Die Akte von Hillesheim - Thomas Regnery - E-Book

Die Akte von Hillesheim E-Book

Thomas Regnery

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Beschreibung

Birgt die Krimi-Stadt ein dunkles Geheimnis? Fünfeinhalb Jahre sind vergangen, seit Tim und Anna den Säbel vom Asenberg geborgen haben. Seitdem hat sich einiges verändert. Sie beide verfolgen inzwischen ihre beruflichen Karrieren außerhalb der Eifel. Doch eines Tages zieht es sie unversehens in ihre Heimat zurück. Ein Verbrechen ist in Leyental geschehen, doch der Anlass für die Tat liegt völlig im Dunkeln. Nur eins scheint sicher: Jemand, den Anna gut kennt, muss in die Ereignisse verwickelt sein! Wie können Tim und Anna Licht ins Dunkel bringen und gleichzeitig die vertraute Person schützen? Die Helden der Albenhain-Saga sind erwachsen geworden. Dies gilt auch für den neuen Roman aus der Reihe. Es geht knallhart zur Sache, jedoch nicht ohne die gewohnte lockere Erzählweise, die kecke Portion Witz und einen Schuss Romantik.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

– Kapitel 1 –

Leyental, 29. Juni 2021

Es herrschte eine schwülwarme, geradezu drückende Hitze. Vereinzelte Wolkentürme wölbten sich am Horizont wie Blumenkohl in den blauen Himmel hinauf. Ihre Oberkanten breiteten sich flach aus, als sie an die Stratosphäre stießen. Selbst dünne T-Shirts hielten die Körper der Menschen an diesem Tag zu warm. Egal ob man sich draußen oder drinnen aufhielt, die Haut fühlte sich klebrig feucht an, und ständig ließen sich Gewittertierchen auf ihr nieder.

Die Eifelstadt Leyental erlebte einen der wärmsten Sommer ihrer Geschichte. Bäume und Hecken, aus denen während dieser Nachmittagsstunden kein Vogelzwitschern erklang, flirrten im gleißendhellen Sonnenlicht. Nur das Geräusch von mehreren Rasenmähern, die gleichzeitig aktiv waren, erklang aus verschiedenen Richtungen des Wohngebiets. Es handelte sich um eine Ecke der Stadt, die vor Jahrzehnten mal ein florierendes Neubaugebiet war, mit Häusern, deren Wände nach frischem Putz rochen, und das erfüllt war vom Lärmen und Lachen spielender Kinder auf den Straßen.

Diese Zeiten waren schon sehr lange vorüber. Die jungen Häuslebauer von damals waren heute Rentner, die ihre Tage meistens damit verbrachten, den Rasen zu wässern, Unkraut aus dem Vorgarten zu zupfen und die Kullang zu kehren. Vor allem aber war es still zwischen den Häusern – eine ruhige, beschauliche und im Großen und Ganzen doch weitestgehend vergessene Wohnlage voller Gartenzwerg- und Geranienidylle.

Eines der Häuser war noch älter als die umliegenden Eigenheime. Sein Grundstein war in den frühen fünfziger Jahren gelegt worden, was man an dem dunklen Verputz, der klapprigen Bohlen-Kellertür und den steilen Giebeln gut erkennen konnte. Seine schwere Vollholzhaustür stand in diesem Moment einen Spalt weit offen. Im Inneren des gediegen eingerichteten Erdgeschosses lag der dunkle Würfelparkettboden über und über mit kleinen, dünnen Glasscherben voll. Derbe Sohlen schwarzer Bundeswehrschuhe zertraten sie beim Hin- und Hergehen zu scharfen Glassplittern, zwischen denen feine Stecknadeln und Insektenbeinchen verstreut lagen.

»Wo ist der Scheiß?«, fluchte eine tiefe Männerstimme. »Verdammte Paukerfotze!«

Bücher und noch mehr Glas prasselten auf den Boden.

»Hey!«, mahnte die raue Stimme eines anderen Mannes. »Reiß dich ein bisschen zusammen. Soll die halbe Nachbarschaft hier zusammenlaufen?«

»Was denn?«, höhnte der Bass. »Die Greisenarmee da draußen? Ich lach mich tot.«

»Ruhe jetzt!«, zischte der Raustimmige. »Vorm Haus hat irgendein Trottel angehalten.«

Achtlos trampelten die Stiefel über Bücher, Büroutensilien und Glassplitter. Seitlich hinter einem breiten Zimmerzugang blieben sie stehen. Ein Stemmeisen hing bis zum Stiefelschaft hinunter. Aus der kräftigen Faust, die es festhielt, traten die Sehnen des Handrückens hervor.

Kaum hörbar hielt das Elektro-Auto am Straßenrand entlang des Bordsteins. Ein Mann Ende vierzig stieg aus. Er wischte sich mit einem Stofftaschentuch den Schweiß von der Stirn und sah sich, die Augen zusammenkneifend, nach allen Seiten um. Dann konzentrierte er sich auf die Haustür, die immer noch ein Stück weit offen stand. Er beugte sich vor und äugte starr geradeaus, so als ob er erwartete, durch den schmalen, dunklen Schlitz etwas im Haus erkennen zu können.

»Was ist das für ein Knilch?«, raunte der Bass, der inzwischen wie sein Begleiter zum Fenster gegangen war. Die andere Stimme antwortete: »Sieht mir aus, als wär das auch irgend so ein linksgrünversiffter Penner.«

Der Besucher wagte sich nun einige Schritte in Richtung Tür, den Spalt nicht aus den Augen lassend.

»Elfi?«

Seine Stimme klang unsicher und besorgt. Langsam näherte er sich dem Eingang. Die Knöchel der Faust, die das Stemmeisen umschloss, wurden weiß.

»Elfi, bist du da?«

Der Mann streckte die rechte Hand in Richtung Türknauf aus. Er zögerte. Sein Blick fiel auf den in Schlosshöhe zersplitterten Teil des Zargenholzes. Rasch zog er die Hand zurück. In seiner Verunsicherung begann er, einige Schritte rückwärts zu gehen. Mit einem Mal drehte er sich um und strebte eiligen Fußes zu seinem Elektrofahrzeug zurück. Hastig stieg er ein, knallte die Fahrertür zu und brauste davon.

Der Marktplatz am Neptunbrunnen war überaus belebt an diesem hellen und warmen Sommerdienstag. Soeben hatten die Glocken der nahen Stiftskirche begonnen, zum Angelusgebet zu läuten. In Leyental, wie in vielen anderen Städten und Dörfern der Eifel, hätte man gesagt: »Et schläscht Betklock«, doch das Geläut, das in diesem Moment durch die engen Gassen schallte, ging von keinem Eifeler Glockenturm aus.

Für die Menschen auf dem Marktplatz, von denen nicht wenige Touristen waren, markierte der Klang den Übergang vom Nachmittag in die Abendstunden, und dies hob ihre gute Laune noch einmal kräftig an, denn es wurde nun bald Zeit, in eine der zahlreichen Weinstuben der Stadt einzukehren und zur Gemütlichkeit überzugehen. Während die Sonne langsam tiefer sank, glitzerte weiter unten in dem flachen Tal die Wasseroberfläche des Flusses Neckar in ihrem Gegenlicht.

Mit dem Abklingen des Geläuts wurde es auf den gepflasterten Wegen zwischen den Fachwerkhäusern wieder leiser. Kurz darauf waren von der Kirchgasse herauf ruhige Schritte wahrzunehmen, deren Geräusch vermuten ließ, dass sich Damen in elegantem Schuhwerk näherten. Die beiden jungen Frauen hatten Tübingen vor drei Jahren nicht des Weines oder der schmucken Gassen wegen aufgesucht, sondern um sich in der Eberhard-Karls-Universität einzuschreiben. Von dort kamen sie gerade. Sie hatten vor einer knappen Stunde ihre letzte Vorlesung des Tages gehört. Gleich im Anschluss hatten sie sich auf dem Campus getroffen, um gemeinsam den Weg zurück in ihre Wohnstätten anzutreten.

