Der Säbel vom Asenberg - Thomas Regnery - E-Book

Der Säbel vom Asenberg E-Book

Thomas Regnery

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Beschreibung

Die Wahrheit darf nicht vergessen werden Tim erfährt, dass auch Anna eine bewegte Vergangenheit hat. Er unterstützt seine Freundin, als sie sich vornimmt, einem Rätsel nachzugehen, dass ein Vermächtnis ihrer Großmutter zu sein scheint: Der Erforschung der Legende von Antoinette und Clément. Die Suche nach der Wahrheit, die für Annas Onkel äußerst lukrativ enden könnte, wirft für Anna selbst viel bedeutendere Fragen auf. Allem voran: Warum war die Sache ihrer Großmutter so wichtig? Und wenn die Geschichte wahr ist, wo liegt dann die geheime Grabstätte, von der die Legende erzählt?

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

– Kapitel 1 –

Leyental, 07. November 2015

Ein Samstagmorgen Mitte November ist in der Eifel normalerweise grau, nass und kalt. Doch nicht dieser Morgen. An diesem 14. November begann der Tag sonnig, trocken und, zugegeben, saukalt. Der Himmel über Leyental erstrahlte in einem klaren, tiefen Azurblau, und die Strahlen der noch recht tief stehenden Sonne streiften von Osten her durch das schroffe Tal hindurch und die fünf Felsformationen entlang. Grobe, grauweiße Wolkenfetzen trieben am Himmel. Golden schimmerten die Umrisse der Burgruinen, die auf dreien der schmalen Klippen standen, zwischen denen sich glitzernd das Wasser der Arsel durch die Stadt wandte. Flankiert wurde der Fluss über weite Strecken von der Bundesstraße B 542 und der Eisenbahnlinie, die beinahe parallel durch das Herz der Stadt verliefen. Für einen Wanderer auf einer der Felsnadeln war durch die frostige Luft leise das Rauschen der Fahrzeuge auf der B 542 zu hören, ein flüsterndes Rauschen, in das sich in diesem Moment das Brummen eines zweimotorigen Propellerflugzeugs mischte, das soeben Kurs nahm, um Leyental aus nordöstlicher Richtung zu überfliegen. An Bord ein junger Mann beim Einweisungsflug auf zweimotorige Maschinen, sowie sein Einweiser, ein erfahrener Pilot um die 35 namens Rainer Hohn. Sie beide hatten dicke Lederjacken an. Die Jacke von Herrn Hohn war schwarz mit einem weißen Fellkragen. Sein gebräuntes Gesicht wurde von braunblondem, auf dem Scheitel schon recht schütterem Haar eingefasst. Tim trug seine braune, abgenutzte, dick gefütterte und außen mittlerweile speckige Bomberjacke, die er drei Jahre zuvor während seiner Tour gekauft hatte. Außerdem hatten die beiden Männer Intercom- Headsets auf ihren Ohren, über die sie sich in der brummenden Maschine unterhielten.

»Ist das nicht ein herrliches Bild, Herr Richthof? «, begeisterte sich Herr Hohn beim Überflug über die Stadt. Er saß entspannt vorne rechts auf dem Copilotensitz, während Tim das Flugzeug steuerte, und sah aus dem Cockpitfenster heraus.

»Sehen Sie nur, wie die Sonne gerade das Plateau der Eisley streift, und wie sie die Felsenschanze auf der Friedley anstrahlt. Ein wunderbarer Anblick, nicht wahr?«

»Absolut«, stimmte Tim ihm zu. »Aus der Perspektive hab ich die Dinger noch nie gesehen.«

»Die Dinger?«, wunderte sich Herr Hohn und blickte Tim entgeistert an. »Wie reden Sie über die touristischen Highlights Ihrer Heimatstadt? Diese Felsformationen sind Jahrmillionen alt, und jede andere Stadt würde was drum geben, obendrauf noch drei solch faszinierende, alte Burggemäuer vorweisen zu können.«

Tim kicherte kurz auf, dann meinte er ruhig: »Ich kenn die Felsen und die Ruinen halt schon von klein auf. Da verliert sich die Begeisterung irgendwann. In der Grundschule sind wir an Wandertagen oft da rauf, und dann sind meine Kumpels und ich immer zusammengeschissen worden, wenn wir Steine von den Klippen geworfen haben … Ach, gucken Sie mal, jetzt kann man auch mein Haus sehen!«

»Wo genau?«, erkundigte sich Herr Hohn interessiert.

»Also«, begann Tim zu beschreiben, »ganz da hinten, auf der südlichen Arsel- Seite, da ist die Friedley, mit der Felsenschanze oben drauf, und etwas näher zu uns die Eisley, die Sie eben auch schon genannt haben.«

»Richtig«, bestätigte Herr Hohn.

»So«, fuhr Tim fort, »und noch ein Stück davor ist der Fasanenberg. Sehen Sie?«

Herr Hohn musste sich nach vorne lehnen, um an Tim vorbei aus dem linken Cockpitfenster zu schauen.

»Sie meinen die Kuppe oberhalb von dem Villenviertel?«, beschrieb er.

»Korrekt«, sprach Tim weiter. »Von da aus weiträumig hinten um die Eisley rum, da ist eine Senke mit ’nem Fichtenwald. Das ist der Kaulenforst. Und da wo der aufhört, schon fast an der südlichen Ausfallstraße, wo der Waldweg einmündet, da steht ein kleines Holzhaus, können Sie’s sehen?«

»Ja, ich sehe es. Ein nettes Fleckchen. Schön abgelegen.«

»Danke. Klein aber mein, wie man so schön sagt.«

»Sie leben hier wirklich in einer sehr schönen Stadt«, lobte Herr Hohn weiter. »Schauen Sie sich nur dieses weiträumige Panorama auf der Nordseite der Arsel an. Ich möchte wissen, ob ich es noch zusammenbekomme: Also, ganz im Osten der Stadt ist die Osterley. Das kann man sich gut merken. Die in der Mitte ist die Achtnadel, die höchste der fünf Formationen. Und obendrauf Burg Sonnenstein.«

»Die ist übrigens von den drei Burgen am besten erhalten«, fügte Tim hinzu.

»Und dann, ganz im Westen«, fuhr Herr Hohn fort, »die Tettelsley. Wie heißt noch gleich die Burg auf der Tettelsley … Ach, es liegt mir auf der Zunge … Helfen Sie mir, Herr Richthof!«

»Fängt mit S an«, griff Tim ihm unter die Arme. Es wirkte. Herr Hohn tippte sich an die Stirn und lachte kopfschüttelnd auf.

»Sturmwarte!«, rief er gelöst aus. »Natürlich! Wie konnte ich das vergessen.«

Tim sah auf seine Instrumente.

»Kurs zwei sechs fünf, zwei vier sechs null Fuß«, kommentierte er nüchtern. »Irgendwelche Anweisungen?«

»Bis auf weiteres keine«, antwortete Herr Hohn genauso sachlich. Dann schaute er zu Tim rüber, der zart das Steuerhorn zwischen Daumen und zwei Fingern seiner rechten Hand hielt. »Ich frage mich sowieso, was wir hier machen, wenn ich ehrlich bin.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Tim verwundert.

»Ach, kommen Sie!«, lachte Herr Hohn. »Als ob Sie den Einweisungsflug nötig hätten. Sie sind eine Ausnahmeerscheinung eines Piloten.«

»Meinen Sie wirklich?«, hakte Tim geschmeichelt lächelnd nach.

»Hundertprozentig!«, bekräftigte Herr Hohn. »Ich habe selten neben jemandem gesessen, der solch ein Gespür für die Dinge hat, die um das Flugzeug herum passieren. Ich meine, Ruder und Klappen zu bedienen und Instrumente abzulesen, das kann man jedem Deppen beibringen. Aber Sie spüren jeden Wind auf den Flächen, sobald er über die Klappen strömt. Sie haben es im Gefühl. So was ist selten, glauben Sie mir.«

»Danke, Herr Hohn!«, freute sich Tim. »Das bedeutet mir total viel.«

»Nichts zu danken. Ich heiße übrigens Rainer.«

»Alles klar. Tim.«

»Du bist also in Leyental geboren, ja?«

»Ja. Vor etwas mehr als zwanzig Jahren.«

Rainer nickte im freundlich zu.

»Du kannst froh sein«, fuhr er fort. »Leyental ist eine von den wenigen Eifelstädten, denen es wirtschaftlich gut geht.«

»Darüber hab ich mir nie Gedanken gemacht, wenn ich ehrlich bin«, gab Tim zu.

»Es ist so!«, versicherte Rainer. »Ihr habt hier eine einmalige Lage, mit den Felsformationen und den Burgen. Das sind Touristenmagnete.«

»Na ja«, wandte Tim ein, »ganz so einmalig auch wieder nicht, schätz ich. Gerolstein hat doch auch so was in der Art zu bieten.«

»Schon«, meinte Rainer, »aber längst nicht in diesem Ausmaß. Und dann schau mal, was ihr hier sonst noch habt: Nimm zum Beispiel das Pitt- Kreuzberg-Gymnasium. Das ist eine ausgesprochen moderne und angesehene Schule.«

»War mir auch nie so bewusst«, gab Tim ein wenig verlegen zu.

