Das Hortensien-Grab - Irene Dorfner - E-Book

Das Hortensien-Grab E-Book

Irene Dorfner

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Beschreibung

Im oberbayerischen Tüßling gerät das idyllische Leben durcheinander, als bei Grabungen für einen Pool eine Leiche gefunden wird. Wer ist der Mann, der dort seit zwei Jahren liegt? Und was ist mit dem Nachbarn Hiermaier, der ein Geheimnis bewahren muss? Dann gibt es auch noch einen Bewohner in der Parallelstraße, der panisch die Flucht ergreift, als er versteht, um wen es sich bei dem Opfer handelt. Leo Schwartz und die Kollegen der Mühldorfer Polizei geraten mit ihren Ermittlungen mitten in einen lange geplanten BKA-Einsatz…

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Vorwort

Anmerkung

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

Liebe Leser!

Über die Autorin Irene Dorfner:

Impressum

Das

Hortensien-

Grab

Krimi

Irene Dorfner

Impressum

Copyright © Irene Dorfner 2021

All rights reserved

www.irene-dorfner.com

Lektorat: Sabine Thomas, Stralsund

EarL und Marlies Heidmann, Spalt

FTD-Script, Altötting

Vorwort

Fall 38 – der vierte Fall während der Corona-Pandemie…

Vielen, vielen Dank an alle, die mich bei diesem Projekt unterstützt haben:

Meine Lektoren Marlies und Klaus Heidmann, Sabine Thomas, Rita und Manfred Schönig, und natürlich die Jungs von FTD-Script.

Vielen Dank auch an meinen Sohn Thomas, der wie immer als Probeleser zur Verfügung stand.

Natürlich darf ich meinen Mann nicht vergessen, der mit Leo und seinen spannenden Geschichten mitfiebert und mich bei der Entstehung unterstützt und erträgt.

Vor allem aber danke ich meinen treuen Lesern! Ohne euch würde die Reise mit Leo & Co. nicht so viel Spaß machen – ihr seid die Besten!!

Ich wünsche spannende Unterhaltung mit diesem mitreißenden Fall!!

Grüße aus Altötting – und bleibt’s gsund!!

Irene Dorfner

Anmerkung

Die Personen und Namen in diesem Buch sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig – bis auf Wolfgang Terpitz, Annette Godau, Sabine Thomas, Dagmar Steinke und die Familie Olschewski (Nadine, Tobias, Luca-Luis und Leo-Max). Schön, dass ihr dabei seid!

Der Inhalt des Buches ist reine Fantasie der Autorin. Auch hier sind Ähnlichkeiten rein zufällig. Die Örtlichkeiten wurden den Handlungen angepasst.

…und jetzt geht es auch schon los:

1.

Völlig aufgebracht beobachtete der vierund-siebzigjährige Josef Hiermaier den Einzug der Fremden ins Nachbarhaus, die dabei laut lachten und schwatzten. Also war das alte Gemäuer doch endlich verkauft worden! Wer von den vielen Menschen waren seine neuen Nachbarn? Er sah Kinder und ihm wurde schlecht. Zogen tatsächlich diese lästigen Bälger mit ein? Hiermaier hasste Kinder und wurde zum Glück davon verschont. Die waren laut, frech, machten alles dreckig und kaputt. Außerdem waren sie neugierig, und das konnte er nicht leiden. Darüber hinaus stellten sie Ansprüche, die er für unverschämt hielt. In seinen Augen waren Kinder die Pest, aber noch mehr verabscheute er deren unfähige Eltern, die mit der Erziehung heillos überfordert waren. Früher war alles anders, da herrschte noch Zucht und Ordnung! Hiermaier schnaubte. Noch stand nicht fest, wer ihm nebenan in Zukunft das Leben schwermachen würde. Erst im letzten Jahr zog im Thomas-Haus direkt gegenüber eine Frau mit einem Mädl ein. Auch damals hatte er sich große Sorgen gemacht, die nicht begründet waren. Beide Frauen waren ruhig und ordentlich, auch wenn sie ihm mit ihrer ständigen guten Laune und den Versuchen, mit ihm sprechen zu wollen, wahnsinnig auf die Nerven gingen. Trotzdem war das Zusammenleben angenehmer als gedacht.

Er beobachtete das Treiben nebenan jetzt auch mit dem Fernglas. Noch deutete bei dem, was lautstark ins Haus getragen wurde, nichts auf Kinder hin, aber das könnte sich jeden Moment ändern. Dann sah er einen bunten Stuhl, der nur einem Kind gehören konnte! Also doch! Warum blieb ihm das nicht erspart? Er sah sich die drei Kinder, die zwischen den Erwachsenen herumliefen, genauer an. Wie alt waren die Gören? Er hatte keine Ahnung.

Hiermaier war wütend und er konnte das Gelächter nicht mehr hören, deshalb verschloss er alle Fenster. Er liebte seine Ruhe, die er ab jetzt nicht mehr haben würde. Seit Jahren stand das Haus leer, warum konnte es nicht so bleiben? Als die damalige Besitzerin verstarb, war nicht klar, wer erben würde. Sicher fiel es in den Schoß des Staates, der das unerwartete Erbe nicht schnell genug in bare Münze verwandeln konnte. Raffgierig und korrupt waren sie alle - die Politiker und deren Handlanger. Der Teufel soll sie holen!

Hiermaier ging in die Küche und rührte in dem Eintopf, den er schon hunderte Male gekocht hatte. Dann nahm er zwei Teller und füllte sie. Einen stellte er auf ein Tablett, zusammen mit einem Becher Wasser und einem Plastiklöffel. Vorsichtig ging er damit in den Keller. Er schloss die Eisentür auf und stellte das Tablett auf den Tisch. Auf dem Stuhl daneben saß eine Frau, die vor sich hinstarrte. Sie war sicher nicht so alt, wie sie aussah, vielleicht fünfundsechzig. Sie sah den Mann nicht an, reagierte noch nicht einmal auf seine Berührung, als er ihren Arm streichelte.

„Eintopf. Er ist warm und macht satt. Wenn es nach mir ginge, würde ich dir gern ein Schnitzel oder einen Braten servieren, aber dir darf man kein Messer und auch keine Gabel geben. Erinnerst du dich, als du mich damit verletzt hast?“

Die Frau nickte leicht. Ja, sie konnte sich noch sehr gut daran erinnern. Wie viele Jahre war das her? Sie hatte längst aufgehört, die Tage, Wochen, Monate und Jahre zu zählen. Warum sollte sie auch? Der Bastard würde sie niemals mehr aus diesem Loch rauslassen, das hatte sie verstanden. Ja, sie war damals damit einverstanden gewesen. Aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass es ihr so schwerfallen würde. Wie sollte sie? Vorher war sie noch nie eingesperrt gewesen. Das Kellerloch war jetzt ihr Schicksal. Sie musste ausharren und einfach nur darauf warten, bis sie starb – und deshalb hatte sie vor einer Woche einfach aufgehört zu essen. Sobald Josef weg war, goss sie das Essen in den Ausguss des kleinen Waschbeckens, das er ihr gnädiger Weise eingebaut hatte. Eine Toilette gab es nicht. Sie musste sich in einen Eimer erleichtern, den er täglich entsorgte.