Beide Damen waren ausgesprochen hübsch und legten überdurchschnittlich hohen Wert auf ihr äußeres Erscheinungsbild, jedoch, die eine von ihnen war von besonders eleganter, geradezu anmutiger Haltung. Die luxuriöse Bekleidung, zu der ein grauer, weiß karierter Stella-McCartney-Minirock, ein doppelreihiger Blazer von Racil in Himbeerfarbe sowie dunkle Jimmy-Choo-Plateausandalen gehörten, war dem Stand ihrer Trägerin angemessen. Es war die Komtess zur Heyden aus Leyental, die hier, verfolgt von den Blicken der Passanten, mit einer ihrer Kommilitoninnen entlang schritt, während ihr hüftlanges, pechschwarzes Haar bei jedem Schritt sanft wogte. Annabelle Patrizia Josephine, so lauteten ihre Vornamen in vollständiger Schreibweise. Für diejenigen aber, die ihr nahe standen, war sie einfach Anna. Annas Begleiterin war auch aus gutem Hause, wenngleich ihr der adelige Hintergrund fehlte. Sie trug eine rotbraune Kurzhaarfrisur, die tadellos saß, und eine rahmenlose Brille, dazu ein schlichtes, türkisfarbenes Kurzkostüm. Sie sprach im Gehen aufgeregt zu ihrer Gefährtin.

»Sag mir bitte noch mal ganz genau, was Professor Hehlbach zu dir gesagt hat.«

»Du kannst es immer noch nicht fassen, nicht wahr?«

»Ach, komm schon, Anna! Wie kannst du dabei so cool bleiben? Das ist eine unglaublich große Sache. Ich meine, du bist letzten Monat erst 22 geworden, und heute gibt dir eine Koryphäe der Geschichtswissenschaften die Zusage, dein Doktorvater zu sein. Das ist so gewaltig!«

Anna musste lächeln.

»Deine Anteilnahme rührt mich, das muss ich schon bemerken.«

»Anteilnahme? Wie eine Verrückte freu ich mich für dich!«

»Dafür danke ich dir, wirklich«, versicherte Anna ihrer Freundin, die auch schon begeistert fortfuhr: »Natalie Bayrhammer ist außer dir die einzige, die alle Scheine zusammen hat. Sie hat heute in der Mensa behauptet, dass du den Anforderungen von Professor Hehlbach wohl kaum gewachsen sein wirst. Sie meinte, dass du nach sechs statt acht Semestern nicht so ein gefestigtes Wissen haben kannst, dass es für seine Ansprüche reicht. Ich schlage vor, du belehrst sie eines Besseren.«

Anna antwortete mit der für sie typischen, ruhigen und monotonen Stimmlage.

»Sie ist doch nur abgünstig, weil ich den Professor zuerst ansprach. Sie hatte alle erforderlichen Nachweise vor mir beisammen, doch sie zögerte. Es war ihre eigene Zauderhaftigkeit, die sie ins Hintertreffen geraten ließ.«

»Ich bewundere dich echt für deine Gelassenheit. Genau wie damals in der Elf, als ich mit dem Glas Wasser vor dir stand, nachdem ich Tim angeflirtet hatte. Ich glaube, an deiner Stelle hätte ich mir das Wasser ins Gesicht geschüttet.«

Wieder musste Anna lächeln. Diesmal noch etwas mehr als vorhin.

»Nun, Fabienne, dieser Gedanke war mir seinerzeit sehr wohl durch den Kopf gegangen. Doch es geziemt sich nicht, derart die Fassung zu verlieren.«

»Was für ein Glück für mich«, lachte Fabienne.

Die beiden hatten inzwischen den Marktplatz überquert und waren neben dem Rathaus in die Haaggasse abgebogen.

»Puh!«, blies Fabienne durch die Wangen. »Endlich lassen diese Steigungen mal nach. Gleichzeitig quatschen und berghoch laufen ist eindeutig nichts für mich.«

Sie atmete im Gehen einige Male tief ein und aus, bevor sie das Gespräch fortführte.

»Wann erzählst du es Tim? Seht ihr euch dieses Wochenende?«

Anna nahm wehmütig Luft und schüttelte den Kopf.

»Ich fürchte nicht. Er hat meinen Onkel heute nach England geflogen. Und morgen muss er sich für einen weiteren Auftrag bereithalten. Ich habe ihn jetzt seit zweieinhalb Wochen nicht gesehen, und ich gestehe, es ist mir inzwischen doch sehr lang geworden.«

Sie quittierte Fabiennes teilnahmsvollen Blick mit einem kurzen, süßen Lächeln.

»Ich verstehe dich, Anna. Dann hast du ja noch ein paar einsame Tage mehr vor dir.«

»Ich weiß mich zu beschäftigen. Ich verfüge ja nun meinerseits über gewichtige Beflissenheiten.«

Die Frauen schwenkten nach rechts und betraten ein besonders schmales Gässchen. Vor den Hausfassaden zeigte sich stellenweise frisches Grün, das sich aus den Fugen im Kopfsteinpflaster ans Licht drängte. Links des Weges befanden sich typische Fachwerkhäuser, während rechts eine kunstvoll gestaltete Gründerzeitfassade mit großen gesprossten Bogenfenstern aufragte. Beiden Seiten gemeinsam waren die steilen Satteldächer, die mit tonfarbenen Biberschwanzziegeln gedeckt waren. Anna und Fabienne blieben vor der Eingangstür des Gründerstilhauses stehen. Sie bestand aus einem massiven und dunklen Holzrahmen, der eine bucklige, ornamentierte Glasscheibe umfasste. Gewandt und mit flüssigen Bewegungen, ohne dass ein Geräusch zu hören war, nahm Anna den Hausschlüssel aus ihrer Handtasche. Im selben Moment sprang das schwere Türschloss auf, und der Flügel öffnete sich vor den Freundinnen. Ein alter, gebückter Mann mit Halbglatze und grauem, kurzem Vollbart, der offenbar gerade das Treppenhaus fegte, drückte die Tür gegen die Wand und gewährte den Damen mit einladender Geste Zutritt.

»Frau zur Hejden«, lächelte er mild, »ich hob Se gesehn durch der gläserner Tir.«

»Vielen Dank, Herr Silberstern«, erwiderte Anna und knickste leicht. Zusammen folgten die Damen der freundlichen Geste des Hausherrn, der sich nun kurz abwandte und trocken in die linke hohle Hand hustete.

»Do bekumm ich doch a Krank«, erklärte er im ironischen Ton, »und dos wenn der Summer kummt. Ah, wer gläubt’s?«

Anna hielt inne und wandte sich Herrn Silberstern zu. Sie betrachtete kurz seinen verschmitzten Gesichtsausdruck.

»Sie sollten sich heute vielleicht nicht mehr anstrengen und stattdessen der Ruhe pflegen«, riet sie charmant. »Sie müssen die Stufen nicht jeden Tag fegen.«

»Wenn dos hohe Freilein kejnen Onstoß nimmt?«, kam es recht heiter von dem alten Mann zurück. Anna legte die Hände in die Hüften und setzte einen humorig strengen Ton auf.

»Ganz gewiss nicht. Und zum nunmehr siebzehnten Mal: Ich bin kein hohes Fräulein, und ich wünsche auch nicht so behandelt zu werden. Mache ich mich deutlich? Und Ihre Gesundheit liegt mir höher am Herzen als ein übersorgfältig gepflegter Treppenaufgang!«

Heiser lachte Herr Silberstern: »Dos sind schejne Bobbemeises, wos se redn, jojo. Ich kenn immerzu davoin heren.«

»Und genau deshalb reizen Sie mich unentwegt damit, nicht wahr?«, ermahnte Anna ihn mit wedelndem Zeigefinger und fügte belustigt hinzu: »Ich komme Ihnen auf die Schliche, Herr Silberstern!«

Während der ehrwürdige Herr glucksend seinen Besen wieder in die Hand nahm, stiegen Anna und Fabienne vergnügt die Treppe hinauf zu Annas Wohnung.

