Das Herz von Albenhain - Thomas Regnery - E-Book

Das Herz von Albenhain E-Book

Thomas Regnery

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Beschreibung

Die alten Geister haben nur geschlafen Mit fünfzehn war Tim Richthof aus seinem gewalttätigen Elternhaus weggelaufen. Seine Flucht hatte ihn aus der Eifel weg und um die weite Welt geführt. Der junge Mann, als der er nun zurückgekehrt ist, ist ein völlig anderer als der, der einst der Heimat den Rücken kehrte. Dennoch muss er erfahren, dass die alten Geister ihn wieder aufsuchen. Ein Aushilfsjob und ein Ehrenamt schweißen ihn wieder mit seinem alten Freundeskreis zusammen. Während einer Jugendfahrt in den beliebten Ferienpark Albenhain krempelt sich sein Leben erneut um.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

– Kapitel 1 –

Leyental, 25. August 2015

»Kackmist.«

Leise entfuhr Tim dieser Kraftausdruck, als ihm bei dem Versuch, einen Joghurtbecher zu öffnen, der dünne Foliendeckel zerriss. Nun hatte er nur ein dreieckiges Stück Alufolie in der Hand, von dessen Unterseite ein dicker Tropfen Kirschjoghurt über seine Finger floss.

»War ja klar.«

Schnell leckte Tim den Joghurt von dem Folienfetzen und lutschte seine Finger ab, stellte den vollen Becher auf den Couchtisch zurück und stand auf, um sich ein Stück von der Küchenrolle abzureißen.

Natürlich musste der Deckel zerreißen, wusste Tim. Denn wenn man den Becher vorher schüttelt, damit man den Joghurt nicht umständlich umrühren muss, wobei der ganze Löffelstiel eingesaut wird, dann reißt der Deckel garantiert beim Abziehen. Das ist wie mit dem Marmeladentoast, das vom Tisch fällt und dann hundertpro mit der Marmeladenseite auf den Boden klatscht. Oder wie bei einem frischen Nutellaglas, wenn man die Goldfolie einsticht und in das Loch greift, um die Folie abzuziehen, dann patscht man garantiert in den einen Klecks der Schokocreme, der an der Unterseite der Folie klebt.

Plötzlich klingelte Tims Handy.

»Natürlich!«, brummte er. »Wann auch sonst?«

Er wischte sich die Hände ab und warf Papier und Deckelstück in den Müll. Dann nahm er sein merklich abgenutztes Uralthandy aus der Tasche und sah aufs Display. Sein Gesicht verfinsterte sich nun deutlicher.

»Ja«, meldete sich Tim kurz angebunden.

»Aha!«, kam es vom anderen Ende zurück.

»Aha was?«, fragte Tim angenervt nach.

»Du weißt also doch, wie man ein Telefon benutzt«, stellte sein Anrufer vorwurfsvoll fest.

»Willst du mir auf den Piss gehen? Falls ja, kannst du dir die Mühe sparen. Das hast du beim ersten Klingeln schon geschafft!«

»Tim, hör auf! Du warst über vier Jahre weg! Seit ’nem halben Jahr bist du wieder in Deutschland und hast es nicht nötig, dich nach deiner Familie zu erkundigen?«

»Familie«, brummte Tim ironisch. »Meine ›Familie‹ war der Grund, warum ich aus Leyental abgehauen bin, schon vergessen?«

»Ach, willst du uns jetzt für deine Straftaten verantwortlich machen?«

An dieser Stelle drückte Tim auf die Taste mit dem roten Telefonhörer. Florian hatte wieder damit begonnen, ihm die Worte im Mund herumzudrehen. Das war immer so gewesen. Es war eine der typischen Gepflogenheiten in seinem verkorksten Elternhaus.

Florians Anruf hatte Tim sichtlich aufgekratzt. Mit verkniffenen Lippen warf er sein Handy auf den Wohnzimmersessel. Dann senkte er den Blick und sah dabei an sich hinab. Zu den Zeiten, als er sich noch von seinem Bruder etwas sagen lassen musste, war er mager und unsportlich gewesen, ein Spielball für jeden mit größerer Körperkraft. Das hatte sich inzwischen geändert. Die körperliche Beanspruchung der letzten vier Jahre hatte ihn zu einem starken und attraktiven jungen Mann geformt. Seine naturblonden Haare und seine taubenblauen Augen hoben sich ansprechend von seiner gebräunten Haut ab. Tim war nun nicht nur innerlich, sondern auch äußerlich nicht mehr der Mensch, den Florian einmal gekannt hatte.

Im Augenblick stand er jedoch da und sah eher etwas unbeholfen aus in seinem Bemühen, den Deckel von dem Joghurtbecher abzupiddeln. Folie abziehen, Finger ablecken, und wieder Folie abziehen. Er hielt den Becher ein Stückchen von sich weg, um sein weißes T-Shirt nicht zu besudeln. Tim trug diese Shirts sehr gerne. Dazu zog er meistens Blue Jeans an. Mit einem Echtledergürtel, der eine derbe, eiserne Schnalle mit Verzierungen im Western-Look hatte. Das war Tims Ding. Er mochte diesen Style. Er war einfach und zeitlos. Tim hatte noch nie Lust gehabt, sich einen Kopf um Mode zu machen.

Erneut klingelte sein Handy. In betulicher Ruhe stellte er den Becher ab und wischte sich die Finger sauber. Nach acht Klingelzeichen nahm er das Gespräch an.

»Was willst du, Florian?«

»Einer muss doch nach dir sehen, bevor du wieder Mist baust.«

Tim schloss die Augen, nahm tief Luft und griff sich mit der freien Hand an die Nasenwurzel.

»Erstens, Florian«, begann er um Fassung bemüht, »bin ich zwanzig Jahre alt, nach mir braucht keiner zu sehen. Zweitens bin ich viereinhalb Jahre lang in der ganzen Welt unterwegs gewesen … Alter! Ich hab so viel gesehen und erfahren, ich hab an tausend Orten gearbeitet – wie kommst du auf die Idee, dass du hier mein Aufpasser sein könntest?«

»Ach, komm! Dein ›Arbeiten‹ kenn ich. Dealen und Einbrechen ist keine Arbeit.«

»Siehst du? Und genau deswegen könnt ihr mich alle mal. Ich hab mich geändert! Das hatte ich schon, bevor ich abgehauen bin. Aber ihr habt das nie eingesehen.«

Tim hörte Florians verächtlichen Seufzer.

»Und warum hängst du dann jetzt wieder mit den Typen vom Haus der Jugend rum?«

»Weil sie meine Freunde sind. Und weil wir uns alle geändert haben.«

»Darüber solltest du mal nachdenken, wenn du hier neu anfangen willst. Du weißt, wie es in der Eifel ist. Die Leute reden über euch. Für die seid ihr immer noch die Schläger und Kriminellen von damals. Die warten nur darauf, dass ihr wieder irgendein Ding dreht.«

»Was die Leute hier reden, interessiert mich ’nen Scheiß!«

»Natürlich. Tim Richthof interessiert es mal wieder nicht. Und für seine Familie interessiert er sich auch nicht.«

»Familie? Das nennst du Familie? Weißt du noch, wie der Alte mich immer im besoffenen Kopf verprügelt hat? Oder die hysterische Schreierei von der Alten? Und wie wir jedes Jahr an Weihnachten in deinem Zimmer gesessen und gehofft haben, dass die beiden endlich aufhören sich anzuschreien, während andere Kinder Bescherung gefeiert haben? Familie – Hör doch auf!«