„Iss, Liebes, du bist sehr dünn geworden“, sagte das Arschloch, als könnte er ihre Gedanken lesen. Wann ging er endlich? Anstatt zu verschwinden, blieb er einfach stehen. „Ich bleibe so lange, bis der Teller leer ist. Du bist sehr bockig, Hildchen. Trotz der vielen Jahre und vielen Gespräche bist du immer noch uneinsichtig. Das ist schade, denn damit verärgerst du mich. Willst du mich ärgern?“ Mit den Händen zog er eine imaginäre Spritze auf und sah seine Frau dabei an. Hilde Hiermaier schüttelte den Kopf. Josef hatte ihr das Medikament schon lange nicht mehr gespritzt und sie war nicht scharf darauf, denn dann verbrachte sie Tage im Delirium. Das allein wäre nicht schlimm, denn Zeit hatte sie genug. Aber sie vertrug das Medikament nicht und bekam davon rasende Kopfschmerzen, die ihr Angst machten. Auch wenn sie am liebsten sofort sterben würde, konnte sie auf diese Schmerzen gerne verzichten. Diesmal hatte der Drecksack gewonnen. Sie nahm den Plastiklöffel und aß den Eintopf, der wie immer nach nichts schmeckte.

„So ist es brav“, sagte Josef und trommelte mit den Fingern auf die verschränkten Arme.

Hilde wollte etwas übriglassen, aber ihr Mann, den sie 1986 geheiratet hatte, ließ das nicht zu. Sie würgte sich den letzten Löffel runter.

„Trink das Glas aus, los!“, drängelte Hiermaier und sah auf die Uhr. Gleich kam eine Dokumentation über Vögel, die er unbedingt sehen wollte. Vögel waren seine Leidenschaft.

Hilde trank - was blieb ihr anderes übrig?

„Warum sprichst du nicht mehr mit mir? Du weißt doch, dass ich dich hier zu deiner eigenen Sicherheit einsperren muss. Das macht mir keine Freude, das kannst du mir glauben. Ich würde auch sehr viel lieber ein normales Leben führen, aber das ist uns beiden leider nicht vergönnt.“ Er strich ihr übers weiße Haar und sie zuckte zusammen. Sie konnte seine Berührungen schon lange nicht mehr ertragen. Hiermaier spürte ihre Reaktion und ärgerte sich darüber. War es seine Schuld, dass er sie im Keller einsperren musste?

„Die ersten Knospen an der Hortensie sind sichtbar. Bald ist es so weit und wir können feiern.“

Ein leichtes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Seitdem sie hier eingesperrt war, gab es zwei Tage im Jahr, die gefeiert wurden und an denen sie nach oben gehen durfte. Dann gab es sogar Essen aus Porzellantellern und richtiges Besteck. Das war zum einen der Hochzeitstag, der ihr völlig gleichgültig war und auf den sie gerne verzichten konnte. Aber der andere Tag, der war ihr heilig. Das war im Juli, wenn die ersten Hortensienblüten im Garten erstrahlten. An diesem besonderen Tag durfte sie am Fenster stehen und den Hortensienstrauch bewundern, den Josef vor über dreißig Jahren gepflanzt hatte und der von Jahr zu Jahr größer wurde. Dann überkam sie die Sehnsucht nach Rosa, die sie nie mehr sehen würde.

Endlich war Josef weg. Sie steckte sich den Finger in den Hals und übergab sich im Waschbecken. Dann ließ sie Wasser nachlaufen, denn nichts durfte darauf hindeuten, dass sie sich ihm widersetzte. Erschöpft legte sie sich auf das Bett. Sie starrte zu dem kleinen Kellerfenster, das verschlossen war und nur morgens für die Zeit des Frühstücks geöffnet wurde, während Josef bei ihr blieb. Das Fenster war mit einem Schloss versehen, dessen Schlüssel ihr Mann ständig bei sich trug. Vor Jahren hatte sie versucht, die Scheibe mit dem Stuhl einzuschlagen. Das war ihr nicht gut bekommen, denn Josef war völlig ausgeflippt. Sie hatte eine ordentliche Dosis des Mittels gespritzt bekommen, die Kopfschmerzen waren kaum zu ertragen. Ihr Mann hatte nicht nur das Fenster repariert und dann auch noch vergittert, sondern den Holzstuhl durch einen billigen Plastikstuhl ausgetauscht. Das Bett befestigte er am Boden, der Lattenrost war fest verschraubt. Die wenigen Kleidungsstücke waren von Josef sorgfältig ausgewählt worden und lagen fein säuberlich zusammengelegt in zwei Plastikkörben, die keiner großen Belastung standhielten. Hilde hatte versucht, sich damit die Pulsadern aufzuschneiden, und war kläglich gescheitert. Die wenigen persönlichen Dinge wie Bürste, Shampoo und Seife waren Miniaturausgaben, die Josef regelmäßig ersetzte. Einen Fernseher gab es nicht, dafür brachte ihr Josef jeden Tag die Tageszeitung. Die war ihre einzige Verbindung zur Außenwelt – und Josef, den sie inzwischen abgrundtief hasste. Warum hatte sie sich damals für ihn entschieden? Sie war hübsch und lebensfroh, sie hätte jeden Mann haben können. Josef hatte ihr den Himmel auf Erden versprochen und sie hatte ihm jedes einzelne Wort geglaubt. Über kleine Meckereien sah sie hinweg, aber die hätten ihr die Augen öffnen müssen. Als sie ihren Kinderwunsch äußerte, stieß sie auf Granit. Er machte ihr unmissverständlich klar, dass er keine Kinder haben wollte. Noch gab sie nicht auf und war sich sicher, dass sie ihn irgendwie umstimmen konnte. Wenn er erst einmal sein eigenes Kind in den Armen hielt, würde er seine Vorbehalte über Bord werfen. Sie wurde schwanger und verlor das Kind, noch bevor man ihr die Schwangerschaft ansehen konnte. Für sie war das eine Katastrophe, aber für Josef ein Segen. Sie gab ihm die Schuld. Es gab kaum einen Tag, an dem es keinen Streit gab. Dass es ihr gesundheitlich immer schlechter ging, hatte sie nicht gemerkt. Josef machte sich große Sorgen und hoffte, dass sie sich wieder erholte, aber das geschah nicht - die Krankheit zog sie immer weiter nach unten. Er erfüllte ihr jeden Wunsch. Sie gingen spazieren, ins Theater, es gab sogar kleine Ausflüge. Täglich umschmeichelte Josef seine Frau mit kleinen Aufmerksamkeiten, die sie ignorierte oder sich darüber aufregte. Nichts war ihr recht. Unter Menschen war sie charmant und fröhlich, aber sobald die Tür des kleinen Einfamilienhauses im beschaulichen oberbayerischen Tüßling im Landkreis Altötting schloss, entbrannte regelmäßig ein heftiger Streit. Irgendwann fingen sie an, aufeinander loszugehen. Dann geschah das Unglück, an das sie sich nicht mehr erinnern wollte und das sie völlig aus ihrem Gedächtnis strich. Seitdem saß sie in dem Kellerloch, das seitdem ihr Zuhause war – und das waren jetzt einunddreißig Jahre. In den ersten Monaten hoffte sie noch, dass Josef sie doch noch irgendwann freilassen würde. Aber der blieb hart. Sie unternahm mehrere Fluchtversuche, die aber alle misslangen. Vermisste sie denn niemand? Warum suchte keiner nach ihr? Was war mit ihrer Mutter und den Freunden? Josef antwortete nicht auf ihre Fragen. Sie war allein, ganz auf sich allein gestellt. Sie hatte ihren Mann angefleht, sie hatte gebettelt und ihm alles versprochen, aber er gab nicht nach: Sie war seine Gefangene!

Josef Hiermaier fand einfach keine Ruhe. Die Doku war spannend, aber das Gelächter der neuen Nachbarn nervte ohne Ende. Immer wieder ging er zum Fenster, um zu sehen, was nebenan ablief. Fassungslos musste er mit ansehen, als eine dieser dämlichen Hüpfburgen im Garten aufgebaut wurde.