»Hast du die Zeit, noch kurz hereinzukommen?«, fragte Anna, als sie aufgeschlossen hatte. Fabienne schüttelte bedauernd den Kopf.

»Würde ich unheimlich gerne. Aber ich hab um sieben doch schon den Termin, deswegen muss ich direkt los.«

»In Ordnung«, nickte Anna, »dann hole ich dir rasch den Blazer.«

Anna verschwand kurz in einem Nebenzimmer und kehrte sogleich mit einer hochwertigen Kostümjacke, eingetütet und auf einem Bügel, zurück.

»Bitte schön«, kommentierte sie, als sie Fabienne das edle Stück hinreichte. »Du wirst gewiss Erfolg haben. Sie können für die Semesterferien keine Bessere bekommen als dich.«

»Danke, Anna«, freute sich Fabienne, »du bist meine Retterin. Ich hab so ein Glück, dass wir beide genau dieselbe Kleidergröße haben.«

Die Freundinnen umarmten sich.

»Tschüss, Anna. Ich komm hinterher vorbei, dann können wir vielleicht noch was zusammen machen?«

»Ja, sehr gerne, Fabienne. Ich freue mich darauf.«

Leise drückte Anna die Tür ins Schloss. Dann kehrte sie sich um und blickte in ihr Wohnzimmer. Der Wohnungstür gegenüber lag die Außenwand, in der sich zwei der großen Rundbogenfenster mit Sprossen befanden. Annas »Studentenbude« nahm das gesamte Obergeschoss des Hauses ein. Sie enthielt neben dem großzügigen Wohnzimmer noch ein Schlafzimmer sowie eine Küche und ein Bad. Anna legte ihre Handtasche ab und nahm ihr Smartphone hervor. Sie hatte den Tag über keine Nachrichten erhalten, außer denen von Fabienne.

›Wie soll er auch zum Schreiben kommen‹, dachte sie, ›wenn er den ganzen Tag ein Flugzeug führt?‹ Sie schritt ins Wohnzimmer und legte ihr Handy auf dem Beistelltischchen neben der Couch ab.

›So will ich die Zeit nutzen, um noch etwas zu arbeiten.‹

Das war ein Gedanke, den Anna häufig an sich selbst richtete. Sie hatte in den Jahren ihres Studiums nur wenige Freundschaften geschlossen. Das Studium der Geschichtswissenschaft wird, das Vorstudium inbegriffen, in der Regel in acht Semestern zum Abschluss gebracht. Anna hatte nur sechs gebraucht. Ihr Lerneifer, begründet durch ihre Begeisterung für das Fach in Kombination mit ihrer Intelligenz, waren die Grundpfeiler dieses Erfolgs. Dies schloss nun mal das Opfer ein, wenig Zeit für private Gemeinsamkeiten mit anderen Studentinnen zu haben. Sie war froh um die Freundschaft mit Fabienne Nürrenberg, wenngleich der Beginn ihres Verhältnisses zueinander unter keinem günstigen Stern gestanden hatte. Meine Güte, das war jetzt fünfeinhalb Jahre her! Inzwischen war so viel geschehen. Anna stand am Fenster und dachte über Fabiennes Worte nach. Ja, es war zweifellos eine große Sache. Sie würde nun wahrscheinlich ein weiteres Jahr für ihre Dissertation brauchen, und dann würde sie bereits… Da zuckte sie kurz zusammen. Das typische Anklopfen von Herrn Silberstern erklang an der Tür. Es war schwach und unaufdringlich, mit einem immer gleichen Rhythmus. Trotzdem erschreckte es Anna ein bisschen, da es so still im Haus und sie so sehr in ihre Gedanken vertieft war. Was konnte es denn sein, was der gute Mann ihr mitzuteilen wünschte? Sie hatten sich doch vorhin erst im Treppenhaus getroffen, da wäre doch Gelegenheit gewesen. Sie strich mit beiden Händen an ihrem Rock hinab, obwohl er perfekt anlag, fuhr sich kurz durch die Haare und ging zur Tür.

Als Anna öffnete, war von Herrn Silberstern keine Spur zu sehen. Statt seiner stand am Fenster gegenüber, mit dem Rücken zu ihr, ein großer Mann im schwarzen Anzug. Seine Finger trommelten zunächst auf dem Fensterbrett, doch dann legte er seine Hände auf den Rücken. Weiße Hemdmanschetten ragten aus den schwarzen Ärmeln hervor. Anna bemerkte rings um die Enden der Ärmel die beiden aufgenähten, goldenen Bänder und nahm tief Luft. Im selben Moment drehte der Mann sich zu ihr um und sprach: »Die Leute auf der Straße sagen, hier wohnt die heißeste Studentin der Stadt.«

Dieses lausbubenhafte Grinsen! Diese warmen, blauen Augen mit den süßen Lachfältchen in den Winkeln. Annas Herz klopfte wie wild, als sie sich ihm um den Hals warf.

»Mein Tim!«, jauchzte sie. »Oh, mein Tim! Wie schön! Oh, wie schön das ist!«

Anna nahm ihre Hände hinter Tims Nacken hervor und legte sie an seine Wangen. Sie küsste ihm zärtlich auf die Lippen. Tim drückte sie liebevoll an sich. Dann ergriff Anna seine Hand und zog ihn galant in ihre Wohnung.

»Aber wie kann es sein, dass du hier bist?«, hauchte sie verzückt. »Solltest du nicht heute Onkel Ansgar nach England bringen und dich für morgen bereithalten, um ihn im Anschluss nach Frankreich zu fliegen, damit er Lena vor Ort entlastet?«

»Stimmt genau«, grinste Tim. »Heute Mittag hab ich ihn in Biggin Hill abgesetzt, und morgen Mittag muss ich ihn wieder aufsammeln. Du ahnst ja nicht, wie schnell die Seneca ist. Im Prospekt stand 378 km/h. Sagen wir mal so, ich weiß jetzt, dass da noch was geht.«

»Ach, ist das wunderbar«, schwärmte Anna. »Welch zauberhaften Ausgang dieser Tag nimmt! Und es ist erst früher Abend. Was können wir alles noch unternehmen!«

In ihrer überschwänglichen Freude griff sie Tims Hände und führte ihn tiefer ins Wohnzimmer, hin zur Sitzgruppe. Dort ließ sie ihn los und lief aufgeregt zu einem der Fenster. Mit Verzückung faltete sie die Hände vor der Brust, als sie hinausschaute und ihre Gedanken sortierte.

»Ich möchte dir von meinem Gespräch mit Professor Hehlbach berichten. Wir können zum Abendessen ausgehen, und dort erzähle ich dir alles.«

Glücklich lachend lief sie zu Tim zurück, der sie in seine ausgebreiteten Arme nahm.

»Oh, Liebster, mein Herz hüpft so sehr. Was für eine wundervolle Überraschung!«

Während sie so da standen, erzählte Tim: »Herr Silberstern war auch ganz begeistert. Als er mich reingelassen hat, hat er erst in die Hände geklatscht und mir dann mindestens zehnmal auf die Schulter gehauen. Er meinte, das wird das schönste Geschenk für das hohe Fräulein.

Jedenfalls glaub ich, dass er das gesagt hat. Ich versteh ihn nämlich nicht immer.«

Anna kicherte: »Das kann ich mir vorstellen. Sein Anklopfschema zu imitieren fällt dir wesentlich leichter. Du sprichst eben nicht so häufig mit ihm wie ich. Daran wird es wohl liegen.«

»Da hast du wahrscheinlich recht …«

Tim zog seine Freundin enger an sich heran. Wie schön sich ihre weiche Wange an seiner anfühlte! Wie ihr Haar duftete!

»… dafür rede ich häufiger mit dir«, begann er zu flirten, wobei er ihren Hals mit seinen Lippen liebkoste. »Siehst du, wie ich gerade mit dir kommuniziere?«

Anna schloss die Augen und seufzte genussvoll auf.

