Das Herz des Berges - Elvira Zeißler - E-Book

Das Herz des Berges E-Book

Elvira Zeißler

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Beschreibung

Das große Finale der Romantasy-Dilogie rund um mystische Höhlen, alte Indianerlegenden und die geheimnisvolle Macht der Steine. Nells Welt ist ein einziger Scherbenhaufen. Nicht nur, dass Joseph sich immer weiter von ihr entfernt, auch ihre jüngere Schwester Chloe ringt mit dem Tod. Nur das geheimnisvolle Herz des Berges könnte sie noch heilen – doch es scheint für immer erloschen. Während Nell und ihre Freunde um Chloes Leben kämpfen, wird die ganze Welt immer mehr ins Chaos gestürzt, Naturkatastrophen wüten auf allen Landstrichen der Erde. Ob dies ebenfalls mit dem Verlust des mächtigen Herzens zu tun hat? Nell versucht alles, um es wieder zum Strahlen zu bringen – doch sie ahnt nicht, welcher Preis dafür zu bezahlen ist …

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Epilog

Übersicht der Steine

Nachwort

Über Elvira Zeißler

Impressum

Kapitel 1

»Ich habe Ihnen schon alles gesagt!« Verzweifelt vergrub Nell die Finger in den Haaren. Sie war so müde. Sie konnte nicht einmal mehr geradeaus gucken, vom Denken ganz zu schweigen.

Aber leider interessierte das den Polizeibeamten, der ihr gegenübersaß, nicht im Geringsten. »Wir haben einen Notruf empfangen«, beharrte er. »Von einer Chloe Dearing.«

»Es war ein Missverständnis«, seufzte Nell kraftlos. Hoffentlich würde der Officer das Zittern in ihrer Stimme der Erschöpfung zuschreiben und nicht dem Grauen, das sie noch immer gefangen hielt. Chloe lag leblos im Nebenzimmer und niemand wusste, was genau mit ihr los war.

Natürlich konnte Nell das der Polizei nicht erzählen. Sie glaubte nicht daran, dass sie oder irgendwelche Ärzte ihrer Schwester helfen könnten. Eher würde Chloe als Versuchsobjekt auf einem Labortisch landen. Und das wollte Nell um jeden Preis verhindern.

Deshalb hatte sie der Polizei nichts darüber erzählt und ihre Freunde, die ebenfalls im Raum versammelt waren, stumm beschworen, ihr nicht in den Rücken zu fallen. Sie spürte die bohrenden Blicke von Tyler, Olivia und Jeremy, die sich dankenswerterweise schweigend im Hintergrund hielten. Lediglich Joseph war durch eine andere Tür aus dem Raum verschwunden, bevor die Polizeibeamten die gemütliche Campküche betreten hatten.

Joseph. Allein sein Name verursachte ein unglaubliches Gefühlswirrwarr in Nells Kopf. Ein Wirrwarr, um das sie sich jetzt absolut nicht kümmern wollte, einfach nicht kümmern konnte.

Gequält schloss Nell die Augen. Es war eine verdammt lange Nacht. Sie wollte nur noch schlafen. Sich die Decke über den Kopf ziehen und am nächsten Morgen feststellen, dass alles nur ein verrückter Albtraum gewesen war. Dass Chloe wohlauf war, Joseph ein ganz normaler Mann, Walter noch am Leben und Mr. Blair kein … kein Was-auch-immer-er-jetzt-sein-sollte.

»Der Notruf klang wirklich dringend«, holte die strenge Stimme des Polizisten Nell in die Realität zurück.

»Wir haben uns große Sorgen gemacht«, stimmte sie müde zu. »Ein Mädchen war verschwunden, es war mitten in der Nacht und wir haben fieberhaft nach ihr gesucht. Wir wussten nicht, dass Chloe die Polizei alarmiert hat.«

»Wo ist diese Chloe denn im Moment?«

»Sie schläft.« Nells Stimme drohte zu brechen. Sie hoffte so sehr, dass Chloe irgendwann aufwachte.

»Sie sagte«, der Polizist schaute auf seinen Notizblock, »ihre Schwester sei in Gefahr, Mr. Blair habe sie entführt, er sei bewaffnet und gefährlich.«

»Vermutlich war sie einfach nur hysterisch. Isabella, das Mädchen, das verschwunden war, stand Chloe sehr nahe«, meldete Tyler sich plötzlich zu Wort. »Und da Mr. Blair ebenfalls nicht im Camp war, ist wohl ihre Fantasie mit ihr durchgegangen.«

Dankbar schaute Nell ihn an. Es bedeutete ihr viel, dass ihre Freunde hinter ihr standen. Sie hatten nicht einmal Gelegenheit gehabt, in Ruhe über alles zu sprechen. Dann tauchte schon die Polizei auf, die Chloe alarmiert hatte, während Nell, Joseph und Mr. Blair sich in dem verdammten Berg aufgehalten hatten. Wäre Chloe ihnen danach bloß nicht hinein gefolgt!

Aber ihre Schwester hatte sie nicht im Stich lassen wollen. Und genau das würde Nell mit ihr auch nicht tun. Später würde sie – wenn es sein musste – der Polizei die ganze Wahrheit erzählen. Und sie würde die Konsequenzen für ihre Falschaussage tragen, sie würde alles tun, wenn sie jetzt nur etwas Zeit gewann, um ihrer Schwester helfen zu können.

»Wo ist Mr. Blair?« Der forschende Blick des Polizisten heftete sich auf Tyler.

Tylers Miene blieb ungerührt. »Das hat er uns leider nicht mitgeteilt.«

»Ist es nicht ungewöhnlich, dass der Verantwortliche das Camp ohne eine Begründung verlässt?«

»Durchaus nicht. Er hat öfter etwas mit Behörden oder Lieferanten zu regeln.«

»Und das Mädchen, das verschwunden war, ist wieder aufgetaucht?«

»Ja. Sie war allein in den Höhlen unterwegs. Zum Glück haben wir sie gefunden, bevor sie sich ernsthaft verirren konnte.«

»Haben Sie eine Ahnung, was sie da gewollt hat?«

Tyler zuckte mit den Schultern. »Vielleicht war es eine Art Mutprobe. Vielleicht hat sie sich mit jemandem gestritten. Sie wissen bestimmt selbst, wie Jugendliche in diesem Alter sein können.«

»Können wir mit den Mädchen reden?«

»Tut mir leid. Sie sind beide sehr durch den Wind und müde. Sie brauchen Ruhe. Außerdem sind beide noch minderjährig und ohne die Erlaubnis ihrer Eltern dürfen wir sie nicht mit Ihnen sprechen lassen.«

Der Polizeibeamte seufzte. »Und wo finden wir die Eltern?«

Tyler lächelte unverbindlich. »Ich kann Ihnen morgen früh gern die Adressen zukommen lassen. Allerdings nutzen die meisten Eltern diese Zeit selbst für einen Urlaub.«

»Danke.« Die Frau, die sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, tippte ihrem Partner auf die Schulter. »Lass uns gehen, Dave. Heute kriegen wir hier ohnehin nichts mehr raus. Und morgen sehen wir uns die Höhlen mal in Ruhe an.«

Nell nickte. Sie würden dort ohnehin nichts mehr finden. »Danke«, sagte sie leise, nachdem Tyler, der die Polizisten hinausbegleitet hatte, wieder zurück war.