„Der Alte von drüben spannt schon wieder!“ Dagmar Steinke stand schon lange am Fenster. Dass die neuen Nachbarn einzogen, freute sie zwar, aber das interessierte sie weniger. „Hiermaier ist echt ein Ekel.“ Dann lachte sie. „Der Kinderhasser wird seine Freude mit den Nachbarn haben.“

„Du bist echt schlimm, Dagmar!“, mahnte Sabine Thomas. Die Rektorin der Berufsschule Mühldorf konnte sich nach den vielen Monaten des Lockdowns endlich wieder auf einen Regelbetrieb vorbereiten, was sie echt freute. Dieses Nichtstun hatte sie fast in den Wahnsinn getrieben. Sabine Thomas lebte seit fast einem Jahr in ihrem Elternhaus in Tüßling, das sehr lange leer stand. Eigentlich sollte das Haus verkauft werden, aber sie entschied sich dagegen, nachdem sie Dagmar bei sich aufgenommen hatte, denn schließlich brauchten sie eine Bleibe. Die beiden führten ein angenehmes Leben, das keiner missen wollte. Nur noch wenige Monate und Dagmar beendete ihre Ausbildung, wobei Sabine sie tatkräftig unterstützte. Dagmar war eine fröhliche junge Frau geworden, an der sich Sabine kaum sattsehen konnte. Die schrecklichen Umstände, unter denen sich die beiden gefunden hatten, waren längst verblasst.

Dagmar dachte nicht daran, ihren Beobachtungsposten aufzugeben.

„Hey super, ein Trampolin! Das bringt den Hiermaier auf die Palme! Mal sehen, wie lange es dauert, bis er die Kinder zurechtweist.“ Dagmar holte sich einen Stuhl, denn jetzt wurde es erst so richtig interessant! „Ich glaube, es sind drei Kinder. Jetzt haben sie einen Ball. Oh, oh, das geht nicht gut aus.“ Unwillkürlich zog sie den Kopf ein. „Es ist passiert, der Ball ist in Hiermaiers Garten gelandet.“

„Geh doch vom Fenster weg! Du bist echt genauso schlimm wie der Alte!“ Sabine saß am Küchentisch und hatte den Laptop vor sich. Sie musste sich konzentrieren, aber Dagmar blieb unerbittlich. Sie hatte heute frei und somit alle Zeit der Welt. „Warum gehst du nicht in dein Zimmer und lässt mich hier in Ruhe arbeiten?“

„Das geht nicht, Sabine, von hier habe ich eine viel bessere Sicht.“

Sabine Thomas verdrehte die Augen. So sehr sie Dagmar auch liebte, so sehr ging sie ihr aber auch manchmal auf die Nerven. War das normal? Sie hatte nie eigene Kinder gehabt und wunderte sich oft über die Reaktionen von Eltern, wenn es Probleme mit den Kindern gab – jetzt konnte sie einiges besser verstehen! Dagmar war ab morgen für fünf Tage am Chiemsee, um dort ein Praktikum zu absolvieren. Ab morgen konnte sie endlich in Ruhe arbeiten. Während sich Sabine Thomas auf den morgigen Tag freute und versuchte, sich auf die Arbeit zu konzentrieren, kommentierte Dagmar das Geschehen auf den Nachbargrundstücken.

„Der alte Hiermaier rastet aus. Er hat den Ball an sich genommen und die Kinder angeschrien. Das musst du sehen, Sabine! Der kleine Kerl verspottet den Alten!“ Dagmar lachte laut, was Sabine zum Schmunzeln brachte. Es war schön, das einst verängstigte Mädchen so glücklich zu sehen.

Dagmar hatte sich am nächsten Tag verabschiedet, aber aus der Ruhe wurde nichts, denn die neuen Nachbarn hatten sich fest vorgenommen, das alte Haus zu renovieren. Ein riesiger Bagger fuhr auf das Grundstück, riss kurzerhand den Zaun ein und bahnte sich den Weg durch den Garten. Stundenlang wurde gearbeitet, was einen Höllenlärm in der sonst so ruhigen Rosenstraße verursachte. Sabine versuchte, irgendwo im Haus ein ruhiges Plätzchen zu finden, aber es war überall viel zu laut. Nicht nur der Lärm drang bis in alle Zimmer, sondern auch die Vibrationen, die der Bagger verursachte. Manchmal hatte sie sogar Sorge, dass Risse in ihrem alten Elternhaus entstehen könnten.

Diese Sorge teilte auch Josef Hiermaier. Mit offenem Mund beobachtete er das Treiben auf dem Nachbargrundstück. Was hatten die Leute vor? Wofür brauchten sie diesen riesigen Bagger? Noch hoffte er, dass diese Arbeiten, die er nicht verhindern konnte, bis zum Nachmittag erledigt wären. Aber das war nicht so, denn nach und nach rückten mehrere Arbeiter mitsamt großer Maschinen an. Dazu wurde Material geliefert, das Hiermaier nicht zuordnen konnte. Irgendwann verstand er: Die Nachbarn bauten einen Pool, der die Hälfte des Gartens einnahm. Als wären die Arbeiten nicht genug, tollten viele Kinder durchs Grundstück, wobei sie vor allem das Trampolin in Beschlag nahmen. Das Geschrei war für Hiermaier fast schlimmer als der Maschinenlärm. Irgendwann hatte er genug. Er ging an den Zaun und schrie: Ruhe, verdammt nochmal!

Die Kinder hatten den Nachbarn gesehen und gehört, aber sie lachten nur. Hiermaier wurde wütend. Was waren das nur für verzogene Bälger? Er zog die Tür hinter sich zu und ging schnurstracks zu den Nachbarn. Dort hielt er Ausschau nach der Frau, die jetzt offenbar hier wohnte. Ob einer dieser vielen Männer zu ihr gehörte, hatte er noch nicht herausgefunden.

„Geht das alles nicht etwas leiser? Vor allem die Kinder machen einen Lärm, der kaum auszuhalten ist!“, schnauzte Hiermaier die Frau an, die gerade im Gespräch mit einem Mann war, den Hiermaier nicht beachtete.

„Grüß Gott, so viel Zeit muss sein. Mit wem habe ich das Vergnügen?“

„Hiermaier, ich wohne nebenan. Der Lärm ist…“

„Nadine Olschewski, das ist mein Mann Tobias.“

Hiermaier ignorierte die ihm gereichte Hand. Er war hier, um sich zu beschweren, und nicht, um Freundschaften zu schließen.

„Wenn Sie dafür sorgen würden, dass der Lärm reduziert wird, wäre ich Ihnen sehr dankbar. Sie wohnen ja schließlich nicht allein hier. Ich möchte meine Ruhe haben. Da Sie sicher Wert auf eine angenehme Nachbarschaft legen, werden Sie meiner Bitte nachkommen.“

„Das tut mir leid, aber leiser geht das nicht“, sagte Nadine Olschewski. „Die Maschinen sind so laut, wie sie eben sind. Wir sehen zu, dass wir morgen mit dem Gröbsten fertig sind, dann wird es ruhiger werden. Allerdings muss ich Sie vorwarnen: Ganz werden wir den Lärm in nächster Zeit nicht einstellen können.“

„Aber die Kinder könnten ruhiger sein!“ Hiermaier schnaubte vor Wut, denn die Frau grinste dämlich und schien sich über ihn zu amüsieren. War sie nicht an einer angenehmen Nachbarschaft interessiert? „Sind das alles Ihre Kinder?“

„Nein. Mein Sohn hat Freunde eingeladen, was er vor den Nachbarn nicht rechtfertigen muss. Jetzt regen Sie sich doch nicht so auf, Herr Hiermaier. Ich finde nicht, dass die Kinder übermäßig laut sind. Sie lachen und toben, was völlig normal ist.“

„Nein, das ist nicht normal, die Kinder stören mich!“

„Daran werden Sie sich gewöhnen müssen. Ich habe nicht vor, meinen Kindern vorzuschreiben, wie und mit wem sie spielen dürfen.“

„Kinder? Sie sagten eben, dass nur ein Bub zu Ihnen gehört.“

„Wir haben noch einen siebzehnjährigen, aber der ist in der Schule.“

„Einen Halbwüchsigen haben Sie auch noch?“ Hiermaier stöhnte, das konnte ja lustig werden. Laute Musik, Partys und jede Menge Motorenlärm – mit der Ruhe war es dahin. Aber so leicht wollte er sich noch nicht geschlagen geben, er durfte diese vorlaute Frau nicht bei der ersten Auseinandersetzung gewinnen lassen.