»Hm, ja, das ist eindeutig. Und da beklagen Frauen sich immer wieder, dass Männer nicht klar kommunizieren könnten.«

Noch einmal seufzte Anna, denn nun war Tim an ihrer Hals-Schulter-Partie angelangt.

»Oh, ja, dort liebe ich es. Was für eine anregende Konversation, mmmh …«

Sie begann nun ihrerseits, auf Tuchfühlung zu gehen. Mit beiden Händen fuhr sie unter Tims Jackett und strich über seine Lenden. Tim umfasste Annas Taille. Seine Hände fuhren ihren Rock hinab bis zu ihren Oberschenkeln. Schon glitten sie unter dem Rock nach oben bis zum Ansatz von Annas Pobacken. Ihre vollkommen geformten Beine so zu streicheln erregte ihn. Anna konnte es in ihrem Schoß spüren. Mit Hingabe zeigte sie ihrem Freund an, dass sie geküsst werden wollte. Während die beiden zu einem äußerst erotischen Zungenkuss ansetzten, begann das Smartphone auf dem Beistelltischchen zu läuten.

»Dein Handy klingelt«, nuschelte Tim in Annas Mund. Beim zweiten Klingelzeichen zog er den Kopf zurück.

»Wir wollen es klingeln lassen«, beschloss Anna in ihrer Erregung. »Es wird so wichtig nicht sein… Oh, Liebster, weshalb hältst du inne?«

Tim ließ tatsächlich langsam, doch bestimmt von Anna ab. Er hielt sie schließlich nur noch an den Schultern. Beim Loslassen gab er ihr links und rechts zwei kurze, leichte Klapse auf die Oberarme.

»Weil ich auf dem Display sehen kann, wer es ist«, brummelte er. »Ist besser du gehst mal ran, schätz ich.«

Anna drehte sich herum, um auf das klingelnde Smartphone zu schauen. Sie gluckste auf, sah Tim amüsiert an und schüttelte den Kopf dazu. Dann nahm sie das Gespräch an.

»Hallo Mama.«

»Annabelle. Kannst du sprechen, oder störe ich dich?«

Tim ging, nahezu lautlos ein Liedchen pfeifend, ein paar Schritte ins Abseits, dann drehte er sich wieder zu Anna hin.

»Nein, Mama, du störst mich nicht.«

»Das hatte ich angenommen. Es ist ja nicht damit zu rechnen, dass du plötzlich Besuch hast.«

An der Stelle streckte Tim die Zunge heraus und reckte beide Arme mit aufgerichteten Mittelfingern in Richtung Telefon. Anna unterdrückte ein Kichern und vollführte eine abwinkende Handbewegung an Tims Adresse.

»Habe ich deine Aufmerksamkeit, Annabelle?«

»Ja, gewiss, Mama.«

»Gut. Nun, es geht um deine ehemalige Geschichtslehrerin, Frau Dr. Uebelacker. Es ist ihr etwas Entsetzliches zugestoßen, und wir müssen davon ausgehen, dass sie tot ist.«

Diese Nachricht erschreckte Anna bis ins Mark. Mit offenem Mund und vorgehaltener Hand ließ sie sich auf die Couch sinken. Das Smartphone hielt sie starr vor ihrem Gesicht.

»Annabelle?«, erklang es aus dem Gerät.

Tim ging zu Anna hin. Sie wandte ihm mit glasigen Augen den Blick zu.

»Annabelle?«

Tim bot Anna wortlos an, das Handy entgegenzunehmen. Sie legte es ihm in die Finger, wobei sie ihre nun freie Hand auf ihre Brust legte. Langsam führte Tim das Handy ans Ohr.

»Hey, Vivienne.«

»Tim? Bist du das? Was machst du in Tübingen, wenn ich fragen darf?«

»Ich hab ’ne Dienstpause bis morgen. Erklärst du mir bitte, wo du das her hast, was du Anna gerade gesagt hast?«

»Eine Nachbarin hat mich informiert. Frau Dr. Uebelacker hat die letzten Tage vor den Ferien unentschuldigt am Gymnasium gefehlt. Als ein Kollege heute bei ihr zu Hause nach ihr sehen wollte, fand er den Eingang offen vor. Die Tür war aufgebrochen, und von der Frau Doktor fehlte jede Spur. Inzwischen hat sich auch die Polizeidienststelle bei uns gemeldet. Man wünscht Annabelle zu sprechen, weil sie eine ihrer engsten Vertrauten war.«

»Ich verstehe. Und die Polizei hat die Uebelacker noch nicht gefunden, schätz ich.«

»So ist es. Es ist mit dem Schlimmsten zu rechnen.«

»Sagt wer?«

»Die Dame aus der Nachbarschaft.«

»Und diese Dame, ist das zufällig die Frau von dem Zahnklempner?«

»Frau Dr. Rheinmann, ja. Sie sagte, dass Entführungen dieser Art zumeist mit der Ermordung des Opfers enden.«

»Oh, Mann, Vivienne! Nimm so ’nen Blödsinn doch nicht ernst! Die Frau ist eine Klatschtante. Echt, die übertreibt maßlos, ohne einen Funken Ahnung zu haben, und du reibst das hier postwendend Anna hin. Die ist gerade voll aus dem Häuschen … Annaschatz, reg dich nicht auf. Es gibt keinen zwingenden Grund anzunehmen, dass deine Lehrerin nicht mehr lebt.«

»Wie auch immer, die Polizei möchte mit Annabelle sprechen. Da du bereits bei ihr vor Ort bist, ist die Situation günstig. Du könntest sie mit der Maschine direkt herbringen.«

Tim atmete tief ein und blies durch die Wangen. Da ging er hin, der romantische Abend mit Anna. Doch was nützte es?

»Ja, mach ich. Wir sehen uns dann nachher bei euch zu Hause. Tschüss.«

Ein Piepen klang durch den stillen Raum, als Tim die Verbindung trennte. Sogleich kümmerte er sich um Anna.

»Hey, Süße. Wie geht’s dir?«

»Mir ist inzwischen wieder besser zumute. Wie konnte Mama mich dergestalt beunruhigen?«

»Sie hat es nicht böse gemeint.«

»Das weiß ich natürlich. Aber sie muss doch ihrerseits gewusst haben, wie ich auf eine solche Mitteilung reagieren würde.«

»Tja, ich weiß auch nicht. Sie war dabei, als deine Oma damals starb, nicht wahr? Und sie hat mitgekriegt, wie schlecht es dir ging, als Armins Oma vor drei Jahren gestorben ist. Dass sie da nicht eins und eins zusammenzählen kann,…«

Tim streichelte Anna zärtlich und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

»Na, was meinst du? Wollen wir los? Melli und Isi wieder sehen? Und die Jungs?«

Da lächelte Anna wieder zart.

»Ja, das wäre schön. Lass mich rasch etwas einpacken und die Örtlichkeit aufsuchen. Anschließend brechen wir auf.«

Mit einem höflichen, doch nüchternen »Schön, dass ihr da seid« wurden Tim und Anna von Vivienne zur Heyden an der Haustür empfangen. Annas Mutter las Tim flink einen Fussel von seiner Uniformjacke, während sie zu Anna sprach.

»Kommt mit in den Salon. Dein Vater wartet dort auf uns.«

»Du siehst müde aus, Tim«, bemerkte Wolfgang zur Heyden respektvoll, als Tim sich in das dunkle Polster der riesigen Ledercouch sinken ließ.

»Darauf kannst du einen lassen«, bestätigte Tim seine Worte. »Für heute hab ich genug Flugstunden geschruppt.«

»Und dann auch noch die Autofahrt vom Flugplatz hierher«, fügte Vivienne anteilnehmend hinzu. Doch Tim deutete ein Kopfschütteln an.

»Anna ist gefahren.«

Eine Auskunft, die Vivienne veranlasste, ihrer Tochter einen fragenden Blick zuzuwerfen.