»Wieso hast du denen nicht die Wahrheit erzählt?«, fragte Olivia vorwurfsvoll.

»Welche Wahrheit?«, fragte Nell bitter zurück. »Dass unser Campleiter einen magischen Stein berührt und sich in Luft aufgelöst hat? Oder dass meine Schwester seitdem in einer Art steinernem Koma liegt?«

»Scheiße!«, murmelte Olivia aus tiefster Seele.

Das traf es nicht einmal ansatzweise. Nell drückte sich mühsam hoch und schwankte. In ihrem Kopf drehte sich alles. Sofort spürte sie Jeremys Arm, der sie stützte.

»Du solltest jetzt schlafen gehen«, sagte er sanft.

Nell nickte. »Gleich«, raunte sie. »Vorher muss ich noch mal nach Chloe sehen.«

»Wir warten hier«, sagte Olivia und schaute sie mitfühlend an.

Jeremy ließ Nell nicht los, als sie sich in Bewegung setzte, als fürchtete er, dass sie ansonsten zusammenbrechen würde. Vermutlich hatte er damit nicht einmal unrecht. Nell fühlte sich, als wären ihr Körper und Geist in eine dicke Schicht Watte gepackt, als wäre alles, was um sie herum geschah, nicht real.

Leider war der Anblick ihrer blassen, reglosen Schwester auf der Krankenliege alles andere als eingebildet.

Joseph schreckte hoch, als Nell und Jeremy den Raum betraten. Er sprang auf und räumte sofort den Platz an Chloes Bett. Seine Lippen waren fest zusammengedrückt, die Augen zu Boden gerichtet. Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab, als er krampfhaft schluckte. Ein wenig erinnerte er Nell an ihre erste Begegnung, doch nun sah sie viel klarer. Das, was sie anfangs für Widerwillen und Arroganz gehalten hatte, erkannte sie als tiefe Unsicherheit und den verzweifelten Wunsch, keine Gefühle zuzulassen. Er quälte sich und fühlte sich schuldig.

Nells Augen glitten über ihn hinweg und hefteten sich auf das Gesicht ihrer Schwester. Sie konnte Joseph nicht helfen, wusste nicht einmal, ob sie bereit dazu war. Obwohl er nichts von dem gewollt hatte, was passiert war, war er der Einzige, der es irgendwie hätte verhindern können. Hätte verhindern müssen.

Behutsam legte Nell ihre Hand auf Chloes kühle Stirn. Ihre Schwester rührte sich nicht. Besorgt suchte Nell nach irgendeinem Lebenszeichen, einem Hinweis darauf, dass Chloe tatsächlich noch am Leben war.

»Sie ist stabil«, sagte Joseph plötzlich. Seine Stimme klang krächzend und rau.

»Und wie lange noch?«, fragte Nell stockend.

»Ich weiß es nicht.« Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Mit etwas Glück ein paar Tage. Länger hält ihr Körper das nicht aus.«

Nell schwankte, Verzweiflung überrollte sie. Wenn dieser merkwürdige Zauber ihre Schwester nicht unwiderruflich erstarren ließ, würde ihr Körper einfach unter der Belastung zusammenbrechen. Vielleicht sollte sie sie doch in ein Krankenhaus bringen, vielleicht würde man sie dort länger am Leben erhalten können. Aber dann hätte Nell bestimmt keinen Zugang mehr zu ihr.

»Ich denke, ich weiß zumindest, was mit Chloe passiert ist«, fuhr Joseph leise fort.

Gefasst schaute Nell ihn an.

»Die Macht des Steins hat sie überfordert, hat ihren Geist und Körper geflutet, ohne dass Chloe bereit oder geeignet dafür gewesen wäre.«

Nell schluchzte. Ihr Blick bohrte sich wütend und fassungslos in ihn. »Hättest du das nicht wissen müssen? Immerhin bist du der verdammte Hüter! Wie hast du das zulassen können?« Ihre Stimme hallte hysterisch laut durch den engen Raum, doch das kümmerte sie nicht. Joseph hatte Chloe tatenlos ins Verderben laufen lassen. Nell war es, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggerissen.

»Ich habe es nicht gewusst«, drang seine beschwörende Stimme wie durch einen Nebel in ihr Bewusstsein. »Niemand außer mir und dem ersten Hüter hat diesen Stein jemals berührt. Denkst du, ich hätte es zugelassen, dass sie ihn nimmt, wenn ich das geahnt hätte?«

Nell wusste nicht, was sie denken sollte. Das Einzige, was sie spürte, waren Trauer und Enttäuschung. Sie fühlte sich von ihm verraten. Sie hatte geglaubt, dass er alles tun würde, um Chloe und sie zu beschützen. Aber das hatte er nicht getan.

Zärtlich strichen ihre Finger über Chloes Wange.

»Nell …«, wisperte Joseph gequält, als sie ihn ignorierte.

»Ich bin müde«, raunte sie und lehnte ihren Kopf haltsuchend an Jeremys Schulter.

»Soll ich dich nach Hause bringen?«, fragte dieser.

»Nicht nötig. Ich gehe mit Tyler und Olivia.«

»Ich bleibe hier«, presste Joseph hervor.

Nell hörte die Anspannung in Josephs Stimme, den Schmerz, angesichts ihrer Vertrautheit mit Jeremy. Trotzdem fehlte ihr die Kraft, sich von Jeremy zu lösen. Wenn sie das tat, würde sie einfach auf dem Boden zusammenbrechen.

Als hätte er das gespürt, schlang Jeremy seinen Arm fester um Nells Körpermitte. Nell schloss die Augen und dachte für einen Moment nur an sich. Nicht an Joseph oder Jeremy oder die Tatsache, wie die beiden ihr Verhalten interpretieren könnten. Es war ihr schlichtweg egal.

»Du solltest dich auch hinlegen, Kumpel«, sagte Jeremy. »Du bist schließlich nicht aus Stein.«

Stille folgte seinen Worten. Nell zwang ihre Augenlider auf.

In Josephs Gesicht arbeitete es, er wirkte, als wollte er widersprechen, dann sackten seine Schultern nach vorn. Plötzlich tat er Nell leid. Sie war nicht die Einzige, die heute Abend etwas verloren hatte. Und sie hatte noch nicht einmal die Gelegenheit gehabt, mit Joseph über das zu sprechen, was mit ihm geschehen war. War er überhaupt noch der Hüter?

»Ich weiß nicht, wohin ich sonst gehen soll«, gab Joseph stockend zu.

Nell konnte das verstehen. Weder in Walters Werkstatt noch in den Höhlen würde er heute zur Ruhe kommen können.

»Du kannst bei mir schlafen«, bot Jeremy unerwartet an.

»Können wir Isabella auch mitnehmen?«, fragte Joseph besorgt. »Sie müsste jeden Moment aufwachen und wird bestimmt ziemlich verstört sein.«

»Sicher. Mom wird für sie ein Plätzchen finden.«

»Kannst du Chloe vorher noch zu mir fahren?«, bat Nell.

»Natürlich.« Jeremy versuchte sich an einem aufmunternden Lächeln. »Und dich gleich mit. Du siehst nämlich kaum fitter aus als deine Schwester.« Er zog einen Stuhl für Nell heran. »Am besten setzt du dich, solange ich den Jeep hole.«

Kraftlos ließ Nell sich auf den Sitz sinken und schloss die Lider. Sie hörte das leise Klicken, mit dem die Tür hinter Jeremy ins Schloss fiel. Dann waren Joseph und sie allein.

