Das Hotel der Wünsche - Sean Easley - E-Book

Das Hotel der Wünsche E-Book

Sean Easley

0,0
6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Cams Vater ist vor Jahren spurlos verschwunden und hat nur eine goldene Münze zurückgelassen. Cams Eintrittskarte zu einem Ort voller Magie: das Hotel der Wünsche. Hier ist nichts, wie es auf den ersten Blick scheint: Jede Tür führt in ein anderes Land, steinerne Elefanten erwachen zum Leben, und Wunder warten hinter jeder Ecke. Cam ist sich sicher, dass das Verschwinden seines Vaters etwas mit dem Hotel zu tun hat. Und so begibt er sich auf die abenteuerliche Suche in einem Labyrinth aus fantastischen Orten und unzähligen Gefahren ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 465

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Sammlungen



Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumWidmung1 – Hier, dort und überall2 – Die Dallas-Tür3 – Taschenspielertricks4 – Der Mann im Nadelstreifenanzug5 – Russischer Tanz6 – Der Türhüter vom Zimmer 21097 – Der Alte Herr und sein Meer8 – Nicht länger Gast9 – Auf ins Gefecht10 – Die Lichter von Budapest11 – Staub zu Staub12 – Gemopst13 – Auf die Skulpturen14 – Auf schwankendem Boden15 – Das Versagen16 – Wie die Äste eines Baums17 – Ein Spiel in Honduras18 – Stille Wasser sind tief19 – Puzzleteile20 – Aufgelöst21 – Sturm in der Tür22 – Schlüsselgewalt23 – Die vierte Etage24 – Hotelkinder25 – Was ich immer wollte26 – Haltlos27 – Wer anklopft, dem wird aufgetan28 – Wege im Labyrinth29 – Schmorbraten30 – Gewächshausmagie31 – Ans Ende der Äonen32 – Das Ziel deiner ReiseDanksagung (und Gästeliste)Glossar

Über dieses Buch

Cams Vater ist vor Jahren spurlos verschwunden und hat nur eine goldene Münze zurückgelassen. Cams Eintrittskarte zu einem Ort voller Magie: das Hotel der Wünsche. Hier ist nichts, wie es auf den ersten Blick scheint: Jede Tür führt in ein anderes Land, steinerne Elefanten erwachen zum Leben, und Wunder warten hinter jeder Ecke. Cam ist sich sicher, dass das Verschwinden seines Vaters etwas mit dem Hotel zu tun hat. Und so begibt er sich auf die abenteuerliche Suche in einem Labyrinth aus fantastischen Orten und unzähligen Gefahren …

Über den Autor

Sean Easley hat in der Grundschule damit begonnen, Geschichten zu schreiben, immer auf der Suche nach Abenteuern. Später arbeitete er jahrelang mit Kindern und Teenagern und hörte sich ihre Geschichten an. Zwischendurch machte er einen Master in Bildungswissenschaften. Heute ist er Schriftsteller und lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in Texas, wo er sich immer noch weigert, Cowboystiefel zu tragen.

SEAN EASLEY

Übersetzung aus dem amerikanischen Englischvon Ulrike Raimer-Nolte

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»The Hotel Between«

Original English Language edition copyright ©:

Text copyright © 2018 by Sean Easley

Jacket illustrations copyright © 2018 by Petur Antonsson

Published by arrangement with Simon & Schuster Books For Young Readers,

An imprint of Simon & Schuster Children’s Publishing Division

All rights reserved. No part of this book may be reproduced or

Transmitted in any form or by any means, electronic or mechanical,

Including photocopying, recording or by any information storage

And retrieval system, without permission in writing from the publisher

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: Tanja Østlyngen unter Verwendungeiner Illustration von Petur Antonsson

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-0957-6

luebbe.de

baumhaus.de

buchstabenbande.com

Für Lizzie und Becca, wohin sie auch gehen …und für Shelly, wohin sie mich auch führt.

1Hier, dort und überall

Bestimmt sterbe ich in diesem blöden Spind.

Ich starre auf die Lichtschlitze in der Metalltür und könnte mir selbst in den Hintern treten, weil ich wieder einmal feststecke. Noch dazu am letzten Tag vor den Winterferien. Wenn alle zurück aus dem Urlaub kommen, sind sie garantiert überrascht von der zusammengeschrumpelten Mumie im Schranksarg, in deren Hosentasche noch immer eine leere Packung Smarties steckt.

Wir spielen ›Sardine in der Dose‹. Einer versteckt sich, die anderen suchen. Wer ihn entdeckt, hockt sich dazu und muss nun auch gefunden werden. Am Anfang des Spiels kam mir der Metallschrank wie das perfekte Versteck vor, aber jetzt warte ich schon über eine Stunde, dass die anderen Lehrerkinder mich finden. Und ich bin immer noch der einzige Dosenfisch. Das war’s also. Sie haben mich vergessen.

Vor Frustration bollere ich den Hinterkopf gegen die Innenseite meines Spinds. Mit dem Finger fahre ich die Umrisse des Baums nach, den ich als Zeichnung an die Tür geklebt habe. Fast kann ich das Rascheln der Blätter hören, genau wie neuerdings in meinen Träumen. Der gleiche Baum prangt auf dem Kettenanhänger um meinen Hals. Das kleine Holzstück in Münzform hat Dad gehört. Vermutlich kann es mich nicht aus den Klauen eines zugeschnappten Schranks retten, trotzdem sorgt es dafür, dass ich mich besser fühle. Die Münze ist das Einzige, was Dad mir hinterlassen hat, als er verschwand. Solange ich den Anhänger trage, passiert mir hoffentlich nicht dasselbe.

Schritte. Da naht meine glorreiche Rettung. Wer immer dort draußen durch den leeren Sozialkundeflur kommt, wird mich bestimmt aus dieser fiesen Falle befreien, in die ich freiwillig getappt bin.

»Hallo?« Mein Hals ist so trocken, dass meine Stimme bricht.

Die Schritte verstummen. Ich kann durch die Schlitze in der Tür nicht viel sehen, aber stelle mir vor, wie meine Rettung mit schimmernden Flügeln und Herzchen-Zepter den Flur entlanggleitet.

»Cameron?«, ertönt eine vertraute Stimme, die meiner Grandma gehört … oder genauer gesagt meiner ›Oma‹, denn ihre Familie stammt aus Deutschland. Bestimmt haben ihre schrägen Glücksamulette sie zu mir geführt.

»Holst du mich bitte hier raus?«

Sie geht vor dem Spind in die Hocke, sodass ich sie durch die Schlitze sehen kann. Keine Flügel, kein Zepter – einfach nur Oma, die für mich und meine Zwillingsschwester sozusagen Mom und Dad in einer Person ist, seit wir denken können. »Wie lange bist du schon dadrin?«, fragt sie mit ihrem gedehnten texanischen Akzent.

Eine Ewigkeit.

»Weiß ich nicht«, sage ich, weil ich kein Drama daraus machen will. »Kannst du mich rausholen?«

»Cammy …«, sagt sie, was der babyhafteste Spitzname aller Zeiten sein dürfte. »Ich glaube, die Tür hat drinnen einen Riegel.«

War ja klar.

Ich taste herum und finde den Schnappverschluss aus Metall. Die Tür öffnet sich wie durch Zauberhand. Meine Beine kribbeln, als ich hinausstolpere und mich gegen Oma lehne. Man könnte es eine Umarmung nennen, aber so was tue ich natürlich nicht. Bald werde ich dreizehn, also bin ich definitiv zu alt, um meine Oma im Schulflur zu knuddeln.

»Tut mir leid«, sage ich, ohne genau zu wissen, warum.

»Geht es dir gut?« Sie trägt ihre typische Blümchenbluse und eine beigefarbene Hose.

Ich nicke. Auf keinen Fall will ich darüber reden, dass die anderen Kinder mich mal wieder mitten im Versteckspiel sitzen gelassen haben.

»Ich muss leider noch in der Schule bleiben«, sagt sie. »Heute ist ein bisschen mehr zu tun.«

Eine glatte Lüge, denn Oma arbeitet in Teilzeit. Sie hatte keine volle Stelle als Lehrerin mehr, seit Dad verschwunden ist. Also gibt es keinen Grund, warum sie länger als alle anderen in der Schule bleiben sollte. Und der Blick, den sie mir zuwirft, lässt in meinem Kopf die Alarmsirenen losschrillen.

Heute wollte sie mit dem Arzt reden, der meine Schwester behandelt. Also hat sich etwas verschlimmert – wieder einmal.