»Da kannst du mal sehen!«, lachte Rainer. »Und was man ebenfalls nicht vergessen darf: In Leyental ist der Hauptsitz der EDA- Bank. Die dürftest du aber kennen, oder nicht?«

»Ja, stimmt«, grinste Tim, »von der hab ich schon mal gehört.«

»Na also!«, gab Rainer amüsiert zurück. »Ich würde sagen, wer die nicht kennt, lebt hinterm Mond. Ich hab den Chef von denen übrigens mal während eines Empfangs auf unserem Flugplatz getroffen, als unsere Flugschule eingeweiht wurde. Ich schätze ihn. Ein knallharter Bursche, aber absolut weltmännisch und immer ausgesprochen höflich.«

»Ich weiß«, nickte Tim lässig.

»Ach!«, staunte Rainer. »Du kennst ihn?«

»Ziemlich gut, ja.«

»Tatsächlich? Und wie gut?«

»Och«, meinte Tim mit einem leichten Schulterzucken, »so gut, wie man einen halt kennt, wenn man mit seiner Tochter geht.«

»Du machst Witze!«, entfuhr es Rainer lautstark. Er sah Tim an und bekam den Mund nicht mehr zu, als Tim versicherte: »Nein, ernsthaft. Seine Tochter ist meine Freundin.«

»Ich würde sagen«, verfiel Rainer in vergnügtes Lachen, »das erzählst du lieber nicht dem Fliegerarzt. Der entzieht dir sonst sofort dein Medical!«

»Ich mach keinen Scheiß, Rainer!«, hielt Tim dagegen. »Es stimmt wirklich.«

»Na, dann«, lenkte Rainer augenzwinkernd ein, »meinen Glückwunsch. Ich hoffe, sie ist hübsch.«

»Darauf kannst du einen lassen, Mann!«

Mit einem anerkennenden Lacher schlug Rainer Tim auf die Schulter und schaute dann heiter aus dem vorderen Cockpitfenster raus.

»Ich finde«, schlug er vor, »dass wir die Gelegenheit nutzen sollten und einen großen Rundumschlag um die Eifel machen und anschließend zum Flugplatz zurückkehren. Was meinst du?«

»Klingt gut«, stimmte Tim zu. »Ich höre.«

»Dann mach jetzt einfach einen großen Bogen nach Norden, und dann fliegst du über Euskirchen nach Süden zurück, drehst über der Vulkaneifel ab und hältst dann auf die Heimat zu.«

»Geht klar«, bestätigte Tim und leitete einen sauberen, weiträumigen Kurvenflug ein. Die beiden Männer genossen den Flug und dehnten ihn sogar über die anfangs abgesprochene Zeit aus. Warum auch nicht? Wann gab es schon mal so spät im Jahr solch gutes Flugwetter? Das wollte ausgekostet werden.

Als das Flugzeug sich später der Vulkaneifel näherte, vergrößerten sich die Wolken merklich. Zwar bildeten sie noch lange keine geschlossene Wolkendecke, doch türmten sie sich zu großen Ballen auf. Tim steuerte ruhig zwischen ihnen durch.

»Ich geh runter auf drei fünf null null Fuß«, entschied er, »dann fliegen wir unter den Wolken zurück.«

»In Ordnung«, nickte Rainer, »das wäre auch mein Vorschlag gewesen.«

Die beiden Piloten schauten aufmerksam nach vorne. Es wurde Zeit, dass sie unter die Wolken sinken würden, denn sie konnten ja nicht sehen, was sich hinter den nahe gelegenen Wolken um sie herum sonst noch in der Luft befand. Da passierte es auch schon! Eine Formation Kraniche, die mit gemächlichen Flügelschlägen Richtung Südosteuropa zogen, tauchte plötzlich in einiger Entfernung hinter einer Wolke auf. Ihr Weg drohte den Kurs des Flugzeugs zu schneiden.

»Verdammt!«, presste Tim hervor. »Denen gehen wir besser aus den Füßen.«

»Da bin ich bei dir«, bestätigte Rainer. »Die sind auf dem Weg in ihr Wintergebiet. Zieh am besten nach links und geh wieder leicht auf Höhe, dann haben wir alle freie Bahn.«

Tim tat, was ihm der erfahrene Pilot riet. Vorsichtig gab er Querruder und zog sachte das Steuerhorn an sich heran. Da erschraken die Männer heftig!

»Scheiße!«, rief Tim aus. »Da ist noch ein Schwarm! Verdammt, die kommen direkt …«

Zum Aussprechen kam er nicht. Mit heftigen Schlägen knallten drei der großen Vögel gegen die Maschine. Zwei von ihnen wurden direkt von den beiden Propellern erfasst. Der linke Motor fiel sofort aus.

»Verdammter Mist!«, entfuhr es Tim. »Der Backbordmotor ist abgewürgt. Steuerbordmotor läuft heiß. Kannst du sehen, was mit ihm los ist?«

Rainer drehte den Kopf blitzschnell nach rechts zum Fenster.

»Die ganze Fläche ist rot!«, beschrieb er aufgeregt. »Und die Ansaugöffnungen sind völlig mit Vogelresten verstopft!«

»Hier dasselbe«, ergänzte Tim, der sich schnell wieder vom Seitenfenster nach vorne drehte. »Beide Lufteinlässe voll Hackfleisch. Propeller steht. Wie sieht’s bei dir aus?«

»Der Motor fängt an zu rauchen!«, meldete Rainer. Bedenklich den Kopf schüttelnd las Tim seine Instrumente ab.

»Die Temperatur wird kritisch«, stellte er fest. »Der geht uns in Flammen auf. Ich muss ihn abschalten!«

»Position!«, verlangte Rainer zu wissen.

»Wir gleiten auf Demerath zu«, meldete Tim, »Kurs zwei sieben fünf.«

»Sind Flugplätze in der Nähe?«

»Daun Senheld auf zwei sechs null.«

»Senheld?«, rief Rainer aus. »Den können wir vergessen! Was ist mit Büchel in der Gegenrichtung?«

»Zu weit weg. Den erreichen wir nicht mehr. Was hast du gegen den Senheld?«

»Das ist nur ein Segelflugplatz. Die Bahn ist viel zu kurz für uns! Außerdem macht die einen Buckel, und sie ist bekannt für ihre Fallböen.«

»Das ist aber die einzige Bahn, die wir bei unserer momentanen Höhe gerade so im Gleitflug erreichen können«, beharrte Tim. »Ich versuche es. Wir haben keine Wahl … Mayday. Mayday. Mayday. Daun Info. Delta Golf Whiskey Sierra Tango.«

Der Kontrollturm des kleinen Sportflugplatzes Daun Senheld meldete sich umgehend auf Tims Notruf: »Delta Golf Whiskey Sierra Tango. Daun Info.«

»Sierra Tango. Vulcanair Papa Sechs Acht mit Vogelschlag. Motoren ausgefallen. Position Demerath drei sieben neun null Fuß. Zur Notlandung.«

»Sierra Tango. Landebahn auf eins sieben zwo zwo Fuß. Ihre Höhe ist kritisch. Sie schaffen es vielleicht nicht bis hierher!«

Tim blieb entschlossen: »Sierra Tango. Bestätigt. Haben Saufen von eins zu zehn. Ich schaff das. Wir kommen rein!«

Mit äußerster Anspannung verfolgten Tim und Rainer, die sich bereits im schnellen Sinkflug auf die Piste zu befanden, den Funkverkehr des Flugplatzes.

»Sierra Tango. Verstanden. Landebahn wird freigegeben – Fox Hotel. Daun Info – Daun Info. Fox Hotel – Fox Hotel. Startvorbereitung wegen Notlandung abbrechen. Landebahn sofort freigeben! – Fox Hotel. Verstanden. Geben Landebahn frei – Sierra Tango. Ihr habt Freigabe zur Landung. Wind drei vier null, fünf Knoten.«

Tim pustete erleichtert durch die Wangen. Er lächelte befreit und antwortete trocken: »Sierra Tango. Danke für die Einladung. Ich verspreche, wir passen auch auf, dass wir euch das Laminat nicht verkratzen.«

Rainer, der sich angespannt auf eine unsanfte Landung vorbereitete, blickte Tim entgeistert an.

»Wie kannst du jetzt noch Witze machen? Bist du gar nicht nervös?«

»Nervös? Du meinst, nur weil ich zum ersten Mal ’ne Zweimots im Gleitflug auf ’ner Briefmarke lande, soll ich nervös sein? Sagen wir mal so, ich bin … konzentriert.«

»Na, wenigstens das.«

»Und ausdermaßen motiviert, diesen anspruchsvollen Landevorgang erfolgreich abzuschließen.«

»Wie wortgewandt! Wirklich sehr beruhigend.«

»Meine Freundin redet immer so. Verschärft, he?«

»Würdest du jetzt bitte einfach den Vogel runter bringen, ja?!«

»Sicher. Lass uns einfach cool bleiben.«

Wieder meldete sich der Kontrollturm.