Sie spürte, wie sich seine Hand zögernd und tröstend zugleich auf die ihre legte.

»Es tut mir so leid«, sagte Joseph. Er hockte vor ihr und schaute sie beschwörend an.

Nell wusste, dass er es ehrlich meinte. Aber das reichte nicht. Das Leben ihrer Schwester stand auf dem Spiel. Und es war seine Schuld.

»Bitte sag etwas«, flehte er.

»Wozu?«, entgegnete sie kraftlos. Sie wollte ihn nicht beschimpfen, wollte zu den Schuldgefühlen, die er sich bereits selbst auf die Seele lud, nicht noch mehr hinzufügen. Gleichzeitig würde sie ihm niemals vergeben, falls sie Chloe nicht retten konnten.

Joseph musste ihre Gedanken auf ihrem Gesicht abgelesen haben, denn seine Miene verschloss sich plötzlich, als hätte er eine Maske übergestülpt. Trotzdem ließ er Nells Hand nicht los. »Ich habe dir versprochen, das wieder in Ordnung zu bringen«, sagte er fest, »und dazu stehe ich.«

»Was ist mit deinen Augen passiert?«, fragte Nell herausfordernd und hörte selbst den Vorwurf in ihrer Stimme. Wie wollte er irgendetwas bewirken, wenn er keine Kräfte mehr hatte?

Joseph zuckte zurück, als hätte sie ihn geschlagen. »Ich hatte bisher noch keine Gelegenheit, in den Spiegel zu sehen«, sagte er tonlos, »wieso klärst du mich also nicht auf?«

»Das grüne Leuchten ist weg.«

Joseph schloss die Lider und atmete tief durch. Dann nickte er langsam, als hätte sich damit eine Vermutung bestätigt.

»Was bedeutet das?«, fragte Nell nach, als er nichts dazu sagte.

Joseph zuckte mit einer Schulter. »Meine Kräfte als Hüter wurden von dem Herzen des Berges gespeist. Jetzt ist es erloschen.« Er sagte es betont lässig, doch Nell kaufte ihm seine Nonchalance nicht ab. Dafür kannte sie ihn inzwischen viel zu gut.

»Das bedeutet, du hast keine Kräfte mehr?«, fasste sie ernüchtert zusammen. Sie wollte nicht kaltherzig oder unfair sein, aber es brachte nichts, um das Offensichtliche herum zu reden.

»Nein«, widersprach er ihr bedächtig. »Ich habe noch immer meine Affinität zu den Steinen. Ich kann ihre Eigenschaften nutzen, genau wie du.«

»Und glaubst du, das wird reichen?«

Joseph sah sie nachdenklich an. »Es muss«, sagte er schließlich leise.

Kapitel 2

Ihrer Erschöpfung zum Trotz hatte Nell nur wenige Stunden geschlafen, immer wieder war sie aus quälenden Albträumen hochgeschreckt, in denen sie abwechselnd Mr. Blairs unheimliche schwarze Augen oder das leblose, bleiche Gesicht ihrer Schwester verfolgten.

Schließlich gab Nell den Versuch auf. Solange die Ereignisse des Vortags wie ein Damoklesschwert über ihnen hingen, würde sie ohnehin keine Ruhe finden. Sie schwang ihre Beine aus dem Bett und schaute nach Chloe, die auf einer Matratze auf dem Boden lag. Es zerriss Nell das Herz, ihre Schwester da so liegen zu sehen. Sie mussten ihr unbedingt ein richtiges Bett organisieren, auch wenn Chloe davon vermutlich nichts mitbekam.

»Hey«, raunte Nell zärtlich und legte ihre Hand auf Chloes Stirn. »Du musst durchhalten, hörst du?« Ihre Stimme zitterte. »Ich bringe das wieder in Ordnung, aber du musst mir versprechen, dass du durchhältst.«

Chloe rührt sich nicht. Nichts deutete darauf hin, dass sie Nell überhaupt gehört hatte.

»Oh, Gott!« Nell schluchzte auf, presste sich die Hand vor den Mund und zählte innerlich bis zehn. Sie musste ihre Mutter informieren. Allein bei dem Gedanken daran erfasste sie ein unendliches Grauen. Sie hatte versprochen, auf Chloe aufzupassen, nur deshalb hatte Mama ihre Schwester mitfahren lassen. Wie sollte Nell ihr nun erzählen, dass Chloe womöglich niemals wieder aufwachen würde?

Ein leises Klopfen riss Nell aus ihrer Verzweiflung. Olivia stand in der halb geöffneten Tür.

»Wie geht es dir?«, fragte die dunkelhäutige Frau behutsam.

Nell zuckte mit den Schultern. Wie sollte es ihr schon gehen? Doch in Selbstmitleid zu versinken, würde niemandem helfen, erst recht nicht Chloe. Sie brauchten dringend einen Plan.

»Du siehst echt fertig aus«, sagte Olivia. »Vielleicht solltest du noch ein wenig schlafen?«

»Nein.« Nell schüttelte den Kopf. »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Wir wissen nicht, wie lange …« Ihr Blick wanderte zu Chloe, sie schluckte und brach ab. Sie wollte es nicht aussprechen, denn das würde es irgendwie realer machen.

Olivia trat näher und berührte tröstend Nells Schulter. »Es tut mir leid. Ich warte draußen, während du dich anziehst.«

Schnell schlüpfte Nell in frische Klamotten und fuhr sich mit der Bürste durch die langen braunen Haare. Dann verschwand sie im Bad, um sich zumindest die Zähne zu putzen.

»Bereit?«, fragte Olivia, die geduldig gewartet hatte.

»Was wird aus Chloe?« Es war Nell klar, dass sie ihre Schwester weder rund um die Uhr bewachen noch mit sich herumschleppen konnte. Trotzdem fühlte es sich falsch an, sie einfach liegen zu lassen.

»Du musst erst mal was essen, dann sehen wir weiter«, sprach Olivia auf sie ein. »Chloe ist hier sicher und wir können ohnehin nichts für sie tun.«

Nell nickte widerstrebend, dann hauchte sie Chloe einen Kuss auf die kalte Wange und verriegelte sorgfältig die Bungalowtür hinter sich.

»Wo ist eigentlich Tyler?«, fragte sie, als ihr auffiel, dass der junge Mann, der meist wie ein Schatten an Olivia klebte, trotz der frühen Stunde nicht da war.

»Er wollte ein paar Telefonate führen. Wir haben gestern noch lange über alles geredet.« Olivia verstummte und sah Nell unsicher an. »Versteh mich bitte nicht falsch … Das, was du uns von dem magischen Stein und Mr. Blair, der sich in Luft auflöste, erzählt hast, klingt einfach verrückt.«

Nell fuhr herum. »Glaubst du, ich hätte mir das nur ausgedacht?«, brauste sie auf. Auch ihr fiel es nicht leicht, die Realität zu akzeptieren. Ihr Weltbild war innerhalb weniger Tage vollkommen auf den Kopf gestellt worden, aber das hieß nicht, dass sie durchgeknallt war!

»Nein, natürlich nicht«, besänftigte Olivia sie hastig. »Ich meine, ohne die Sache mit Isabella und Chloe hätte ich es vermutlich nicht geglaubt. Doch die Beweise sprechen für sich. So unfassbar das alles sein mag.«

»Und was für Telefonate führt Tyler dann?«, fragte Nell, ein wenig beruhigt, dass er offenbar nicht die Psychiatrie alarmierte.