»Dieses derbe Fahrzeug? Es kleidet dich schon nicht, als Beifahrerin in ihm zu sitzen. Wäre es nicht an der Zeit, Tim, dir ein neues Auto zuzulegen?«

Tim schürzte die Unterlippe und gab erneut mit einem Kopfschütteln Antwort.

»Mama hat nicht ganz unrecht, wenn sie dies anregt, Liebster«, wandte Anna ein. »Bedenke, wie reparaturanfällig dein Wagen in den letzten Jahren geworden ist.«

»Ja, schön möglich«, wiegelte Tim ab und wechselte das Thema. »Was gibt’s Neues in der Nachbarschaft? Irgendwelche Anschläge? Bandenkriege, oder so?«

Da lachte Wolfgang herzhaft auf.

»Nein, alles beim Alten, Tim. Der einzige Terror geht nach wie vor vom Jahrmarkt der Eitelkeiten aus. Als die Hinkheims vorigen Monat ihren Wintergarten vergrößerten, reagierten die Rheinmanns mit dem Anbau eines zweiten Pool-Beckens.«

»Na, wenn’s schön macht«, kicherte Tim noch, als Vivienne einwarf: »Oh, eine Neuigkeit gibt es durchaus. Philipp Hinkheim, der ja, wie ihr wisst, derzeit Jura studiert, darf seinen Vater inzwischen zu Prozessen ins Gericht begleiten… Falls ich den Namen erwähnen darf. Ihr Kinder vergesst ihn ja allzu gerne.«

»Das ist schwerlich möglich«, widersprach Anna. »Er hat uns immerhin auf der Fahrt vom Flugplatz hierher noch wie ein wild gewordener Popanz überholt, von daher verstand er es vortrefflich, sich uns in Erinnerung zu rufen. Wie auch immer, uns wandelt nicht die Lust an, ihm eine Unterhaltung zu widmen. Ich würde viel lieber über das Anliegen sprechen, mit dem die Polizeidienststelle an euch herangetreten ist.«

»Danke, Süße«, grunzte Tim mit zurückgelegtem Kopf und geschlossenen Augen.

»Nun, gerne, Kleines«, ergriff Vivienne das Wort, »das ist leicht erklärt. Wie schon gesagt, ist Frau Dr. Uebelacker in ihrem Haus überfallen und entführt worden. Da es kein Erpresserschreiben und auch keine persönliche Notiz von ihr gibt, fehlen der Polizei die nötigen Anhaltspunkte zur Ermittlung. Aus diesem Grund sollen nun sämtliche Personen, denen deine Lehrerin nahe stand, befragt werden. Und dies nicht etwa, weil sie verdächtigt werden, oh nein, sondern lediglich zur Information über den jüngsten Verlauf der Geschäftigkeiten, in die die Frau Doktor involviert war.«

»Dies bedeutet also«, vermutete Anna, »dass wir uns morgen auf der Polizeidienststelle einfinden möchten. Sehe ich das richtig?«

»Nein, nicht dort«, erklärte Vivienne. »Polizeihauptmeister Adolphs lässt dich bitten, ihn morgen früh um neun Uhr im Haus der Frau Doktor zu treffen. Er erhofft sich von dir, Hinweise zu erhalten, wenn du dich dort mit ihm umsiehst. Immerhin bist du mit ihrer fachlichen Tätigkeit besser vertraut als irgendwer sonst, und dein enges Verhältnis zur Frau Doktor ist dem Polizeihauptmeister obendrein zugetragen worden.«

»Ich verstehe«, nickte Anna. »Gewiss wird es Dinge geben, die nur ich zu durchschauen vermag. Ich hoffe inständig, dass ich der Polizei hilfreich sein kann.«

Vivienne strich Anna durchs Haar und sprach dabei mit mahnendem Ton zur ihr.

»Achte mir nur um Himmels Willen darauf, dass man dich nicht zusammen mit einem Polizeibeamten sieht. Die Leute könnten weiß Gott was denken.«

Anna lächelte ihre Mutter an.

»Darüber mache dir nur keine Sorgen, Mama.«

Da wurden die beiden Frauen von einem regelmäßigen Atemgeräusch abgelenkt. Vivienne sah sogleich an Anna vorbei und stupste ihre Tochter augenzwinkernd an. Anna schaute neben sich und erkannte, worauf Vivienne hinauswollte. Sie kicherte entzückt.

»Sieht er nicht herzig aus?«

Vivienne sah zu ihrem Mann hinüber.

»Seit wann schläft er?«

»Seit dem Erpresserschreiben«, bemerkte Wolfgang grinsend und stand auf. »Ich schlage vor, wir gießen ihm ganz wildwestmäßig Putzwasser aus einem alten Holzkübel ins Gesicht.«

»Sei nicht albern«, wies Vivienne ihn zurecht. »Ich frage mich, wie du auf einen solchen Unsinn kommst!«

»Ich?«, wiederholte Wolfgang, hob die Augenbrauen an und deutete auf Tim. »Er hat das vorigen Sommer mit mir gemacht!«

»Schluss damit. Es ist spät geworden. Wir werden uns nun zurückziehen. Annabelle, ich nehme an, ihr beide werdet ebenfalls zu Bett gehen.«

»Ja, gewiss.«

»Gut… Was ich noch erwähnen wollte: Ich habe gleich nach meinem Anruf bei dir in Tübingen mit deinem Onkel Ansgar telefoniert. Es trifft sich, dass seine Geschäfte vor Ort etwas mehr Zeit erfordern. Das wiederum bedeutet, dass Tim dich morgen früh begleiten kann.«

»Oh, das erleichtert mich sehr. Vielen lieben Dank, Mama.«

»Gerne, Liebes. Und nun geht zu Bett. Ich wünsche euch eine Gute Nacht.«

»Gute Nacht, Mama.«

– Kapitel 2 –

Ein wunderschöner Morgen brach an. Der Himmel war wolkenlos, die Luft frisch, und es ging kein bisschen Wind. Der Morgengesang der Amseln verstummte mit der zunehmenden Helligkeit. Schließlich stieg die Sonne in den Himmel und bescherte den oft so wettergeplagten Eifelbergen einen milden Sommertag.

Pünktlich um neun Uhr fanden sich Tim und Anna an der Adresse »Am Huppertspesch 12« ein, dem kleinen Anwesen in einer abgelegenen Wohnstraße, fernab allen Durchgangsverkehrs. Auf dem Grundstück stand ein Häuschen des Baujahres 1952. In der massivhölzernen Eingangstür, zu der fünf Sandsteinstufen heraufführten, war ein kleines Fensterchen eingelassen, verziert und geschützt durch ein kunstgeschmiedetes Gitter. Ein hübscher und heimeliger Anblick, wären dort nicht die auf halber Höhe angebrachten Flatterbänder gewesen, die das Haus als Tatort markierten. Eins der Bänder verdeckte halb das Klingelschild:

Dr. Elvire Ueb…

Noch vor der untersten Treppenstufe wartete ein groß-gewachsener, athletisch gebauter Mann mit grauschwarz melierten Haaren in einem anthrazitfarbenen Filzmantel, unter dem eine Polizeiuniform zu erahnen war. Tim und Anna schritten auf ihn zu, was ihn dazu veranlasste, freundlich zu lächeln und seine rechte Hand in Richtung Anna auszustrecken.

»Guten Morgen, Frau Komtess zur Heyden. Polizeihauptmeister Adolphs. Es freut mich, Sie endlich mal persönlich kennen zu lernen.«

»Die Freude ist ebenso auf meiner Seite, lieber Herr Adolphs. Sie dürfen meinen Titel gerne beiseitelassen und die Anrede auf zur Heyden reduzieren.«

»Verbindlichsten Dank, Frau zur Heyden«, nickte Herr Adolphs charmant und wandte sich Tim zu. »Herr Richthof, schön, auch Sie wieder zu sehen.«

»Sie kennen mich noch?«

»Natürlich! Wie könnte ich diesen Fall je vergessen? Vor allem nach dem Andenken, das Sie unserem Lump von Ex-Kollegen gleich im Anschluss hinterlassen haben. Auf der Dienststelle imitieren sie heute noch sein Lispeln.«

Tim grinste breit beim Händeschütteln mit dem Polizeichef.