»Das ist also deine soziale Haltung, ja? Weißt du, Tim, egal wie die Umstände sind, wenn man nach so langer Zeit in die Heimat zurückkehrt, dann meldet man sich bei seiner Familie und kommt mal vorbei.«

»Mir fallen nur ganz wenige Gründe ein, bei euch vorbeizukommen.«

»Ach ja? Und die da wären?«

»Och, nichts Wesentliches. So Kleinigkeiten halt: Euch vor die Tür kacken … die Bude anzünden … euch alle im Schlaf töten … sowas halt.«

»Tja, dann haben sie ja alle Recht. Papa hat gleich gesagt, dass es sinnlos wäre dich anzurufen, weil du wahrscheinlich immer noch derselbe aufsässige Hund wärst wie damals.«

»Ich kann so auf euch verzichten, Mann.«

»Na ja, ich hab wenigstens versucht, mit dir zu reden. Viel erwartet hab ich auch nicht.«

»Florian, fick dich! Wenn du noch einen verkackten Ton von dir gibst, dann schwör ich dir, schnapp ich mir mein Katana, und zehn Minuten später steh ich knöcheltief in euren Eingeweiden. Ohne Witz jetzt, Alter!«

Damit beendete Tim das Gespräch endgültig. Es war besser so. Sein Puls raste. Bilder aus der Vergangenheit kamen in ihm hoch. Erinnerungen an Hilflosigkeit. Erniedrigung. Schmerzen. Er setzte sich auf die Armlehne des Sessels. In seiner alten Heimat, der Eifel, war es schwierig für ihn, wieder Fuß zu fassen. Die große geographische Nähe zu seiner Familie machte es ihm nicht leichter. Dass auch die Leute außerhalb seines Elternhauses schlecht über ihn redeten, lag an seiner Vergangenheit. Da war nichts mehr zu machen. Auch wenn die Sanktionen, die ihm damals drohten, nie umgesetzt worden waren, sein Ruf war seitdem ziemlich ruiniert.

Tim wechselte auf die Ledercouch und löffelte seinen Kirschjoghurt. Da klopfte es lautstark an seine Haustür.

»Ist offen!«, rief Tim, erhob sich und ging in Richtung Tür, um seinen Gast zu empfangen.

Ein junger Mann, etwas kleiner als Tim, trat ein und grüßte: »Hey, Trip!«

»Hey, Ditze!«, grüßte Tim heiter zurück. »Komm rein, pflanz dich!«

»Lange bleiben kann ich nicht«, erwiderte der Angesprochene, als er sich auf der Couch niederließ. »Ich bin auf dem Weg zu Tante Helgas Geburtstagskaffeekränzchen. Bin aber ’n bisschen früh dran und dachte, ich komm kurz rein.«

»Cool«, freute sich Tim. »Alex Schröder in meinem Haus. Was verschafft mir die Ehre?«

Er verschwand kurz in der engen Küche und erschien mit zwei Dosen Cola. Dann setzte er sich ebenfalls. Gelöst ließ er sich in den Sessel fallen, der vor ein paar Minuten noch den Flug seines Handys abgefangen hatte.

»Wie gefällt’s dir, deinen Hintern wieder in deine alte Couch zu pflanzen?«, lachte er.

»Alles okay bei dir?«, erkundigte sich Alex.

»Klar, was soll schon sein?«

»Erzähl mir nix, Kumpel. Kommst mir ’n bisschen übertrieben froh gelaunt rüber. Und wann hast du das letzte Mal meinen richtigen Vornamen ausgesprochen?«

»Ach, scheiß drauf.«

»Komm schon, Trip! Muss ich erst dein Handy filzen und die Anrufliste aufrufen?«

Da musste Tim lachen.

»Ist klar! Nee, ernsthaft. Alles cool. Vorhin hat nur mein verkackter Bruder angerufen und seinen üblichen Dünnschiss durchs Telefon gedrückt. Jetzt riecht’s hier ’n bisschen nach Flitzkacke. Aber sonst … alles im grünen Bereich.«

»Ich wusste es«, nickte Alex und fügte hinzu: »Ist völlig okay, wenn’s dich abfuckt. War ’ne scheiß Zeit.«

»Ja, das stimmt«, raunte Tim. »Aber es war nicht alles Kacke. Immerhin gab’s Gründe zurückzukommen. Ihr Jungs seid einer davon … Und Hermann. Ich weiß nicht, was ohne Hermann aus mir geworden wäre … Scheiße, Ditze, weißt du noch, wie der damals ankam und uns angelabert hat?«

Leyental, 15. Dezember 2009

Die Eifelstadt Leyental besaß einen klassischen Marktplatz. Er lag zentral, in Sichtweite zum Rathaus, und er wurde regelmäßig in seinem ursprünglichen Sinn genutzt. Zwar füllten die Stände ihn zu den Marktzeiten nicht mehr so dicht wie vor zwanzig Jahren, doch war insbesondere der Weihnachtsmarkt noch immer eine rege besuchte Veranstaltung.

Etwas abseits des Marktplatzes lag der kleinere Brunnenplatz, eine Ansammlung von sechs Holzbänken um ein zweieinhalb Meter hohes Wasserspiel aus Bronze, das eine örtliche Künstlerin entworfen hatte. Eine große, verglaste Hinweistafel für Touristen befand sich zwischen zweien der Bänke. Dieser gegenüber, auf der anderen Seite des Brunnens, befand sich ein aus Draht geflochtener Abfallbehälter. Die beiden Bänke rechts der Infotafel waren, wie gegen Abend üblich, von fünf Jugendlichen der Klassen 8c und 9d der Realschule Plus Leyental besetzt. Ein schlaksiger, doch ausgesprochen großmäuliger, blonder Vierzehnjähriger schien die Gruppe anzuführen. Soeben wurde er von einem seiner Gefährten angesprochen.

»Eh, Richthof, sag mal, haste nochmal was mit?«

Der Junge, der die Frage gestellt hatte, war von robuster Statur und hatte ein rundliches Gesicht. Sein Nasenrücken verlief von der aus ohne Einbuchtung nach unten. Das war das prägende Merkmal seines Äußeren. Der Blonde hatte sich mit den Ellenbogen auf die Knie gestützt. So saß er dort und setzte ein verächtliches Grinsen auf. Er war im Grunde ein recht gutaussehender Bursche. Besonders, wenn er lächelte, erinnerte sein Gesicht an einen jungen Robert Redford, nur dass dieser in seiner Jugend keinen so schmächtigen Körperbau hatte.

»Was soll ich mithaben?«, raunte er.

»Keine Ahnung. Waste halt sonst immer so mithast. Vielleicht ’ne Tüte? Oder ’nen Trip?«

Der Blonde keuchte höhnisch aus dem offenen Mund heraus.

»Scheiße, Motte!«, fluchte er. »Wie zum Geier soll ich zurzeit an sowas rankommen? Die Bullen kleben mir doch an den Socken, Mann! Ich trau mich noch nicht mal, Kippen zu besorgen! Und da kommst du hier angeschissen und schnorrst mich um Stoff an … geht’s noch, Alter?«

»Echt jetzt, Damian!«, schaltete sich der dritte im Bunde ein. »Meinste nicht auch, dass Tim gerade andere Sorgen hat?«

»Ich meinte ja auch bloß«, verteidigte sich Damian, »ob er vielleicht noch was von früher übrighat. Klar, dass er jetzt nichts Neues besorgen kann. Sorry, Richthof, Alter.«

Mit seinem letzten Satz knuffte Damian seinem Kumpel Tim kameradschaftlich auf die Schulter. Da sprang Tim auf und wurde fuchsteufelswild.