»Er wollte sich mit dem Besitzer des Camps in Verbindung setzen, um die weitere Vorgehensweise abzuklären. Immerhin haben wir keinen Campleiter mehr und können nicht für die Sicherheit der Kids garantieren, oder?« Sie schaute Nell fragend an.

»Schon möglich«, murmelte diese. »Ich kann es dir nicht genau sagen, ich weiß nicht mehr als du.«

Olivia nickte bedächtig. »Wenn du meinst … Tyler und ich sind uns einig, dass Joseph, Jeremy und du da irgendwie mehr Durchblick habt. Und ehrlich gesagt wollen wir mit diesem ganzen Magiekram auch nichts zu tun haben. Es ist einfach nicht unsere Welt, verstehst du?«

»Sicher«, brummte Nell. Es war schließlich auch nicht die ihre. Aber sie hatte keine Wahl. Sie konnte sich nicht einfach aus allem heraushalten.

»Deshalb haben wir beschlossen, euch den Rücken freizuhalten, damit ihr das tun könnt, was getan werden muss.«

»Wie meinst du das?« Überrascht schaute Nell ihre Freundin an. Es klang nicht, als wollten Tyler und Olivia sie im Stich lassen.

Olivia lächelte leicht. »Jeder soll das tun, was er am besten kann. Tyler und ich kümmern uns um das Camp und die Kinder. Und ihr rettet Chloe und macht, was auch immer ihr so machen müsst.« Sie fühlte sich sichtbar unwohl bei diesem Thema.

»Danke«, sagte Nell und spürte zum ersten Mal seit Stunden, wie ein Teil der Last von ihr abfiel.

»Dafür sind Freunde da.« Olivia stupste sie leicht mit der Schulter an.

Grüßend eilten zwei Mädchen an ihnen vorbei. Sie kicherten und scherzten fröhlich. Nell schaute sich erstaunt um. Überall um sie herum ging das Leben unbeschwert weiter. Offensichtlich hatte bis auf ihre kleine Gruppe noch niemand im Camp von den Geschehnissen des Vortags gehört.

Vor dem Hauptgebäude standen ein paar Jugendliche quatschend in der Morgensonne.

Jayden löste sich von seinen Freunden, sobald er Nell erblickte, und eilte auf sie zu. »Hey! Weißt du, wo Chloe steckt? Als ich sie vorhin abholen wollte, war sie nicht da. Und sie geht nicht an ihr Handy.«

Nell blieb wie angewurzelt stehen. »Ähm …« Sie hatte sich noch keine Gedanken gemacht, was sie Chloes Freunden erzählen sollte. Sie blinzelte und suchte verzweifelt nach Worten.

»Ist alles in Ordnung?« Nun wirkte Jayden ernsthaft alarmiert.

»Sicher!«, sprang Olivia hastig in die Bresche. »Chloe geht bloß Fee ein wenig zur Hand, sie hat heute Küchendienst.«

»Echt? Davon hat sie mir nichts gesagt.«

»Ihr hattet bestimmt Besseres zu tun, als über Küchendienst zu reden.« Olivia grinste und Nell hoffte, dass Jayden nicht auffiel, wie aufgesetzt ihre Fröhlichkeit war.

»Das wird ihn nicht lange ruhigstellen«, bemerkte Nell, sobald sie außer Hörweite waren.

»Ich weiß. Du musst ihm die Wahrheit sagen, oder zumindest einen Teil davon. Er hat Chloe wirklich gern.«

Nell seufzte. Noch ein Gespräch, auf das sie sich überhaupt nicht freute. Erst recht nicht, da sie Jaydens Reaktion nicht abschätzen konnte. Wie viel durfte sie ihm verraten, ohne dass er sie für verrückt erklärte oder gar die Polizei alarmierte? Nells Kopf begann, unangenehm zu dröhnen. Sie brauchte dringend einen Kaffee.

Der Speisesaal war noch weitgehend leer. Die meisten genossen wohl das milde Wetter und die Tatsache, dass am Wochenende wenig Programm stattfand, um sich in Ruhe auszuschlafen. Tyler, Jeremy und Joseph waren ebenfalls nicht zu sehen.

»Nell!« Fee kam mit zwei vollen Kaffeekannen in den Saal gerauscht. »Wie geht es Chloe? Und dir? Jeremy hat mir alles erzählt!«

»Bestens«, erwiderte Nell gepresst mit einem bedeutungsvollen Blick auf drei Mädchen, die in ihre Smartphones vertieft bereits an einem der Tische saßen.

Fee verzog ertappt das Gesicht. »Kann ich irgendwas für dich tun?«, fügte sie deutlich leiser hinzu.

»Wo ist Jeremy?«

»Er wollte zu Hause was mit Joseph besprechen. Es tut mir so leid. Ich hätte nie gedacht, dass so etwas passieren könnte«, fügte Fee niedergeschlagen hinzu.

So viel zu Nells Hoffnung, die ältere Frau könnte eine weitere Legende aus dem Ärmel zaubern, die ihnen erklärte, was überhaupt geschehen war. »Ich sehe besser mal nach ihnen.« Wenn die beiden irgendwelche Pläne schmiedeten, wollte Nell auf jeden Fall mit dabei sein.

»Gut. Und ich höre nach, was Tyler erreicht hat«, sagte Olivia. »Ich schätze, er ist im Büro.«

»Bis nachher.« Nell winkte den beiden Frauen zu und eilte davon.

Die Tür zu Jeremys Bungalow war nicht abgeschlossen, also klopfte Nell nur kurz an und trat ein. Sofort fluteten Erinnerungen an ihren letzten Besuch ihren Geist. An Fees leckere Kekse und an die Legenden, die Nell bis ins Mark erschüttert hatten. Wie harmlos sie ihr nun im Vergleich zu dem wahren Grauen vorkamen, das in dem Berg auf sie gewartet hat.

»Konzentriere dich auf meine Stimme«, drang Josephs leises Flüstern plötzlich an Nells Ohr. Neugierig schlich sie durch den Flur und linste ins Wohnzimmer.

Joseph kniete auf dem Boden, in seiner ausgestreckten Hand hielt er einen schwach leuchtenden Kristall. Ihm gegenüber saß Isabella, mit geschlossenen Augen, bleich und ungekämmt. Ihre Hand ruhte ebenfalls auf dem Stein. Als hätte sie Nells Anwesenheit gespürt, zuckte Isabella erschrocken zusammen und riss ihre Lider auf. Blitzschnell drehte Joseph sich um. Seine Haare waren zerzaust, der Blick seiner Augen sanft und entspannt. Zumindest bis zu dem Moment, als er Nell erkannte. Er räusperte sich und rappelte sich hastig auf.

»Hallo Nell.« Seine Stimme klang rau. Er wirkte, als wollte er etwas hinzufügen, dann presste er lediglich die Lippen zusammen und sein Gesicht verhärtete sich.

»Was macht ihr da?«, fragte Nell und zwang ihre Aufmerksamkeit von ihm weg. Sie war noch nicht bereit dafür, sich mit Joseph und ihren Gefühlen für ihn auseinanderzusetzen.