»Was hältst du davon, nach Hause zu gehen und deiner Schwester Abendbrot zu machen?«, fragt sie und wirft mir ein erschöpftes Lächeln zu. »Bei mir wird es spät.«

Auf dem Weg nach Hause mache ich einen Zwischenstopp beim Kiosk und kaufe mir ein Eis mit Orangengeschmack. Im Dezember mein Gehirn tiefzufrieren gibt mir irgendwie das Gefühl, die Kontrolle über mein Leben zu haben. Meine Schwester Cass zieht mich gerne damit auf. »Niemand isst Eis am Stiel im Winter«, sagt sie jedes Mal. Aber da irrt sie sich eben.

Genau wie sie sich bei der Sache mit Dad irrt. Denn er hat uns nicht sitzen gelassen. Wie Oma immer sagt: Jemand hat ihn gestohlen.

Ich spiele mit der bemalten kleinen Holzscheibe, die an meinem Hals baumelt. Meine Münze ähnelt der meiner Schwester zum Verwechseln, bis auf einen Unterschied: Meine ist golden und schimmert im Licht, während die von Cass eine graue Holzfarbe hat. Ihre Kette hat früher Mom gehört. Oma sagt, der Anhänger hat sich grau gefärbt, weil unsere Mutter tot ist. Die einzig logische Folgerung wäre also, dass meiner schimmert, weil Dad noch lebt und irgendwo da draußen ist.

Mag sein, dass Cass nicht daran glaubt, aber ich schon. Und eines Tages beweise ich es ihr. Ich werde Dad finden, ihn nach Hause bringen, und dann ist alles wieder so, wie es sein sollte. Ich weiß nur nicht wie. Noch nicht.

Ich wäge einen Moment lang ab, ob ich mich an den Picknicktisch bei der Tankstelle setzen soll, um in Ruhe mein Eis zu essen. Aber aus einer von den Dokus, die Cass so gerne schaut, weiß ich, dass zu langes Sitzen zu Blutgerinnseln in den Venen führen kann. Auf meiner Liste unerfreulicher Todesarten gehört Thrombose zu den langweiligsten.

Also marschiere ich stattdessen weiter, quer über den Parkplatz hinter dem Kiosk und mustere im Gehen das Einkaufszentrum, das auf dem Weg zu meinem Wohnblock steht.

Etwas daran sieht heute anders aus als sonst. Das Gebäude ist der einzige moderne Neubau in unserer Gegend. Eigentlich sollten dort Läden einziehen, aber seit der Fertigstellung vor zwei Jahren hat sich in den gut zwanzig Schaufenstern nichts gerührt. Kein einziger Laden wollte hier aufmachen. Das Gebäude ähnelt einer Geisterstadt mit gespenstisch herumwehenden Plastiktüten.

Doch heute hängt ein brandneues Schild an einer Tür und fesselt sofort meine Aufmerksamkeit. Die großen, elegant verschnörkelten Buchstaben schimmern und strahlen trotz des bedeckten Himmels.

HOTEL DER WÜNSCHEHIER, DORT UND ÜBERALL

Ein gigantischer Baum prangt hinter den Buchstaben auf der Glastür, sodass die Türflügel ihn in der Mitte zerteilen. Das Schild wirkt geradezu blendend und gleichzeitig so verführerisch, dass ich wie hypnotisiert daraufstarre. In dieser Gegend sind die meisten Schaufenster mit billigen, schiefen Buchstaben beklebt, und an den Türen hängen ›Geöffnet‹-Schilder aus Plastik. Aber hier leuchten die Worte wie Glitzerkonfetti.

Und der Baum dahinter sieht so vertraut aus. Ich kenne den Umriss. Er klebt als Zeichnung in meinem Spind und ziert die Münze um meinen Hals. Ich habe meine Finger unzählige Male über dieses Symbol gleiten lassen. Und seit meinem zwölften Geburtstag hat es sich auch in meine Träume eingeschlichen. Als sollte das Auftauchen des Baums eine besondere Bedeutung für mich haben.

Ich laufe zu der Tür und linse durch das Glas, aber kann drinnen nichts erkennen. Wahrscheinlich hat das Hotel noch nicht eröffnet. Ich schirme meine Augen ab, presse mein Gesicht gegen die Scheibe, und …

Wumms!

Die Tür rammt mit voller Wucht gegen meine Nase. Glas und Metall scheppern, genau wie mein vom Eis gefrorenes Gehirn. Ich stolpere zurück, lasse das Orangeneis fallen und lande mit dem Hintern auf dem Bürgersteig. Es fühlt sich an, als wäre mir das Nasenbein in den Schädel gerammt worden. Garantiert habe ich einen Hirnschaden (Nr. 34 auf meiner Liste fieser Todesarten).

Ein Mann steckt den Kopf durch die Türöffnung, während ich meine Nase abtaste und hoffe, dass sie nicht anfängt zu bluten. Ich kämpfe gegen die Tränen an, aber das ist ungefähr so Erfolg versprechend, wie ein Lego-Schiff ohne Anleitung zusammenzubauen.

Der hochgewachsene Mann lacht und sagt etwas in einer fremden Sprache. Dann hält er mir eine Hand entgegen, um mir aufzuhelfen. Er hat eine Glatze und trägt ein langes Gewand mit einem grellen Muster aus gelb-grünen Formen, die an ein Puzzle erinnern. Meine Nase, die nun vermutlich wie bei einem Boxer aussieht, reicht ihm gerade bis zur Brust.

Zwei weitere Leute kommen hinter ihm aus der Tür: ein bärtiger Mann in einem weißen Leinenanzug und eine Frau mit Kopftuch. Die Stimme der Frau klingt, als würde sie sich entschuldigen, weil der Typ mich aus den Latschen gehauen hat, aber ich verstehe die Sprache nicht. Der Mann im Leinenanzug geht ein paar Schritte auf den Parkplatz und starrt zum texanischen Himmel empor.

Ich drehe mich zurück zur Tür und erhasche einen kurzen Blick auf etwas … Unfassbares. Ein dicker, weinroter Teppich erstreckt sich durch ein großes Foyer und eine gewundene Prunktreppe hinauf. Warmes Licht strahlt aus altertümlichen, wie von Thomas Edison entworfenen Glühlampen, in verschnörkelten Halterungen. Lange Kristallketten an einem glitzernden Kronleuchter malen Regenbogenfarben auf den Boden und tauchen den gewaltigen Saal in einen rauchig warmen Schimmer. Die Decke ist so hoch, dass ich sie nicht sehen kann. Und mir kommt es vor, als würde ich Blaubeerduft riechen.

Vielleicht hat die Tür mich wirklich k. o. geschlagen, und ich träume bloß. Aber Träume tun normalerweise weniger weh, oder?

Bevor ich den ganzen Anblick verarbeiten kann, kommt eine vierte Person heraus, schiebt mich mit den Worten »Treten Sie bitte zurück, Sir« von der Tür weg und schließt sie hinter sich. Die spektakuläre Szene im Inneren verschwindet.

Vor mir steht ein Junge. Er wirkt ungefähr so alt wie ich. Seine Haut hat einen leichten Bronzeton, und seine Kleidung ist piekfein: schwarzer Anzug, breiter Kragen und ein professionelles Namensschild, auf dem ›NICO‹ steht. Weiße Handschuhe. Der Anzug hat hinten zwei Frackzipfel, die dem Jungen bis zu den Kniekehlen reichen. Nicos schwarze Haare sind zur Seite gekämmt und glänzen von Gel. Das einzige Kleidungsstück, das nicht übertrieben poliert aussieht, ist sein Paar schwarzer Converse Sneaker.

Nico lehnt sich an die Tür und beobachtet mich, während er in einer unbekannten Sprache ein paar Sätze zu den anderen sagt. Als er endet, lachen alle.

»Keine Sorge«, wendet sich Nico danach in perfektem Englisch an mich, »schon alles geregelt. Ich habe sie wissen lassen, dass du nicht fürs Hotel arbeitest. Und wir brauchen heute auch keinen Fremdenführer, aber danke.« Er zwinkert mir verschwörerisch zu.

»Äh, was?« Ich bin völlig verwirrt.

Er sagt noch etwas zu den anderen und winkt sie zurück durch die Tür. Wieder umhüllt mich Wärme wie vom Ofen eines Kuchenbäckers, und ich erschnuppere den Duft von Blaubeeren, vermischt mit Feuerholz und scharfem Curry.

Ich starre erneut auf den Kristallleuchter, der über allem schwebt. Etwas daran kommt mir eigenartig vor. Er muss an einer Decke befestigt sein, die sich außerhalb meines Sichtfelds befindet, also mindestens drei Etagen hoch, vielleicht sogar vier. Aber das Einkaufszentrum ist ein einstöckiger Flachbau.