»Verdammte Scheiße, Motte! Du weißt genau, dass ich da ständig blaue Flecken hab! Das tut weh wie Sau, wenn du da draufhaust, dummer Sack!«

Damian hatte seine Hände blitzschnell an sich gezogen und hielt sie nun besänftigend vor sich.

»Tut mir leid, Richthof. Ehrlich. Hab nicht dran gedacht.«

Man sah Tim an, wie sehr er kochte. Er biss sich auf die Lippen, kniff die Augen zusammen und griff sich in die Haare. Mit einem Mal löste er seine Anspannung, schrie laut auf und schlug mit der Faust auf das Glas der Infotafel, sodass diese laut schepperte. Dann rannte er über den Platz, sprang auf den Abfallbehälter zu und trat mehrmals so heftig auf ihn ein, dass das filigrane Stahldrahtgeflecht einbeulte.

Der dunkelhaarige Junge, der vorhin zwischen Tim und Damian schlichten wollte, war aufgestanden, noch bevor Tim begonnen hatte, den Müllbehälter zu demolieren. Er war der einzige der Jungs, der statt Jeans eine Stoffhose trug. Mit seinem gesunden Teint und seinen markanten Augenbrauen galt er als der hübscheste in der Truppe. Nur half ihm das im Augenblick kein bisschen weiter. Hastig lief er seinem Kumpel hinterher. Damian sah sich um und suchte den Blickkontakt zu den beiden anderen Jungs, die noch bei ihm saßen: Ein übermäßig großgewachsener, kräftiger Teenager mit kurzem Stoppelhaarschnitt und ein braunblonder Wuschelkopf, der für einen Jungen eher unterdurchschnittlich groß war und der im Grunde immer einen spitzbübischen Gesichtsausdruck vorwies.

»Wär nicht schlecht, wenn du nächstes Mal ein bisschen besser überlegst, bevor du redest, Motte.«

Die Worte kamen von dem großen Jungen, der mit seinen 15 Jahren auch zugleich der Älteste in der Gruppe war.

»Wird schon wieder, Hawkens«, antwortete Damian ruhig. »Steini quatscht jetzt mit Richthof, und dann beruhigt der sich wieder. Du und Ditze könnt ja auch mal hingehen. Ihr seid doch auch schon ewig mit Richthof befreundet, oder nicht?«

»Ist richtig«, nickte der Wuschelkopf, »aber Julian kennt ihn schon aus’m Sandkasten. Lass den mal machen.«

Julian gelang es recht schnell, seinen Freund wieder zu beruhigen. Die Stimmung der Jungs besserte sich, und schon bald alberten sie herum.

Da trat ganz lässig ein Mann an die Gruppe heran. Er musste so Mitte bis Ende Dreißig sein, genau abschätzen ließ sich das nicht. Sein Schnurrbart, der keiner aktuellen Mode entsprach, war dafür verantwortlich.

»‘N Abend, Jungs«, grinste er, die Hände in die Hüften gestemmt. Tim sah ihn an und lachte heiser.

»Hey, Leute!«, rief er. »Burt Reynolds persönlich besucht uns!«

Der Wuschelkopf, den die Freunde »Ditze« nannten, lachte augenblicklich lauthals mit.

»Ihr beide kennt Burt Reynolds?«, kicherte der Fremde. »So alt kommt ihr mir gar nicht vor.«

»Kommt, weil wir uns besser rasieren«, konterte Tim trocken und sah den Mann herausfordernd an. Der aber blickte unbeeindruckt zurück und lachte still in sich hinein.

»Du bist Tim Richthof«, sagte er ruhig und mit humorigem Ton. »Den erkennen Sie ganz leicht, haben sie gesagt. Es ist der mit der größten Klappe von allen, haben sie gesagt.«

»Woher wissen Sie, wer ich bin?«, fragte Tim verdutzt. Der Mann grinste zuerst ihn an, dann lächelte er verschmitzt in die Runde.

»Oh, ich weiß nicht nur, wer du bist. Ich erkenne jeden von euch Brüdern.«

Er deutete auf den Wuschelkopf.

»Du bist Alexander Dieter Schröder. Hab ich recht? Weißt du, dass die dich seit Wochen im Karate-Dojo vermissen? Solltest dich echt nochmal blicken lassen. Dein Sensei meint, du hättest Talent.«

So still war es in letzter Zeit selten auf dem Brunnenplatz. Die Weihnachtsmusik vom Marktplatz erklang im Hintergrund.

»Und du heißt Damian Müller. Hast ja neulich schön von dir reden gemacht, als du auf Don Bosco während der Besinnungstage auf der Schlafstube randaliert hast.«

»Ich … Ich hab nicht randaliert«, hielt Damian dagegen. »Da war ‘ne fette Motte im Zimmer. Die hat mich beim Pennen gestört. Also wollt ich die fangen. Dabei bin ich mit dem Hochbett umgerasselt. Hat sau Lärm gemacht, aber kaputtgegangen war nix.«

Die Jungs waren immer noch perplex, doch sie begannen allmählich zu lächeln.

»Und du! Du musst Julian Stein sein. Der den Mädchen stadtauf–stadtab die Köpfe verdreht. Stimmt’s? Du ahmst doch so gerne Dragan und Alda von Mundstuhl nach, hm?«

»Eh, konkret, Alda!«, antwortete Julian in gelungenem Akzent des bekannten Komikerduos. Damian legte ihm den Arm um die Schultern und feixte: »Deswegen ist er unser Bogdan!«

»Sehr schön«, fuhr der Mann fort, »und last but not least, Michael Valentin, ein Kerl wie ein Baum, aber tut keiner Seele was zuleide. Erster bei den Bundesjugendspielen im Kugelstoßen. Reife Leistung. Wer heute nicht hier ist, das sind Mike Suderich, der immer seine Riesenkopfhörer aufhat, und Kevin Kothberg, der immer ein bisschen später als alle anderen schaltet.«

»Woher wissen Sie das alles?«, fragte Tim erneut, und der Fremde antwortete: »Tja. Eure Lehrer sehen euch. Und sie kümmern sich. Ihr solltet ihnen eine Chance geben.«

»Wer sind Sie?«

»Ich heiße Hermann. Hermann Dechant. Ich war bis vor kurzem Streetworker in Köln. Jetzt bin ich hier. Eure Stadtverwaltung nennt mich Jugendpfleger. Aber das klingt, als müsste ich euch gießen und umtopfen. Dazu braucht ihr mich nicht. Nein, ich möchte euch ‘nen Vorschlag machen. Kennt ihr das alte, halb verfallende Häuschen unten an der B542? Es gibt einen aktuellen Stadtratsbeschluss, dass daraus ein Haus der Jugend werden soll. Die wollen schon Ausschreibungen für die Renovierung machen. Aber ich hab gesagt, hey, das wird doch ein Haus für die Jugend, also lasst die jungen Leute das selbst angehen, so wie es ihnen gefällt. Was meint ihr? Habt ihr Bock? Wenn ihr alle kräftig mit anpackt, dann habt ihr schon bald einen optimalen Treffpunkt für euch alleine, wo ihr jeden Tag hingehen könnt. Und wenn euch irgendwas auf der Seele brennt, kommt ihr übern Flur in mein Büro, und dann bequatschen wir das.«

Die Jungs wechselten untereinander Blicke. Schließlich ergriff Tim wieder breit grinsend das Wort.

»Klingt ja nicht schlecht. Aber sehen wir etwa aus wie Bauarbeiter?«

»Du vielleicht noch nicht«, antwortete Hermann. Dann zeigte er auf Michael und Damian. »Aber die beiden schon. Und ’nen Pinsel schwingen wirst du schon können. Überlegt’s euch. Ihr findet mich jederzeit da hinten.«

Er deutete zum Rathaus. Dann drehte er sich um und entfernte sich.