Isabella stand nun ebenfalls auf und strich fahrig ihr T-Shirt glatt. »Joseph wollte mir helfen.« Ihre Stimme zitterte. »Er hat mir erklärt, dass das, was ich gesehen habe, wirklich passiert ist. Mr. Blair … er …« Tränen schossen Isabella in die Augen und sie begann, sich unkontrolliert zu schütteln. Sofort war Joseph bei ihr, legte die Arme tröstend um ihre Schultern, zog ihren Kopf an seine Brust.

»Schhhht, es ist alles gut, Isabella. Du bist in Sicherheit, dir kann niemand mehr etwas tun.«

»Da war Blut, so viel Blut …«

»Ich weiß.« Schmerz färbte seine Stimme. Er hatte es auch gesehen. »Trotzdem ist es vorbei.«

Haltsuchend klammerte sich das Mädchen an ihn, vergrub ihr Gesicht in seinem Shirt und schluchzte, während er ihr leise, tröstende Worte zusprach.

Nell verdrängte den Anflug von Eifersucht, den dieses Bild in ihr auslöste, und konzentrierte sich nur darauf, was es ihr über Joseph verriet, über seine fürsorgliche, warme Seite.

»Guten Morgen, Nell«, erscholl es plötzlich hinter ihr. Sie drehte sich um und erblickte Jeremy, der offenbar frisch geduscht mit feuchten Haaren und nacktem Oberkörper aus dem Bad auftauchte.

Nells Augen blieben einen Moment zu lang an seinen wohldefinierten Muskeln hängen, denn als sie den Blick hob, bemerkte sie Jeremys geschmeicheltes Lächeln.

»Wie geht es Chloe?« Seine Fröhlichkeit verflog.

»Unverändert.«

Er nickte mitfühlend. »Ich habe mit Ben Hawk gesprochen. Wir können direkt nach dem Frühstück zu ihm.«

»Danke. Ist euch … Ist euch sonst etwas eingefallen, was uns helfen kann?«

»Nein.« Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Joseph hatte mir haargenau erzählt, was passiert ist. Wir haben beide keine Erklärung dafür.«

»Wenn du alles sagst, meinst du …?«

»Ja, wirklich alles. Ich weiß, dass er der Hüter ist.«

Beziehungsweise war, schoss es Nell düster durch den Kopf, aber sie wollte nicht zu spitzfindig sein.

»Schon verrückt, oder?«, sagte Jeremy ungläubig. »Ich meine, die Eidechse – das war er!«

»Ja, er hat mich von Anfang an beschützt.« Und jetzt war er für Isabella da. »Wie geht es ihr?« Nell deutete ins Wohnzimmer.

»Den Umständen entsprechend, schätze ich.« Jeremy atmete tief durch. »Sie ist vor zwei Stunden aufgewacht und war vollkommen hysterisch. Ich hätte nicht gedacht, dass Joseph sie beruhigen könnte. Aber er hat es tatsächlich geschafft.«

Nell drehte sich zum Wohnzimmer um. Joseph hatte Isabella inzwischen losgelassen. Sie wirkte bleich und gefasst.

»Denk daran, wann immer dich die Angst oder die Traurigkeit überkommt, nimm den Stein und drücke ihn ganz fest. Das wird dir helfen.« Behutsam strich Joseph Isabella eine Strähne aus dem Gesicht.

Diese Geste hatte etwas so Vertrautes an sich, dass Nell den Blick abwandte.

»Ich sehe später noch mal nach dir«, fuhr er fort. »Jetzt solltest du noch etwas schlafen.«

»Danke.« Isabella versuchte sich an einem Lächeln. »Und dir auch, Nell. Dafür, dass du und Jeremy mich gerettet habt.«

»Das war doch selbstverständlich. Und ohne Joseph hätten wir es nicht geschafft.«

Isabella gähnte. »Wir sehen uns später.«

Joseph wartete, bis sie den Raum verlassen hatte, dann heftete sich sein Blick mit einer Spur der alten Intensität auf Nell. Er schien sie damit regelrecht abzutasten. Dann steckte er seine Hand in einen Beutel, der an seinem Gürtel hing. Das leise Klackern von Steinen drang an Nells Ohr.

»Wie fühlst du dich?«, fragte Joseph zögernd, als wäre er sich nicht sicher, ob ihm diese Frage überhaupt zustand. »Kann ich irgendwas für dich tun?«

»Ja. Das könnt ihr beide. Hört auf zu fragen, wie es mir geht. Sorgt nur dafür, dass Chloe wieder aufwacht!«

»Das werde ich«, versprach Joseph in dem Moment, als die Erde unter ihren Füßen plötzlich zu beben begann.

Nell strauchelte.

»Schnell, raus hier!«, rief Joseph Nell und Jeremy zu, während er selbst zu der Tür eilte, durch die Isabella soeben verschwunden war.

Nell hatte es gerade auf die Veranda geschafft, als die Erde noch einmal bebte. Sie verlor das Gleichgewicht und schlug mit dem Knie auf. Sofort war Jeremy bei ihr, half ihr hoch und hastete mit ihr gemeinsam die hölzernen Stufen hinunter auf das kleine Rasenstück vor dem Haus.

Nell ließ sich zu Boden sinken und besah sich die schmerzende Stelle. Ihre Haut war leicht aufgeschürft. Die Tür schwang noch einmal auf und Joseph eilte mit Isabella hinaus. Keuchend warteten alle vier ab, was als Nächstes geschah.

Ein weiteres Beben erschütterte den Boden und Nell krallte die Finger ins Gras, um nicht abermals umzufallen.

»Ist es vorbei?«, fragte Isabella panisch.

Joseph presste eine Hand fest auf die Erde, legte den Kopf schief und lauschte. »Ja, ich denke schon«, sagte er schließlich.

Nell musterte ihn ernst. »Was war das?« Sie war nicht so naiv, anzunehmen, dass dieses Erdbeben natürlichen Ursprungs war.

Joseph zuckte mit den Schultern. »Ich bin nicht sicher.«

»Der Hüter war es schon mal nicht«, brummte Jeremy. »Los, wir sollten nachsehen, wie es im Camp ausschaut.«

Wie schon bei dem ersten Erdbeben vor ein paar Tagen hatten sich alle aufgeregt vor dem Haupthaus versammelt. Dieses Mal wirkten die Jugendlichen jedoch nicht ganz so verängstigt. Vermutlich, weil letzte Woche nichts Schlimmes im Anschluss an das Beben passiert war.

Nur ein Junge drängte sich besorgt durch die versammelte Menge. Jayden.

»Chloe ist nicht hier!«, fuhr er Nell an, sobald er sie erreichte.

»Ich weiß.« Nells Schultern sackten nach vorn.

Das nahm ihm den Wind aus den Segeln. »Was heißt das? Wo ist sie?«

Nells Herz zog sich vor Mitgefühl für ihn zusammen. Chloe bedeutete Jayden offensichtlich sehr viel. Er würde sich nicht mit Ausflüchten zufriedengeben. »Also gut.« Sie nickte knapp. »Ich sage es dir, aber nicht hier. Lass uns ein Stückchen gehen.«

»Du machst es ja spannend«, brummte er, widersprach jedoch nicht.

»Wohin geht ihr?«, fragte Joseph alarmiert. Es schien ihm nicht zu behagen, dass Nell sich aus seiner Sichtweite entfernte.

»Zu meiner Hütte.« Sie musste ohnehin nach Chloe sehen, sich vergewissern, dass es ihr gut ging, auch wenn bei dem Beben glücklicherweise nichts kaputtgegangen war. Einfache Holzbauten hatten auch ihre Vorteile.