Ich will näher rangehen, um einen besseren Blick zu bekommen, doch der Junge im Frack schiebt mich zurück.

»Nääh, Kumpel«, sagt er mit einem breiter werdenden Grinsen auf dem Gesicht. »Das ist nichts für dich.«

»Aber –«

»Heute alles belegt, kein Platz in der Herberge.«

»Also ist das wirklich ein Hotel?«

»Das Hotel der Wünsche«, sagt Nico und zeigt auf das Schild. »Der Urlaub deiner Träume, auf halbem Weg zwischen hier, dort und überall.« Sein Blick huscht zu meinem Kettenanhänger, und er grinst erneut. »Komm wieder, wenn du dir ein Zimmer leisten kannst.«

»Ich träume, oder?«, frage ich.

Nico kichert. »Nö. Träume sind nicht gerade mein Gebiet.«

Dann tritt er durch die Tür zurück, schnippst einmal, und eine Münze erscheint zwischen seinem Daumen und Zeigefinger. Er lässt sie über seine Knöchel tanzen …

… wirft sie in die Luft …

… und sie ist weg.

Mit der anderen Hand klopft er mir auf die Brust. »Die Welt ist voller Magie, wenn man weiß, wo man suchen muss.«

Und er zieht die Tür hinter sich zu.

Ich taumele zurück und starre auf die geschlossene Tür. Nicos Worte hüpfen durch meinen Kopf wie ein Gummiball.

Die Welt ist voller Magie …

Schon immer hat Oma uns Geschichten darüber erzählt, wie Zauberei und Geister in unsere Welt eindringen. Sie sagt, dass Magie weder gut noch schlecht ist, sondern einfach nur da. Erst durch die Person, die Zauberei benutzt, wird sie hilfreich oder zerstörerisch.

Außerdem sagt sie, dass die Magie uns Dad geraubt hat.

Aber ich glaube nicht daran. Kann Hokuspokus etwa Leute gesund machen, die man liebt, oder helfen, mehr Freunde zu finden? Unseren Vater hat das Gerede von Magie auch nicht zurückgebracht. Außerdem ergeben Omas Geschichten von Zauberei, meinen Eltern und dem ganzen Drumherum einfach keinen Sinn. Sie hat Hunderte von Postkarten, die Dad ihr aus der ganzen Welt geschickt hat – Japan, Botswana, Queensland, verschiedenen Orten in Europa –, aber wenn wir sie fragen, was Dad dort gemacht hat, antwortet sie nie. Sie tut so, als habe sie die wichtigen Details vergessen, zum Beispiel wie man in so kurzer Zeit an so viele Orte reisen kann – oder warum und mit wem er unterwegs war.

Etwas Nasses tropft aus meiner Nase, und ich wische es mit der Hand weg. Blut. Und nicht gerade wenig. Eher ein Wasserfall in Niagarastärke. Ich war von der Sache mit Nico so abgelenkt, dass ich nicht mal gemerkt habe, wie krass ich blute. Ich wische wieder daran herum, aber das hinterlässt nur einen großen, rot verschmierten Fleck auf meinem Handrücken und vermutlich quer über meinem Gesicht. Bestimmt sehe ich aus wie ein Kleinkind, das mit Fingerfarbe rumgespielt hat.

Ich suche in meiner Tasche nach dem benutzten Taschentuch von heute Nachmittag, doch stattdessen ertasten meine Finger etwas Hartes und Rundes.

Nicos Münze. Die sich beim Zaubertrick in Luft aufgelöst hat. Sie fühlt sich glatt an, und ein hineingeritzter Smiley grinst mich an. Anscheinend hat Nico die Münze irgendwie heimlich in meine Tasche befördert.

Ich drehe sie um und erstarre. Da ist der Baum wieder. Nicos Münze sieht genauso aus wie die beiden, die Cass und ich um den Hals tragen. Wie die Anhänger, die Dad vor zwölf Jahren bei Oma zurückgelassen hat, zusammen mit seinen Kindern.

Ich richte meinen Blick wieder auf die Türflügel, wo der gleiche goldene Baum funkelt. Hat Dad die Münzen etwa von hier? Hat er als Gast in diesem Hotel gewohnt? Tief in mir blubbert es nervös. Ich muss einen Weg finden, in das Gebäude hineinzukommen.

Noch ein roter Tropfen träufelt aus meiner Nase. Ich wühle das Taschentuch hervor und versuche es mit Zukneifen. Oma sagt, Nasenbluten gehört zum Großwerden einfach dazu, aber ich bin ziemlich sicher, dass es sich hierbei um ein subdurales Hämatom oder Hirnaneurysma handelt (Nr. 458 und 459 auf meiner Liste). Sie sollte mich zur Sicherheit ins Krankenhaus bringen. Leider weiß ich jetzt schon, dass sie mir bloß sagen wird, dass ich mich nicht so anstellen soll.

Das Krankenhaus. Cass. Bestimmt wartet sie schon auf mich.

Um das Hotel muss ich mich später kümmern. Jetzt sollte ich schleunigst nach Hause, um nach meiner Schwester zu sehen. Hoffentlich ist mit ihr alles okay.

Das Nasenbluten hört auf, bevor ich zu Hause ankomme. Das ist gut, denn Cass’ Laune ist jetzt schon auf dem Tiefpunkt. Als ich die Tür öffne, überfährt sie mich fast mit ihrem Rollstuhl.

»Wo hast du gesteckt?«

Ich hechte aus dem Weg, dann ziehe ich mir die Schuhe aus. »In der Schule.«

»Oma hat gesagt, sie hat dich nach Hause geschickt. Das war ja wohl vor Stunden.«

»Sei nicht sauer. Schuld daran war … äh … höhere Gewalt.«

Cass schnaubt. Ich verstehe, warum sie wütend ist. Es geht nicht ums Abendessen oder darum, dass sie Hilfe braucht. Das meiste erledigt sie selbst. Es geht darum, dass etwas Schlimmes passieren könnte, wenn sie allein ist. Seit letztem Jahr haben wir für Cass keine Betreuung mehr, und seitdem mache ich mir noch größere Sorgen.

»Tut mir leid«, sage ich und sause in die Küche, um das Essen zu kochen.

»Was ist mit deinem Gesicht passiert?«, fragt sie und rollt hinter mir her. Ich versuche automatisch, meine Nase hinter der Hand zu verbergen. »Hast du dich wieder geprügelt?«

»Nein.«

»Du schwindelst doch. Das sehe ich dir an.«

Im Schwindeln bin ich tatsächlich eine Niete, aber dieses Mal ist es die reine Wahrheit. Außer man zählt den Boxhieb, den mir die Tür verpasst hat.

Cass verschränkt die Arme und wirft mir ihren besten Ich-bin-sehr-enttäuscht-von-dir-Blick zu. Den hat sie sich von Oma abgeschaut.

»Ich habe mich dieses Jahr nur ein einziges Mal geprügelt.« Und ich habe es nie übers Herz gebracht, ihr den wahren Grund zu sagen. Jaeden hat damals eine Bemerkung über sie gemacht, die … nun ja, ich brauche nur daran zu denken, und schon will ich ihm wieder eine reinhauen.

Ich tue so, als würde ich ihren Blick nicht bemerken, und schnappe mir den Pfannenwender aus der Schublade unter dem Herd.

»Kannst du gleich wieder wegpacken«, sagt sie. »Ich habe schon gegessen.«

»Ach ja, was denn?«

»Toasties aus der Packung.«

Ich stöhne. »Du hättest warten sollen.«

Sie stöhnt zurück. »Wenn ich weiter auf dich gewartet hätte, wäre ich verhungert.«

Oma hat in letzter Zeit öfter ›länger gearbeitet‹, also ist Cass mit dem barrierefreien Bus nach Hause gekommen. Vermutlich sollte ich sie begleiten, aber ich hasse den Bus. Er riecht wie die Abgasschwaden einer Tankstelle, und außerdem sagt Oma, dass es gut für Cass ist, allein klarzukommen. Im Übrigen gehe ich am liebsten zu Fuß, um gleich zu wissen, wenn sich in unserem Viertel was verändert. Wie das Hotel.

Automatisch taste ich nach meiner Hosentasche, um sicherzugehen, dass Nicos Münze noch da ist. Ich will mit ihm reden und mehr über das Hotel der Wünsche erfahren. Vor allem will ich herausfinden, warum er den gleichen Anhänger hat wie Dad.

Unauffällig werfe ich einen Blick auf die Münze, die Cass um den Hals trägt. Ob sie auch davon träumt? Am liebsten würde ich sie fragen … und ihr von der Tür und Nico erzählen. Aber das ist vermutlich eine dumme Idee. Über Dad zu reden macht sie immer wütend, und wenn Cass erst mal wütend ist, kann man gleich den ganzen Abend im Klo runterspülen.