– – –

»Wahnsinn, Alter, wie gut du das alles noch weißt«, staunte Alex.

»Ich erinner mich, als wär’s gestern erst passiert«, sprach Tim leise. Alex nickte ihm beipflichtend zu. Nach einem kurzen Moment des Schweigens begann er, sich im Raum umzusehen.

»Ich sehe, du hast den Propeller endlich aufgehängt«, bemerkte er und deutete zur Wohnzimmerdecke auf den Dreiblattpropeller eines ausgedienten Militärflugzeugs aus dem zweiten Weltkrieg.

»Ja«, bestätigte Tim, »war ’ne Sauarbeit.«

»Und wo hast du den nochmal her?«, erkundigte sich Alex. Tim erzählte: »Hab ich in Bolivien gefunden bei ’nem Schrotthändler. Ein cooler Typ. Er hat ihn für mich eingelagert. Vor zwei Monaten kam das Ding bei mir an, zerlegt in Einzelteile. Vorgestern hab ich ihn zusammengesetzt und an die Wohnzimmerdecke geschraubt. Muss jetzt für die Zimmerbeleuchtung herhalten.«

»Sieht geil aus«, lobte Alex, »und passt gut zu den ganzen Flugzeugmodellen. Den paar wenigen, die du noch hast.«

»Ja«, bestätigte Tim, »gut, dass Hawkens sie für mich aufbewahrt hat. Die meisten hat mein Alter ja damals weggeschmissen.«

Alex nickte langsam. Niemand kannte die Geschichte besser als er.

»Ich find’s immer noch unglaublich, dass du jetzt in diesem Haus wohnst«, schwärmte Alex bewundernd. »Weißt du noch, wie wir uns immer vorgestellt haben, hier zu leben?«

»Na klar!«, rief Tim lachend aus. »Anderthalb Jahre hat es leergestanden. Ein Riesenglück für mich.«

Den beiden Freunden hatte das Häuschen, in dem er jetzt wohnte, schon immer gefallen. Es war ein ziemlich kleines Holzhaus, das am Ortsausgang links an der Einmündung eines Wirtschaftsweges lag, direkt am Waldrand. Vor dem Haus stand eine Ansammlung knorriger Kiefern, die links hinter dem Grundstück in einen ausgedehnten Wald, den Kaulenforst, überging. Die langen Nadeln der urigen, alten Bäume bedeckten den ganzen Boden. Dazwischen lagen auch immer ein paar Kiefernzapfen. Die Nadeln musste Tim natürlich jeden Tag von den Steinplatten fegen, die den gewundenen Weg von der Straße zu seiner Eingangstür bildeten.

»Das Holzzäunchen und das kleine Tor an der Straße will ich noch ändern«, erzählte Tim. »Das sieht mir alles ’n bisschen zu oll aus. Aber ich muss jetzt aufpassen, dass ich meine ganze Kohle nicht komplett auf den Kopf haue.«

»Woher hattest du den Schotter für das Haus?«, wollte Alex wissen.

»Ich hab das meiste von dem, was ich unterwegs verdient habe, gespart und angelegt. War eine gute Grundlage, um das Häuschen zu finanzieren.«

»Und mit deinem Job bei der Straßenmeisterei kommst du ja ganz gut über die Runden.«

»Ganz genau. Echt Klasse von Hawkens, dass er mich da reingebracht hat! Ohne euch beide wär der ganze Anfang hier bestimmt viel schwerer gewesen. Danke nochmal!«

»Passt schon, Kumpel!«

Nachdem Alex grinsend abgewunken hatte, sah er sich erneut im Wohnzimmer um.

»Du hast ja ’ne Menge Souvenirs von deiner Tour mitgebracht«, stellte er fest. »Das Samuraischwert kenn ich ja schon, aber die ganzen anderen Sachen sind neu.«

»Die kommen jetzt so Stück für Stück bei mir an«, erklärte Tim, »ich hab die ja in den vier Jahren immer irgendwo hinterlegen müssen. Konnte das ganze Zeug ja nicht ständig mitschleppen.«

»Wie hast du das überhaupt so gemacht?«, fragte Alex neugierig. »Du warst ja damals einfach verschwunden. Keiner wusste was, außer Boggy, und der kam erst einen Tag später damit raus.«

»Nimm’s ihm nicht übel. Er hat nur gemacht, was ich ihm gesagt hatte. Ich wollte nicht, dass ihr mir’s ausredet.«

»Schon okay. Was wollte ich sagen? Ah ja: Aber wohin du abgehauen warst, hatte er auch nicht gewusst. Willst du nicht endlich mal drüber reden?«

Tim zuckte mit den Schultern. Mit einem knappen »Irgendwann« stimmte er zu und wich gleichzeitig aus.

»War das so ’ne Work-and-Travel-Aktion?«, bohrte Alex nach.

»Nicht ganz«, antwortete Tim und grinste. »So spontan, wie ich damals abgehauen bin, wäre das nicht zu planen gewesen. Hatte auch gar nicht vor, so weit rumzukommen. Ich bin mit ’nem Lkw-Fahrer nach Hamburg getrampt. Am Hafen hab ich dann später Seeleute getroffen, die noch Hilfe auf ’nem Frachter brauchen konnten. Ich brauchte Kohle, also hab ich angeheuert.«

»Also warst du die ganze Zeit total auf dich alleine gestellt?«

»Ja, absolut.«

»Übel«, meinte Alex beeindruckt. »Ich weiß nicht, ob ich mich das getraut hätte. Wär schon stark, wenn du uns mal die ganze Geschichte erzählen würdest. Damit hältst du uns hin, seit du zurückgekommen bist – Was übrigens auch ein geiler Tag war.«

Leyental, 28. März 2015

Das Haus der Jugend Leyental hatte sich etabliert. Hermann Dechants Arbeit fand im Förderverein hohen Anklang. Die Gruppe von Jungs, die er vor gut fünf Jahren dazu animiert hatte, bei der Renovierung der heruntergekommenen Immobilie zu helfen, fanden sich immer noch regelmäßig hier ein. So auch an diesem Samstag. Michael Valentin, der inzwischen die Zwei-Meter-Marke geknackt und an Körpermasse beträchtlich zugelegt hatte, stand vorne im Türbereich des Gemeinschaftsraums am Kicker und lieferte sich mit Julian Stein ein rasantes Match am Kickertisch. An seinen Schläfen zeigten sich erste Ansätze für Geheimratsecken, während Julians volles, dunkelbraunes Haar stylisch geformt war und perfekt saß. Optisch stach er nicht nur wegen seiner attraktiven Gesichtszüge hervor, auch was seine Kleidung betraf, fiel er durchaus auf – Poloshirt, Lederblouson … keine Nobelmarken, doch Welten von den einfachen Styles seiner Freunde entfernt.

In einer kordbezogenen Couch in einer Sitzgruppe auf halbem Weg zur Theke saßen Melina Kupser und Isabel Krüger, beide 16, und alberten miteinander herum. Melina hatte dunkelbraune Haare, die ihr bis zu den Schulterblättern reichten. Isabels feines, schulterlanges Haar war durchweg hellblond. Die beiden Mädchen waren im Stil ihrer Lieblingsmusik, dem Deathcore und Post-Hardcore, gekleidet: Schwarze Jeans, Band-T-Shirts und Nietenlederjacken. Sie tuschelten sich etwas zu und schielten spöttisch nach zwei Jungs, die an der Theke vor ihrer Cola saßen. Der eine war 17 und hieß Mike Suderich. Er war im Hipster-Style gekleidet und hatte seine übertrieben großen Kopfhörer um den Hals gehängt, um mit seinem Sitznachbarn zu sprechen. Der hieß Kevin Kothberg, war 19 Jahre alt, klein, stämmig und hatte ein rechtes Babyface mit Sommersprossen, umrahmt von einem rotbraunem Kurzhaarschnitt.