»Tja, da stand ich noch voll im jugendlichen Feuer, schätz ich.«

Nun wies Herr Adolphs mit der entsprechenden Geste zur Haustür.

»Wollen wir zur Tat schreiten?«

»Gerne«, stimmte Anna höflich zu. Herr Adolphs zupfte zwei Paar blaue Schuhüberzieher aus seiner Manteltasche und hielt sie dem Paar entgegen.

»Die ziehen Sie vorher bitte über Ihre Schuhe«, ordnete er an. »Das dürfte bei Ihnen zwar schwierig werden, Frau zur Heyden, aber es nützt leider nichts.«

»Ich werde einfach ohne meine Stilettos in diese Überzieher schlüpfen«, entschied Anna und langte auch schon nach ihrer rechten Ferse.

Herr Adolphs löste die Flatterbänder auf der Seite des Türgriffs und drückte den Flügel, der nur angelehnt war, weit auf.

»Bitte fassen Sie hier nichts an. Die Spurensicherung ist gerade erst durch. Wir warten noch auf die Ergebnisse. Und Sie, Frau zur Heyden, passen bitte besonders auf, wo Sie hintreten.«

»Selbstverständlich«, bestätigte Anna, und Tim nickte zustimmend. Sie schritten durch die kurze Diele in ein Zimmer, das Frau Dr. Uebelacker als Wohnzimmer und Büro diente. Sie sahen sich beide ausgiebig um.

»Es herrscht erhebliche Unordnung«, bemerkte Anna im Türrahmen.

»Das ist richtig«, antwortete Herr Adolphs. »Wir nehmen an, dass sie versuchte, dem oder den Entführern Widerstand zu leisten, vor allem aber, dass die Entführer noch irgendwas Bestimmtes gesucht haben, nachdem sie ihr Opfer überwältigt hatten.«

Tim hatte sich inzwischen entschlossen, die Zimmerwände zu betrachten.

»Es sind nur die großen Bilderrahmen runtergerissen«, stellte er fest. »Die kleinen hängen noch alle.«

»Gut gesehen«, rief Herr Adolphs ihm von der anderen Seite des Raumes zu. »Deshalb gehen wir davon aus, dass die Täter wirklich was gesucht haben, und zwar etwas, das eine bestimmte, den Entführern bekannte Größe hat. Etwas, das eindeutig nicht in die kleinen Bilderrahmen passen kann, jedoch flach genug sein muss, um in die großen passen zu können. Möglicherweise ein Fotoabzug.«

»Ich verstehe«, flüsterte Anna nachdenklich. Herr Adolphs blickte sie eindringlich an.

»Haben Sie eine Idee, um was es sich dabei handeln könnte? Bitte überlegen Sie gut! Ein Hinweis würde uns sehr helfen.«

»Ich bedaure«, entgegnete Anna, »doch ich werde darüber weiterhin nachdenken. Nur soviel: Was immer diese Menschen gesucht haben, Frau Dr. Uebelacker hatte es womöglich nicht in ihrem Besitz. Sie verfügt über das, was man ein fotografisches Gedächtnis nennt. Es ist denkbar, dass sie sich das fragliche Objekt nur einmal angesehen hat und es nicht mit hierher nahm.«

»Mm hmm«, machte Herr Adolphs grimmig, »das wird ja immer toller.«

Tim überflog eine Gruppe von kleinen Bilderrahmen an der Wand. Es waren getrocknete und gepresste Teile von Pflanzen und Pilzen, sowie einige kleinere Steckrahmen mit präparierten Käfern und Schmetterlingen.

»Guck mal an, was die alles gesammelt hat«, kommentierte er. »All das Krabbelgetier und so«, und dann musste er plötzlich lachen.

»Diese Namen!«, amüsierte er sich. »Skabiosenscheckenfalter … Hauhechelbläuling … oder hier: Wachtelweizenperlmutterfalter! Alter, wer denkt sich so was aus?«

»Naturforscher«, erklärte Anna. »Es gibt Wissenschaftler für jedes Fachgebiet. Und Frau Dr. Uebelacker interessiert sich für jedes von ihnen. Ihre Betätigungsfelder sind zahlreich.«

»Zu zahlreich vielleicht«, bemerkte Herr Adolphs. »Das macht es schwierig herauszufinden, aus welcher Ecke ihrer möglichen Kontakte der oder die Täter stammen.«

»Ein Jammer«, seufzte Anna. »Gibt es denn nichts Nützliches, das wir zur Aufklärung beitragen können?«

»Zwei Dinge vielleicht noch«, meinte Herr Adolphs und kehrte sich um, wobei er Tim und Anna andeutete, ihm zu folgen. »Ihr Schreibtisch ist unberührt. Zumindest die Arbeitsfläche. Warum wurden die Sachen auf dem Schreibtisch nicht durchwühlt?«

»Zumindest dies kann ich erklären«, antwortete Anna. »Sehen Sie, ihren Arbeitsplatz hinterlässt sie stets fein säuberlich in Ordnung gebracht. Sie verabscheut Unordentlichkeit.«

»Aha!«, entfuhr es Herrn Adolphs. »Von daher bestand also überhaupt keine Notwendigkeit, den Schreibtisch abzusuchen. Die Täter konnten Zeit sparen. Auch wieder ein Hinweis darauf, dass sie etwas ganz spezielles gesucht haben.«

»Wenn sie so ordnungsliebend ist«, warf Tim ein und deutete auf den wandseitigen Bereich des abgewinkelten Schreibtischs, »warum hat sie dann eine Schüssel Kartoffeln und eine Topfpflanze auf dem Schreibtisch stehen? Direkt neben ihren Unterlagen.«

»Ja, das ist Punkt zwei, den ich ansprechen möchte«, stimmte Herr Adolphs zu, »wir haben uns darüber auch so unsere Gedanken gemacht. Wir können uns nur vorstellen, dass die Täter diese Dinge dort abgestellt haben. Es handelt sich wie Sie sehen um eine Schüssel mit ungeschälten Kartoffeln und eine Topfpflanze ohne Übertopf. Da krümelt die Blumenerde schon raus.«

Tim trat an die Schüssel heran und betrachtete mit kritischem Blick ihren Inhalt. Er schnupperte an einer der Kartoffeln.

»Aber die Pflanze kenne ich doch«, meinte Anna und deutete auf den Blumentopf. »Es ist die Erika von der außen liegenden Fensterbank. Sehen Sie! Dort steht auch der leere Übertopf!«

Man merkte Herrn Adolphs an, dass ihn diese Erkenntnis überraschte. Warum sollten die Entführer eine Topfpflanze von draußen herein geholt und auf dem Schreibtisch abgestellt haben? Das war schon sonderbar.

»Tja, da haben wir wohl noch was zum nachdenken«, stellte er halb humorig fest. Dann schloss er: »Gut, meine Herrschaften, damit wäre von meiner Seite aus fürs Erste alles gesagt. Ich danke Ihnen für Ihre Kooperation.«

»Gern geschehen«, antwortete Anna. »Auch wir sind dankbar für die Informationen, die Sie uns gegeben haben.«

»Dürften wir im Fall des Falles noch mal rein, um uns umzusehen?«, fügte Tim hinzu. Herr Adolphs verzog seinen Mund und gab zurück: »Ungern. Jedenfalls nicht, bevor uns der Bericht der Spurensicherung vorliegt.«

Tim und Anna sicherten dem Polizeichef zu, dies zu beherzigen. Sie verabschiedeten sich von Herrn Adolphs und verließen das Gebäude. Zurück im Auto saßen sie erstmal nur so da und reflektierten gemeinsam das soeben Gesehene.

