schaf mit schneeweißem, lockigem Fell und einem traurigen Mund.

Danach wollte Nina Widu noch all ihre Spiele zeigen, aber die Puppe hatte genug.

»Pause. Meinen Augen reicht es für heute«, erklärte sie plötzlich und ließ sich auf den Rücken fallen.

»Na gut«, sagte Nina, legte sich zu ihr auf den Teppich, und beide sahen still zur Decke hinauf.

»Wie heißt das traurige Schaf?«, fragte Widu nach einer Weile in die Stille.

»Weiß ich nicht. Tante Sarah hat es mir gebracht«, sagte Nina.

»Kein Wunder, dass es so traurig ist. Ohne Namen ist man nix. Ich glaube, am besten würde der Name Melancholie zu ihm passen.«

»Der ist mir zu lang«, widersprach Nina.

»Mir auch«, blökte das Schaf.

»Schon gut, schon gut. Wenn du sprechen kannst, sag doch selber, wie du heißt«, sagte Nina.

»Ich habe noch keinen Namen. Aber wenn ich den Himmel so anschaue, finde ich von allen Namen, die ich je gehört habe, Wolke am schönsten«, erwiderte das Schaf.

»Wenn ich mir dein Fell so ansehe, passt Wolke sehr gut zu dir«, sagte Widu, und das Schaf lächelte selig.

Abends lagen Nina und Widu nebeneinander in Ninas Bett. Nachdem ihre Mutter ihr einen Gutenachtkuss gegeben, die Lampe an der Decke ausgeschaltet und das kleine Nachtlämpchen angemacht hatte, schloss Nina die Augen, um zu schlafen. Sie hielt Widu fest in den Armen. Doch plötzlich strampelte Widu die Decke weg.

»Es ist so heiß hier!«, stöhnte sie. »Oder vielleicht bin ich nur so aufgeregt, weil du seit einer halben Ewigkeit das erste Kind bist, das mich in den Arm nimmt. Das ist so schön! Und deshalb kann ich nicht schlafen. Logisch!«

»Soll ich dir eine Geschichte erzählen?«, fragte Nina.

»O ja, Geschichten sind mir lieber als der schönste Schlaf«, rief Widu und machte es sich auf Ninas Bauch bequem.

»Es war einmal eine Ziege«, begann Nina, »die liebte ein Pferd, und wenn sie miteinander spielten, freuten sie sich, aber wenn sie zusammen spazieren gingen, wurde die Ziege immer ganz traurig, denn das Pferd hatte so lange Beine und lief so schnell, und wenn sie Schritt halten wollte, musste die Ziege rennen, bis sie erschöpft war.

›Langsam, langsam, ich kann nicht so schnell‹, rief die Ziege verzweifelt, doch das Pferd antwortete: ›Ich kann nicht langsam laufen. Ich muss noch viel sehen, bevor es dunkel wird.‹

Da blieb die Ziege stehen und weinte jämmerlich, weil sie sich so einsam fühlte. Sie weinte so lange, bis das Pferd abends zurückkehrte und sie tröstete. Da war ihre Einsamkeit gleich wieder vergessen, und die beiden spielten vergnügt. Bis zum nächsten Spaziergang. Dann lief das Pferd wieder viel zu schnell, und die Ziege wurde wieder ganz traurig.

Eines Tages stand sie wieder traurig da und weinte, als sie plötzlich ein Glöckchen hörte. Das Glöckchen machte: ›Bim-ba-la-bim, bim-ba-la-bam, bim-ba-la-bim-bam-bam‹, und als sich die Ziege umdrehte, sah sie einen kleinen grauen Esel kommen.

›Warum weinst du?‹, fragte er.

›Mein Freund, das Pferd, läuft immer viel zu schnell und lässt mich allein zurück‹, antwortete die kleine Ziege mit von Tränen erstickter Stimme.

›Du musst nicht traurig sein‹, sagte der Esel, ›ich