„Sie sind die Mutter und müssen dafür sorgen, dass…“

„Jetzt hören Sie mir mal zu, Herr Hiermaier. Kinder machen nun mal Lärm und der ist in Deutschland zu vernünftigen Zeiten nicht verboten, auch in Tüßling nicht. Kinder toben und lachen, was in dem Alter völlig normal ist. Sie waren doch auch mal jung.“

Wieder dieses überhebliche Grinsen, das Hiermaier auf den Tod nicht ausstehen konnte.

„Jetzt sagen Sie doch auch mal was!“, wandte er sich an den Mann der ätzenden Frau.

„Ich kann meiner Exfrau nur beipflichten“, sagte er und legte demonstrativ seinen Arm um Nadine.

„Exfrau? Das hätte ich mir ja denken können. Geschieden mit zwei Kindern!“

„Unsere Familienverhältnisse gehen Sie überhaupt nichts an“, maulte Tobias.

„Wenn mein Haus durch diese brachialen Gerätschaften Schaden nimmt, werden Sie mich von einer anderen Seite kennenlernen! Ich muss sagen, dass ich mit Ihnen als direkter Nachbar nicht einverstanden bin.“

„Dito, Herr Hiermaier, dito!“

„Ich werde mich über Sie beschweren!“

„Das dürfen Sie gerne machen, viel Spaß dabei! Sollte an Ihrem Haus ein Schaden entstanden sein, melden Sie sich gerne schriftlich, auf einen weiteren Besuch Ihrerseits kann ich gerne verzichten“, sagte Nadine. „Und jetzt möchte ich Sie bitten, das Grundstück zu verlassen, schließlich hat Sie niemand eingeladen. Wenn ich es recht betrachte, ist das Hausfriedensbruch. Was meinst du, Tobias?“

„Ja, das sehe ich auch so. Gehen Sie, und zwar schnell. Wenn meine Frau sauer wird, kann ich für nichts garantieren!“ Tobias lachte.

Hiermaier kochte innerlich. Diese vorlaute, freche Nachbarin war die Pest, aber der Exmann war auch nicht besser. Wenn nicht so viele Menschen hier wären, würde er ganz anders mit den beiden umgehen. Aber sie waren nicht allein.

Dann gab es einen lauten Schrei, der direkt aus der Grube kam. Einer der Arbeiter war auf das Skelett einer Leiche gestoßen!

Hilde Hiermaier hatte kein Wort der Auseinandersetzung verstanden, auch wenn Wortfetzen nicht zu überhören waren. Josef hatte sich sicher beschwert, der Arsch konnte Lärm nicht leiden. Sie lächelte und freute sich darüber. Sie selbst war nicht unglücklich über die Motorengeräusche und das Kinderlachen, das bis zu ihr durchdrang. Endlich etwas, das sie ablenkte. Sie stieg auf den wackligen Stuhl und versuchte, etwas sehen zu können, aber das gelang ihr nicht, dafür hatte Josef gesorgt. Es musste bald Mittagessen geben und dann konnte sie ihren Mann fragen. Es war lange her, dass sie miteinander gesprochen hatten.

Dann gab es einen Schrei und alles war still. Was war da los?

2.

„Jetzt sei doch nicht gleich eingeschnappt!“ Leo Schwartz rannte seiner Verlobten Sabine Kofler hinterher. Sie war sauer und ließ sich nicht aufhalten. Wütend stieg die temperamentvolle Journalistin in ihren Wagen, schlug die Fahrertür zu und fuhr davon. Leo konnte ihr nur noch hinterhersehen, denn hinterher laufen war nicht drin, er hatte keine Schuhe an. Er fluchte.

„Was hast du denn jetzt schon wieder angestellt?“ Tante Gerda saß an diesem milden Frühsommermorgen mit dem Hofhund Felix auf der Bank vor dem umgebauten Bauernhaus. Leos Vermieterin und Ersatzmutter streichelte Felix und fütterte ihn mit kleingeschnittenen Leberwurstbrot-Stückchen.

„Wie kommst du darauf, dass ich etwas gemacht habe?“

„Weil ich dich kenne. Setz dich. Ich bringe dir einen Kaffee und dann erzählst du mir alles ausführlich.“

Leo setzte sich, auch wenn er keine Lust auf ein Gespräch mit Tante Gerda hatte, die im vorliegenden Fall voreingenommen schien. Wie kam sie nur darauf, dass er Schuld an dem Streit hatte? Gedankenverloren aß er von dem Leberwurstbrot, was Felix mit leichtem Knurren quittierte. Tante Gerda kam mit Kaffee und einem Stück Kuchen zurück. Sie setzte sich Leo gegenüber, zog den Teller mit den letzten Leberwurstbrot-Stückchen zur Seite und fütterte Felix weiter.

„Hör auf, den Hund zu mästen!“, maulte Leo.

„Willst du jetzt auch noch Streit mit mir?“ Tante Gerda zog die Augenbraue nach oben, was kein gutes Zeichen war. „Was ist nun mit Sabine? Was hast du gemacht?“

„Natürlich nichts! Ich hatte ihr lediglich vorgeschlagen, zu mir zu ziehen, damit dieser Hickhack endlich ein Ende hat. Sie lebt in München und ich in Altötting, das ist doch kein Dauerzustand!“

„Wie soll das gehen? Sabine hat einen Job, den sie von München aus sehr viel effektiver ausüben kann.“

„Dasselbe hat sie auch gesagt, nur mit anderen Worten. Sie war weniger diplomatisch. Sie warf mir vor dickköpfig zu sein, was nun wirklich nicht zu mir passt. Dabei will ich doch nur…“

Tante Gerda musste lachen.

„Du bist der Dickkopf in Person, mein lieber Leo. Du musst doch verstehen…“

In dem Moment klingelte Leos Handy. Als kommissarischer Leiter der Mordkommission musste er sofort rangehen. Er mochte diesen Job nicht und hatte sich nur bereiterklärt, diesen zu übernehmen, da Hans sich strikt weigerte. Diana war zu jung dafür und Annette war nur ein Ersatz. Sie war aus Regensburg ausgeliehen worden, um das Team zu komplettieren. Insgeheim hoffte er, dass sie bleiben würde, denn er kam sehr gut mit ihr zurecht. Nach anfänglichen Schwierigkeiten hatte er sich rasch an sie gewöhnt – und das sollte auch so bleiben.

„Wir haben einen Toten“, sagte er nur und ging, was ihm nicht unangenehm war. Tante Gerda war auf Sabines Seite, da erübrigte sich jedes weitere Wort. Er befand sich im Recht. Was hatte er denn getan? Nichts!

Leo traf zuerst in Tüßling ein. Eine aufgebrachte Gruppe versammelte sich um ihn, als er sich auswies und es schnell die Runde machte, dass er Polizist war. Es war sehr laut und Leo verstand kein Wort.

„Jetzt beruhigen wir uns erst mal alle“, schrie er sehr laut. Da keiner eine Maske trug, zog er seine demonstrativ auf. Da der Chef etwas gegen seine lustige Affenmaske hatte, wählte er ein neutrales und damit langweiliges Exemplar, das er nur während der Arbeitszeit aufzog. Erst jetzt traten alle zurück und setzten ihre Masken auf – verdammtes Corona! Die Zahlen waren seit Wochen zwar gesunken, trotzdem bestand immer noch Maskenpflicht. „Wo ist die Leiche?“, wandte er sich an eine Frau, die völlig aufgelöst war.