Josephs Blick schwenkte nachdenklich zu Jayden. »Ich komme gleich nach«, sagte er plötzlich.

»Das ist wirklich nicht nötig«, winkte Nell ab. Dieses Gespräch würde auch so schon schwer genug für sie beide werden, ohne zusätzliche Zeugen.

»Vertrau mir«, sagte Joseph und ein hoffnungsvoller Funke erhellte sein Gesicht. »Ich habe eine Idee. Ich muss nur noch etwas holen. Bis gleich!« Er drehte sich um und verschwand im Gebäude.

»Also, was wolltest du mir sagen?«, fragte Jayden. Chloes Schicksal beschäftigte ihn offenbar deutlich mehr als Josephs eigenartiges Verhalten.

»Chloe geht es nicht so gut«, setzte Nell zögernd an.

»Ist sie krank?«

»So ungefähr. Sie ist nicht bei sich.«

»Was soll das heißen?« Jayden blieb stehen und packte Nell am Arm. »Gestern war sie noch putzmunter!«

»Danach ist sie mit einem seltenen Stein in Berührung gekommen.«

»Einem Stein?« Jayden klang, als würde er an ihrem Verstand zweifeln. »Willst du mich veräppeln? Wo ist sie?«

»In meinem Zimmer. Sie … schläft und wacht nicht auf.«

Jayden erbleichte. »Wie in einem Koma?«

»So ungefähr.«

»Dann muss sie ins Krankenhaus! Sie muss behandelt werden.« Er sprintete so schnell los, dass Nell ihm kaum hinterherkam. Im Laufen holte er sein Handy aus der Hosentasche.

»Nein, nicht!«, schrie Nell und schlug seine Hand nieder.

»Was soll der Scheiß? Seid ihr in so einer Sekte oder was?« Wütend funkelte er sie an. »Chloe braucht Hilfe!«

»Glaubst du, ich wüsste das nicht?«, schnappte Nell. »Sie ist meine Schwester! Ich habe versprochen, immer auf sie aufzupassen.« Mühsam zwang Nell sich zur Ruhe und atmete tief durch. Sich jetzt mit Jayden zu streiten, würde nichts bringen. »Es ist kompliziert«, sagte sie leise. »Ärzte werden ihr nicht helfen können.«

»Woher willst du das wissen? Hast du es überhaupt versucht?«

Nein, das hatte sie nicht. Vielleicht hatte Jayden recht, vielleicht wäre Chloe in einem Krankenhaus besser aufgehoben. »Schau sie dir erst einmal an«, murmelte Nell, »dann sprechen wir weiter.«

Schweigend setzen sie ihren Weg fort. In Jaydens Kopf brodelte es sichtlich. Er wirkte nicht, als wäre er bereit, klein beizugeben. Doch vorerst begnügte er sich wohl mit der Aussicht, Chloe in Kürze sehen zu können.

Nell schloss die Tür des Bungalows auf und führte Jayden in ihr Zimmer.

»Sie liegt ja auf dem Boden!«, entfuhr es ihm entrüstet. Mit wenigen Schritten war er bei Chloe und kniete sich neben sie hin.

»Wir mussten improvisieren«, verteidigte sich Nell, aber er schien ihr nicht mehr zuzuhören.

»Hey, Kleines, ich bin’s.« Zärtlich streichelte Jayden Chloes Wange und runzelte daraufhin erschrocken die Stirn. »Sie ist eisig kalt. Nell«, die Anspannung in seiner Stimme war nicht zu überhören, »bist du sicher, dass sie noch lebt?«

»Ja.« Nell hockte sich ebenfalls hin und tastete vorsichtshalber nach Chloes Puls. Ihre Haut fühlte sich tatsächlich etwas kühler an als vor einer Stunde und ihr Herzschlag war kaum zu erahnen. Panik kroch in Nell hoch. Die Zeit verrann und sie hatten sich noch nicht einmal vernünftig besprochen.

Jayden hauchte Chloe einen Kuss auf die wächsernen Lippen. Die Geste hatte etwas so Hilfloses und Rührendes an sich, dass Nells Kehle ganz eng wurde. Dann wandte er den Kopf und funkelte Nell entschlossen an. »Ich habe Chloe jetzt gesehen und ich finde, dass sie in ein Krankenhaus gehört!«

»Sie können dort nichts für sie tun«, sagte Nell verzweifelt.

»Da bin ich anderer Ansicht. Und wenn du mir nicht helfen willst, mache ich es eben allein!« Er schob seine Arme unter Chloes Körper, um sie anzuheben.

»Das lässt du schön bleiben!«, zischte Nell. »Sie ist immer noch meine Schwester!«

»Dann tu auch endlich was!«

»Das werde ich. Sobald ich weiß, was ihr helfen kann.«

»Ein Arzt und ein Überwachungsmonitor wären schon mal ein guter Anfang!«

»Normalerweise würde ich dir recht geben. Aber hier ist gar nichts … normal!«, brach es aus Nell heraus. »Glaubst du, ihr Zustand lässt mich kalt? Sie ist meine Schwester, verdammt noch mal! Ich kenne sie seit dem ersten Tag ihres Lebens. Kannst du dir vorstellen, was das bedeutet?« Tränen schossen aus Nells Augen und sie wischte sie wütend fort. »Sie ist der wichtigste Mensch für mich auf dieser Welt. Ich werde alles tun, um sie zu retten. Und ich werde nicht zulassen, dass sie auf irgendeinem wissenschaftlichen Seziertisch landet!«

»Und was sollen wir dann machen? Sie einfach ihrem Schicksal überlassen?«

»Nein. Zumindest hoffe ich, dass du das nicht machen wirst.«

Beim Klang von Josephs Stimme fuhr Nell überrascht herum. Er stand auf der Schwelle, seine Brust hob und senkte sich mit seinen schweren Atemzügen, als wäre er den ganzen Weg hierher gerannt. Er schien tatsächlich seine Fähigkeiten eingebüßt zu haben. Früher hätte ihn das kurze Stück nicht so angestrengt.

»Wie meinst du das?« Ablehnung und Neugier schwangen zu gleichen Teilen in Jaydens Stimme mit. Die Situation musste ihn total überfordern. Dennoch wich er nicht von Chloes Seite.

»Chloes Zustand verschlechtert sich, langsam, aber kontinuierlich«, erklärte Joseph bedächtig. »Du könntest uns vielleicht etwas Zeit verschaffen, während wir nach einem Weg suchen, sie zu heilen.«

»Und wie?«, fragte Jayden skeptisch.

Nell teilte seine Zweifel.

Als hätte er das gespürt, lächelte Joseph ihr beruhigend zu. »Du scheinst Chloe sehr zu mögen«, sagte er zu Jayden.

»Ja. Und?«

Joseph räusperte sich. »Wenn du sie … genügend magst, könntest du einen Schutz über sie legen. Damit.« Joseph reichte ihm zwei golfballgroße hellrote Kristalle.

»Was ist das?«

»Rubellit, auch rosa Turmalin genannt. Er steht für die bedingungslose Liebe.«

»Ähm.« Jaydens Wangen färbten sich rot.