Hinter der Theke stand Damian Müller mit seinen kurzen, schwarzen Stoppelhaaren und erfüllte die Getränkewünsche der Anwesenden. Seine Körperstatur war kräftig. Man sah ihm an, dass er körperlicher Arbeit nachging.

Abgesehen von diesem Freundeskreis waren an diesem Nachmittag noch zwei Achtklässlerinnen der Realschule Plus anwesend: Jennifer Heintz und Pia Stieren. Jenni war halb Asiatin. Zu ihren rückenlangen, schwarzen Haaren trug sie eine Brille mit schwarzer Fassung. Pia wirkte süß. Sie hatte naturblonde, schulterlange und wellige Haare, außerdem blaue Augen und eine Zahnspange. Mit Jeans, Chucks und Cardigans waren die beiden Mädchen wie typische Teenager ihres Alters gekleidet.

»Jetzt pass auf, Boggy!«, kündigte Michael an, während er mit dem Fußende einer seiner Spielfiguren auf dem Ball herumtippte, um ihn in eine optimale Position zu bringen. »Den baller ich dir so in den Kasten! Dieses Jahr gewinn ich das Hausturnier. Darauf kannste Gift nehmen.«

Die Ankündigung dieses Riesen traf mit Wucht ein. Julian gelang es nicht, den fulminanten Schuss zu parieren. Es knallte laut in Julians Torkasten. Michaels Triumphgeschrei hallte von den Wänden wieder.

»Ist okay, Hawkens!«, lachte Julian. Er schnappte sich den Ball und warf ihn wieder ins Spiel. »Das war dein großer Moment. Aber jetzt zeig ich dir mal was, da werden dir die Augen rausfallen.«

Als der Ball in Julians Torbereich rollte, nahm er ihn mit seinem Torwart an. Er führte ihn mit dem unteren Ende der Spielfigur geschickt den Torrahmen entlang, bis er ihn am höchsten Punkt Zwischen Torwand und Torhüter platziert hatte. Im nächsten Moment betätigte er mit einem kurzen Schwung seines Handgelenks die Spielstange, woraufhin der Ball im hohen Bogen über das Spielfeld flog und sich unerreichbar hinter Michaels Torwart in dessen Torkasten senkte.

»Alter!«, wunderte sich Michael lautstark. »Wie hast du das denn gemacht?«

»Magische Hände«, grinste Julian verwegen. »Los, schnapp dir die Pille, und weiter geht’s!«

Dort, wo der Kickertisch stand, befand sich auch die Tür zum Flur. Dort gleich links lag die Eingangstür zum Haus der Jugend, eine schwere, alte, verglaste Stahltür, deren Rückholmechanismus beim Zufallen immer nur bis auf die letzten Zentimeter funktionierte. Von dort fiel das Türblatt stets mit einem lauten Rumms in Schloss. Genau in diesem Moment ertönte dieser Rumms, denn der achtzehnjährige Alex Schröder hatte das Haus betreten. Der lockige Wuschelkopf aus seiner frühen Jugend war einer Kurzhaarfrisur gewichen.

»Na, ihr Nutten!«, plärrte er ausgelassen seinen Freunden entgegen.

»Hey, Ditze!«, rief ihm Damian von der Theke aus entgegen. »Was läuft?«

»Nicht viel, Motte!«, kam die Antwort von Alex. »Ein kacklangweiliger Tag noch. Hier ist wenigstens was los … Hey, Melli. Deine Haare sehen aus wie Sau.«

»Danke, Blödmann«, konterte Melli trocken. »Wann wäscht deine Mami eigentlich nochmal deine Klamotten?«

Alex imitierte nun einen spanischen Akzent.

»Das kann sie nicht mehrr, denn ich habe sie umgebrracht. Und weißt du, warrum ich das getan habe? Weil sie mich einen Blödmann genannt hat.«

»Du brauchst echt Hilfe«, gab Melli ihm kichernd zurück und wandte sich kopfschüttelnd Isi zu. Alex ging weiter zur Theke, wo er von Mike und Kevin begrüßt wurde.

»Ah, Ditze!«

»Suddel. Haufen. Alles steil bei euch?«

»Gestern ging’s noch«, blödelte Mike.

»Hä? Wie?«, blökte Kevin. »Was war gestern?«

»Ist gut, Haufen«, winkte Mike ab.

»Nix wichtiges«, fügte Alex hinzu. »Machste mir ’n Diesel, Motte?«

»Geht klar«, nickte Damian und bückte sich unter den Tresen.

In den banalen Smalltalk mischte sich der Ruf von Jenni, deren Blick kurz aus dem Fenster gefallen war.

»Heh! Da fährt wieder irgendein Trottel auf unseren Parkplatz. Da muss Motte wohl nochmal raus gehen.«

Auch Pia drehte ihren Kopf zum Fenster. Zum Haus der Jugend gehörte noch eine acht Meter breite Außenfläche mit einer Beton-Tischtennisplatte in der Mitte. Dahinter zog sich eine niedrige Steinmauer mit einem gleichfalls niedrigen Metallgeländer entlang. Hinter dieser befand sich eine Reihe von knapp abgezählten Pkw-Stellplätzen, die kaum ausreichten, um die Fahrzeuge von Hermann und den Jungs unterzubringen.

»Wer ist es denn diesmal?«, rief Alex, der mit seinem Diesel zu Michael und Julian hinübergegangen war. »Einer von den üblichen Verdächtigen?«

»Nee«, antwortete Damian und beschrieb: »Schwarzer Jeep Wrangler. Neunziger Baureihe, denk ich. Ausländisches Kennzeichen.«

»Na gut, der kann’s nicht wissen«, hielt Julian dem Fremden während des Kickerspielens zu Gute.

»Der Typ steigt aus«, meldete Jenni. »Uuh, hübscher Junge.«

»Wow!«, stimmte Pia ein. »Der hat ja Muckis. Jenni hat recht, der sieht voll süß aus.«

Daraufhin liefen Melli und Isi zum Fenster.

»Hm«, machte Melli und fügte recht angetan hinzu: »Joa.«

»Sieht er besser aus als Boggy?«, lachte Michael, ebenfalls ins Kickerspiel vertieft.

»Anders«, beschrieb Melli. »Sehr athletisch. Aber ganz anderer Look. Eher so schlicht natürlich, bisschen wild irgendwie.«

»Blue Jeans«, beschrieb Jenni. »Enges, weißes T-Shirt. Braune Outdoor-Boots. Brauner Ledergürtel mit ‘ner verschnörkelten Schnalle. Die sieht amerikanisch aus. So Route-66-mäßig.«

Damian sah den Fremden von der Theke aus. Seine Augen musterten ihn, und er schien leicht verwirrt.

»Ich glaub, der will zu uns, Leute!«, bemerkte Isi.

»Oh ja, komm rein, Blondi!«, witzelte Pia. Melli gab ihr einen Klaps auf den Po.

»Hey, Kleine!«, feixte sie. »Beruhig dich. Der ist doch mindestens so alt wie Boggy und Motte!«

Der junge, blonde Mann ging nun ums Haus herum, wobei er aus dem Blickfeld der Freunde verschwand. So still war es im Gemeinschaftsraum selten. Hermann, der am anderen Ende des Flures in seinem Büro saß, musste augenblicklich den Eindruck gewinnen, dass seine Schützlinge etwas ausgefressen hatten.