Ich hole die Packung mit Toasties aus dem Schrank und stecke zwei in den Toaster. Eigentlich bin ich froh, dass ich nichts Komplizierteres kochen muss. Wenn ich allein in der Küche rumhantiere, ist das Ergebnis selten genießbar. Kluge Entscheidung von Cass, lieber Toasties zu nehmen.

»Irgendwas ist mit Oma los«, sage ich.

Cass rutscht in ihrem Stuhl nach unten. »Ich weiß. Gestern Abend hat sie am Telefon mit Tante Jeri geredet.«

»Worüber denn?«

Sie zuckt mit den Schultern.

»Ich dachte, vielleicht hat sie was Neues von deinem Arzt gehört«, taste ich mich vor und hoffe auf einen Hinweis.

Cass verzieht die Lippen, was bedeutet, dass Oma tatsächlich was gehört hat, aber erst mal niemand mit mir darüber reden will. Typisch.

Meine Schwester kehrt vor den Fernseher zurück und schaut weiter eine Doku über ein Jägervolk im Kongo. Der National-Geographic-Kanal ist ihre größte Leidenschaft. Angeblich will sie sich auf die Zukunft vorbereiten, weil sie eines Tages durch die ganze Welt reisen wird. Ich weiß nicht, warum sie sich so quält. Schließlich haben wir Texas nie verlassen. Und ich bin ziemlich sicher, dass Cass keinen dieser Orte je besuchen wird – nicht in ihrem Zustand. Eines Tages wird sie begreifen, was mir längst klar geworden ist: Für uns alle ist es am sichersten und besten, zu Hause zu bleiben.

Ich gehe in mein Zimmer und schalte das Licht an. Der Ventilator setzt sich in Bewegung und bringt die Erste-Hilfe-Broschüren und Gesundheitsposter zum Flattern, die ich von unseren zahllosen Fahrten ins Krankenhaus mitgebracht habe. Bei einem Notfall muss sich jemand um Cass kümmern können. Ihr Zimmer dagegen ist mit Landkarten von exotischen Orten gepflastert, die in Omas Geschichten auftauchen. Fotos von Städten in Südafrika, ein Landschaftsgemälde aus Peru, eine Kuckucksuhr von Tante Jeri aus Deutschland und sogar ein Didgeridoo, das eine Freundin vom Australienurlaub mitgebracht hat. Obwohl sie glaubt, dass Dad uns sitzen gelassen hat, leuchten ihre Augen jedes Mal auf, wenn Oma mit einer neuen fantastischen Story anfängt, in der unser Vater die Tempel von Burma erforscht oder unter dem Sternenhimmel der Sahara geschlafen hat.

Ich lasse mich aufs Bett fallen, und eine kleine Staubwolke wirbelt unter der Matratze hervor. Oma hält nichts von Staubwischen. Sie hat mir mal den Grund erklärt – es ging irgendwie darum, im Leben genug Staub anzusammeln, um sich an einem Ort zu erden – aber ganz ehrlich, eigentlich hat sie bloß keine Lust zu putzen.

Ich lege mich hin, nehme die Kette ab und vergleiche Dads Münze mit der, die Nico mir heimlich in die Tasche gesteckt hat. Mein Erbstück ist überraschend leicht für das dicke Holz und so zerkratzt, dass ich die Worte darauf nie entziffern konnte. Dagegen ist die eingeprägte Schrift auf Nicos Münze deutlich und klar. Die Vorderseite trägt verschnörkelt den NamenDASHOTELDERWÜNSCHE unter einem majestätischen Baum. Das Bild auf der Rückseite zeigt ein grandioses Gebäude, das an einen Palast erinnert, zusammen mit den Worten: HIER, DORTUNDÜBERALL. Darüber ist ein Smiley eingeritzt, der mir zuzuzwinkern scheint.

Die Welt ist voller Magie …

Habe ich tatsächlich etwas entdeckt, das mir weiterhilft?

Ich ziehe meine Dad-Box unter dem Bett hervor. Die Schuhschachtel steckt voller Hinweise, die ich im Laufe der Jahre gesammelt habe. Vor allem Fotos, Notizen und benutzte Fahrscheine aus Omas Schrank. Ich blättere einige Bilder durch, auf denen Dad und Mom zusammen zu sehen sind. Eines zeigt sie auf dem Empire State Building, ein anderes auf einem schroffen, schneebedeckten Gipfel, wo der Wind durch Moms lange schwarze Haare bläst.

Laut Omas Erzählungen war unser Vater an dem Abend, als er uns abgesetzt hat, sehr verängstigt. Er sagte bloß, Mom sei fort und jetzt hätte man es auch auf ihn abgesehen, deshalb müsse Oma gut auf uns aufpassen. Und danach sahen wir keinen unserer Eltern je wieder. Ich habe mich immer gefragt, was Mom und Dad getan haben, um von Unbekannten gejagt zu werden. Vor wem – oder was – war Dad auf der Flucht? Waren seine Verfolger daran schuld, dass er nie zu uns zurückgekommen ist? Und was hat er damit gemeint, Mom sei ›fort‹? Was genau ist mit ihr passiert?

Jetzt bleibt mein Blick an einem Foto hängen, das meine Eltern auf einer eleganten Party zeigt. Dad trägt einen Anzug und einen Schnurrbart, Mom ein Seidenkleid mit Kirschblütenmuster. Im Hintergrund ist schemenhaft eine vergoldete Doppeltür zu erkennen, in deren Glas ein vertrautes Baumsymbol eingeschliffen ist.

Nicos Münze ist der Beweis, sagt mir mein Gefühl. Der Beweis dafür, dass Dad noch lebt. Und dass jemand ihn von uns fernhält.

Der Beweis, dass mein Vater irgendwo da draußen ist und nur darauf wartet, von mir gefunden zu werden.

2Die Dallas-Tür

Ein paar Stunden später kommt Oma nach Hause und tut so, als sei alles in Ordnung. Aber dann erwähnt sie beiläufig, dass sie vorm Zubettgehen noch kurz mit Cass reden muss. Ich weiß genau, was das bedeutet.

Die nächste OP.

»Ab ins Bett mit dir«, sagt sie mit einem Handwedeln, als wolle sie eine Fliege fortscheuchen.

Grummelnd gehe ich in mein Zimmer zurück. Oma spricht nicht mehr über den Zustand meiner Schwester, wenn ich dabei bin. Angeblich male ich mir immer alles schlimmer aus, als es ist. Sie murmelt höchstens, dass uns die Halsketten nur vor bösen Energien schützen und nicht vor Gesundheitsproblemen. Auch mit Cass redet Oma bloß über das Thema, wenn es absolut sein muss.

Cass ist mit Spina Bifida zur Welt gekommen. Das ist eine seltsame Krankheit, die viele Dinge nach sich zieht. Tatsache ist, dass Cass‘ Wirbelsäule nicht normal geformt ist und somit die darin laufenden Nerven nicht optimal geschützt werden. Bei ihr hat diese Verformung dazu geführt, dass sich Flüssigkeit in ihrem Gehirn ansammelt. Und obwohl die Ärzte einen Eingriff vorgenommen haben, damit die Flüssigkeit abfließen konnte, hat sie immer noch viele Probleme. Sie hat Glück im Unglück - ihr Zustand könnte viel dramatischer sein. Aber niemals Laufen zu können und sich von einer Operation zur nächsten zu hangeln, ist auf jeden Fall schlimm genug.

Die anderen in der Schule finden es merkwürdig, wie viel Sorgen ich mir ständig um meine Schwester mache. Aber sie wissen ja nicht, wie sich das anfühlt. Cass kann jederzeit etwas zustoßen. Wenn wir nicht aufpassen und bereit sind, kann schlagartig alles anders werden. Am liebsten möchte ich darüber gar nicht nachdenken, aber ich habe keine Wahl. Im Notfall zählt jede Sekunde.

Es dauert nicht lange, bis ich einschlafe und wieder von dem riesigen Baum träume.

Ein gigantischer Stamm ragt vor mir hoch, mit einem Umfang wie unser Haus. Wurzeln krümmen und winden sich zu meinen Füßen. Blätter rascheln unter einer blendend hellen Sonne.

Offene Türen baumeln wie Früchte von den Zweigen. Etwas an ihnen kommt mir merkwürdig vor, und damit meine ich nicht, dass an Bäumen gewöhnlich keine Türen wachsen. Dieser Teil des Traums wirkt auf mich seltsam normal. Aber wenn ich durch die Öffnungen schaue, sehe ich dahinter weder den Baum, die Blätter noch den Himmel. Stattdessen zeigt jede Tür eine andere Szene von irgendwo auf der Welt: schneebedeckte Berggipfel, schimmernde Ozeane, Großstadtstraßen. Sie sind wie Fenster zu fernen Orten.