Nell warf Joseph einen vorwurfsvollen Blick zu. Für einen Moment hatte sie tatsächlich Hoffnung verspürt. Aber Jayden und Chloe waren Teenies, die sich gerade mal eine Woche kannten. Da bereits von Liebe sprechen zu wollen, war absurd. Halb rechnete sie damit, dass Jayden unverzüglich die Flucht ergriff.

Der Junge überraschte Nell, indem er die Hände nach den Steinen ausstreckte. »Was muss ich tun?«

»Im Grunde ist es ganz einfach«, erklärte Joseph. »Am besten legst du einen Stein auf ihre Brust und einen auf den Bauch. Dann setzt du dich so hin, dass du beide Steine bequem mit deinen Händen berühren kannst, und konzentrierst dich auf das, was du für Chloe empfindest, auf deinen Wunsch, sie gesund wiederzusehen.«

»Und das hilft?«, fragte Jayden ungläubig.

»Einen Versuch ist es wert. Und es schadet auf keinen Fall.«

»Ich soll nur die Augen schließen und an Chloe denken?«

»Wenn du möchtest, kannst du auch mit ihr sprechen.«

»Okay.« Jayden nickte entschlossen.

Am liebsten hätte Nell ihn dafür umarmt. Sie hoffte so sehr, dass es klappte.

»Ähm.« Jayden räusperte sich verlegen. »Könntet ihr vielleicht rausgehen? Ist immerhin ziemlich persönlich.«

»Sicher. Komm, Nell.« Joseph nahm ihren Arm und machte Anstalten, sie aus dem Zimmer zu ziehen.

Nell rührte sich nicht. Es kam ihr nicht richtig vor, Chloe allein Jaydens Fürsorge zu überlassen. Wenn jemand ihre Schwester liebte, dann sie. Sie sollte sich um Chloe kümmern.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, verstärkte Joseph seinen Griff. »Lass es ihn versuchen, Nell.«

Widerstrebend ließ sie sich aus dem Raum führen. »Wieso?«, fragte sie herausfordernd. »Hätte ich nicht größere Chancen auf Erfolg?« Abgesehen von ihrer Verbundenheit mit Chloe hatte sie auch zu Steinen eine deutlich stärkere Affinität als Jayden.

»Wenn es bei ihm funktioniert und er sich bereit erklärt, sich um Chloe zu kümmern, verschafft er uns wertvolle Zeit, um nach einer Lösung zu suchen. Anderenfalls wärst du an das Camp gebunden.«

»Es ist mit dem einen Mal nicht getan?«, dämmerte es Nell.

»Nein«, bestätigte Joseph düster. »Außerdem brauchst du deine Kraft«, fügte er nach kurzem Zögern hinzu.

»Wie meinst du das?«

»Der Turmalin steht nicht nur für bedingungslose Liebe, sondern auch für Opferbereitschaft. Man gibt ein kleines Stück von sich selbst an jemand anderen ab.«

Schockiert starrte Nell ihn an. »Das hättest du Jayden sagen müssen!«

»Das werde ich noch. Erst muss ich wissen, ob es überhaupt funktioniert. Ich wollte ihn nicht im Vorfeld verunsichern. Keine Sorge«, fügte Joseph hinzu, als Nell ihn weiterhin vorwurfsvoll musterte. »Ihm entsteht kein Schaden, nichts, das nicht durch ein paar Stunden Schlaf und eine Mahlzeit wieder gutzumachen wäre. Aber für deine Schwester kann das den alles entscheidenden Unterschied bedeuten.«

»Falls es klappt«, betonte Nell. Sie wollte sich lieber nicht zu viele Hoffnungen machen.

»Wieso glaubst du nicht daran?« Joseph legte seinen Kopf ein wenig schräg, eine Geste, die ihr schon bei der Eidechse so unglaublich vertraut vorgekommen war.

»Weil sie sich erst seit einer Woche kennen.«

»Und du glaubst nicht, dass man in der Zeit jemanden so sehr in sein Herz schließen kann?«, fragte Joseph leise. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, trotzdem hörte sie die Enttäuschung in seiner Stimme.

Bilder von ihm wallten in Nells Erinnerung auf. Wie er sie in Eidechsengestalt beschützt hatte. Sein schüchternes Lächeln. Ihren Kuss. Sein Geständnis in der Höhle. Die Intensität seiner Augen. Das Gefühl der Geborgenheit, das sie stets in seiner Gegenwart erfasste. Die Erkenntnis, dass auch er nicht allmächtig war. Die Schuld, die sie gemeinsam für Chloes Zustand teilten.

»Keine Ahnung«, sagte Nell heiser. »Ich schätze, das werden wir gleich herausfinden.«

Joseph presste die Lippen zusammen und unverzüglich regte sich Bedauern in Nell. Es war für ihn auch nicht leicht. Sie hatten noch nicht mal über das gesprochen, was er in der Höhle gesagt hat, wie sie überhaupt zueinander standen.

»Wir sollten wieder reingehen«, sagte Joseph, bevor Nell ihre Gedanken in Worte fassen konnte. Er wirkte wieder vollkommen ruhig und gefasst, auf das Wesentliche konzentriert.

Nell riss sich zusammen. Chloe war derzeit das Wichtigste, ihr persönliches Chaos musste warten.

Als sie eintraten, hockte Jayden im Schneidersitz regungslos auf dem Boden. Er blickte nicht einmal auf, als sie näher kamen. Seine Augenlider waren geschlossen, ein friedliches Lächeln lag um seinen Mund, die Steine unter seinen Händen schimmerten leicht.

Behutsam legte Joseph dem Jungen eine Hand auf die Schulter. »Du kannst jetzt aufhören«, raunte er.

Jayden blinzelte, ein Zittern durchlief seinen Körper und er brauchte offenbar ein paar Herzschläge, um in das Hier und Jetzt zurückzukehren. »Hat es funktioniert?«, krächzte er heiser.

Selbst in dem schwachen Licht, das durch die geschlossenen Vorhänge hereinfiel, konnte Nell erkennen, wie blass er geworden war. Ihr Blick heftete sich auf Chloe und ihr Puls beschleunigte sich aufgeregt. Täuschte sie sich, oder waren die Wangen ihrer Schwester tatsächlich etwas rosiger geworden?

»Ich denke schon«, sagte Joseph erleichtert. Er hockte sich neben Chloe und legte die Hände auf ihre Stirn. »Du hast die Steine zum Leuchten gebracht«, fuhr er mit einem anerkennenden Lächeln fort. »Und Chloe wertvolle Zeit verschafft.«

»Wirklich?« Freudiges Staunen sprach aus Jaydens Gesicht. »Ich meine, es war unglaublich, ich habe mich ihr irgendwie nahe gefühlt, als ob sie wirklich bei mir gewesen wäre …« Er brach verlegen ab.

»Du hast tatsächlich einen Teil von ihr erreicht – nenne es ihren Geist oder Seele. Schau her.« Joseph hob etwas auf, das seitlich neben Chloes Kopf lag.

Im ersten Moment konnte Nell nicht erkennen, was genau das war. Dann öffnete Joseph seine Handfläche und zeigte einen winzigen, schimmernden, tropfenförmigen Kristall.

»Was ist das?«, fragte Jayden.

»Ein Träne – Chloes Träne«, erklärte Joseph.

Überwältigt streckte Jayden seine Hand danach aus. »Wie ist das möglich?«

»Ich bin nicht sicher, aber es beweist, dass Chloe noch da ist.«

»Das heißt, ich kann sie zurückholen!« Enthusiastisch legte Jayden seine Hände erneut auf die beiden Turmaline, die nach wie vor auf Chloes Körper ruhten.