Gespannt warteten alle darauf, dass sich an der Haustür etwas bewegen würde. Und tatsächlich, die Tür schwang auf, und kurz darauf, begleitet von dem hallenden Rumms der zufallenden Stahltür, trat der gutaussehende Fremde in den Raum. Er grinste dem verwundert glotzenden Freundeskreis in die Gesichter.

»Ich komm unerwartet, schätz ich«, flachste er. »Aber ’n bisschen herzlicher hätt der Empfang fürn alten Kumpel schon sein können.«

Damian trat hinter der Theke hervor. Im Näherkommen hielt er eine Hand vor den Mund.

»Richthof, bist du das?«, hauchte er.

»Quicklebendig«, antwortete der Rückgekehrte lachend. »Wie ’n Gekko nach ’nem Sonnenbad.«

Da tauten auch die übrigen Jungs auf. Der erste, der Tim um den Hals fiel, war Julian. Feste schlug er Tim dabei mit der flachen Hand auf die breiten Schultern.

»Scheiße, Alter! Du bist ja kaum wiederzuerkennen!«

Nun schloss sich der Rest von Tims alter Gang an.

»Hey, Kumpel. Ist das geil, dich wiederzusehen!«

»Mensch, Tim, ich kann’s nicht glauben.«

»Dass du nochmal hier auftauchst!«

»Bist du jetzt offiziell wieder da, oder kommst du nur zu Besuch?«

Tim freute sich über die Umarmungen und Handschläge, die von allen Seiten kamen.

»Ich bin wieder da«, frohlockte er. »Zu Hause. Ich bleibe. Jetzt spätestens.«

Neben dem jubelnden Haufen von Jungs standen vier Mädchen, die sich ein wenig unbeachtet fühlten. Es war Melli, die durch ein Räuspern auf sich und ihre Freundinnen aufmerksam machte.

»Möchten die Herren uns bekanntmachen?«, fragte sie, als die Jungs endlich zu ihnen sahen. Isi kickte ihr gegen den Fuß.

»Quatsch nicht so annahaft«, zischte sie.

Julian ergriff das Wort.

»Sorry, Mädels. Tim, das sind Melli und Isi. Und hier haben wir Jenni und Pia … Tim, du musst wissen, Melli und Isi waren genau an dem Tag zum ersten Mal hier, als du in den Sack gehauen hattest.«

Melli streckte Tim die Hand hin. Er nahm sie an und schüttelte sie.

»Hi. Ich bin Tim Richthof. Ich war ’ne Weile weg. Hab ’nen irren Trip um die Welt hinter mir.«

»Du bist also der berüchtigte Tim Richthof«, sprach Melli. »Sehr interessant.«

»Berüchtigt?«, fragte Tim nach und runzelte die Stirn. »Berüchtigt für was?«

»Auf dem Gymmi geht das Gerücht rum«, erklärte Melli, »dass du im Knast sitzen würdest. Oder zumindest in irgend ’ner Jugendstrafanstalt.«

»Hey!«, rief Tim sichtlich amüsiert aus. »Die feinen Pinkel da oben kennen mich? Ich fühl mich ja glatt geehrt! Nur labern sie mal wieder Müll, die eingebildeten Klugscheißer.«

»Heißt das, das ist nicht wahr?«, wollte Isi wissen.

»Kein verkacktes Wort davon ist wahr. Wie ich schon sagte, ich hab ’nen Trip um die Welt hinter mir.«

Melli verschränkte die Arme vor der Brust und blickte Tim skeptisch an.

»Soso, Mister Trip-um-die-Welt«, nickte sie. »Was hast du zu bieten, dass ich dir das auch abkaufe?«

Tim lachte vergnügt und sprach zu seinen Freunden, während er Melli weiter ansah.

»Die Kleine ist echt cool, Leute! Bisschen vorlaut, aber cool … Also, wie heißt du nochmal? Nelly?«

»Melli!«

»Melli. Also, hör zu, Melli. Wenn meine ganzen Souvenirs, die ich unterwegs gekauft und gelagert habe, mal alle hier angekommen sind, dann lad ich dich ein. Dich und die ganzen Figuren hier. Und dann zeig ich euch das alles, okay? Bis dahin muss dir meine Karre da draußen reichen. Siehst du das Nummernschild? Marokkanisches Kennzeichen. Hab die Mühle erst kürzlich in El Hajeb gekauft. Bin damit nach Al Hoceima gefahren und von da aus mit der Fähre nach Motril. Bin dann mit ein paar Stopps durch Spanien und Frankreich bis hierhin geheizt. Der Motor ist noch heiß. Willste mal fühlen?«

»Nee, passt schon«, schmunzelte Melli.

»Zur Not klebt auch noch reichlich Sahara-Staub an dem Haufen«, fügte Tim lachend hinzu.

»Hä? Was?«, rief Kevin dazwischen. »Was ist mit mir?«

»Nix, Haufen«, grinste Tim ihn an. »Hab von meinem Auto geredet.«

»Ach so«, kicherte Kevin unsicher. »Und wer bist du, dass du meinen Spitznamen kennst?«

»Haufen!«, rief Michael ihm zu. »Das ist Richthof.«

»Hä?«, stieß Kevin hervor. »Ich denk, der ist weg. Seit Jahren schon.«

»Boah, Haufen!«, schrie Damian ihn an. »Du bist doch die ganze Zeit hier gewesen! Richthof ist seit eben wieder zurück!«

Tim lächelte in die Runde.

»Manche Dinge ändern sich nie, schätz ich.«

»Haufen jedenfalls nicht«, meinte Alex. »Wie sieht’s denn aus, Alter. Weißt du schon, wo du wohnst? Können wir dir bei irgendwas helfen? Ich hab ’ne alte Couch abzugeben, falls du Möbel brauchst.«

»Danke, Ditze. Darauf komm ich zurück, wenn’s soweit ist. Als erstes brauch ich wohl mal ’nen Job, schätz ich.«

»Wenn du Bock hast«, warf Michael ein, »leg ich ein gutes Wort für dich bei meinem Chef ein. Wir suchen gerade Leute bei der Straßenmeisterei.«

»Echt jetzt?«, freute sich Tim. »Wär ja geil, wenn ich so schnell was kriegen würde. Danke, Mann.«

»Dafür nicht, Kumpel.«

»Das ist unser guter, alter Richthof«, warf Damian übermütig ein. »Früher hat er Trips eingeworfen. Heute macht er Trips um die ganze Erde.«

Er lachte lauthals über seinen eigenen Spruch. Die überschwängliche Freude über das Wiedersehen waren ihm und den übrigen Jungs deutlich anzumerken.

»Ist Hermann auch da?«, erkundigte sich Tim in die Runde.

»In seinem Büro«, deutete Michael ihm mit einem Kopfzucken an.

»Cool. Dann sag ich dem alten Oberindianer jetzt auch mal Hallo.«

Damit drehte sich Tim um. Er wollte hinter der Theke durch den kürzeren Weg zu Hermanns Büro nehmen. Dabei hätte er um ein Haar Melli umgestoßen, die gerade hinter ihm stand. Schnell fasste er ihre Schultern, um das Unheil zu vermeiden.

»Vorsicht, Mister Trip!«, rief sie aus. »Hier herrscht Verkehr.«

Tim lachte: »Du darfst aber echt Tim zu mir sagen. Nur keine Scheu.«

»Nö«, entgegnete Melli. »Mit dem Namen musst du dich jetzt abfinden.«

Lachend ließ Tim sie los und eilte zu Hermanns Büro. Er brauchte gar nicht erst anzuklopfen.