Am Fuße des Baumstamms springt eine weitere Tür auf, und bernsteinfarbenes Licht fällt auf die knorrigen Wurzeln. Eine Hand erscheint in dem leuchtenden Spalt und winkt mich näher.

Der Himmel verdunkelt sich, der Wind flüstert mir zu:

Komm.

Ein Geräusch im Haus weckt mich auf.

Ich taste nach Dads Münze um meinen Hals und rolle mich im Bett herum, um das Foto meiner Eltern auf dem Nachttisch zu betrachten. Ich muss einen Weg finden, unseren Vater zurückzuholen. In letzter Zeit ist alles so schwer. Wenn er doch nur hier wäre … Oma ist immer müde, und ständig liegen unbezahlte Rechnungen auf dem Tisch. Ganz zu schweigen von Cass. Wenn ich Dad finden könnte, würde er uns helfen. Er würde hierbleiben und aufpassen, dass nichts Schlimmes passiert. Er würde mir zeigen, wie ich am besten für meine Schwester da sein kann. Er würde …

Klopf, klopf.

Ich setze mich im Bett auf. Seltsam. Das klang fast, als käme es von meinem Fenster.

Klopf – klopf – klopf.

Ich lasse mich von der Matratze rutschen und ziehe vorsichtig die Gardine beiseite.

Ein Gesicht taucht hinter der Glasscheibe auf, und ich unterdrücke ein erschrockenes Quieken. »Nico?«

»Hi, Kumpel«, sagt der Junge mit den nach hinten gegelten Haaren gedämpft durchs Glas. »Lass mich rein. Hace frío.« Dabei schlingt er die Arme um sich, als wäre ihm kalt.

Ich schiebe den Riegel auf, und Nico klettert durchs Fenster, als hätte er so was schon Tausende Male gemacht. Statt seiner Uniform mit Frack trägt er ein schwarzes T-Shirt und Jeans. Allerdings sind genau wie bei seinem Anzug vier kleine Stoffschlingen an die Stelle genäht, wo sonst die Brusttasche sitzt.

»In Texas soll es doch angeblich warm sein«, sagt er und reibt sich die Arme. »Da draußen ist es eisig.«

Ich schließe das Fenster und verriegele es sorgfältig, um all die Schrecken, die auf meiner Liste für ›Fiese Todesarten‹, kurz FTA, stehen und in der Nacht lauern können, auszusperren. Andererseits habe ich gerade einen Fremden in mein Zimmer gelassen, also sollte ich wohl aufhören, mir Sorgen darüber zu machen, was draußen sein könnte. »Was machst du hier?«

Er grinst. »Nur ein kleiner Besuch unter Freunden.«

Klingt verdächtig. »Du kennst mich nicht mal. Wie hast du herausgefunden, wo ich wohne?«

Nico gräbt in seiner Tasche und zieht eine Münze hervor, die er in die Luft schnipst und genauso schnell wieder auffängt. »Magie«, sagt er mit einer Geste, als wäre er ein Zauberer auf einer Bühne. Der Anhänger in seiner Hand sieht exakt so aus wie der, den er in meine Tasche geschmuggelt hat. Sogar der Smiley ist derselbe.

»Wie –«, setze ich an, dann ziehe ich die Box mit den Sachen meines Vaters hervor und krame durch die Fotos. Ich habe Nicos Münze dort hineingepackt. Jetzt ist sie fort.

»Da kannst du lange suchen, Kumpel. Das hier ist meine Münze.«

»Aber … wie hast du sie dir zurückgeholt?«

Er lächelt mich neckend an. »Ein echter Zauberer verrät nie seine Tricks.«

Oh, er ist gut.

Nico lässt sich neben mir und den Fotos aufs Bett fallen. »Ich bin ziemlich talentiert darin, Leute aufzuspüren. Du hast es mir leicht gemacht.«

»Leute aufspüren?«, wiederhole ich, und mein Blick huscht dabei zu dem Bild auf dem Nachttisch.

»Das gehört dazu, wenn man fürs Hotel arbeitet«, erklärt er und macht es sich auf meinem Kissen bequem. »Wir finden Leute, Orte, Dinge. Nur so wird man ein echter Concierge.« Er spricht den Titel ehrfürchtig aus, als würde er etwas ganz Besonderes bedeuten.

»Bist du ein Concierge?«

Nico lacht. »Noch nicht. Aber eines Tages … dann leite ich ein eigenes Haus.«

Ich habe keine Ahnung, wovon er spricht. So wie er es betont, klingt das irgendwie seltsam.

Er lässt die Münze über die Finger tanzen und mustert mich eindringlich, als würde er etwas Bestimmtes wollen und nicht wissen, wie er danach fragen soll. »Du hast mir noch gar nicht gesagt, wie du heißt.«

»Cameron.« Ich sammele die Fotos ein und lege sie zurück in die Box meines Dads. »Aber alle nennen mich Cam.«

Er richtet sich auf und schüttelt mir die Hand. »Nico. Sehr erfreut. Also dann …«, er kneift die Augen zu Schlitzen zusammen, »… ich habe da eine Frage.«

»Okay?« Ich habe auch Fragen. Jede Menge.

»Warum hast du dich heute Nachmittag an der Dallas-Tür rumgetrieben?«

»Die Dallas-Tür?«, wiederhole ich.

»Ja, genau.« Er wartet, als müsste ich wissen, wovon er redet.

»Äh, das liegt auf meinem Schulweg. In dem neuen Einkaufszentrum hat sonst noch nichts eröffnet, also bin ich stehen geblieben.«

»Aha«, sagt er so, als würde er mir nicht glauben. »Und wann warst du das letzte Mal im Hotel?«

»Du meinst die Halle hinter der Tür? Nie.«

»Nie?«

Ich schüttele den Kopf. »Jetzt bin ich dran«, sage ich. »Was ist das für ein Ort?«

»Ein magischer.« Er lehnt sich wieder auf meinem Kissen zurück und schnippst die Münze hoch. »Bist du sicher, dass du noch nie im Hotel warst? Nicht einmal im Traum?«

Okay, jetzt geht er mir langsam auf die Nerven. »An Magie glaube ich nicht, und natürlich bin ich sicher. Ich weiß ja nicht mal, was das Hotel –« Doch dann breche ich ab. Die vielen Träume, die ich in letzter Zeit hatte … von dem Baum und den fremden Orten jenseits der Türen … Das waren doch bloß Träume, oder?

»Wusste ich’s doch. Du warst schon mal im Hotel. Wie solltest du auch sonst an eine Münze kommen?« Er zeigt auf den hölzernen Anhänger.

Ich nehme die Kette ab und reibe mit dem Daumen über Dads Hinterlassenschaft. »Die gehört meinem Vater. Er hat sie mir gegeben, als ich klein war.«

Nico schnaubt amüsiert. »Dann muss er sie gestohlen haben.«

»Mein Vater ist kein Dieb!«, fahre ich ihn an.

Nico hält beschwichtigend die Hände in die Luft. »Wow, schon gut, ich wollte damit nicht sagen –«

»Er ist fort«, flüstere ich mit kalter Stimme. »Jemand hat ihn gestohlen.«

»Oh.« Nico schaut zu Boden.

Ups, das hätte ich nicht sagen sollen. In der Schule habe ich nie jemandem erzählt, was mit Dad passiert ist. Ich war immer der Meinung, wenn er tatsächlich auf der Flucht ist und uns bei Oma gelassen hat, damit wir in Sicherheit sind, sollten wir besser nicht auffallen.

»Sorry, also eigentlich –«

»Schon gut. Tatsächlich ergibt es sogar Sinn«, sagt Nico.

Ich zucke zurück. »Sinn? Was soll das denn heißen?«

Er beißt die Zähne aufeinander. »Ist mir nur so rausgerutscht. Vergiss es.«

»Nein, erklär es mir.« Ich lehne mich vor. »Wie hast du das gemeint?«

Nico rutscht von mir weg. »Ich … kann nicht.«

»Wieso?«, fragte ich verärgert. Dieser Typ will mich hoffentlich nicht an der Nase herumführen!