„Dort drüben, kommen Sie mit!“ Nadine Olschewski war sehr aufgeregt. Alle anderen zwar auch, aber sie noch sehr viel mehr, denn schließlich ging es um ihr Grundstück. Sie hatte geerbt und das alte Haus günstig erwerben können. Sie hatte schon als kleines Mädchen von einem Eigenheim geträumt, das in ihren Vorstellungen allerdings mehr einem Palast glich. Das alte, renovierungsbedürftige Haus sah zwar ganz anders aus, aber es gehörte nur ihr – zumindest der Teil, der nicht der Bank gehörte. Und jetzt lag auf ihrem Grundstück eine Leiche! In ihren Gedanken malte sie sich die wildesten Geschichten aus, in denen es um Mord und Totschlag ging.

Josef Hiermaier stand starr am Zaun der Nachbarn. Unfähig, auch nur ein Wort zu sagen.

Auch Sabine Thomas hatte sich dazugesellt und beobachtete, was hier ablief. Sie hatte Leo Schwartz sofort erkannt. Ob sie ihm zuwinken sollte? Nein, das war dann doch zu viel des Guten.

Leo sah in die Grube und erschrak. Das Skelett war tatsächlich das eines Menschen, ohne jeden Zweifel. Der Schädel schien zu grinsen, was er aber für sich behielt. Er drängte die Menschenmenge zurück und hoffte darauf, dass Fuchs mit den Kollegen der Spurensicherung endlich anrückte und diesmal ganz besonders weiträumig absperrte.

Die Kollegen fuhren vor und Friedrich Fuchs übernahm sofort das Kommando.

„Sparen Sie nicht mit Ihrer Absperrung, Fuchs, es kommen auch immer mehr Kinder dazu“, wies Leo den Kollegen an.

„Sagen Sie mir nicht, wie ich meinen Job zu machen habe!“ Fuchs hatte heute schlechte Laune. Es war Vollmond und dabei schlief er miserabel. Außerdem war er nicht wirklich ausgelastet, denn seit Wochen gab es keinen interessanten Fall mehr, was sich jetzt hoffentlich änderte. Noch war er skeptisch. Er nahm die Leiter und stieg in die Grube, nachdem er einen kurzen Blick auf die Leiche geworfen hatte.

Der neunundfünfzigjährige Hans Hiebler war eingetroffen und stand neben Leo an der Baugrube, auch wenn Fuchs das nicht gerne sah. Er hasste es, wenn sich jemand zu nahe an den Tatort begab, wenn er ihn noch nicht freigegeben hatte.

„Erinnert dich das an etwas?“, fragte Hans, der heute wieder viel zu viel Parfum aufgelegt hatte. Außerdem sah er aus, als wäre er in Rimini an der Strandpromenade: Weiße Hose, hellblaues Leinenhemd, Lederslipper und eine moderne Sonnenbrille, die fast das ganze Gesicht bedeckte.

„An die Baugrube in Mühldorf“, nickte Leo.

Die beiden unterhielten sich über den damaligen Fall, in dem eine Leiche nach über dreißig Jahren gefunden wurde. Fuchs verstand jedes Wort und fühlte sich gestört.

„Können Sie sich nicht woanders unterhalten?“, maulte er.

„Das könnten wir, aber wir wollen nicht“, gab Leo zurück. „Was schätzen Sie? Wie lange liegt die Leiche schon dort? Ich tippe auf fünfzig Jahre, Hans meint länger.“

„Das ist ein Tatort und kein Wettbüro!“ Fuchs schüttelte den Kopf und bat einen Kollegen zu sich in die Grube. Während die beiden arbeiteten, hörten die Kollegen Schwartz und Hiebler nicht auf mit ihrem Geschwätz, was Fuchs mehr und mehr zur Weißglut brachte.

„Können Sie nicht endlich den Rand halten?“, herrschte er die beiden schließlich an.

„Nicht in dem Ton, Fuchs!“, maulte Leo zurück. Es war augenscheinlich, dass Fuchs schlechte Laune hatte, aber die hatte er auch.

Fuchs hielt sich zurück. Er kannte den Kollegen Schwartz schon lange und spürte, dass er es heute auf einen Streit ankommen ließ – und darauf wollte er sich nicht einlassen.

Unter den Schaulustigen, die nicht alle Anwohner der Rosenstraße waren, hatte sich auch ein Mann eingefunden, der nicht fassen konnte, was hier gerade geschah: Karl Braun. Sein Haus befand sich in der Parallelstraße, nur der Garten grenzte an die Rosenstraße – und er war nicht scharf auf das Großaufgebot an Polizei. Nicht mehr lange, und die Presse war vor Ort – das konnte er nicht brauchen! Karl Braun war nicht sein richtiger Name, den hatte er sich nicht selbst ausgesucht. Seinen Geburtsnamen hatte er abgelegt und hatte keinen Bezug mehr dazu. Er lebte seit knapp zwei Jahren unbehelligt in dem verschlafenen Tüßling, wo er auch arbeitete. Neben seiner Werkstatt im Keller des bescheidenen Eigenheimes schrieb er an einem Roman, der autobiographische Züge hatte. Ob das jemals auf den Markt kam? Er war skeptisch, denn die Öffentlichkeit war sehr gefährlich für ihn und sein Geheimnis. Auch deshalb ging er nie ohne Schal, Mütze und Sonnenbrille vor die Tür – bei jedem Wetter. Die Maskenpflicht kam ihm sehr entgegen, denn damit konnte er sich in der Öffentlichkeit gut verstecken. Er war noch nie kontaktfreudig gewesen und mochte kein Geschwafel mit langweiligen Menschen, weshalb er keine Probleme mit der Pandemie und deren Verbote und Einschränkungen hatte. Auf die Lockerungen, die seit Wochen galten, hätte er gerne verzichtet. In der Nachbarschaft musterte man ihn argwöhnisch, denn niemand wusste, was er eigentlich tat. Dass Braun sein Geld pünktlich jeden Monat überwiesen bekam und er dafür nicht viel tun musste, durfte niemand wissen. Es gab einige Telefonate, deren Inhalt er direkt nach München weitergab. Von dort bekam er Anweisungen und gab auch diese weiter. Jetzt stand er hier in der Rosenstraße und war neugierig. Noch hatte er nicht verstanden, worum es eigentlich ging. Er hätte fragen können, aber dann müsste er mit jemandem sprechen und das wollte er nicht. Die Anweisung war – keinen Kontakt zu Fremden, und daran hielt er sich. Also stand er einfach nur da und beobachtete. Gerüchte gingen durch die Reihen, die er nicht ernst nahm. Er kannte Menschen und konnte beobachten, wie die erwarteten Mechanismen um sich griffen. Mutmaßungen reihten sich an dumme Geschichten, bis sogar Namen genannt wurden. Eine alte Frau meinte sogar, den Täter des vermeintlichen Mordopfers zu kennen. Sie lebte schon immer in Tüßling und kannte die Vorbesitzer des Grundstückes, das erst in den Nachkriegsjahren zum Baugebiet wurde. Alle hingen an den Lippen der Alten, die das sichtlich genoss.

„Das war der Gröbner-Bauer, ein richtiger Lump. Der hatte es faustdick hinter den Ohren, das könnt ihr mir glauben“, erzählte die Frau, die alle nur Annemirl nannten. „Der Gröbner wusste, wie er zu Geld kommt. Der hat sogar noch aus Scheiße Gold gemacht!“ Gelächter machte sich breit. Da sich von Seiten der Polizei nichts rührte, waren die Anekdoten der Annemirl eine willkommene Abwechslung. Sie schmückte ihre Geschichten aus und kam dann zum Schluss. „Mit dem Gröbner hat es kein gutes Ende genommen. Frau und Kinder hatte er vertrieben, selbst seine Brüder sprachen kein Wort mehr mit ihm. Er hatte einen Schlaganfall und ist hilflos und einsam auf dem Küchenboden verreckt. Als man ihn fand, war seine Leiche schon verwest.“ Dass das nur Gerüchte waren, behielt die Annemirl natürlich für sich, schließlich konnte das heute niemand mehr überprüfen. Die Familie war längst ausgestorben und niemand scherte sich um ihre Geschichten.