»Sierra Tango. Wir haben Sichtkontakt. Euer Fahrwerk ist noch eingezogen!«

»Sierra Tango. Positiv. Ich fahre das Fahrwerk im letzten Moment aus. Wir müssen so lange wie möglich Höhe schinden.«

»Sierra Tango. Wenn das funktionieren soll, müsst ihr weniger als fünf Meter über der Bahn reinkommen. Wenn ihr das nicht hinkriegt, schießt ihr über die Bahn raus und landet im Totenmaar!«

Tim schaltete das Intercom aus. Jetzt war absolute Konzentration ohne jede Störung gefragt. Rainer wusste das und schwieg, während Tim mit dem zweimotorigen Flugzeug ohne Antrieb auf eine Landebahn zuschoss, auf der normalerweise nur kleinere, einmotorige Flugzeuge starteten und landeten.

»Das bekackte Totenmaar kann mich mal«, murmelte er. »Das kriegt uns heute nicht!«

Damit betätigte er den Schalter für das Fahrwerk und fuhr gleichzeitig entschlossen die Landeklappen aus. Er hatte bis zum Schluss damit gewartet, damit das Flugzeug durch den fehlenden Luftwiderstand von Fahrwerk und Klappen den Anfangspunkt der Landebahn überhaupt erreichen konnte. Der Wind pfiff und rauschte um das Flugzeug herum, begleitet vom eindringlichen Summen des herausklappenden Fahrgestells. Der Luftwiderstand, der eben noch ihr Feind war, musste nun dazu beitragen, genügend Schwung wegzunehmen, damit der Flieger rechtzeitig ausrollen würde. Kaum hörte das Summen des Fahrwerks auf, setzten die hinteren Räder mit lautem Quietschen auf der asphaltierten Landebahn auf. Tim senkte die Nase ab und trat mit aller Kraft in seine Fußpedale, um das Flugzeug abzubremsen. Es rumpelte und polterte, als die Maschine die Piste entlang zischte und Tim und Rainer das Ende der Bahn auf sich zukommen sahen. Dahinter gab es keine Auslaufzone. Nur eine Kante aus Lavastein, hinter der es einfach steil abwärts ging. Tim musste den Vogel unbedingt rechtzeitig zum Stillstand bringen!

Zusehends verringerte sich die Geschwindigkeit des Flugzeugs, doch das Ende der Landebahn näherte sich immer noch bedrohlich den beiden Insassen.

»Verdammte Axt!«, knirschte Tim angestrengt, während er weiter mit den Füßen die Pedale runterpresste. »Halt endlich an, du hässlicher Pisspott!«

Die Männer spürten förmlich, wie das Bugrad über das Ende der asphaltierten Bahn rollte und knirschend auf die Lavafläche überging. Schon folgte auch das Hauptfahrwerk. Mit gewaltigen Staubwolken schruppten die Räder auf die Kante des Abhangs zu.

Inzwischen waren es lediglich noch ein paar Meter bis zur Böschung und die zweimotorige Maschine bewegte sich nur noch langsam vorwärts. Trotzdem war die Lage ernst, denn dem Bugrad fehlten bloß noch wenige Meter bis zur Kante. Heftig quietschend, im Zeitlupentempo, während die Bremsen des Hauptfahrwerks kochten, rollte es sachte über die Böschungskante. Schon neigte sich die Nase leicht abwärts, und Tim und Rainer konnten erleben, wie sich ihnen die Wasseroberfläche des Totenmaars zuneigte. Der Lavasand knirschte, und mit einem kurzen Knarren hakte sich das Reifenprofil in den rutschigen Grund. Die beiden Männer wagten kaum zu atmen und lehnten sich weit in ihren Sitzen zurück.

»Jetzt … bloß nicht … nach vorne beugen«, flüsterte Rainer. »Schön gerade sitzen. Und vor allem: Keine hastigen Bewegungen machen!«

»Hab ich nicht vor«, sprach Tim regungslos. »Ich hoffe, denen fällt was ein, um uns schnell hier rauszuziehen.«

Er hatte kaum ausgesprochen, als das Flugzeug mit einem Ruck nach vorne sackte und mit dem Bugrad einen halben Meter hangabwärts rutschte. Gleichzeitig hörten sie aufgeregte Rufe hinter sich sowie ein metallisches Klickgeräusch direkt am Rumpf ihres Flugzeugs. Wieder knirschte es, doch diesmal hob sich die Nase der Maschine leicht nach oben. Kurz darauf dröhnte ein kraftvoller Motor auf, und die beiden Notgelandeten fanden sich im Rückwärtsgang wieder, weg von der Böschungskante. Rainer öffnete seine Tür und streckte neugierig die Nase heraus, um zu sehen, was vor sich ging.

»Und?«, fragte Tim. »Was machen sie?«

»Sie haben uns mit ihrer Morane in Schlepp genommen«, antwortete Rainer in großer Erleichterung. »Sie ziehen uns buchstäblich aus dem Dreck!«

Der kleine, weiße, einmotorige Tiefdecker mit den blau-gelben Zierstreifen brummte lautstark über das grasige Rollfeld und zog den zweimotorigen Hochdecker in eine notdürftige Parkposition neben der Landebahn. Schließlich sprangen Tim und Rainer begeistert von ihren Sitzen nach draußen und fielen sich vor dem Bug ihres Flugzeugs lachend in die Arme. Ihre ausgelassenen, dumpfen Schulterschläge, die sie sich dabei gegenseitig auf ihre dicken, derben Lederjacken gaben, übertönten sogar den Jubel der zur Rettung geeilten Sportflieger. Es waren etwa fünfzehn Leute, unter ihnen auch der Mann aus dem Kontrollturm, der kurz die Gelegenheit wahrgenommen hatte, sich in der Flugaufsicht vertreten zu lassen. Sie alle wollten den beiden Jungs, die so glimpflich einer Katastrophe entkommen waren, gratulieren und die Hände schütteln.

»Klasse gemacht, Tim!«, freute sich Rainer in dem Trubel. »Einfach nur phantastisch.«

»Danke«, erwiderte Tim. »War um Haaresbreite, schätz ich.«

Man merkte allen Beteiligten die große Erleichterung an, aber auch den Stolz, diese brenzlige Situation mit Bravour gemeistert zu haben.

»Und wer sind nun diese Komiker«, erkundigte sich der Mann aus dem Kontrollturm humorig, »die hier mit einer Gleitzahl von eins zu Pflasterstein runterkommen und uns das Laminat verkratzen?«

Tim und Rainer lachten befreit auf. Sie sahen den grauhaarigen Mittfünfziger mit seiner dunklen Sonnenbrille beschwingt auf sich zuschreiten und drehten sich zu ihm hin.

»Rainer Hohn«, stellte Rainer sich vor und streckte seine Hand zur Begrüßung aus, »Flugschule Eifelaar. Ich grüße Sie.«

»Erich Wagner. Freut mich sehr … Und Sie sind?«

»Tim Richthof. Hallo.«

Die Männer schüttelten sich zackig die Hände.

»Das heißt, Sie sind geflogen, Tim?«, fragte Erich.

»Ja. Zu blöd, dass mir das passiert ist. Das nervt mich übelst.«

»Dafür konntest du nichts, Tim«, warf Rainer ein und schlug ihm wohlmeinend auf die Schulter. »Die Viecher kamen aus dem Nichts. Die sind direkt über uns aufgetaucht. Ich hab sie auch nicht gesehen.«

»Ja«, bestätigte Erich, »das hätte uns genauso passieren können. Nehmen Sie’s nicht so schwer. Den einen trifft es früher, den anderen später. Wichtig ist nur, wie Sie mit der Situation umgegangen sind, und das war absolut vorbildlich.«

»Danke«, nickte Tim lächelnd. »Trotzdem muss ich das nicht noch mal haben.«

»Das verstehe ich«, lachte Erich zurück. Rainer legte Tim abermals die Hand auf die Schulter und hielt ihn an seiner Jacke fest.

»So!«, sprach er dabei gespielt streng. »Das war erstmal genug gelobhudelt. Jetzt muss ich dir noch die Leviten lesen!«

»Warum?«, wollte Tim verwundert wissen.

»Was fällt dir eigentlich ein, unseren Flieger einen hässlichen Pisspott zu nennen, hm?«

»Na ja«, feixte Tim, »der schönste ist er nun wirklich nicht.«

Da lachte Rainer lauthals und beschloss: »Tja, mein Freund, dann werde ich mich jetzt direkt mal dafür rächen.«

Er wandte sich grinsend an die um sie herumstehenden Hobbypiloten, deutete auf Tim und rief: »Meine Damen und Herren! Dieser Mann hier hat heute seinen ersten Flug auf einer Zweimotorigen gemacht. Er war zwar nicht allein im Flieger, trotzdem war es sein erstes Mal. Also, Sie wissen, was die Tradition nun fordert!«

Begeistert reckten die Männer und Frauen die Fäuste in die Höhe und johlten: »Arsch versohlen!«, und schon im nächsten Moment liefen sie alle auf Tim zu, rangen ihn zu Boden und drehten ihn auf den Bauch. Und dann versohlten sie ihm gehörig das Hinterteil. Ausgelassen lachend lies Tim es über sich ergehen. Als man endlich von ihm abließ, trat Rainer an ihn heran und reichte ihm breit grinsend die Hand, um ihm aufzuhelfen. Tim schlug ein und stand vom Boden auf.