»Nein«, hielt Joseph ihn bedauernd zurück. »Dazu reicht die Kraft dieser Steine nicht aus. Und auch die deine nicht.«

»Wie meinst du das?«

»Die Kraft, die du Chloe gibst, nimmst du von dir. Du könntest sterben bei dem Versuch, sie zu retten, und es würde dir dennoch nicht gelingen.«

Jayden erblasste. »Deshalb bin ich plötzlich so müde?«

Joseph nickte ernst. »Und deswegen habe ich dich so bald unterbrochen. Du kannst Chloe helfen, darfst jedoch kein unnötiges Risiko eingehen.«

»Und was soll ich dann tun?«

»Wenn du bereit bist, das hier jeden Tag nur fünf Minuten für Chloe zu tun, sorgst du dafür, dass sie durchhält, bis wir einen Weg gefunden haben, sie zu heilen.«

»Wäre sie in einem Krankenhaus nicht besser aufgehoben?«

»Würden sie dich dort das hier machen lassen?«, antwortete Nell mit einer Gegenfrage.

Jayden seufzte. »Wohl kaum. Aber was könnt ihr schon tun?«

»Alles, was nötig ist«, erwiderte Joseph grimmig.

»Du musst es nicht ganz verstehen«, sagte Nell vorsichtig. »Du hast selbst erlebt, dass Steine hier«, sie machte eine ausholende Geste, »weit mehr als bloß Steine sind. Und irgendwo gibt es einen, der Chloe aufzuwecken vermag.«

»Den wollt ihr suchen?«

»Ja. Wenn du mir versprichst, in der Zwischenzeit auf Chloe für mich Acht zu geben.«

»Das mache ich.« Liebevoll streichelte Jayden über Chloes Stirn.

»Wirklich nur fünf Minuten am Tag«, erinnerte Joseph ihn streng. »Am besten stellst du dir einen Wecker.«

»Und bitte halt mich über alles auf dem Laufenden, was mit ihr geschieht«, bat Nell.

»Ich passe auf sie auf«, versprach Jayden. »Und auf mich«, fügte er nach Josephs mahnendem Räuspern hinzu.

»Danke.« Nell drückte ergriffen seine Hände.

»Schon okay.«

Das Summen eines Handys erlöste Jayden aus seiner Verlegenheit.

Nell brauchte einen Moment, um die Quelle des Geräuschs zu identifizieren. »Es ist Chloes!«, rief sie erschrocken. Rasch fingerte sie das Handy aus der Hosentasche ihrer Schwester.

Nells Herz sank, als sie einen Blick auf das Display warf. Es war Mom.

Ihr Verstand raste, während sie zu entscheiden versuchte, was besser wäre – ihre Mutter zu informieren oder sie im Unklaren über die Geschehnisse zu lassen. Mom konnte hier ohnehin nicht helfen. Das Summen verstummte. Mit eisigen Fingern kramte Nell ihr eigenes Smartphone hervor und tippte eine knappe Nachricht.

Hi Mom. Chloe hat ihr Handy geschrottet, wundere dich bitte nicht, wenn sie sich nicht meldet. Ansonsten haben wir alles im Griff. Ich soll dich schön grüßen. Alles Liebe und weiterhin viel Spaß auf eurer Kreuzfahrt, Nell.

Es fühlte sich falsch an, ihre Mutter derart zu belügen, dennoch überwog die Erleichterung, als Nell die Nachricht nach kurzem Zögern abschickte. Sie hatte sich eine kleine Galgenfrist verschafft, bis die Stunde der Wahrheit endgültig schlug.

Kapitel 3

»Schau mal, was ich gefunden habe«, sagte Joseph, sobald sie den Bungalow verlassen hatten.

Jayden war bei Chloe geblieben, wofür Nell ihm sehr dankbar war. Nun schaute sie neugierig auf ein schlichtes bleigraues Kästchen, das Joseph ihr entgegenhielt. »Was ist das?«

»Ich habe es in Mr. Blairs Büro entdeckt, als ich nach den Turmalinen gesucht habe. Seine Sammlung an Steinen ist bemerkenswert. Das hier hätte ich da allerdings niemals vermutet.« Joseph klappte den Deckel hoch.

Nell blinzelte überrascht. Ein kleiner Kristallsplitter ruhte in der mit dunklem Stoff ausgelegten Schatulle und strahlte so leuchtend hell wie die Sonne. »Wie ist das möglich?«

»Ich weiß es nicht. Allerdings würde es einiges erklären.«

»Dann ist es tatsächlich das, was ich denke? Ein Stück vom Herzen des Berges?« Ein leuchtendes, unversehrtes Stück, das offenbar noch seine Kräfte besaß. Nell stockte der Atem. Sie konnten Chloe heilen, vielleicht sogar den Rest des Kristalls wieder zum Leuchten bringen.

»Es sieht ganz so aus«, sagte Joseph verhalten. Das Lächeln, das auf seine Lippen trat, wirkte aufgesetzt, sein Blick gesenkt.

Überrascht runzelte Nell ihre Stirn, doch Josephs Befindlichkeiten – worin auch immer sie bestehen mochten – waren derzeit nicht wichtig. »Wieso hast du den Splitter nicht gleich bei Chloe benutzt?«

»Weil ich nicht weiß, welche Kräfte er hat. Und nachdem, was gestern Nacht passiert ist, möchte ich kein Risiko eingehen.«

Nell spürte, dass da noch mehr war, aber sie bedrängte ihn nicht. Es würde ohnehin nichts bringen, wie sie bereits leidvoll gelernt hatte. »Du sagtest, dieser Splitter würde etwas erklären?«

»Ja.« Joseph klappte den Deckel wieder zu und verstaute das Kästchen in seiner Hosentasche. »Ich habe mich gefragt, wie Mr. Blair so schnell aus den Höhlen verschwinden konnte, ohne dass ich ihn bemerkte. Ich schätze, dass der Splitter ihn in die Lage versetzt hat, Tunnelgänge zu öffnen und zu verschließen. So konnte er stets auf dem kürzesten Weg nach draußen. Nur an den Siegeln kam er damit zum Glück nicht vorbei.«

»Woher hatte er ihn?«

»Das ist eine der Fragen, auf die ich eine Antwort benötige. Mr. Blair konnte den Splitter unmöglich selbst abgespalten haben. Wäre er so weit gekommen, hätte er sich nicht mit nur einem Stück begnügt.«

Mit Sicherheit nicht. Dann blieb nur eine Möglichkeit. »Equitok muss es getan haben.«

»Das denke ich auch. Und zwar, bevor er das Herz an mich übergab.«

»Und wieso diese komische Schachtel? Wieso hat Mr. Blair den Splitter nicht offen bei sich getragen?«

»Vermutlich hat er befürchtet, dass ich ihn spüren würde. Das Blei schirmt den Stein vollständig ab. Es war purer Zufall, dass ich darüber gestolpert bin.«

»Was geschieht, wenn wir den Splitter an der richtigen Stelle wieder in das Herz einsetzen?«

»Ich weiß es nicht, aber wir werden es natürlich ausprobieren.« Erneut erschien dieses Lächeln auf seinen Lippen, das sich so vollkommen falsch anfühlte.

Dieses Mal konnte Nell es nicht ignorieren.

---ENDE DER LESEPROBE---