„Und dieser Gröbner soll ein Mörder gewesen sein?“ Sabine Thomas hatte zugehört und verstand den Zusammenhang nicht.

„Sicher! Dem Mann war alles zuzutrauen!“

Sabine lächelte, sie glaubte der Alten kein Wort. Sie kannte die Annemirl und machte lieber einen Bogen um die gehässige Frau, die an niemandem ein gutes Haar ließ. Ja, sie war alt und hatte außer dem Pflegedienst niemanden, der sich um sie kümmerte – aber das rechtfertigte noch lange nicht ihre Boshaftigkeit. Auch Sabine war schon Thema bei der Frau, die sich sehr hässlich darüber ausließ, dass sie keinen Mann und keine eigenen Kinder hatte. Die Betitelung alte Jungfer zog seine Kreise - einige zeigten mit dem Finger und tratschten hinter vorgehaltener Hand über sie und Dagmar. Sabine machte das nichts aus, denn ihr Privatleben ging niemanden etwas an. Sie liebte ihr Leben und war mit sich im Reinen. Allerdings konnte Dagmar richtig sauer werden, wenn sie die alte Bissgurn1 Annemirl sah. Zu allem Überfluss erzählte sie nämlich überall herum, dass Sabine sich das Haus unter den Nagel gerissen hätte und der Bruder mit einem Butterbrot abgespeist wurde. Keiner wusste, wie das mit dem Haus wirklich ablief, denn Sabine hatte mit niemandem darüber gesprochen. Das ärgerte Dagmar, ließ Sabine aber völlig kalt. Sollte die Alte doch ihr Gift versprühen, das berührte sie nicht weiter. Die Frau war verbittert und konnte sich und ihr Leben nur ertragen, wenn sie über andere sprach und sie schlecht machte. Sabine hatte Mitleid mit der Annemirl, während Dagmar ihr liebend gerne den Hals umdrehen würde.

Leo und Hans kämpften sich durch die Massen der Schaulustigen, die sogar aus Teising und Altötting angereist waren – der Informationsfluss funktionierte. Als Leo die Personalien derjenigen aufnahm, musste er den Kopf schütteln. Hans lächelte nur. Er kannte die Neugier der Menschen, die durch die Pandemie und den damit verbundenen Kontaktbeschränkungen noch viel größer geworden war.

„Ätzend“, sagte Leo zu Hans.

„Ich kann die Leute verstehen. Denen ist langweilig. Wer weiß, wie es uns ergehen würde, wenn wir tagtäglich zuhause eingesperrt wären.“

„Trotzdem muss dieser Sensationstourismus nicht sein. Außerdem ist die Pandemie fast vorbei, das ist keine Entschuldigung für diesen Wahnsinn.“

Dann stand Leo vor Sabine Thomas und musterte sie.

„Wir kennen uns doch!“

„Ja. Der Fall mit den Amanns.“

„Richtig. Was machen Sie in Tüßling?“

„Ich wohne hier.“

„Was ist mit dem Mädchen? Wie ist noch der Name?“

„Dagmar Steinke.“

„Stimmt! Mir war der Name entfallen. Wie geht es Dagmar?“

„Sehr gut. Sie wohnt bei mir.“

Leo lächelte. Er hatte Frau Thomas richtig eingeschätzt. Wer weiß, was aus dem armen Mädchen geworden wäre, wenn sie sich nicht um sie gekümmert hätte.

Alle waren sprachlos. Die Thomas kannte den Polizisten, der hier offenbar etwas zu Sagen hatte. Wie war das möglich?

„Die ist ein Polizeispitzl“, sprach Annemirl das aus, was viele dachten. Auch Sabine bekam Wind davon und musste schmunzeln. Dass sie jetzt wieder Dorfgespräch sein würde, lag auf der Hand. Sie hätte alles richtigstellen können, wobei sie aber über Dagmar sprechen müsste, und das wollte sie nicht. Sollten die Leute doch denken, was sie wollten. Sie entschied, allen ihren Spaß zu lassen.

Leo stand jetzt vor Annemirl. Dass sie geschwätzig war und eine der Haupt- Rädelsführer, hatte er schon mitbekommen. Er notierte Name und Adresse.

„Sie wohnen nicht in dieser Straße?“

„Nein. Ich bin zufällig vorbeigekommen.“

„Aha.“ Mehr sagte Leo nicht.

„Woher kennen Sie die Frau Thomas? Arbeitet sie für die Polizei?“

„Das ist streng geheim!“, flüsterte er ihr zu. „Frau Thomas ist eine unserer Undercover-Agentinnen, sie ist sogar eine 00-Agentin.“

„Eine was?“

„Sie müssen vorsichtig sein, sie hat die Lizenz zum Töten.“

Leo zwinkerte der Frau zu und grinste.

„Verarschen kann ich mich selber!“, schimpfte Annemirl und alle lachten. Eigentlich wäre sie wegen dieser Unverschämtheit am liebsten nach Hause gegangen, aber dann würde sie vielleicht etwas verpassen. Also verschränkte sie nur die Arme, blickte beleidigt zur Seite und blieb an ihrem Platz, von dem aus sie einen hervorragenden Blick hatte.

Jetzt hatte auch Hans Hiebler Sabine Thomas erkannt. Mit einem freudigen Lächeln ging er auf sie zu. Sie tauschten Erinnerungen aus und lachten. Auch Hans war zufrieden, dass die schüchterne Dagmar ein gutes Zuhause gefunden hatte.

„Sie sind eine tolle Frau! Solche Menschen wie Sie gibt es viel zu selten“, sagte er laut. Niemand hier würde Sabine Thomas als Polizeispitzel bezeichnen. „Was wissen Sie von den Vorbesitzern dieses Hauses?“

„Nicht viel. Ein ruhiges Ehepaar ohne Kinder. Der Mann starb vor etwa fünfzehn Jahren, die Frau vor acht Jahren. Seitdem stand es leer.“

„Ich vermute wegen den Erben?“

„Es gab zwei entfernte Neffen, die sich nicht einig wurden. Ob das stimmt, weiß ich nicht sicher.“

„Das finden wir heraus. Vielen Dank!“

Endlich waren nun auch die Kolleginnen Diana Nußbaumer und Annette Godau vor Ort. Nachdem sich die Männer unter den Schaulustigen spröde und wortkarg gaben, war die Stimmung sofort sehr viel besser. Das lag vor allem an Diana, die heute wieder fantastisch aussah. An diesem trüben, grauen Tag war sie durch ihr hellgelbes Kostüm und den hochhackigen Schuhen eine Augenweide.

„Du bist hier doch nicht bei der Modenschau“, maßregelte sie Annette, die sich über die Outfits ihrer Kollegin tagtäglich wunderte, auch wenn sie sie sehr mochte. Wie viel Zeit es kostete, immer so auszusehen wie Diana, wollte sie sich nicht vorstellen. Annette war noch nicht lange bei der Kriminalpolizei in Mühldorf. Eigentlich war sie nur ein Ersatz für Hans Hiebler gewesen, aber der war längst wieder zurück. Allerdings war die Leiterin der Mordkommission Tatjana Struck gegangen, weil ihre Mutter erkrankte und ihr Vater sie bat, die Geschäfte zu übernehmen, da er sich um die Mutter kümmern wollte. Also blieb Annette, bis die Personalfrage der Mühldorfer Mordkommission endlich geklärt wurde.