»Komm rein, Junge«, klang Hermanns Stimme durch die geschlossene Glastür. Tim drückte sie auf.

»Hi, Hermann. Du hast die ganze Zeit gewusst, dass ich wieder hier bin?«

»Ich wollte dich erstmal mit deinen Freunden Wiedersehen feiern lassen. Du siehst gut aus.«

»Du auch. Ich sehe, du hängst immer noch an deinem Schnurrbart.«

»Na klar!«

»Bleibt denn da nicht ständig der Geschmack von der Suppe drin hängen?«

Hermann lachte herzhaft.

»Immer noch der alte Sprücheklopfer, was? … Hier, setz dich … Erzähl mal. Was hast du die letzten Jahre gemacht?«

Tim zeigte ein zartes Kopfschütteln, während er den kleinen Bürostuhl an sich heranzog und Platz nahm.

»Später vielleicht mal«, entgegnete er zurückhaltend. »Würde erstens zu lang dauern … und zweitens, keine Ahnung, ist auch viel Privates dabei.«

»Das versteh ich gut«, sah Hermann sofort ein. »Du musst das ja auch erstmal alles sortieren. Lass dir so viel Zeit wie du brauchst.«

Tim sah sich im Raum um. Nach einer Weile rieb er sich sein Gesicht mit den Händen ab und atmete hörbar aus.

»Ich kann’s noch nicht so richtig begreifen. Auf einmal bin ich wieder hier. Wo alles angefangen hat.«

»Wie fühlt es sich an?«, erkundigte sich Hermann vorsichtig.

»Komisch irgendwie«, gab Tim zu. »Es ist, als wär ich aus ’nem langen Traum aufgewacht.«

»Aber ein schöner Traum?«

»Schon. Meistens … Wirklich schlimm war’s nur vorher.«

»Ich weiß, Tim.«

Es folgte eine längere Pause. Tim nahm wieder tief Luft. Hermann wartete geduldig ab, bis Tim weiterredete.

»Was ist mit meinen Alten? Leben die noch?«

»Ja. Natürlich.«

Da Tim nun länger schwieg, ergriff Hermann sanft das Wort.

»Wirst du dich bei Ihnen zurückmelden?«

Die Frage lag einige Sekunden lang recht schwer im Raum.

»Weiß ich nicht … Ich hab Angst … Ist besser, wenn ich mich fernhalte, schätz ich.«

Weitere Sekunden, die sich unglaublich lang anfühlten, verstrichen, bevor Tim seine Anspannung lachend löste.

»Scheiße, Hermann. Die Stadt ist groß genug, um sich aus dem Weg zu gehen, oder? … Was ist mit Hawkens, Motte, Boggy und Ditze? Warum hängen die alten Geier noch hier ab?«

»Sie hängen am Haus. Sind hier groß geworden. Es hat sich ergeben, dass sie mir ein bisschen helfen.«

»Helfen?«

»Ja. Sie machen auf, wenn ich was später komme. Oder schließen ab, wenn ich früher los muss. Sie möchten das Haus für andere Jugendliche so lang wie möglich öffnen. Sie helfen auch bei der Betreuung. Ehrenamtlich, klar. Aber sie machen es gern.«

»Find ich gut. Könnt ich mir auch vorstellen. Wenn ich ans Haus denke, dann sind das nur gute Erinnerungen.«

»Du bist jetzt auch zwanzig, gell? Wenn du magst, kann ich es mit dir so machen wie mit den anderen Jungs. Das Jugendamt gibt regelmäßig Seminare für Ehrenamtler. Die Basics halt: Bisschen Pädagogik, Jugendschutz, und so. Da schick ich dich hin, und dann kannst du mitmachen. Mit deinen Freunden.«

»Das klingt gut«, nickte Tim Hermanns Vorschlag ab. Dann erhob er sich und ging zurück zur Tür. Er nahm sie in die Hand und zog sie auf. Im Rahmen stehend drehte er sich nochmal zu Hermann um.

»Ich hab nie Danke gesagt.«

Hermann lächelte liebenswürdig und schüttelte angedeutet den Kopf.

»Brauchst du auch nie«, sicherte er Tim zu.

– – –

»Okay, Schluss damit!«, lachte Tim herzhaft. »Wir hören uns ja an wie zwei alte Männer im Straßencafé, die aus ihrer Jugend erzählen!«

»Nee«, hielt Alex gleichsam ausgelassen dagegen, »soweit lassen wir’s schon nicht kommen.«

»Aber schon interessant«, stellte Tim fest, »dass du dich so gut an deine Zankereien mit Melli erinnerst.«

»Wieso auch nicht?«, gab ihm Alex zurück. »Die kann gut kontern. Außerdem ist sie schnuckelig.«

»Kann sein. Ist mir ziemlich egal. Was mich betrifft, hast du freie Bahn.«

»Darum geht’s nicht, Trip. Es geht mir um dich.«

»Um mich??«

»Ja. Guck mal; du hast jetzt das Haus und lebst hier ganz alleine.«

»Das ist doch das Geile!«

»Meinst du nicht, es wär schöner, wenn du ’ne Freundin hättest?«

»Jetzt geht das wieder los. Seit ich wieder da bin, liegen du und die Jungs mir damit in den Ohren. Woher kommt eure Besessenheit von meinem Leben?«

»Ach, komm, Trip! Du weißt, dass mehr dahintersteckt. Wie oft hast du uns jetzt schon von den schlimmen Träumen erzählt, die du hast, seit du zurück bist? Klar, wir sind deine Kumpels, und du kannst auf uns zählen, aber wir sind nicht immer hier, wenn du jemand zum Reden brauchst.«

»Ich find’s ja schwer in Ordnung von euch, dass ihr euch Sorgen macht. Aber erstens bringen Träume keinen um, und zweitens, nur deswegen such ich mir nicht mit Gewalt irgend’ne Alte.«

»Wieso mit Gewalt? Es gäb genügend Kandidatinnen. Pia ist nur eine von denen?«

»Pia?! Hast du ’nen Knall?«

»Jaa, nicht unbedingt Pia. Obwohl sie immerhin voll in dich verknallt ist.«

»Ja. Und weißt du, was sie noch ist?«

»Na, was?«

»Vierzehn.«

»Alt genug.«

»Ach, Ditze, hör auf! Da ist doch keine Augenhöhe vorhanden. Ich geb ja zu, dass an dem, was du sagst, was dran ist, aber mit ’ner Minderjährigen werd ich garantiert nichts anfangen, das ist todsicher! Und außerdem – stell dir mal das Gerede vor. Soll ich mir das auch noch anhängen lassen?«

»Hast ja recht«, lenkte Alex ein. Dann sah er auf seine Uhr und verkündete: »Trip, ich muss los! Tante Helga blutet der Arsch, wenn ich ’ne Minute zu spät komm.«

»In Ordnung«, akzeptierte Tim und nickte, »ich geh mit nach draußen. Ich fahr runter ins Haus. Kommst du später noch nach?«

»Klare Sache!«, sicherte Alex ihm zu. »Ich hab nicht vor, lange bei Tante Helga und ihren Kaffeetanten zu bleiben. Ich denk, ich kann mich nach ’ner Dreiviertelstunde verkrümeln.«

»Weißt du was? … Komm mit, ich setz dich bei ihr ab!«, lud Tim seinen Kumpel ein.

Die beiden Freunde standen auf. Tim schnappte sich seinen Schlüsselbund und ging mit Alex zur Tür. Dort prüfte er noch rasch, ob die Futternäpfchen ausreichend gefüllt waren und strich einer grau getigerten Katze über Kopf und Rücken. Dann verließen sie das Haus und stiegen in Tims Auto ein.