»Dann wollen wir mal an die Arbeit, was?«, meinte Tim und klopfte sich Gras und Erde von der Hose.

»Was meinst du?«, fragte Rainer nach.

»Den Flieger«, antwortete Tim. »Wir müssen die Motoren auseinander nehmen, schätz ich. Wird ’ne Sauarbeit, den Matsch wieder rauszukriegen.«

»Nein, lass mal«, lehnte Rainer freundlich ab. »Das machen wir schon. Du musst dich nicht darum kümmern.«

»Natürlich!«, erklärte Tim bestimmt. »Ich bin der Pilot. Ich bin für die Maschine verantwortlich!«

»Normal ja«, entgegnete Rainer, »aber es ist unser Flugzeug. Wir machen das schon. Ich ruf meine Jungs an, die sollen einen Flieger mit unseren Mechanikern schicken. Und dich fliegen wir dann sofort zurück zum Flugplatz, damit du nach Hause kannst.«

»Ist das wirklich okay?«, hakte Tim nach.

»Ganz sicher«, bekräftigte Rainer. »Meine Jungs kennen sich einwandfrei mit dem Vogel aus. Die schaffen das schneller, wenn sie wie gewohnt arbeiten können. Und außerdem wartet die Kleine vom Herrn zur Heyden bestimmt schon auf dich.«

»Das ist wahr«, nickte Tim und lächelte. »Sie wollte anschließend direkt zum Flugplatz kommen und mich da treffen.«

»Na, siehst du. Dann geh zu ihr.«

»Danke, Mann.«

»Kein Thema. Komm, wir trinken noch was, bis die Jungs hier sind.«

»Spitzenidee!«

Rainer und Tim setzten sich an einen der Cafétische des Besucherbereichs direkt vor dem kleinen Tower-Gebäude, während Rainer seinen Mitarbeitern telefonisch alles Notwendige mitteilte. Dann steckte er sein Handy zurück in die Tasche und meinte schmunzelnd zu Tim: »Eigentlich ist es ja kein Wunder, dass du so ein guter Pilot bist, nicht wahr? Wie sagt man so schön: Nomen est Omen.«

»Wovon redest du?«, wunderte sich Tim. »Was soll das heißen?«

»Dein Nachname!«, unterstrich Rainer seine Worte. »Richthof. Du hast doch garantiert schon mal vom ›Roten Baron‹ gehört. Manfred von Richthofen. Flieger-Ass aus dem Ersten Weltkrieg.«

»Ach so!«, rief Tim lachend aus. »Na ja, von dem bin ich aber noch meilenweit entfernt, schätz ich.«

»Vielleicht bist du ja über ein paar Ecken mit dem verwandt«, witzelte Rainer. »Das würde zumindest dein Talent erklären.«

Wieder lachte Tim. Er lehnte sich zufrieden in seinem Stuhl zurück und ließ sich die kalte Novemberluft um die Nase wehen. Er unterhielt sich noch eine Dreiviertelstunde angeregt mit Rainer. Dann landete vor seinen Augen der kleine, rot-weiße, einmotorige Viersitzer vom Typ Cessna 172. Rainers Team stieg aus und machte sich ohne Umschweife an die Arbeit. Tim stieg zu dem Piloten ins Flugzeug und trat seinen Heimweg an.

– Kapitel 2 –

Das Fluggelände der Flugschule Eifelaar, das etwas mehr als zwanzig Kilometer östlich von Leyental lag, besaß zwei Start- und Landebahnen. Entsprechend größer war auch der Betrieb, da an diesem zwar kalten, doch immerhin recht sonnigen Tag viele Besucher die Gelegenheit für einen Rundflug wahrnahmen. Tim näherte sich entlang des Flugzeug- Hangars dem Kontrollturm, dem zu Füßen ein flaches Gebäude lag, in dem ein Café mit einer großzügigen Besucherterrasse eingerichtet war. Die Tische dieser Außenterrasse waren voll besetzt, was trotz des sonnigen Wetters erstaunlich war, denn normalerweise herrschte ein solcher Betrieb nur während der Sommerzeit. Tim schaute suchend über die Tische hinweg. Dann blickte er zum Terrassengeländer, an dem einige Leute standen und den Flugbetrieb beobachteten. Eine Person stand alleine. Nicht nur deshalb stach sie hervor. Sie war vor allem deswegen ein Blickfang, weil ihre zweifellos luxuriöse Bekleidung nicht dem entsprach, was hier üblicherweise getragen wurde. Und es war nicht zuletzt ihr äußerst langes, schwarzes Haar, mit dem sie immer wieder bewundernde Blicke auf sich zog.

Tim sah seine Freundin intensiv an, als er sich ihr näherte. Dort stand sie: Annabelle Patrizia Josephine zur Heyden. Diesen Namen auszusprechen, so scherzte er gerne, dauerte länger als die Schlacht von Minas Tirith im dritten Teil von »Der Herr der Ringe«. Und dann ihre Klamotten! Ihre elegante Haltung wusste sie auch heute, wie immer, modisch zu unterstreichen. Was ihr Burberry-Twill-Minikleid gekostet hatte, wusste Tim nicht, doch er war dabei gewesen, als sie sich ihre 770 - Euro- Tamara-Mellon-Velourleder-Highheels gekauft hatte. Ihr karierter Victoria- Beckham-Mantel war dagegen ein richtiges Schnäppchen! Zehn Prozent Nachlass hatte Nicole Eichendorf ihr auf das Bekleidungsstück gegeben, sodass Anna letzten Endes nur noch 2.695,50 Euro dafür hinblättern musste.

Und Tim? Eine alte Blue- Jeans mit Grasflecken und eine abgenutzte, speckglänzende Lederjacke waren die modischen Highlights seines Outfits. Doch um diese Dinge ging es nicht. Das wurde im nächsten Moment offensichtlich. Anna bemerkte Tim, als er nur noch ein paar Meter von ihr entfernt war. Sofort lag ein strahlendes Lächeln auf ihrem Gesicht. Es ist sicher für jeden Mann ein großes Glücksgefühl, von einem hübschen Mädchen so liebevoll angelächelt zu werden, doch für Tim steckte da noch eine Menge mehr drin. Solche Zuneigung gehörte vorher ganz und gar nicht zu den Erfahrungen in seinem Leben. Immer, wenn Anna ihn ihre Liebe spüren ließ, wurde ihm alles bewusst: All die Jahre seines Lebens, in denen er von der Mutter erniedrigt, vom Vater misshandelt und in der Schule geschmäht wurde. Selbst während seiner großen Tour musste er immer wieder um Anerkennung und teilweise auch um sein Überleben kämpfen. Vorher war alles so hart und schmerzvoll gewesen. Und jetzt? Jetzt war auf einmal alles anders. Jetzt sah er in das vor Wiedersehensfreude glücklich lächelnde Gesicht dieser unbeschreiblich schönen jungen Frau, die er seit Kurzem seine feste Freundin nennen durfte. Es war, als ob das Leben zu ihm sagen würde: »Scheiße, Alter, ich hab dich die ganze Zeit immer nur gefickt. Und das tut mir leid, Mann. Komm her, ich will’s wieder gutmachen.« Natürlich sah er Anna nicht als bloße Wiedergutmachung des Schicksals für seine verkorkste Kindheit und Jugend an. Sie darauf zu reduzieren, verdiente sie nicht. Sie war für ihn bei weitem mehr als das. Dennoch, seine Beziehung zu Anna war ein bedeutender Wendepunkt in seinem Leben!

Die Leute auf der Besucherterrasse wussten all das nicht. Woher auch? Sie spöttelten und machten untereinander höhnische Bemerkungen, als sie sahen, wie Anna ihre Hände unter Tims Armen hindurchführte und von hinten an seine Schultern legte, wie sie ihn küsste und dann ihren Kopf mit geschlossenen Augen an ihn schmiegte, während Tim ihren Oberkörper zärtlich an sich drückte. Kleider machten nun mal Leute, und das in dieser Hinsicht äußerst ungleiche Paar schien die Besucher sehr zu amüsieren. Doch Tim und Anna achteten nicht darauf. Sie drehten sich seitlich zueinander, nahmen sich bei der Hand, lächelten sich noch einmal an und entfernten sich.

»Ist alles gut verlaufen?«, erkundigte sich Anna auf dem Weg zum Auto, dem alten, schwarzen Jeep Wrangler, den Tim am frühen Morgen auf dem Parkplatz des Flugplatzes abgestellt hatte.