»Ich sag dir, wie ich das sehe, Süße.«

»Bitte.«

»Frau Dr. Uebelacker hat die Pflanze selbst reingeholt und auf dem Tisch abgesetzt… Und die Kartoffeln absichtlich links daneben gestellt.«

»Nun bin ich gespannt, woran du diese Überlegung festmachst.«

»Hast du dir die Kartoffeln mal genauer angeguckt? Goldgelbe Schale, längliche Form … Das sind dieselben, die ich immer kaufe. Es war schon immer meine Lieblingssorte, weil sie so schön festkochend sind. Wobei dieser eine Punkt nichts mit dir zu tun hat.«

Anna schaute Tim verdutzt an.

»Was sollte deine Vorliebe für eine bestimmte Kartoffelsorte mit mir zu tun haben?«

»Weil ihr beide den gleichen Namen habt.«

»Ich bitte um Verzeihung?«

»Annabelle, Schatz! Die Kartoffelsorte heißt Annabelle. Und Erika ist Heidekraut, wie wir wissen. Links die Annabelle-Kartoffeln, rechts davon das Heidekraut. Na? Klingelt’s?«

»Aber ja! Wie gewieft von ihr! Sie hat mir ein Zeichen hinterlassen.«

»Richtig. Das Ganze steht für Annabelle zur Heyden. Für dich. Also, ich bin ziemlich sicher, dass Frau Dr. Uebelacker nicht entführt worden ist. Sie hat zwar geahnt, dass es passieren würde, aber sie hat rechtzeitig Vorbereitungen getroffen. Vorbereitungen, die niemand kapieren würde außer uns beiden. Und dann hat sie sich aus dem Staub gemacht. Die Einbrecher kamen, durchsuchten alles und fanden nichts. Und weil der Schreibtisch so topp aufgeräumt war, haben sie sich keinen Kopf um die Schüssel und den Blumentopf gemacht.«

»Jedoch dort, wo die Kartoffeln und die Pflanze stehen, wartet ein geheimer Hinweis auf mich!«

»Bingo.«

»Dann müssen wir es umgehend Polizeihauptmeister Adolphs mitteilen.«

»Nein, ich denke nicht. Sie hat diesen Hinweis eindeutig dir gegeben. Deswegen besteht die Möglichkeit, dass sie die Polizei raushalten will.«

»Ja, das ergibt Sinn. Wie wollen wir also vorgehen?«

»Wir treffen uns heute Abend wie abgemacht mit Melli und Isi und den Jungs im Messing. Danach fahren wir noch mal her und verschaffen uns Zugang.«

»Wie aufregend. Also fein, lass es uns so machen.«

Tim nickte bestätigend und schickte sich an, den Motor zu starten. Dabei sah er bereits in den Rückspiegel. Plötzlich verharrte er und verschärfte den Blick in den Spiegel. Hinter ihnen war ein Auto in die entlegene Straße eingebogen, in der das Haus von Frau Dr. Uebelacker stand. Augenblicklich blieb es im Mündungsbereich stehen. Niemand stieg aus. Anna sah, wie konzentriert Tim in den Rückspiegel sah. Sie neigte sich in seine Richtung, um über den rechten Außenspiegel nach hinten zu peilen.

»Ein grauer 7er BMW«, beschrieb Tim. »HG 12 auf dem Nummernschild.«

»Mein prophetisches Gemüt …«, sprach Anna bedächtig und bewegte den Kopf hin und her, um ein größeres Sichtfeld abzudecken. Gemeinsam beobachteten sie, wie das Fahrzeug zurücksetzte, einschlug und dann ansetzte, vorwärts in die Richtung zu verschwinden, aus der es gekommen war. Von der Seite war kurz das Profil des Fahrers zu erkennen.

»Philipp!«, entfuhr es Anna. »Aber ja! HG steht für Hinkheim & Gielchen! Das war Philipp in einem Firmenfahrzeug seines Vaters. Was bezweckte er hier?«

»Keinen Dunst«, murmelte Tim. »Ich weiß nur: Dafür, dass ich erst ’nen halben Tag hier bin, sind mir die zwei Male, die ich den Vogel jetzt schon in Sichtweite hatte, mehr als genug.«

Ein großes, nahezu wandhohes Bürofenster bot einen herrlichen Ausblick auf die Achtnadel und Burg Sonnenstein. Im Inneren glänzender Würfelparkettboden, graue Lotuseffektfarbe an den Wänden, wuchtige, abschließbare Aktenschränke sowie eine U-förmige Schreibtischanordnung aus Mahagoniholz. In dem bequemen, ausladenden Bürostuhl hinter dem Schreibtisch, mit dem Rücken zum Fenster, saß ein Mann Anfang Fünfzig, mit Halbglatze, hemdsärmelig und in einer teuren, grauen Anzughose und sah seinen Gast eindringlich an, der vor dem Schreibtisch saß. Dieser Gast war etwas über dreißig, von wenig gepflegter Erscheinung, untersetzt, mit breiten Schultern und einem bis auf wenige Millimeter vollständig rasiertem Kopf. Neben dem Hausherrn stand ein junger Mann, Mitte zwanzig, in einem Geschäftsanzug, der seine schlaksige Figur nicht wirklich passgenau umfasste. Außerdem kennzeichneten ihn ein spitzes Kinn und volle, dunkelbraune Haare. Er blickte aufgeweckt zwischen den beiden Männern, die sich am Tisch gegenüber saßen, hin und her, während diese miteinander sprachen. Die Halbglatze, die es verstand, souverän aufzutreten, führte das Wort.

»Wer unser Mandant ist, braucht Sie nicht zu interessieren. Sie verstehen, dass das unter die Verschwiegenheitspflicht fällt. Nur so viel: Er hat in dieser Angelegenheit eindeutige rechtliche Ansprüche erhoben, und er wird mit unserer Hilfe alles unternehmen, ihnen Geltung zu verschaffen.«

»Von mir aus können Sie das gerne für sich behalten«, brummte der Mann vor dem Schreibtisch verächtlich. »Ist mir sowieso Latte. Ich will nur wissen, warum ich hier sitze und wie ich da reinpasse, in den ganzen Kram.«

»Das sollten Sie sich doch denken können, meinen Sie nicht?«, warf der Mittzwanziger eine Antwort ins Gespräch, worauf die Halbglatze die linke Hand in seine Richtung erhob.

»Warte, Sohn. Wir müssen hier offenbar etwas nachhelfen. Ich habe den Eindruck, dass unser Gast nicht so schnell im Begreifen ist, wie wir uns das wünschen würden.«

»Wenn Sie mich beleidigen wollen, kann ich auch direkt abhauen!«, bellte der Untersetzte zurück. »Immerhin wollen Sie was von mir. Sie wollten mit mir reden, nicht ich mit Ihnen! Also, ’nen vernünftigen Ton hier, sonst bin ich weg!«

Nun war wieder die Halbglatze dran. Sie lehnte sich lässig zurück und stellte fest: »Sie werden sich nicht entfernen, so viel ist sicher. Sie sind darauf angewiesen, mit uns zu kooperieren.«

Der Untersetzte schwieg dazu. Sein Unterkiefer bewegte sich in einer Weise, die seine Zerknirschtheit offenbarte. Die Halbglatze gluckste unhörbar in sich hinein.

»Nun sorgen Sie sich doch nicht. Sie kennen diese Situation doch bereits von der anderen Seite. Wie oft haben Sie vorbestrafte Jugendliche auf dieselbe Weise unter Druck gesetzt, Herr Brochnes?«

Der Kiefer von Rüdiger Brochnes bewegte sich immer noch. Immer, wenn er die Zähne aufeinander biss, traten die angespannten Unterkiefermuskeln hervor.