Das Stück, das Tim nun fuhr, war deutlich kürzer als der Ritt von Marokko in die Eifel. Gerade mal drei Kilometer waren es von seiner Haustür bis in die Innenstadt. Dort wohnte Alex’ Tante. Keine fünfhundert Meter Luftlinie von ihrem Zuhause entfernt, unten an der Bundesstraße, befand sich das Haus der Jugend.

Als Tim den Flur des Hauses der Jugend betrat, fiel die schwere Eingangstür hinter ihm mit dem vertrauten, dumpfen Rumms ins Schloss. Von dort aus waren es drei Schritte bis zum großen Gemeinschaftsraum, in dem mit Ausnahme von Alex bereits alle Jungs und Mädels, mit denen Tim befreundet war, herumsaßen oder verschiedenen Aktivitäten nachgingen.

»Hey, Leute!«

»Hey, Trip! Cool! Weißt du, wo Ditze steckt?«

»Der hat noch kurz was zu erledigen.«, rief Tim. »Wie sieht’s aus, Hawkens? Bock auf ’ne Abreibung am Kicker?«

»Die kannst du kriegen«, lachte Michael und stand von seinem Barhocker an der Theke auf.

»Leute, beherrscht euch!«, ermahnte Hermann, der hinter der Theke stand, die beiden Jungs. »Das ist der dritte Kickertisch in anderthalb Jahren. Wenn der kaputt ist, gibt’s keinen Neuen mehr. Ich sag’s euch!«

Doch Kicker war nun mal der Sport im Haus. Regelmäßig wurden Turniere ausgetragen. Einige der Jungs hatten es auch echt drauf! Julian zum Beispiel war ein Künstler am Kicker. Er spielte schnell und elegant und hatte ein paar verblüffende Tricks auf Lager. Mike schoss ausgesprochen präzise von hinten heraus. Seine Schüsse mit dem Tormann gingen fast immer ins Ziel. Tim und Michael aber waren die Meister. Sie spielten genau, schnell und mit purer Kraft. Ihre Schüsse hallten im ganzen Haus. Und sie liebten die Show. Sie machten sich einen Spaß daraus, ihre Gegner mit großen Sprüchen zu verunsichern und mit ihrem Kriegsgeschrei einzuschüchtern. Doch wenn sie einen Treffer kassierten, brüllten sie ebenso laut, hoben den Tisch mit den Spielstangen an und ließen ihn mutwillig auf den gefliesten Boden krachen. Das war Leidenschaft, das war Lärm, das war ihre Show. Leider hatten sie dabei schon mehrere Kickertische geschrottet, und das konnte Hermann verständlicherweise nicht leiden. Mehrfach hatte er schon damit gedroht, keinen neuen Tisch mehr zu besorgen.

Damit die Schüsse besonders laut krachten, spielten sie am liebsten mit den harten Bällen. Es gab auch einen Satz weiche Bälle, doch mit denen konnte man nicht so schön bolzen. Deswegen sortierten die Jungs sie immer aus.

»Ich werd dich zerfetzen, Trip! Ich werd dir so den Arsch aufreißen, dass man einen Lichtschein in deinem Hals sieht, wenn du gähnst!«

»Geschissen, Alter! Davon träumst du, du erbärmlicher Loser!«

Mike, Julian und Kevin, die an der Theke saßen, drehten sich auf ihren Hockern um, sodass sie in Richtung Kicker sehen und das Spektakel verfolgen konnten. Wenn Tim und Michael gegeneinander spielten, war immer Showtime angesagt. Das wollten sie sich nicht entgehen lassen.

»Jaa, Kicker!«, rief Pia begeistert. »Ich zähl die Tore für Trip.«

Damit griff sie Jenni am Ärmel und lief mit ihr zum Kickertisch, wo sich Tim und Michael gerade bereit machten. Tim wählte die blauen Figuren und Michael die roten. Links von Tim, an der kurzen Seite des Spieltischs, stand Pia am blauen Torzähler und strahlte ihren Schwarm an. Er grinste ihr zu und stellte fest: »Dann bist du also heute meine Glücksfee, ja?«, worauf Pia rote Wangen bekam und schüchtern mit dem Kopf nickte.

»Uuuuh«, neckte Jenni sie lachend, »Glücksfee.«

»Ja«, gab Pia stolz zurück, »und du kannst gerne die Glücksfee von Hawkens sein. Wir gewinnen eh gegen euch.«

Jenni lächelte und ging rüber zum roten Torzähler am anderen Ende des Spieltischs.

»So!«, rief Michael entschlossen. »Erst mal raus mit den Flummis. Wo sind die Krafteier?«

»Die müssen irgendwo dazwischen liegen«, antwortete Tim. »Vier Krafteier und vier Flummis.«

»Alles klar, hab sie.«

Michael nahm die weichen Bälle aus dem Kickertisch heraus und legte sie auf die Fensterbank, die sich hinter ihm befand. Die harten Bälle ließ er drin. Dann nahm er einen von ihnen in die Hand.

»Also, Hawkens, das Spiel heißt Kicker«, frotzelte Tim, »und ich zeig dir jetzt, wie man das spielt, alles klar?«

»Halt die Schnauze!«, konterte Michael. »Ich fang an?«

»Ja, fang an. Nützt dir eh nix.«

»Sehen wir dann. Friss den!«

Darauf warf Michael den Ball mit der linken Hand in das Einspielloch in der Mitte der vor ihm liegenden Tischkante. Sofort holte er aus und ballerte die Kugel in Richtung Tims Tor. Es knallte heftig, als der Ball gegen die Torwand krachte und zurückprallte. Sofort schoss Michael nach, doch es wurde wieder kein Treffer, weil der Ball abermals mit einem Mordsknall von Tims Torwand abprallte.

Kevin fing an zu lachen.

»Passt auf!«, rief er. »Gleich ist der Kickertisch kaputt!«

»Dann haben sie ein Problem«, kommentierte Julian, »das heißt, wir alle haben dann ein Problem, weil wir keinen Neuen mehr kriegen.«

»Jap«, bestätigte Mike, »hat Hermann eben klar und deutlich gesagt.«

»Na und?«, rief Kevin aus. »Dann besorgt Hermann eben ’nen Neuen und gut ist!«

»Oh, Haufen!«, riefen Damian und Julian gleichzeitig, und Damian fuhr aufgebracht fort: »Hast du nicht gehört, was Hermann, Boggy und Suddel gerade eben nacheinander gesagt haben?«

»Nee, was denn?«

»Dass wir keinen neuen Kicker mehr kriegen, wenn der alte am Arsch ist.«

»Ach, echt?«

»Nee, Haufen, aus Plastik!«

Alle mussten lachen. Außer Kevin, der den Witz nicht verstand. Damian konnte sich immer so schön aufregen, wenn Kevin seine berühmte lange Leitung hatte.

Plötzlich ein Knall! Dann ein ohrenbetäubender Aufschrei, gefolgt von einem lauten Krachen, das im ganzen Haus hallte.

Tim hatte von hinten heraus mit einem Gewaltschuss ein Tor erzielt, woraufhin Michael einen Urschrei ausstieß, den Kickertisch mit den Spielstangen anhob und auf den Boden krachen ließ.

Tim hob lachend die Arme hoch. Pia klatschte begeistert in die Hände, und Jenni hielt sich erstaunt lächelnd mit großen Augen eine Hand vor den Mund und war sichtlich verblüfft über Michaels übertriebenen Wutausbruch.