»Im Großen und Ganzen schon«, antwortete Tim gelassen. »Wir hatten zwar einen kleinen Zwischenfall, aber am Ende ist alles gut gegangen.«

Anna machte ein besorgtes Gesicht und fragte: »Was denn für einen Zwischenfall? Im Zusammenhang mit dir in einem Flugzeug schätze ich das Wort so gar nicht.«

»Wir sind in einen Schwarm Vögel geraten«, erklärte Tim. »Zwei von denen sind direkt in die Propeller geflogen, und wir mussten notlanden.«

»Oh, du meine Güte!«, äußerte Anna erschrocken. »Wie fürchterlich! Ihr hättet abstürzen können!«

»So schnell stürzt man nicht ab«, beruhigte Tim sie. »Wir sind im Gleitflug zum nächsten Flugplatz und sind dort sicher gelandet. Alles kein Problem. Im Gegenteil, es war mal eine spannende Abwechslung.«

»Du und deine Gelassenheit«, bemerkte Anna liebevoll ironisch. »Am Ende hat es dir womöglich noch Spaß gemacht.«

»Ich geb zu«, gestand Tim lachend, »so im Nachhinein liegst du gar nicht mal so falsch.«

Am Jeep angekommen öffnete Tim seiner Freundin die Beifahrertür und ließ sie Platz nehmen. Dann stieg er selbst ein und startete den Motor. Zügig erreichten sie die Bundesstraße nach Leyental.

»Dann darf ich also annehmen«, nahm Anna das Thema wieder auf, »dass deine Einweisung geglückt ist?«

»Ja«, bestätigte Tim. »Rainer hat zwar jetzt keinen Papierkram mehr gemacht, aber er hat schon gesagt, dass die Sache klar geht. Ich darf jetzt zweimotorige Flugzeuge fliegen.«

»Meinen Glückwunsch!«, freute sich Anna. »Wie wundervoll für dich, wo du das Fliegen doch so sehr liebst.«

»Ja, gell? «, stimmte Tim glücklich zu. »Weißt du, wovon ich träume? Dass ich eines Tages meinen eigenen Flieger habe. Das wäre einfach zu geil.«

»Ist ein solches Flugzeug denn eine sehr kostspielige Anschaffung?« fragte Anna.

»Darauf kannst du wetten«, nickte Tim. »Die sind verdammt teuer. Da bist du ganz schnell hunderttausend Mäuse los. Finster, oder?«

»Oh«, hauchte Anna leise und zurückhaltend. Tim sah sie kurz an. Sie schaute wie beiläufig zum Seitenfenster hinaus. Er zog die Augenbrauen zusammen und fragte: »Wie, ›Oh?‹«

»Bitte?«, fragte Anna gelassen zurück.

»Du hast gerade so komisch ›Oh‹ gesagt«, beharrte Tim. »Heißt das, du denkst nicht, dass das megateuer ist?«

»Doch, durchaus«, beteuerte Anna mit ruhiger Stimme. »Es ist zweifellos ein recht hoher Betrag. Es sollte wohlüberlegt sein, ob man ihn investiert oder nicht.«

»Ob man ihn investiert?«, spöttelte Tim. »Soll das etwa bedeuten …? Ich meine, ich weiß ja, dass deine Familie total reich ist, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass selbst du so viel Kohle einfach so auf den Tisch legen könntest.«

»Darüber möchte ich nicht gerne sprechen«, wandte Anna vorsichtig ein.

»Warum nicht? Du weißt doch, ich würde es niemals von dir annehmen. Ich frage aus reiner Neugier.«

»Ja, das weiß ich. Das ist nicht der Grund, weshalb ich Angst habe, es dir zu sagen.«

»Angst? Warum hast du Angst, es mir zu sagen?«

Anna atmete einmal tief ein und sah Tim besorgt an.

»Ach, Tim. Ich fühle mich immer so verunsichert, wenn es um dieses Thema geht. Immerzu habe ich das Gefühl, ich müsste mich dafür rechtfertigen oder gar entschuldigen, aus vermögenden Verhältnissen zu kommen.«

»Ernsthaft? Kommt es dir so vor?«

»Schon. Ich habe Sorge, dass dieser Umstand irgendwann einmal zwischen uns stehen könnte.«

Tim nahm Annas linke Hand und hielt sie, während er mit dem Daumen ihre Haut streichelte.

»Das musst du nicht«, sagte er sanft und lächelte sie an. »Wir haben uns beide unsere Herkunft nicht ausgesucht. Also gibt’s nichts, wofür wir uns entschuldigen müssten. Keiner von uns.«

»Aber«, wandte Anna leise ein, »es kommt mir manchmal so vor, als würde es dich abschrecken.«

»Nein, es schreckt mich nicht ab. Es ist nur so, dass es mich auch ein wenig verunsichert. Ich will nichts geschenkt, Anna, das weißt du ja. Trotzdem weiß ich, dass du mir sofort aushelfen würdest, wenn ich dich nur darum bitten würde. Aber das kommt für mich nicht in Frage. Ich will nicht, dass mich jemand auffängt. Irgendwie bin ich wie ein Hochseilartist, der kein Sicherheitsnetz will. Trotzdem ist aber eins da. Verstehst du? Für mich gehört das Risiko einfach dazu. Was ist ein Erfolg wert, wenn es kein Risiko gibt? Wenn ich falle, will ich mir wehtun und wieder aufstehen, um es noch mal zu versuchen, und …«

»… und solange du mit mir zusammen bist«, schloss Anna leise, »kannst du das nicht.«

Sie schlug die Augen nieder.

»Und dann sagst du mir, ich müsse mich nicht sorgen.«

»Musst du auch nicht, Süße!«, bekräftigte Tim liebevoll. »Ich komm mit dieser Einschränkung zurecht, weil ich dich liebe. Ich möchte nur, dass du mir versprichst, mir niemals dein Geld anzubieten. In Ordnung?«

Anna nickte und lächelte: »Ja, in Ordnung. Ich verspreche es.«

»Klasse!«, rief Tim fröhlich aus und lachte. »Und jetzt würde ich wirklich gerne wissen, wie reich du bist. Da laufen ja schon Wetten im Haus.«

»Ich bitte um Verzeihung?«

»Nee, Quastch. Ich will’s bloß wissen. Die Frage ist mir nämlich schon öfter durch den Kopf gegangen. Also, wie viel Kohle gehört dir? Dir allein?«

»Nun«, stellte Anna stolz und verschmitzt klar, »jedem anderen würde ich es niemals sagen. Über diese Dinge spricht eine Dame für gewöhnlich nicht, musst du wissen. Doch du als mein fester Freund darfst es erfahren, wenn du es denn gerne möchtest.«

»Dann lass mal hören!«, grinste Tim.

»Zunächst einmal habe ich ein Konto für die täglichen Belange«, erzählte Anna, »auf dem sich im Grunde durchweg ein Saldo von ungefähr 15.000 Euro befindet.«

»Hmm«, machte Tim erstaunt, »da hätte ich jetzt mit mehr gerechnet.«

»Weshalb?«

»Na ja, wenn ich so dran denke, wie viel du allein regelmäßig für Klamotten ausgibst …«

»Aber nein. Das wird doch stets durch mein Taschengeld ausgeglichen.«

»Was du dein Taschengeld nennst, nennen andere wahrscheinlich ihr Monatsgehalt.«

»Oh«, fiel es Anna ein, »und Papa hat zu meiner Geburt eine Summe von einhunderttausend Euro für mich angelegt, die seitdem Dividenden ansammelt. Ich dürfte im Grunde seit meinem sechzehnten Geburtstag darauf zugreifen. Ich habe es aber bislang nicht in Anspruch genommen.«

»Dividenden, he?«, hakte Tim nach. »Dann ist es heute wesentlich mehr als hundert Riesen, schätz ich.«

»Nun ja«, gab Anna verlegen zu, »ein wenig mehr ist es schon. Ich sage es dir, wenn du mir versprichst, mich nicht für eine Angeberin zu halten!«

»Das würde ich niemals«, versicherte Tim. »Du kannst es mir ruhig sagen.«

Anna senkte den Blick und flüsterte leise: »Es sind inzwischen etwas mehr als 1,2 Millionen Euro.«

Als er das hörte, klappte Tim augenblicklich die Kinnlade nach unten, und er sah Anna verblüfft an.

»Und das nennst du ›ein wenig mehr‹, ja?«

Anna hob die Schultern und schaute Tim ganz verlegen an.

»Ich kann ja auch nichts dafür.«

Tim hauchte einen fassungslosen Lacher aus und blickte kopfschüttelnd nach vorne zur Windschutzscheibe raus.

»Meine Freundin ist ’ne Millionärin. Ich werd bekloppt.«

»Davon bist du doch gewiss zuvor schon ausgegangen«, wandte Anna ein.

»Ich sag mal so«, sagte Tim nachdenklich und kratzte sich leicht am Kinn, »dass deine Eltern so reich sind, das war mir klar, logisch. Aber du, du wirst in ’nem halben Jahr siebzehn. Du gehst noch zur Schule!«

»Ich verstehe, was du sagen möchtest«, erklärte Anna, »doch du musst bedenken, dass mein Vater Bankier ist. Selbstverständlich ergreift er die effektivsten Maßnahmen, um seine Tochter abzusichern. Das weiß ich, denn ich muss mich jede Woche eine Stunde lang mit ihm zusammensetzen, wobei er mir ausführlich erklärt, welche Veränderungen sich an den Börsenkursen und meinem Vermögen eingestellt haben.«

Anna hob schelmisch ihr Gesicht an und drehte sich zu Tim. Dann lächelte sie: »Das war übrigens die Bedingung dafür, dass ich bereits mit sechzehn Zugriff auf das Geld erhalte. Denn eigentlich schwebte ihm dazu mein achtzehnter Geburtstag vor.«

Tim sah sie mit einem frechen Grinsen an und lachte ironisch: »Na, da bin ich aber froh, dass er’s dir nicht leicht macht, hm?«

»Ach, du!«, gab Anna gelöst zurück und schlug ihm zart auf den Oberarm.