»Weil es mir nicht zusteht, über die Geheimnisse des Hotels zu sprechen«, sagt er ernst. »Du hast anscheinend keine Ahnung, wie geehrt du dich fühlen kannst, weil du schon mal einen Blick darauf werfen durftest. Die meisten Leute sehen nicht mal die Türen. Und niemand darf seine Münze behalten, wenn er das Hotel verlässt.«

Ich werfe ihm einen skeptischen Blick zu. »Aber du hast doch eine.«

»Ja, sicher. Ich gehöre zum Personal. Das heißt, ich kann kommen und gehen, wie ich will … aber am Ende muss ich immer zurück. Oder zumindest gilt das für meine Münze.«

Ich reibe den Anhänger zwischen meinen Fingern so fest, als könnte ich damit die Wahrheit aus Nico herausquetschen. Diese Nacht wird mit jeder Minute seltsamer.

»Tja, aber immerhin hast du eine Münze, also schätze ich … du hast ein gewisses Anrecht.« Seine Lippen verziehen sich zu einem schmalen Strich. »Du verrätst es doch niemandem, oder?«

»Verraten? Was denn? Ich will nur wissen, was du über das Verschwinden meines Dads weißt.«

Sein Gesicht strahlt plötzlich, als hätte er gerade eine tolle Geburtstagsüberraschung bekommen. »Weißt du was? Am besten zeige ich es dir.«

Normalerweise würde ich nie im Leben einem fremden Jungen mit Gelfrisur hinaus in die Nacht folgen, noch dazu im Pyjama. Eine ganze Reihe von Punkten auf meiner FTA-Liste fangen damit an, dass man sich nachts von einem Fremden mitschleppen lässt. Aber heute ist alles anders. Der Baum, die Münzen … Ich weiß einfach, dass ich ihm folgen muss, auch wenn sich mein Magen wie eine zusammengeschrumpelte Rosine anfühlt. Vielleicht ist das hier meine einzige Chance.

Mit einer Hand in der Tasche, um mich am Foto meiner Eltern festzuhalten, laufe ich hinter Nico her. Der Weg führt durch die verschachtelten Straßen zurück zur ›Dallas-Tür‹, wie er sie nennt. Ich versuche, nicht darüber nachzudenken, dass er eine dieser gierigen Seelen aus Omas Geschichten sein könnte. Nein, natürlich nicht. Er ist bloß ein Junge wie ich. Wenn Oma von bösen Geistern erzählt, dann stehlen sie kleine Jungs.

Im Übrigen sind die ganzen Geschichten nur erfunden. Und ich bin ziemlich sicher, dass ein Dämon nicht so quasseln würde wie Nico. Er redet echt viel. Echt, echt viel. Was bedeutet, dass ich kaum was sagen muss, und das ist mir nur recht. Nico erzählt von den belebten Straßen nachts in Paris und von den Polarlichtern über Reykjavik und wie viel weiter der Himmel dort aussieht. Er fragt, wo denn die ganzen Pferde stecken und was man denn in Dallas soll, wenn es gar keine Cowboys und Mustangs gibt, und dass der Alte lieber eine Tür nach Florida hätte öffnen sollen.

Ich kann gar nicht alles behalten, was er sagt. Aber obwohl Nico merkwürdig ist, entspannt es mich irgendwie, ihm zuzuhören. Er kommt mir ein bisschen vor wie Dad in meiner Fantasie: ein Weltenbummler, der voller Geschichten über seine Abenteuer steckt und davon schwärmt, was er in den Wäldern des Libanon und in den Bergen von Peru am liebsten gegessen hat.

Aber natürlich kann Nico diese ganzen Orte nicht besucht haben. Er ist zu jung. Etwas an ihm ist seltsam – ich kann nur nicht genau sagen, was. Er kommt mir wie ein Verkäufer vor, der mir etwas andrehen will, obwohl ich nicht mal weiß, was.

Wir biegen beim Einkaufszentrum um die Ecke, und der schimmernde Schriftzug vom Hotel der Wünsche kommt in Sicht.

»Das Gebäude ist zu klein.« In Gedanken sehe ich den Kronleuchter vor mir, das warme Licht und die zweite, dritte, vierte Etage. »Da passt nie im Leben ein ganzes Hotel rein.«

»Stimmt genau.«

»Und wo ist es dann?«

»Genau hier. Und überall.« Nico zieht einen goldenen Schlüssel hervor und steckt ihn in die Tür.

Allerdings zielt er nicht aufs Schloss, wie man es normalerweise macht, sondern schiebt den Schlüssel einfach mitten in die Tür hinein. Das Glas beginnt schimmernd zu schäumen, und glitzernder, kupferroter Rauch steigt auf. Ich traue meinen Augen kaum.

Mit offenem Mund schaue ich zu, wie Nico in dem glühenden Wabern den Schlüssel herumdreht und die Flügeltür öffnet. Warmes Licht kommt uns wie die Dampfwolke eines Backofens entgegen. Gleichzeitig hüllt mich der schon bekannte Duft aus Blaubeeren, Holzfeuer und Gewürzen ein – wie eine Kuscheldecke.

Nico klopft mit dem Fuß gegen die Türschwelle. »Das Hotel der Wünsche. Ein altehrwürdiges Etablissement voller Türen, die in die ganze Welt führen.«

»Das ist ein Scherz, oder? Dahinter steckt irgendein Trick«, sage ich ungläubig.

»Nicht alles im Leben ist schwarz oder weiß, Cam«, erwidert Nico. »Manchmal muss man etwas riskieren.«

Ich trete näher, um die Wärme zu spüren, die aus der Tür strömt, doch Nico hält mich zurück.

»Über die Schwelle zu treten kostet immer einen Preis«, sagt er.

»Aber …« Ich befingere die Münze meines Vaters. »Ich dachte, damit darf ich durch den Eingang.«

Nico wiegt den Kopf hin und her. »Schon, aber das heißt nicht, dass du es auch solltest. Das Hotel ist kein Ort, den man leichthin betritt, verstehst du? Es ist gefährlich.«

Prickelnde Gänsehaut bildet sich auf meinen Armen. »Gefährlich? Ein Haus voller Gästezimmer?«

»Das Hotel der Wünsche ist mehr als nur eine Unterkunft. Es hat einen geheimen Zweck – eine Mission –, und darin willst du lieber nicht verwickelt werden.«

Ich lehne mich vor, atme die warme Blaubeerluft ein und starre auf den plätschernden Springbrunnen vor der Prunktreppe. Der Kronleuchter an der Decke ist noch größer, als ich ihn in Erinnerung hatte, und die Ketten aus Kristall funkeln noch strahlender. Diesen Ort gibt es wirklich.

»Das ist … fantastisch«, sage ich.

Nico verschränkt die Hände hinter dem Rücken. »Vor dir liegt die Eingangshalle für Nordamerika. Das Foyer ist normalerweise das Erste, was unsere Gäste zu Gesicht bekommen.«

An einem Tresen im hinteren Teil des Raums steht ein Mädchen mit Dutzenden kleiner Zöpfe und sortiert Papiere. Leute mit bunten Bermudashorts und Sonnenbrillen kommen durch einen Samtvorhang an der Saalseite geschlendert und betreten die gewundene Treppe zu den oberen Etagen.

»Indem du die Schwelle des Hotels übertrittst, verlässt du einen Ort auf dem Globus und reist zu einem anderen.« Nico lässt seine Hand über die gläserne Eingangstür wandern. »Auf dieser Seite ist Dallas.« Dann fährt er mit dem Finger über das dunkle Holz der Innenseite. »Und auf dieser das Hotel.«

So einladend es auch aussieht, erinnert mich das Foyer ein bisschen an das Lebkuchenhaus von Hänsel und Gretel. Alles in mir schreit Vorsicht, während das warme Licht mich gleichzeitig hineinwinkt. Ich sollte auf meinen nervösen Magen hören. Riskante Entscheidungen sind nicht mein Ding.

Nico schiebt uns beide wieder nach draußen und lässt die Tür zufallen. Die Farbenpracht des Hotels wird von der schwarzen Nacht aufgesogen, und das Einkaufszentrum sieht jetzt noch schmutziger und deprimierender aus als vorher.

»Tja, das war’s.« Er lehnt sich an die Wand und schnipst wieder seine Münze hoch. »Du hast echte Magie gesehen. Wie geht’s dir damit?«

Eine Frage liegt mir auf der Zunge, seit Nico vorhin die Sache über Dad gesagt hat, und unwillkürlich spreche ich sie aus. »Kannst du auch ihn aufspüren?«

Nico schnappt die Münze mitten aus dem Flug. »Wen? Deinen Vater?«

Ich zögere, denn ich kann kaum glauben, dass ich einem völlig Fremden meine Geheimnisse anvertrauen will. Und dass ich mein Vertrauen ausgerechnet in Magie setze. Aber Nico hat gesagt, er sei gut darin, Leute zu finden. Außerdem ist das die einzige Spur, die ich jemals hatte.