»Reden Sie schon, Hinkheim.«

»Für Sie immer noch Herr Dr. Hinkheim. Wir wollen doch trotz allem ein respektvolles Miteinander pflegen, nicht wahr? Nun, bitte, Philipp, hilf Herrn Brochnes beim Begreifen.«

»M-hmm«, lachte Philipp verächtlich und überheblich, »mit Vergnügen. Herr Brochnes. Wir sind uns vor gut fünf Jahren zum ersten Mal begegnet. Wir …«

»Ja, ich weiß«, fiel Rüdiger ihm ungeduldig ins Wort. »Der TT auf der Verkehrsinsel.«

»Na sehen Sie! Somit deutet sich unser gemeinsames Interesse doch schon an, nicht wahr? Mmm, sagen Sie, Herr Brochnes, was sagt Ihnen der Name Elvire Uebelacker?«

»Gar nichts.«

»Natürlich«, höhnte Philipp seelenruhig. »Das hatte ich auch nicht angenommen. Sie ist immerhin eine Lehrkraft auf dem Pitt-Kreuzberg-Gymnasium. Eine Umgebung, die Ihnen völlig nachvollziehbarerweise nicht vertraut ist.«

»Philipp!«, mahnte Herr Hinkheim ruhig, aber dennoch ungeduldig.

»Also«, spottete Rüdiger, »wenn Sie mich begeistern wollen, dann muss jetzt langsam was kommen.«

»Nur Geduld, Herr Brochnes«, wiegelte Philipp ab. »Ein paar grundlegende Fakten müssen Sie sich noch anhören. Diese Frau Uebelacker ist eine lästige, pedantische Person, die ihre Nase immer wieder in Dinge steckt, von denen sie glaubt, dass sie Allgemeingut seien. Einigen Menschen, wie unserem Mandanten, ist dies ein Dorn im Auge, besonders dann, wenn sich Frau Uebelacker an Dingen zu schaffen macht, bei denen die Begrifflichkeit Allgemeingut beim besten Willen nicht zutrifft. An dieser Stelle ist sie nun eindeutig zu weit gegangen, was unseren Mandanten dazu veranlasst hat, unbarmherzig gegen sie vorzugehen. Dies stellt sich jedoch nicht so einfach dar, da a) diese Frau Uebelacker sehr raffiniert ist und b) zwei äußerst loyale Unterstützer hat. Und genau dort spannt sich der Bogen zu Ihnen.«

»Warum zu mir?«

»Weil Sie die beiden Unterstützer, ich sage mal, recht gut kennen, wie ich aus meiner Erinnerung an den Zwischenfall vor fünf Jahren weiß. Der eine von ihnen ist ein, na ja, sagen wir, ein Bauer, der es einzig durch geschickt geknüpfte Beziehungen geschafft hat, Berufspilot zu werden. Und die andere, seine … Partnerin, ist eine zugegebenermaßen verflucht hübsche Geschichtsstudentin mit Adelstitel.«

Rüdigers Augen verengten sich. Wortlos sah er Philipp an, wobei er sich mit der Zungenspitze an dem Brückenglied seiner oberen, vorderen Zahnreihe entlang strich. Herr Hinkheim, der seine Reaktion aufmerksam verfolgt hatte, lachte laut auf.

»Wir wussten, es würde Erinnerungen in Ihnen wecken«, kommentierte er belustigt, »und nebenbei auch Ihr Interesse.«

»Was soll ich tun?«, kam es tief und tonlos von Rüdiger zurück.

»Darüber werden wir uns nun ausführlich unterhalten«, erklärte Herr Hinkheim betont freundlich. »Dürfen wir Ihnen eine Erfrischung anbieten, Herr Brochnes?«

»Ja, warum nicht…«

Im Sommer hatten die Gastronomen in Leyental auch unter der Woche recht viel zu tun. Viele Reisende trugen zum Betrieb in den Kneipen und Restaurationen bei. Jedoch gab es ein Etablissement, das durchgängig nahezu ausnahmslos von Einheimischen aufgesucht wurde. Das war das »Messing«, eine total angesagte Bistro-Bar, die aufgrund ihres pfiffigen Geschäftsmodells zur Freude aller Beteiligten nur so florierte. Vor einigen Jahren hatte der Besitzer ein angrenzendes Nachbargebäude hinzugekauft und eine weit offene Verbindung zu ihm geschaffen. Dort befand sich nun ein weiterer Bistrobereich mit einer zentralen Tanzfläche. An diesem Abend waren zwei der rings um das Parkett angeordneten Bistrotische von vier jungen Männern und drei etwas jüngeren Frauen in Beschlag genommen worden. Während sie auf ein befreundetes Pärchen warteten, hatten die Jungs schon die ersten Runden bestellt und lachten entsprechend fröhlich miteinander um die Wette. Die Mädels versuchten derweil beim Tanzen eine gute Figur abzugeben. Einer der Jungs war gerade dabei, ebenfalls den Tanzbereich aufzusuchen, um eine der Damen, die seine feste Freundin war, tänzerisch anzuflirten.

»Ditze!«, rief einer seiner Freunde, Michael Valentin, ihm hinterher. »Finger an dir halten, klar?«

Der mit seinem Spitznamen Ditze angesprochene Alex Schröder grinste jedoch nur, als er Melina Kupser um die Taille herum fasste und seine Hände in ihre hinteren Jeanstaschen schob. Melli legte ihm lächelnd die Arme um den Hals und begann sich seinem Tanzrhythmus anzugleichen. Die beiden anderen Mädchen schmunzelten sich zu und begannen ihrerseits, ihre Tanzschritte aufeinander abzustimmen. Damian Müller schaute einige Sekunden lang intensiv zur Tanzfläche, dann wandte er sich Michael und seinem weiteren Kumpel, Julian Stein, zu und meinte: »Sind jetzt auch schon fünf Jahre zusammen, die beiden.«

»Jap«, nickte Michael, »läuft richtig gut zwischen ihnen.«

Julian sah Damian direkt an.

»Wie meinst du das, Motte? Wieso fällt dir das gerade jetzt auf?«

»Ach, nur so«, druckste Damian, und nach einer kurzen Pause: »Guck uns drei an. Wir haben noch nix Festes gehabt in all den Jahren. Wenn ich dagegen Ditze und Melli sehe … Oder Trip und Anna …«

»Wieso?«, flachste Michael. »Ist doch gut so. Hast du Sehnsucht nach Zuneigung? Soll ich dich mal fest drücken?«

Julian lachte ebenfalls laut auf. Michael war über zwei Meter groß und ein Baum von einem Mann. Die Vorstellung, er würde Damian in den Arm nehmen, war zu komisch.

»Blödsinn, Hawkens!«, grunzte Damian Michael an. »Ich hab nur Boggy seine Frage beantwortet, sonst nix.«

»Ja, aber du hast angefangen, Motte«, stellte Julian klar. »Vor zwei Wochen hast du noch lockere Sprüche über Ditze und Melli geklopft, und jetzt gibst du hier auf einmal den Tiefsinnigen. Was steckt dahinter, Alter?«

»Ach, gar nix«, wiegelte Damian ab und sah wieder zum Tanzparkett rüber. Kurz darauf legten Alex und Melli eine Tanzpause ein, um sich etwas zum Trinken zu besorgen. Damian hörte nicht auf, zur Tanzfläche zu schauen. Michael und Julian nickten sich zu und grinsten. Da ging Julian ein Licht auf.

»Motte!«, raunte er gedämpft über den Tisch Damian zu. »Du guckst gar nicht auf Ditze und Melli! Wen guckst du an?«

Damian schüttelte seine Gedanken ab und fragte versonnen: »Was sagst du?«

Michael runzelte die Stirn und fügte hinzu: »Boggy hat recht. Du guckst den ganzen Abend dabei zu, wie die anderen tanzen, und laberst dabei von Beziehungen. Jetzt sind Ditze und Melli zur Bar, aber du guckst immer noch zur …«

»Hawkens!«, unterbrach Julian ihn freudig. »Weißt du, was ich glaube? Motte hat ein Auge auf Isi geworfen!«

»Was?«, rief Damian verwundert aus. »Auf Isi? Quatsch, niemals.«

»Sicher?«, hakte Julian nach. »Müsste aber dein Fall sein. Lange blonde Haare, schöner Hintern … Komm schon, wir sind’s, deine Freunde! Uns kannst du es anvertrauen. Wir geben dir auch Schützenhilfe.«

»Nee«, gab Damian unsicher zurück. »Ich hab mit Isi nix am Hut. Die trägt Schmuck aus Zahnrädern …«