Die Fahrt verging. Die beiden sprachen über dies und das, und schließlich waren sie nur noch ein paar Minuten von ihrer Heimatstadt entfernt. Plötzlich ertönten beinahe gleichzeitig zwei Signaltöne, einer auf Tims veralteten Smartphone, der andere auf Annas iPhone 6s. Da Tim das Auto steuerte und sein Handy in seiner Hosentasche steckte, war es Anna, die in ihre Handtasche griff und ihr Smartphone hervor nahm.

»Es ist eine Nachricht von Damian«, gab sie bekannt und begann zu lesen. Sofort entfuhr ihr ein hörbarer Seufzer, der zu erkennen gab, dass sie sich genau zwischen Belustigung und Empörung befand, und sie ließ ihr Handy kopfschüttelnd in den Schoß sinken.

»Was ist?«, erkundigte sich Tim grinsend. »Schreibt er was ›Farbenfrohes‹? Hat er sich ›unflätig‹ ausgedrückt? Hat er die ›Etikette misswürdigt‹?«

»Also«, suchte Anna nach Worten, »ich muss schon sagen, er ist von einer ganz außerordentlichen Unverfrorenheit!«

»Dann sag doch mal!«, lachte Tim. »Les mal vor!«

»Das werde ich unter keinen Umständen vorlesen!«, gab Anna entschieden zurück. »Du kannst es selbst lesen«, und sie hielt Tim das große Display ihres iPhones entgegen. Der brach in schallendes Gelächter aus, als er die WhatsApp- Nachricht las:

Na, ihr zwei? Morgenfick beendet? Oder stellt Trip sich wieder blöd an?Bis gleich im Mäckes!

»Das ist Motte live und in Farbe!«, gackerte er.

»Warum war mir nur klar, dass du darüber lachen würdest?«, spöttelte Anna und ging dann neugierig auf den Rest von Damians Mitteilung ein. »Was ist das ›Mäckes?‹ Ist das ebenfalls ein solch geschmackvolles Lokal wie das ›Messing?‹«

»Geschmackvoll?«, erwiderte Tim amüsiert. »Na ja, weißt du, dem einen schmeckt’s da mehr, dem anderen weniger.«

»Dann ist es also ein Restaurant?«, freute sich Anna. »Wie reizend! Welcher Art ist ihre Küche? Traditionell? Italienisch?«

»Amerikanisch«, antwortete Tom trocken und verschmitzt zugleich.

Schon kurz darauf fuhr Tim seinen Jeep in eine der Parklücken vor dem bekannten Fastfood- Restaurant mit dem goldenen Doppelbogen. Er hatte es sich inzwischen fest angewöhnt, als erster auszusteigen, vorne um das Auto herumzugehen und seiner Freundin die Beifahrertür zu öffnen. Dabei entging ihm nicht, wie Anna skeptisch zur Eingangstür des Hauses blickte und ihre Augenbrauen zusammenzog. Sie blieb neben dem Wagen stehen und verschränkte ihre Arme vor dem Bauch.

»Das also meint ihr mit ›Mäckes‹«, stellte sie nüchtern fest.

»Korrekt«, grinste Tim sie flapsig an. »Wie sieht’s aus, Mylady, gesellt Ihr Euch zu uns Barbaren an den Tisch?«

Annas Gesichtszüge begannen sich langsam zu entspannen. Sie atmete einmal tief ein und lächelte: »Einmal musste es ja soweit sein, nicht wahr?«

»So ist es«, bestätigte Tim humorig, »und alle freuen sich schon wie Bolle, dich hier zu sehen.«

»Nun«, fasste Anna sich ein Herz, »dann möchte ich sie nicht enttäuschen.«

Als sie den ersten Schritt vorwärts tat, legte Tim ihr den Arm und die Taille und führte sie durch die verglaste Eingangstür in den kleinen Windfang, in dem ihnen auch schon ein Kunde mit mehreren, prall gefüllten Papiertüten und einem Vierer- Getränkehalter mit großen Softdrinks entgegen kam.

Der Restaurantbereich war ausgesprochen belebt. Klar, denn es war Mittagszeit, und viele Familien und Gruppen junger Leute bevölkerten nun die Tische und die Ausgabetheke. In ihr eintöniges Gemurmel mischte sich penetrant das Piepen der Friteusen. Mitten in dem ganzen Trubel saßen die Freunde des Paares an einem langen Tisch. Sie hatten sich noch nichts bestellt, da sie auf Tim und Anna warten wollten. Die beiden wurden freudig begrüßt.

»Hi, Leute!«, grüßte Tim, am Tisch angekommen. »Wie habt ihr es geschafft, alle einen Platz an dem großen Tisch zu kriegen?«

»Ganz einfach«, antwortete Alex, »immer, wenn was frei wurde, haben sich ein paar von uns dazugesetzt, bis wir am Ende den ganzen Tisch für uns hatten.«

»Anna!«, rief Isi lächelnd und tappte mit der Handfläche auf den Platz neben ihr auf der langen, roten Kunstlederbank. Erfreut lächelnd ging Anna zu ihr und folgte der Einladung. Rechts neben Isi saß Melli.

»Na, wie fühlst du dich?«, warf sie Anna zu.

»Recht gut, danke, Melli«, antwortete Anna höflich. »Es ist ein wenig … gewöhnungsbedürftig.«

»Okay, Leute, Futter!«, rief Michael in die Runde. »Ich schlage vor, Motte, Boggy und ich gehen bestellen. Sagt uns, was ihr haben wollt!«

Der kluge Plan stieß auf große Zustimmung. Einer nach dem anderen teilte den drei Jungs seine Wünsche mit.

»Was möchtest du gerne haben, Anna?«, erkundigte sich Julian schließlich.

»Ich bin nicht sicher«, antwortete Anna zurückhaltend und drehte kurz den Kopf zur Theke, um sich das Speisenangebot anzusehen. »Ich denke, ich werde wohl diese panierten Geflügelmedaillons versuchen.«

»Die was?«, rief Julian und stimmte in das fröhliche Gelächter ein, das sich daraufhin am Tisch erhob. Anna lächelte unsicher und deutete auf das große Schild über der Ausgabe.

»Ja«, bekräftigte sie, »diese Geflügelmedaillons dort. Ich denke, sechs Stück werden mir sicher genügen.«

»Ich wette, so hat das hier noch keiner genannt!«, wieherte Damian. »Das sind Chicken McNuggets, Anna!«

»Und wenn schon«, gab Anna zurück. »Die möchte ich jedenfalls gerne. Falls es keine Umstände macht.«

»Nein, kein Problem«, lachte Julian, »ich bring sie dir. Noch irgendwas dazu?«

»Ich möchte es eigentlich kaum aussprechen«, fuhr Anna fort, »aber sieht dieses Kunststoff-Näpfchen nicht aus wie ein grüner Salat?«

»Ja«, grinste Julian, »das ist einer. Möchtest du den auch, ja?«

»Bitte.«

»In Ordnung. Und was zu trinken?«

»Eine Apfelschorle, bitte.«

»Sollst du haben.«

»Danke, Julian.«

Damit entfernten sich die Jungs in Richtung Verkaufstheke. Kurz darauf kehrten sie mit sechs Tabletts zurück, auf denen sie haufenweise Burger und Pommes aufgestapelt hatten.

»Alter!«, empfing Alex sie überwältigt. »Haben wir das alles bestellt?«

»Ja klar!«, bestätigte Julian.

»Sicher?«, fragte Alex zweiflerisch. »Und wer soll das bitte alles essen?«

»Sieht schlimmer aus, als es ist«, warf Damian ein. »Immerhin ist ein Tablett komplett für Hawkens.«

Damit begannen er und Julian, den Inhalt der weniger beladenen Tabletts am Tisch zu verteilen. Michael stellte beim Hinsetzen tatsächlich das am schwersten bepackte Tablett vor sich ab.

»Hawkens! Alter Verwalter!«, raunte Tim ihm zu. »Und das ziehst du dir jetzt alles rein?«

»Natürlich!«, gab Michael lässig zurück. »Wieso wundert dich das? Du kennst mich doch.«

»Weil das selbst für dich ’ne ganz schön finstere Nummer ist«, wandte Tim ein. »Da sind immerhin zwei Zwanziger dabei!«

»Na und?«, trotzte Michael. »Lass mich!«

»Übrigens, Anna«, begann Melli ein neues Thema, »hast du schon mitgekriegt, dass die Zwölfer gerade ’ne Oberstufenparty planen?«

»Ja, das habe ich«, antwortete Anna, während sie mit der für sie typischen Ruhe und den elegant flüssigen Handbewegungen ihre Speisen auspackte und das schwarze Plastikbesteck für den Salat geräuschlos aus der Cellophanfolie zog.