»Er wird schon ewig vermisst. Meine Schwester und ich waren damals noch Babys«, erkläre ich.

Nico zieht ein Foto aus seiner Jackentasche. »Ist er das?« Ich erkenne Mom und Dad in ihrer feinen Partygarderobe. Es ist das Bild, das ich vorhin mitgenommen habe.

Ich taste in meiner Hosentasche nach dem Foto und finde es nicht mehr.

»Wie hast du …?« Wütend funkele ich ihn an. Er hat das Bild geklaut wie ein Taschendieb.

»Nur Fingerübungen«, grinst er. »Aber wieso willst du ihn überhaupt finden? Wenn er euch verlassen hat –«

»Hat er nicht«, sage ich und schnappe mir das Foto. »Ich habe dir doch gesagt, dass er uns gestohlen wurde. Jemand war hinter ihm her. Ich glaube, dieselben Leute haben auch meine Mutter auf dem Gewissen.«

Nico schüttelt den Kopf. »Sorry, die Spur ist längst kalt. Magie braucht wenigstens einen Anhaltspunkt, um zu wirken. Wenn euer ganzes Leben lang niemand mehr von ihm gehört hat …« Er wirft erneut einen Blick auf den Anhänger an meinem Hals. »Andererseits, falls ich deine Münze bekomme –«

»Nein.« Ich kann doch nicht Dads Anhänger weggeben. Das ist die einzige Verbindung, die ich zu ihm habe.

Nico zuckt mit den Schultern. »Dann kann ich leider nichts machen.«

Ich umklammere meine Kette. Das ist eine ganz blöde Idee. Oder vielleicht ist alles nur ein blöder Traum.

»Ich mache dir ein Angebot«, sagt Nico. »Du kannst meine Münze eine Weile behalten.« Er schnipst sie mir zu. »Sozusagen als Pfand. Dafür gibst du mir die von deinem Dad und das Foto. Ich bringe beides zurück, sobald ich rausgefunden habe, ob ich helfen kann. Was hältst du davon?«

Damit habe ich nicht gerechnet. Nicos Münze ähnelt meiner zum Verwechseln, also bietet sie wohl auch den gleichen Schutz – falls die Anhänger überhaupt eine Wirkung haben. Jedenfalls würde ein böser Geist aus Omas Geschichten wohl kaum einen Tausch vorschlagen, oder?

»Ich weiß nicht recht …«

Nico zwinkert mir zu und legt eine Hand auf die Dallas-Tür. »Ich bin zurück, bevor du es auch nur merkst.«

Aus der Tiefe meines Magens steigt ein übles Gefühl hoch. Die Münze ist mein wertvollster Besitz.

»Mach dir keine Sorgen«, sagt Nico. »Das ist ein Fingerschnipp.«

»Ein was?«

»Oh, Hotel-Slang. Soll heißen: Keine große Sache; stell dich nicht an wie ein Baby.« Er hält mir seine offene Hand entgegen. »Du bekommst deine Münze zurück, unversehrt in einem Stück. Großes Ehrenwort.«

Ich kann nicht glauben, dass ich überhaupt darüber nachdenke. Im Fernsehen haben sie mal gezeigt, dass es Parasiten gibt, die das Gehirn befallen und Menschen plötzlich Dinge tun lassen, die sie normalerweise nie tun würden. Fiese Todesart 637 auf meiner Liste. Ich fühle mich ziemlich gesund, aber vielleicht sterben meine Hirnzellen bereits ab.

»Okay«, sage ich, öffne die Kette und reiche sie ihm. Ich fühle mich ohne die Münze hier im Dunkeln ganz nackt. »Bring sie zurück, klar?«

»Mit etwas Glück bringe ich sogar ihn zurück.« Nico steckt wieder den Schlüssel mitten in die Tür und dreht ihn um. »Bis bald, Mr Cam.«

»Warte.«

Nico hält in der Bewegung inne, während der Schlüssel in dem magischen Schloss sprüht und funkelt.

Ich schlucke das trockene Gefühl in meinem Hals herunter. »Glaubst du wirklich, du kannst ihn finden?«

Er öffnet die Tür und lächelt schief. »Ich bin Nico. Solange der Preis stimmt, kann ich alles.«

3Taschenspielertricks

Der Baum ragt einschüchternd über mir auf. Ein honigfarbener Lichtstreif fällt aus der offenen Tür im Stamm. Ich will nicht hineingehen, denn es fühlt sich an, als würde auf der anderen Seite etwas Beängstigendes warten. Aber gleichzeitig will ich es doch, denn ich muss wissen, was da ist.

Eines der raschelnden Blätter löst sich vom Ast und driftet nach unten, damit ich es aus der Luft pflücken kann. Doch plötzlich ist es gar kein Blatt mehr. Stattdessen halte ich eine Spielkarte in der Hand. Die Herz Vier. Auf der Rückseite stehen die Worte geschrieben: »Finde das Ziel deiner Reise.« Der Satz klingt so, als sei ich zu einer exklusiven Party eingeladen worden.

Dann kommt die Tür im Stamm auf mich zu, und zwar schnell. Ich mache kehrt und renne weg, aber da hat sie mich schon eingefangen. Ich ertrinke in einem wirbelnden Sog aus Kronleuchtern, Marmorsäulen und Jungs in schicken Anzügen.

Das alles war ein Riesenfehler. Ein wildfremder Junge taucht vor meinem Fenster auf, und sofort setze ich mein ganzes Vertrauen darauf, dass er meinen Vater findet … Wie soll das gut gehen? Zuerst dachte ich, das Hotel wäre eine Art Zeichen oder Hinweis, dass ich mich nicht umsonst an dieser lächerlichen Hoffnung festklammere. Ich hätte wissen sollen, dass es im echten Leben nicht so läuft.

Zwei Tage vergehen, und nichts passiert. Kein Wort von Nico. Ich bin schon viermal an der Dallas-Tür vorbeigegangen, dick eingehüllt gegen die Winterkälte, aber wann immer ich durch die Glasscheiben schaue, sehe ich dahinter nur ein leeres Betongebäude. Keine Spur davon, dass hier mal das Hotel war.

Ich kann nicht glauben, dass ich Nico vertraut haben. Und noch dazu habe ich Dads Münze verloren. So etwas passiert mir immer … Ich treffe dumme Entscheidungen. Ich sperre mich selbst in Spindschränke ein, gebe wertvolle Sachen aus der Hand und vertraue falschen Freunden. Genau aus diesem Grund tue ich am liebsten gar nichts.

Am dritten Ferienmorgen wache ich auf, weil Oma ungeduldig vor meinem Bett steht.

»Raus aus den Federn!«

»Frühstück?«, frage ich, was der einzig logische Grund wäre, mich vor dem Mittag zu wecken.

»Aufstehzeit!«, flötet sie, und ihr Lächeln hat die Strahlkraft eines Flammenwerfers. Ich bin in akuter Gefahr, von ihrem Enthusiasmus abgefackelt zu werden. »Man kann doch nicht die ganzen Ferien verschlafen.«

Aber genau das will ich, seit ich die letzte Verbindung zu meinem Vater verloren habe.

Dann stelle ich fest, dass sie weiße Mehlspuren an der Nase hat. Eine Mehlnase kann nur eins bedeuten: Frühstücksbrötchen mit Fleischsauce – ein Klassiker im Süden. Anscheinend ist Oma wirklich entschlossen, mich aufzumuntern. So was gibt es sonst nie, weil es nicht zu ihrem aktuellen Ernährungsplan passt.

Also ziehe ich mich an und gehe in die Küche, um zu helfen. Cass kann gar nicht aufhören, über irgendeinen Wasserfall in Südamerika zu reden, während ich Würstchen zerkleinere. Mein Blick wandert zu der grauen Münze, die an der Kette um ihren Hals baumelt. Cass hat wenigstens noch ihre Erinnerung an Mom.

Ich werfe die Würstchenstücke in die Pfanne. »Oma, wie ist Mom gestorben?«

»Hmmm?« Sie schaut hoch und wischt sich über die Wange, auf der dadurch bloß noch mehr Mehl landet.

Das Thema ist normalerweise tabu, außer Oma erzählt eine ihrer Geschichten. Aber diesmal gebe ich nicht so leicht nach. »Du hast uns nie gesagt, was mit Mom passiert ist.«

Cass legt den Kopf schief und hört zu. Wir haben schon öfter danach gefragt, aber von Oma kommt nie viel zurück. Sie erzählt nur von unglaubhaften Abenteuern und Orten überall auf der Welt. In ihren Geschichten ist Dad ein ›wilder Freigeist, der sich nie an einen Ort fesseln ließ‹ und Mom ›mit der Erde verwurzelt‹. Sie lässt die beiden wie Märchenfiguren erscheinen. Aber wann immer es um die Ereignisse rund um Dads Verschwinden geht, wird sie plötzlich schweigsam.