Diana überhörte die spitze Bemerkung, denn wie sie sich kleidete, war einzig und allein ihr Problem und ging niemanden etwas an – auch die Kollegin nicht. Sie liebte es, sich herauszuputzen, und gab sich viel Mühe, um vor allem sich selbst zu gefallen. Was war daran falsch? Dass Annette heute ein zerknittertes T-Shirt mit einem fetten Kaffeefleck trug, war ihr ja schließlich auch egal.

Leo und Hans übergaben die Befragungen an die Kolleginnen, die vielleicht mehr herausbekamen. Sie gingen wieder zu Fuchs, der jetzt hoffentlich endlich etwas für sie hatte, mit dem sie etwas anfangen konnten.

„Und? Wie sieht es aus, Kollege Fuchs? Wie lang liegt unsere Leiche hier begraben? Wer gewinnt den Jackpot? Hans oder ich?“ Leo lachte. Das Gespräch mit Frau Thomas hatte ihn gefreut und seine Laune hatte sich schlagartig verbessert.

Fuchs verdrehte nur die Augen und stieg die Leiter nach oben.

„Sie liegen beide falsch. Meiner Meinung nach liegt die Leiche erst seit wenigen Jahren hier. Ich vermute zwei bis maximal drei Jahre.“

„Aha. Und wie kommen Sie darauf?“

„Weil der Mann das hier am Handgelenk trug.“ Fuchs hielt den Kollegen einen Beutel vor die Nasen.

„Was soll das sein?“, fragte Leo und sah Hans an, der ebenfalls die Schultern zuckte. „Ein blaues Armband?“

„Ein Fitnessarmband, das 2018/2019 hergestellt wurde. Ich hatte dasselbe Modell. Es wurde noch im Jahr 2019 wegen gravierender Fehler vom Markt genommen.“

„Das sagt doch noch nichts! Vielleicht hat das des Mannes funktioniert“, motzte Leo.

„Dieses High-Tech-Fitnessarmband wurde vom Hersteller zurückgenommen und durch ein überarbeitetes Modell kostenlos ersetzt. Glauben Sie mir, dass dieses Angebot alle User angenommen haben, schließlich kostete dieses Armband damals ein Vermögen.“

„Wieviel?“

„Sechshundert Euro.“

„Für ein Sportarmband? Das ist ja Wahnsinn! Wer kann sich denn so ein Späßle leisten?“

Fuchs sagte nichts dazu. Für ihn waren solche Ausgaben sinnvoll und er musste sich vor niemandem rechtfertigen – schon gar nicht vor Kollegen, die von Sport nichts hielten.

„Hatte der Tote Papiere bei sich?“

„Nein, wir haben nichts gefunden.“

„Auch kein Handy oder Schmuck?“

„Wenn ich sage, dass wir nichts gefunden haben, dann meine ich das auch so. Ich bringe die Leiche zur Pathologie, dann sehen wir weiter.“

„Sobald Sie etwas für uns haben, melden Sie sich, okay?“

Fuchs nickte auch jetzt. Der Kollege Schwartz leitete momentan die Mordkommission und war noch nerviger als sonst. Es war an der Zeit, dass sich der Chef bezüglich der Nachfolge von Frau Struck entschied. In seinen Augen kam nur der Kollege Hiebler dafür infrage, aber seine Meinung war nicht gefragt.

Während Fuchs und seine Mitarbeiter die Leiche bargen, stand Diana Nußbaumer vor Karl Braun. Der war nicht an ihrer Schönheit interessiert und wollte eigentlich nur weg, aber dafür war es zu spät. Viele Nachbarn hatten ihn erkannt und würden verraten, dass er hier gewesen war. Daher entschied er, die Fragen der blonden Frau zu beantworten, um sich nicht verdächtig zu machen. Allerdings vermied er, den Personalausweis zu zeigen, schließlich war der nicht echt. Er gab vor, ihn vergessen zu haben.

„Sie wohnen wo?“

„Das dort ist mein Haus.“

„Dann darf ich Sie bitten, den Ausweis zu holen, ja?“ Diana lächelte den Mann an und ging dann zur nächsten Person.

Karl Braun nickte eifrig und ging nach Hause. Dort nahm er seine Sporttasche und packte alles ein, was nötig war. Er musste weg von hier. Niemals hätte er gedacht, dass man die Leiche Brauns finden würde. Noch rechnete man damit, dass er irgendwann irgendwo wieder auftauchen könnte. Hektisch warf er die Wertgegenstände aus dem Tresor in die Tasche. Sein ganzer Fokus stand auf Flucht – aber wo sollte er hin? Er atmete tief durch und zwang sich, ruhig zu bleiben und nachzudenken. Er besah sich den Personalausweis, dessen Bild ihm nicht wirklich ähnlich war. Dann nahm er sein Handy.

„Eine Leiche wurde gefunden“, sagte er ohne Gruß.

„Was? Ich verstehe nicht...“

„Haben Sie mich nicht verstanden? Es wurde eine männliche Leiche gefunden!“

„Sie meinen, dass das Ihr Vorgänger sein könnte?“

„Ja, das denke ich. Sie nicht?“ Braun war außer sich.

„Jetzt bleiben Sie ruhig, noch ist nichts passiert.“

„Nichts passiert? Die Polizei hat meine Daten. Was meinen Sie, wie lange sie brauchen, um die Identität des Toten herauszufinden? Sie werden sofort merken, dass da etwas nicht stimmt!“

„Sie haben Ihre Daten? Wie konnte das passieren?“

„Für lange Erklärungen habe ich jetzt keine Zeit! Was soll ich tun?“

„Sie müssen sofort verschwinden!“

„Und wohin?“

„Meine Schwiegermutter hat in Mühldorf einen Schrebergarten. Ein kleines Häuschen ohne Komfort, aber dort wären Sie vorerst sicher. Ich melde mich, wenn ich eine Alternative gefunden habe.“

„Was mache ich mit den Hinweisen in meinem Haus? Ich habe keine Zeit, alles einzupacken und Spuren zu beseitigen.“

„Darum kümmere ich mich. Bringen Sie sich in Sicherheit, alles andere wird erledigt.“

Karl Braun ging mit Bauchschmerzen. Ob er sich auf die Versprechungen verlassen konnte? Er musste, denn welche Alternative hatte er? Wie kam er unbemerkt aus Tüßling raus? Zum Glück hatte er einen Zweitwagen, den er sich vor einem halben Jahr gekauft hatte und seitdem neben einer alten Scheune nach dem Ortsschild Richtung Teising versteckte. Das war eine Vorsichtsmaßnahme, da eine Übergabe kurz bevorstand und er mit dem Gedanken spielte, sich nicht an die Vorgaben zu halten. Um was es ging, wusste er bis heute immer noch nicht, man zog ihn nicht ins Vertrauen. Aber das war ihm auch egal, denn er dachte nicht daran, sich wie eine Schachfigur fremdbestimmen zu lassen. Er wollte sein eigenes Süppchen kochen und fett absahnen.

Er fuhr aus der Garage. Die neugierige Nachbarin Kühbauch war sicher bei den anderen, was ihm jetzt zugutekam. Er wechselte unbemerkt das Fahrzeug und fühlte sich gut. Den Wagen, der ihm zur Verfügung gestellt wurde, ließ er einfach in der Nähe des Schlosses stehen. Braun war sich sicher, dass ihn niemand gesehen hatte. Noch waren die Polizisten mit dem Toten und die Nachbarn mit der Neugier beschäftigt und das war sein Vorteil.

Als Braun in Mühldorf an der genannten Adresse ankam, war er erschrocken. Unweit der Schrebergärten war ein griechisches Lokal, das inzwischen wieder geöffnet hatte. Rund herum befanden sich einige Firmen. Was sollte der Scheiß? Hier befand er sich auf dem Präsentierteller! Wütend nahm er sein Handy.

„Was soll das? Hier kann ich nicht bleiben!“, schrie er.