»Und?«, fragte Melli weiter. »Hast du vor hinzugehen?«

»Möglicherweise«, sagte Anna. »Mit der richtigen Begleitung könnte es sicher nett werden.«

»Wollen wir drei zusammen gehen?«, warf Isi aufgeregt ein.

»Sehr gerne«, stimmte Anna lächelnd zu.

»Cool!«, freute sich Isi. »Sie haben übrigens schon durchsickern lassen, dass sie was echt Fettes draus machen wollen. So mit mehreren Räumen, verschiedenen Genre-Ecken und ’nem Haufen Leute.«

»Oh ja!«, fügte Melli hinzu. »Sie überlegen sogar, ob alle ihren Freund oder ihre Freundin mitbringen sollen, damit es auch richtig viele Leute werden.«

»Na, das wär doch was, Trip!«, lachte Isi Tim zu. »Dann würdest du auch endlich mal deinen alten Kumpel Philipp wiedersehen!«

»Darauf kann ich verzichten«, konterte Tim grinsend. »Ein Abend mit euch dreien ist bei weitem das bessere Argument. Also, solang ich nicht wieder ’nen Frack anziehen und mir ’nen Strick um den Hals binden muss, bin ich dabei.«

»Sauber!«, jubelte Melli. »Das wird megageil!«

»Übrigens!«, rief Damian. »Wo ihr gerade von Hinkheim redet: Der Typ hat sie nicht mehr alle, wisst ihr das?«

»Ach!«, höhnte Michael. »Auch schon gemerkt?«

»Nee, ohne Witz, Leute!«, erzählte Damian weiter. »Der hat seinen Audi TT jetzt rundum mit Schürzen aufgemotzt. Aber so extrem; wenn der jetzt über ’ne Briefmarke fährt, reißt der sich unten alles auf!«

Das Gelächter seiner Freunde hallte durch den Raum. Damian winkte ab und fuhr fort: »Und jetzt kommt’s. Ich hab den neulich hinter mir gehabt. Ihr kennt doch die Stelle, wenn ihr auf der B 542 durchs Einkaufsgebiet fahrt. Zwischen Lidl und Norma, da wo die Insel für die Fußgänger ist.«

»Du meinst die Querungshilfe?«, hakte Alex nach.

»Ja«, nickte Damian, »kurz davor, wo die Straße ganz gerade ist. Ich kam aus Richtung Tankstelle. Da taucht der Typ mit seinem TT hinter mir auf und drängelt wie Sau. Leute, ungelogen, ich hatte fünfzig drauf, und der war keine zwei Meter hinter mir!«

»Der wollte dich bestimmt herausfordern«, meinte Julian grinsend, »mit deinem tiefergelegten Golf GTI.«

»Der kann mich mal, der Wichser!«, ereiferte sich Damian. »Das nächste Mal steig ich aus und polier ihm seine Hackfresse!«

»Keine gute Idee«, hielt Melli dagegen. »Sein Vater ist Anwalt. Da hast du keine Chance.«

»Können wir diesen Spacken nicht vergessen?«, fragte Isi genervt. »Ich würde viel lieber weiter über die Party reden. Trip, was hältst du davon, wenn wir … Mensch, Ditze! Was grinst du so dämlich?«

»Och, nur so«, meinte Alex, der wirklich albern grinste. Neben ihm saß Julian, der herzhaft in sich reinlachte, sodass sein Bauch zuckte.

»Boggy und ich haben hier voll die besten Plätze: Links gegenüber sitzt Hawkens, das Gebiss auf grob gestellt und die Soße von seinem Big Mac die Backen hoch geschmiert, und rechts Anna, kerzengerade, die ihre McNuggets ganz elegant mit Messer und Gabel isst.«

»Der Anblick ist einfach unbezahlbar!«, gackerte Julian vergnügt.

»Aber echt!«, stimmte Tim in das Gelächter der Jungs ein und scherzte: »Anna, ich liebe dich, aber so kann das nicht weitergehen.«

»Ach, findest du?«, neckte Anna spitzbübisch zurück. »Findet der Herr es nicht mehr faszinierend, wie seine Liebste zu Tisch sitzt?«

»Und ob!«, hielt Tim dagegen. »Aber jetzt sind wir bei Mäckes. Hier wird nicht zu Tisch gesessen, sondern reingehauen!«

»Ich verstehe«, schmunzelte Anna seelenruhig, während sie einen weiteren Streifen von einem Chicken- Nugget abschnitt und zart mit der Gabel aufspießte. »Dann nehme ich an, dass ich nun, ganz wie ihr tapferen Krieger, mein Tablett als Trog benutzen soll?«

»Hihi«, kicherte Melli in ihre vorgehaltene Hand, »richtig so, Anna. Gib’s ihm!«

Tim lachte laut auf.

»Als Trog?«, antwortete er ebenso schelmisch. »Das wäre wohl ein bisschen zu viel verlangt. So weit bist du noch nicht. Mister Miyagi sagen: Du erst lernen laufen, dann lernen fliegen.«

»Du möchtest mich also herausfordern, Tim Richthof?«, hielt Anna unbeeindruckt dagegen. Tim sah ihr grinsend in die Augen und antwortete: »Du hast es erfasst.«

»Na schön«, lächelte Anna provokant, »ich bin einverstanden. Glaube nur nicht, dass ich ein Feigling bin.«

»Das werden wir sehen.«

»Nun, ich höre?«

»Als erstes musst du einen Schluck Cola trinken«, stellte Tim mit einem Pokerface klar.

»Cola Light?«, fragte Anna.

»Nein. Richtige«, gab Tim zurück und stellte ihr seinen großen Becher aufs Tablett. Anna zuckte mit den Schultern und entgegnete locker: »Wenn es weiter nichts ist.«

Schon griff sie selbstsicher schmunzelnd nach dem Getränk, doch Tim hielt sie zurück, indem er plötzlich den Finger hob.

»Äh!«, machte er kurz. »Hiermit!«

Damit präsentierte er Anna grinsend einen Strohhalm und steckte ihn ihr auch prompt in den Becher mit Cola.

»Nun, das ist immer noch leicht«, triumphierte Anna. »Es ist ein gängiger Irrglaube anzunehmen, es sei in jedem Fall unschicklich, aus einem Strohhalm zu trinken«, und sie hob den Becher, um im nächsten Moment einen Schluck durch den Trinkhalm zu nehmen.

»Voilá!«, kommentierte sie stolz und setzte den Becher wieder ab.

»Das hast du gut gemacht«, lobte Tim sie in einem besonders liebevollen Ton. »Jetzt bist du richtig vorbereitet.«

»Vorbereitet?«, wunderte sich Anna lachend. »Auf was denn, wenn ich fragen darf?«

»Auf die Herausforderung. Die Cola war nur der Anfang. Sie sollte dich geschmacklich auf das Kommende vorbereiten.«

Tim und Anna sahen sich in die Augen. Verliebtheit und gewitzte Frechheit zeigten sich zu gleichen Teilen in ihren Gesichtsausdrücken.

»Worauf wartest du?«, frotzelte Anna. »Ich bin bereit für deinen kleinen Test …«

Ohne zu blinzeln oder den Blick von Anna abzuwenden schob Tim ihr seinen einmal abgebissenen McRib samt Schachtel vor die Nase.

»Da musst du jetzt reinbeißen«, beschloss er, »und zwar ohne Besteck!«

»Ja, Anna!«, rief Alex ausgelassen. »Zeig uns mal, wie man richtig Mäckes-Fraß wegputzt!«

Anna sah unsicher lächelnd auf das Schweinehackbrötchen hinunter. Zähe, rotbraune Soße, von der das gesamte Innere der Pappschachtel sowie die Unterseite des Brötchens verschmiert war, quoll in Massen aus ihm heraus. Zuerst verzog sie ein wenig das Gesicht, dann schaute sie Tim an und hauchte reserviert: »Du erwartest doch nicht, dass ich dieses sonderbare, eklig anmutende Ding in die Hand nehme, geschweige denn in den Mund?«

Da lachte Damian dreckig.

»Tja, Trip!«, rief er. »Ich wette, den Spruch hast du schon öfter von ihr gehört!«

Augenblicklich erhob sich schallendes Gelächter am Tisch der acht Freunde. Mit humoriger Entrüstung atmete Anna einmal tief ein und entgegnete: »Damian! Dass du aber auch immer alles zweideutig auslegen musst!«

Als das Gelächter allmählich abklang, fügte Anna hinzu: »Ich muss doch sehr bitten. Ich spreche hier einzig und alleine von diesem schlaffen Fleischgebilde, das Tim mir hingereicht hat.«

Damit war es aus. Die Jungs hielten sich die Bäuche und grölten nur so vor Lachen. Auch die beiden Mädchen konnten nicht anders als herzhaft mitzulachen.