»Tut mir leid, das weiß ich selbst nicht«, sagt sie. »Euer Vater hat es mir nie erzählt. Und selbst wenn … über seine Geheimnisse zu sprechen steht mir nicht zu.« Sie greift nach dem Küchenpapier, unter dem der Bacon abkühlt, und reicht mir einen Streifen. »Knusprig genug? Soll ich mehr machen?«

Cass gibt bloß ein Schnauben von sich und rollt ins benachbarte Wohnzimmer, wo im Fernseher ein Trupp kaum bekleideter Männer mit Speeren auf einem Jeep fährt. Oma lässt sie gehen. Wir wissen beide, was passiert, wenn Cass sich zu sehr mit unseren Eltern beschäftigt.

Ich wünschte, sie würde Dad nicht so hassen. Dabei würde ich das manchmal auch gerne können, weil er nicht für uns da ist. Aber die Wut verfliegt sofort, wenn ich ihn vor mir sehe, wie er in einer dumpfen, feuchten Zelle sitzt und verrottet. (Fiese Todesart 340: Fleischfäule durch Bakterien. Selten, aber extrem eklig.)

Oma knetet weiter den Brötchenteig. »Weißt du, euer Vater hat immer alle möglichen Sachen gekocht, von denen ich noch nie gehört hatte. Manchmal hat er diese kleinen Teigtaschen frittiert … wie nannte er sie noch … Dumm-Summ oder so ähnlich.«

Aber diesmal lasse ich nicht zu, dass sie meinen Fragen ausweicht. Irgendwann muss sie uns schließlich davon erzählen. »Wenn du nicht weißt, was passiert ist, wieso bist du sicher, dass Mom gestorben ist?«

Ich sehe, dass Cass ein wenig den Kopf in unsere Richtung dreht, auch wenn sie so tut, als würde sie nicht zuhören.

»Weil Reinhart es mir gesagt hat«, erklärt Oma. Sie nennt ihren Sohn natürlich nicht Dad, sondern beim Vornamen. »Das war damals, als er euch beide bei mir abgeliefert hat. Er hat gesagt, dass Melissa …« Sie verstummt, als hätte sie plötzlich vergessen, wovon sie eigentlich reden wollte. »Na, wie schmeckt der Bacon?«

»Über das Wie hat er gar nichts gesagt?«, frage ich.

Oma seufzt und lässt den Teig auf die mehlige Küchenplatte klatschen. »Er war furchtbar in Eile und hat nur ein paar Worte gesagt: Bald würden sie auch hinter ihm her sein. Und dass die Münzen euch beschützen würden. Tragt immer eure Anhänger. Immer, ohne Ausnahme. Dadurch seid ihr sicher, Kinder.« Sie deutet zum Kühlschrank. »Könntest du mir bitte die Milch rausholen?«

Meine Schultern sacken nach unten. Also nichts Neues. Weder irgendwas über Hotels noch über Dads Verfolger. Und natürlich auch nichts über Mom.

Ich gehe zum Kühlschrank. »Aber wenn er die Münzen bei uns gelassen hat, heißt das doch, dass er selbst nicht geschützt ist.«

»Das ist was ganz anderes«, sagt sie. »Für Reinhart war wichtig, dass ihr in Sicherheit seid. Diese Giergeister würden am liebsten die ganze Welt an sich reißen, aber solange ihr eure Münzen habt, denken sie, dass ihr schon anderweitig gebunden seid. Deshalb lassen sie euch in Ruhe.«

Ich zupfe meinen Kragen höher, um meinen münzenlosen Hals zu verbergen, und fingere an Nicos Anhänger in der Hosentasche herum. Ist das der Grund, warum Nico auch eine Münze bei sich trägt? Damit die Giergeister glauben, er sei schon ›gebunden‹?

»Wenn du losgehen und Dad zurückholen könntest«, sage ich nach einem Moment. »Würdest du es versuchen?«

Oma schüttelt den Kopf. »Das kann ich nun einmal nicht.«

»Aber –«

Sie seufzt wieder und wischt sich über die Stirn. »Dein Vater ist ein guter Mann, und wenn er hier bei euch sein könnte, dann wäre er es.« Sie presst die Knöchel unnötig fest in den Teig. »Um Reinhart zurückzubekommen, würde ich jeden Preis bezahlen.«

Irgendwann am Nachmittag liege ich mit vollgestopftem Brötchenbauch auf meinem Bett und drehe endlos Nicos Münze in den Händen. Ich wünschte nur, ich könnte sie auf magische Art in Dads verwandeln.

Es klopft an der Zimmertür, und ich stecke die Münze hastig wieder in die Tasche, bevor Oma reinkommt. »Cammy, du hast Besuch«, sagt sie. »Netter Junge. Sehr fesche Garderobe.«

Nico! Sofort hüpfe ich mit einem »Danke!« aus dem Bett und renne ins Wohnzimmer. Da sitzt er tatsächlich im Hotelfrack auf der Couch und hält eine von Omas Teetassen elegant zwischen Daumen und Zeigefinger.

»Hallo, Mr Cam.« Er nickt in Richtung von Cass, die ihm gegenübersitzt. »Ich lerne gerade deine Schwester näher kennen.«

»Du –« Ich breche ab, weil ich kaum weiß, was ich sagen soll. Ein Teil von mir hat schon daran gezweifelt, dass Nico überhaupt real ist, und hier hockt er und plaudert mit Cass. Dabei ist sie zu hundert Prozent die letzte Person, die vom Hotel erfahren sollte. »Wo hast du so lange gesteckt?«

Cass lacht etwas nervös. »Sei nicht unhöflich, Cam.«

Nico zwinkert ihr zu, und in seinen Augen liegt ein amüsiertes Glitzern.

Mein Herzschlag dröhnt mir in den Ohren. Ist es möglich, dass er wirklich etwas über Dad herausgefunden hat? Aber Cass darf von der ganzen Sache nichts wissen. Sie würde ausrasten und mich für verrückt erklären. Wer glaubt schon einem Fremden, der behauptet, er habe magische Fähigkeiten?

Vielleicht bin ich verrückt?

»Woher kennt ihr euch überhaupt?«, will Cass von ihm wissen. »Du bist nicht in unserem Jahrgang.«

»Nein, ich werde zu Hause unterrichtet«, sagt Nico. »Meine Familie reist ständig in der Welt herum.«

Die Wimpern meiner Schwester flattern, als habe er ihr gerade erzählt, er sei der Weihnachtsmann. Argh. Cass kann so peinlich sein. Sie hat nicht mal gemerkt, dass Nico ihrer Frage ausgewichen ist.

Er setzt die Tasse ab und zieht ein Kartendeck aus seiner Jacke. »Willst du was richtig Magisches sehen?«

»Klar!« Cass rollt mir fast über den Fuß, um näher zu kommen.

»Warte mal«, sage ich. »Was ist mit –?«

»Ein kurzer Kartentrick, Mr Cam. Dann können wir reden.« Er fächert die Karten auf, damit meine Schwester sich eine aussuchen kann.

Cass wählt eine aus und zeigt sie mir. Es ist eine Herz Vier. Die Herzen werden von kleinen chinesischen Winkekatzen gehalten.

Mir stockt der Atem. Das ist … die Karte, die ich im Traum gesehen habe. Draußen kommt ein plötzlicher Wind auf und rauscht durch die Bäume.

Nein. Nie im Leben. Das bilde ich mir ein. Bestimmt glaube ich bloß im Nachhinein, dass ich die Karte schon gesehen habe. Erinnerungen können täuschen. Es ist einfach nicht möglich, dass …

»Jetzt«, sagt Nico zu meiner Schwester, während er das Blatt mischt, »falte die Karte in der Mitte zusammen, und steck sie in meine Manteltasche.«

Cass knickt die Herz Vier und drückt einen Kuss darauf, bevor sie die Karte Nico in die Tasche schiebt.

»Und hier kommt der Trick!« Nico klatscht in die Hände, und das Kartendeck verschwindet spurlos. »Et voilà!«

Sie betrachtet ihn skeptisch. »Das ist kein Trick. Du hast nur mit den Händen rumgewedelt.«

Nico dreht sich zu mir um. »Tja, Mr Cam?«

Ich warte darauf, dass noch mehr kommt, aber er starrt mich nur auffordernd an, als wäre ich an der Reihe, etwas zu tun. »Was denn?«

»Gib ihr die Karte.«

»Hab ich nicht.«