„Ja, die Hütte ist nicht optimal, aber eine andere Lösung habe ich nicht.“

„Ich gebe Ihnen fünf Minuten! Wenn Sie bis dahin nichts Besseres haben, lernen Sie mich von meiner unangenehmen Seite kennen. Sie wollen doch nicht, dass ich zur Polizei gehe? Oder sogar zur Presse?“

„Natürlich nicht! Ich melde mich sofort wieder, versprochen.“

Karl Braun hatte aufgelegt. Er setzte sich auf den wackligen Stuhl der kargen Hütte und sah sich um. Hier würde er um nichts in der Welt bleiben wollen!

„Braun könnte auffliegen, er muss untertauchen.“ Grünberger sprach diesen Satz ohne Gruß ins Telefon, da er befürchtete, dass Doktor Valentin Schober ihn sonst nicht anhörte. Ob er ihm sagen sollte, dass eine Leiche gefunden wurde, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der ganzen Aktion stehen könnte? Schober war in Eile, der würde ihm sowieso nicht zuhören.

Valentin Schober hasste es, wenn er direkt vor einer Gerichtsverhandlung gestört wurde, aber dieser Anruf war etwas anderes. Er sah sich um, denn Zuhörer konnte er nicht brauchen.

„Lassen Sie sich etwas einfallen, Grünberger, ich kann mich jetzt nicht darum kümmern!“

„Ich habe nur die Laube einer Tante anzubieten, aber die gefällt Braun nicht. Ich kann ihn verstehen, die ist nicht wirklich sicher.“

„Kommen Sie endlich, Herr Schober, die Verhandlung fängt gleich an!“, drängelte der Oberstaatsanwalt Wolfgang Terpitz, der Unpünktlichkeit auf den Tod nicht leiden konnte. Da er auf andere keinen Einfluss hatte, sollte sich wenigstens sein engster Mitarbeiter daran halten.

„Sofort, Herr Terpitz, geben Sie mir noch eine Minute“, lächelte Schober gequält.

Murrend ging der Oberstaatsanwalt in den Sitzungssaal.

„Was ist jetzt? Was mache ich mit Braun? Er hat gedroht, zur Polizei oder Presse zu gehen. Wir brauchen eine Lösung, und zwar schnell“, drängelte Grünberger. Er war vor zwei Jahren von Schober mit diesem Sonderauftrag betraut worden, der bisher keine Probleme gemacht hatte. Außer einiger weniger Kontakte, deren Inhalt er direkt an Schober weiterleitete, gab es nichts, was er groß hätte machen müssen. Es gab sogar Zeiten, in denen Grünberger Brauns Existenz und das Drumherum völlig vergaß. Aber jetzt sah die Lage anders aus. Braun steckte in der Klemme und brauchte seine Hilfe – und er hatte keine Lösung. Er saß, wie Schober auch, in München, bis ins kleine Kaff Tüßling waren es fast einhundert Kilometer. Da Grünberger keine Ahnung hatte, was zu tun war, musste Schober helfen – aber der ließ ihn jetzt hängen.

„Mir fällt spontan nichts ein, Grünberger, Sie müssen sich vorerst selbst behelfen. Ich melde mich nach der Verhandlung, bis dahin habe ich sicher eine Lösung.“

„Wie lange...“ Die Verbindung wurde unterbrochen. Grünberger drückte die Wahlwiederholung, aber Schober hatte sein Handy ausgeschaltet. Wütend lehnte sich Grünberger zurück. Hatte Schober damals nicht ausdrücklich betont, dass er bei Problemen immer für ihn erreichbar wäre? Dass das nicht so war, hätte er sich denken können. Jetzt, da er in Not war und alles drohte aufzufliegen, ließ ihn der Drecksack einfach im Stich. Was sollte er jetzt tun? Braun wartete auf seinen Rückruf und auf eine Lösung. Die Gerichtsverhandlung könnte Stunden dauern, auf deren Ende konnte er nicht warten. Wütend nahm er seine Jacke, stieg in seinen Sportwagen und fuhr los. Dann rief er Braun an.

„Ich bin unterwegs, wir sehen uns gleich.“

„Wann sind Sie hier?“

„In etwa einer Stunde. Bis dahin halten Sie die Füße still, verstanden?“

Braun hatte das Motorengeräusch gehört, also log Schober nicht. Und wenn doch, dann würde er ihm den Arsch aufreißen. Warum hatte er sich nur auf diesen Schwachsinn hier eingelassen? Das Angebot war verlockend und er hatte sofort zugestimmt, als Schober mit ihm sprach. In den letzten zwei Jahren war alles gut gegangen und er hatte ein ruhiges, fast luxuriöses Leben führen dürfen. Und das, obwohl er keinen Finger krümmen musste. Die Leiche war gefunden worden, was alle für undenkbar hielten. Um wen es sich dabei handelte, konnte er sich denken.

Braun saß in dieser schäbigen Bude und fühlte sich wie im Käfig gefangen. Es gab kein Fenster, durch das er die Lage im Auge behalten könnte. Hier konnte er nicht bleiben! Er ging zu seinem Wagen und fuhr zu einem riesigen Supermarkt. Auf diesem Parkplatz wollte er warten, bis Schober sich meldete.

Inzwischen waren die Überreste der Leiche vom Grundstück der Familie Olschewski in Tüßling abtransportiert worden. Fuchs fuhr selbst und rief seine Freundin Lore Pfeiffer an, die für die Einteilung der Leichen in der Münchner Pathologie zuständig war.

„Ich bin mit einem neuen Patienten auf dem Weg zu euch. Hat Doktor Schnabel heute Dienst?“

„Ja. Möchtest du zu ihm?“

„Wenn das möglich ist?“

„Selbstverständlich, ich kümmere mich darum. Hast du heute Zeit für ein Abendessen?“

„Das kommt auf die Untersuchungsergebnisse an. Du weißt ja, wie lästig die Kollegen bei Ungereimtheiten werden können.“

Leo Schwartz konnte jetzt den jüngeren Sohn der Familie Olschewski Leo-Max befragen, nachdem die besorgten Eltern ihr Einverständnis gaben. Sie saßen links und rechts neben ihrem Sohn, der auf Leo einen aufgeweckten Eindruck machte.

„Du bist also der Leo-Max.“

„Sagen Sie einfach nur Leo.“

„Den Namen kann ich mir gut merken, ich heiße nämlich auch Leo.“

„Das sagen Sie doch nur, um sich bei mir einzuschleimen.“

Leo lächelte und griff zu seinem Ausweis. Der Junge war clever. Die Eltern hingegen waren nicht begeistert, dass ihr Sprössling dermaßen frech mit einem Polizisten sprach. Sie versuchten, ihm seinen Fehler zu erklären, was sehr, sehr lange dauerte und vor allem Hans auf die Nerven ging.

„Jetzt zeig dem Jungen deinen Ausweis, damit wir vorankommen!“, sagte Hans gelangweilt.

Der Junge las den Ausweis mit großen Augen.

„Tatsächlich, Sie haben wirklich die Wahrheit gesagt. Sorry, aber Erwachsene lügen oft.“

„Das stimmt, das kann ich bestätigen.“

„Erwachsene lügen die Polizei an?“

„Jeden Tag. Aber wir sind nicht dumm und merken, wenn man uns anlügt.“

„Ich merke das auch sofort!“

„Das glaube ich dir gerne. Du hast gesehen, was in der Grube lag?“

„Ja, das war echt krass. Ich habe noch nie eine Leiche in echt gesehen!“

„Du wohnst zwar noch nicht lange hier, trotzdem entgeht dir sicher nichts. Das stimmt doch, oder?“

Leo-Max nickte. Der Zwölfjährige wäre ein guter Informant. Ob er das ausnutzen durfte? Mal sehen, wie weit er gehen konnte.

---ENDE DER LESEPROBE---