»Anna«, kicherte Melli, als sie wieder Luft bekam, »vielleicht solltest du die Dinge weniger umschreiben und einfach beim Namen nennen.«

»Is so«, gluckste Isi und legte Anna den Arm um die Schultern. Anna aber verschränkte lachend die Arme vor der Brust und trotzte heiter: »Pöh. Nehmt bitte zur Kenntnis, dass ich sehr beleidigt bin.«

»Ach, Süße«, feixte Tim und lächelte sie liebevoll an, »mit dir kann man so viel Spaß haben. Wenn du jetzt nur ein einziges Mal von dem McRib abbeißt, ist der Tag perfekt.«

»Also schön«, lenkte Anna vornehm ein, »wenn ihr es denn unbedingt so wollt …«, und sie griff langsam und vorsichtig von der Seite unter das Brötchen in der Schachtel. Sie versuchte nach Kräften, dazu so wenige Finger wie möglich zu benutzen und spreizte die Finger, die sie nicht brauchte, weit ab. Naserümpfend lächelnd nahm sie hin, dass ihre Fingerspitzen dabei unweigerlich von der Soße bekleckert wurden. Dann hob sie den weichen Burger nach oben und biss unter dem Jubel ihrer Freunde ein kleines Stückchen ab. Sie wollte ihn schon wieder ablegen, da wandte Alex ein: »Hmm, ich weiß nicht, Anna, das sah nicht wirklich nach abbeißen aus. Was sagst du dazu, Trip?«

Er und Tim lehnten sich seitlich aufeinander zu und diskutierten den Fall, während sie Anna angrinsten.

»Tja, Ditze, ich seh das auch so. Ich glaub nicht, dass da viel Fleisch zwischen war.«

»Sie hat nur am Brötchen geknabbert, würde ich sagen.«

»Ja, wie so ’n kleines Vögelchen. Und man isst einen McRib nicht wie ein Vögelchen, hab ich Recht?«

»Absolut! Ich meine, wo kämen wir hin, wenn jeder das machen würde?«

»Nicht auszudenken … Tja, Süße, ich fürchte, da musst du noch mal ran.«

»Ihr seid gemein!«, warf Isi kichernd dazwischen. »Anna hat abgebissen! Richtig viel sogar!«

»Hast du gehört, Trip?«, lästerte Alex lachend. »Da redet ’ne Blinde über Farben.«

»Aber wirklich!«, stimmte Tim ein. »Als ob die beurteilen könnte, wie man richtig Burger isst.«

»Du musst schon die Experten überzeugen, Anna. Und die sind noch längst nicht beeindruckt.«

»So ist es. Und wir zwei sind noch eine sehr gnädige Jury. Ich meine, wir könnten ja auch Hawkens als Sachverständigen hinzunehmen …«

»Nein, nein«, lenkte Anna kichernd ein, »das wird sicher nicht nötig sein. Ihr habt recht, ich kann das besser. Obschon ich sagen muss, dass dieses merkwürdige Fleischbrötchen recht absonderlich riecht.«

»Das kommt, weil Trip schon reingebissen hat«, feixte Alex.

»Stimmt«, blödelte Tim, »ich hätte vorhin das faule Ei nicht runterwürgen sollen. Wie sieht’s aus, Anna, möchtest du lieber aufgeben?«

»Das könnte dir so passen, mein Lieber«, spöttelte Anna, hob abermals den vor Soße triefenden Burger an und biss nun wirklich deutlich hinein, aufmerksam verfolgt von Isi und Melli und von Tim und Alex, die sich weit nach vorne lehnten und Annas Biss kritisch beäugten.

»Das war jetzt wirklich voll viel!«, kommentierte Isi.

Mit ihrem verschmitzten Lächeln und gerümpfter Nase kaute Anna zart auf ihrem Stück, während sie das McRib-Brötchen in die Schachtel zurück legte und augenblicklich nach einer Serviette griff.

»Oh, mein Gott!«, hauchte sie lachend, als sie runtergeschluckt hatte. »Das ist ja über die Maßen scheußlich! Wie kannst du so etwas nur essen?«

Tim und Alex betrachteten sorgfältig Annas Lippen. Dann sahen sie sich staunend an.

»Sie hat ja überhaupt keine Soße am Mund!«, stieß Alex hervor, und wieder sahen die Jungs mit offenen Mündern zu Anna hin.

»Wie zum Geier machst du das?«, fragte Tim entgeistert. »Das gibt’s doch nicht!«

»Tja, Jungs«, triumphierte Melli, während Anna sich elegant und mit einem stolzen Lächeln die Finger säuberte, »im Gegensatz zu euch kann sie essen. Gut gemacht, Anna!«

»Danke, Melli«, gab Anna in aller Ruhe zurück und lächelte Tim und Alex frech an. »Meine Herren?«

»Es ist noch nicht vorbei!«, scherzte Tim mit bestimmter Miene. »Irgendwann kriegen wir dich! Wir lassen uns was einfallen.«

Nach dem Essen verbrachten die Freunde noch gemeinsam Zeit im Haus der Jugend. Es war ein lockerer, angenehmer Samstag, an dem keiner Stress hatte. Zusammen sein und eine gute Zeit haben, das war es, was ihnen im Moment wichtig war.

– Kapitel 3 –

So waren Tim und Anna bester Laune, als sie später am Tag in Annas Elternhaus eintrafen. Tim fand es immer noch höchst beeindruckend, die ausgedehnte Diele der Zur- Heyden-Villa zu betreten. Der weiße Marmorboden, auf dem Annas Schritte dahinhallten, glänzte so stark, dass sich die Füße der prachtvollen Möbel und die Fensterreihe, die der Eingangstür gegenüber lag, darin spiegelten. Da der Raum so hoch war, wirkte die breite, freitragende Marmortreppe, die ins obere Geschoss hinaufführte, doppelt imposant. Mitten in dieser Szenerie stand der riesenhafte Eichenholzschreibtisch von Wolfgang zur Heyden, Annas Vater. Tim folgte seiner Freundin in Richtung Treppe.

»Es ist niemand zu Hause«, kommentierte Anna die Stille. »Meine Eltern hatten während der Woche bereits angekündigt, dass sie wohl den Samstag über arbeiten würden.«

Damit legte sie ihre Hand zärtlich in Tims Armbeuge und begann mit ihm die Stufen ins obere Geschoss hinaufzusteigen. Der innenliegende und damit recht dunkle Flur, der am oberen Ende der Treppe begann, wurde mit der Ankunft des Paares automatisch erleuchtet. Kurz darauf betraten sie durch die große, massive Holztür Annas Zimmer.

»Licht einschalten!«, rief Tim erwartungsfroh und freute sich einen Ast, als die Zimmerbeleuchtung heraufdimmte.

»Ha!«, jubelte er. »Ich kann den Scheiß auch!«

»Sehr beeindruckend«, sagte Anna lächelnd und öffnete ihren Mantel, wobei sie sich mit dem Rücken ihrem Freund zudrehte. »Wärst du so liebenswürdig?«

»Klar«, antwortete Tim und half Anna aus dem Mantel. Sie nahm ihn sogleich entgegen, legte ihn zusammen und drapierte ihn über ihren Unterarm. Dann strich sie Tim lächelnd mit der Hand über die Wange und gab ihm einen Kuss.

»Danke«, flüsterte sie verliebt und verschwand in ihrem Ankleidezimmer, um ihr kostbares Gewand sorgsam auf einen Bügel zu hängen. Tim nutzte die Gelegenheit, sich in Annas Zimmer umzusehen. Auch sie hatte einen beeindruckend großen Schreibtisch in ihrem Zimmer stehen. Er war ebenfalls aus Massivholz geschreinert, doch hatte man ihn nicht naturbelassen, sondern – wie jedes Möbelstück in Annas Zimmer – cremefarben lackiert, wobei einige Kanten, insbesondere die Verzierungen und Griffe der Schubladen- und Türfronten, golden abgesetzt waren. Während Tim den noblen Tisch noch aufmerksam betrachtete, schritt Anna von hinten an ihn heran und legte sanft ihre Arme um seinen Bauch.

»Gestatten, mein Schreibtisch«, kicherte sie. »Ihr kennt euch noch nicht?«

Tim lachte kurz in sich hinein, dann drehte er sich Anna zu und sagte schelmisch: »Ich hab da mal ’ne Frage.«

»Bitte.«

»Was ich schon immer wissen wollte …«

»Ja? So sprich!«

»… was habt ihr reichen Leute eigentlich immer mit euren Riesenschreibtischen?«

»Wie bitte?«, lachte Anna äußerst belustigt.

»Ja!«, bekräftigte Tim. »Immer haben reiche Leute so riesige Schreibtische. Auch in Filmen. Da sitzen die großen Bosse auch immer an so monsterhaften Teilen.«

»Ich fürchte, das kann ich dir auch nicht sagen«, gluckste Anna.

»Komm, gib’s zu!«, feixte Tim. »Du und dein Vater, ihr setzt euch jeden Tag an eure Schreibtische, legt eure Hände so mit den Fingerspitzen zusammen, und dann plant ihr mit einer irren Schurkenlache, die Weltherrschaft an euch zu reißen!«

»Tja, da bist du uns wohl auf die Schliche gekommen«, schmunzelte Anna. »Wir und unsere Schreibtische. Jetzt ist das Geheimnis gelüftet.«

»Aber ja!«, rief Tim freudig aus und schnippte mit den Fingern. »Das ist es!«

»Was heißt das nun wieder?«, lachte Anna.