4,99 €
2,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 1,99 €
Sie sind immer da, wenn du sie brauchst: Der berührende Roman »Das Jahr der Seefreundinnen« von Anne de Lisle jetzt als eBook bei dotbooks. Fünf Freundinnen und das Schicksal ... Karen ist das Schlimmste passiert, was sie sich vorstellen kann: Ihr Mann ist bei einem tragischen Unfall gestorben. Nun sind ihre Freundinnen für sie da, um sie zu trösten und wieder ins Leben zu holen. Gemeinsam verbringen sie lange Wochenenden am See und sprechen miteinander über ihre Ängste, ihre Hoffnungen, ihre Zukunft – und nicht nur Karen, sondern auch ihre Freundinnen gewinnen nach und nach neuen Lebensmut und Selbstbewusstsein. Werden sie so schließlich ihr Glück finden? »Herzerwärmend und herrlich romantisch!« Fantastic Fiction Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der gefühlvolle Australienroman »Das Jahr der Seefreundinnen« von Anne de Lisle wird Fans von Andrea Russo und Monika Peetz begeistern! Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 466
Über dieses Buch:
Fünf Freundinnen und das Schicksal ... Karen ist das Schlimmste passiert, was sie sich vorstellen kann: Ihr Mann ist bei einem tragischen Unfall gestorben. Nun sind ihre Freundinnen für sie da, um sie zu trösten und wieder ins Leben zu holen. Gemeinsam verbringen sie lange Wochenenden am See und sprechen miteinander über ihre Ängste, ihre Hoffnungen, ihre Zukunft – und nicht nur Karen, sondern auch ihre Freundinnen gewinnen nach und nach neuen Lebensmut und Selbstbewusstsein. Werden sie so schließlich ihr Glück finden?
»Herzerwärmend und herrlich romantisch!« Fantastic Fiction
Über die Autorin:
Anne de Lisle lebt mit ihrem Ehemann in einem angeblichen »Geisterhaus« in Maryborough. Ihre Romane sind international erfolgreich.
Anne de Lisle veröffentlichte bei dotbooks bereits die historischen Liebesromane »Das Herz des Lairds«, »Die Leidenschaft des Lairds«, »In den Händen des Schotten« und »Tender Kiss – Ein Lord zum Verlieben«. Außerdem veröffentlichte sie ihren Liebesroman »Wie ein Himmel voller Sterne«.
***
eBook-Neuausgabe Juli 2023
Die englische Originalausgabe erschien erstmals 2008 unter dem Originaltitel »The Swim Club« bei Bantam/Random House Australia PTY LTD., Sydney. Die deutsche Erstausgabe erschien 2004 unter dem Titel »Kopfüber ins Leben« bei Random House.
Copyright © der englischen Originalausgabe 2008 by Anne de Lisle
Copyright © der deutschen Erstausgabe 2004 by Verlagsgruppe Random House GmbH
Copyright © der Neuausgabe 2023 dotbooks GmbH, München
Die Rechte an der deutschen Übersetzung von Violeta Topalova liegen beim Blanvalet Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)
ISBN 978-3-98690-738-9
***
Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags
***
Sind Sie auf der Suche nach attraktiven Preisschnäppchen, spannenden Neuerscheinungen und Gewinnspielen, bei denen Sie sich auf kostenlose eBooks freuen können? Dann melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an: www.dotbooks.de/newsletter (Unkomplizierte Kündigung-per-Klick jederzeit möglich.)
***
Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Das Jahr der Seefreundinnen« an: [email protected] (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)
***
Besuchen Sie uns im Internet:
www.dotbooks.de
www.facebook.com/dotbooks
www.instagram.com/dotbooks
blog.dotbooks.de/
Anne de Lisle
Das Jahr der Seefreundinnen
Roman
Aus dem Englischen von Violeta Topalova
dotbooks.
Für meine Kinder Andrew, Elizabeth und Robert
»Ihr müsst eure Beine bewegen! Ihr müsst mit den Beinen arbeiten! Schande … schaut euch mal an. Wie zwei Wale!«
Unser Schwimmtrainer Sean steht goldbraun gebrannt und muskulös am Beckenrand, beugt sich nach vorne und ruft: »Noch mal dreißig Sekunden! Los …! Los …! Los …!«
Meine Beine schmerzen, meine Lungen sind kurz davor zu explodieren. Sie denken jetzt wahrscheinlich, ich lege mich gerade beim Olympia-Finale ins Zeug, aber lassen Sie sich nicht täuschen. Das, was ich hier mache, kann man nicht wirklich schwimmen nennen.
Laura und ich wippen am Rand des Pools und machen zum Geplärre von Shania Twains Man! I feel like a woman! schnelle Radfahrbewegungen. Über Wasser gehalten werden wir durch unter den Arm geklemmte zwei-Liter-Milchplastikflaschen, die eine nicht gerade ermutigende Ähnlichkeit mit Form und Farbe meiner Oberschenkel haben. Sean nennt uns Wale. Ich denke lieber an Pudding oder Hüttenkäse als an Walspeck. Wenn’s um meinen Körper geht, halte ich Vergleiche mit Milchprodukten für die deutlich besseren Metaphern.
»Okay, okay, meine Damen.« Sean widmet gnädigerweise für einen Moment anderen Dingen seine Aufmerksamkeit. Laura und ich hören auf zu strampeln. Unsere gequälten Beine hängen träge unter der Wasseroberfläche, das Wasser plätschert gegen das Kinn. Ich bin selbst zum Reden zu erschöpft und dankbar für die Milchflaschen, ohne die ich absaufen würde wie ein Stein. Wir schauen uns kurz in die Augen, im Leiden vereint.
Seit drei Wochen nehmen wir jetzt schon zweimal wöchentlich an der Wasseraerobic teil, wobei es die Freude an der Bewegung noch zu entdecken gilt, genau wie einen Badeanzug, der sich nicht in unsere fetten Stellen gräbt und sie dadurch anschwellen lässt. Ohne Laura würden mich keine zehn Pferde hierherbringen. Sie besitzt eine Zielstrebigkeit und Energie, die mir völlig abgehen. Um hier um sechs auf der Matte zu stehen, muss ich um fünf Uhr morgens raus, Vesperboxen für die Zwillinge füllen, eine Tasse Tee trinken, ein bisschen frühstücken, Klamotten zum Wechseln einpacken und zwanzig Minuten mit dem Auto über kurvige Bergstraßen zum Soldier’s Memorial Swimming Pool im Herzen unserer Hügelstadt Macclesfield kurven.
»Okay, meine Damen …«
Sean hat uns wieder im Visier. Wir weichen zurück und würden uns am liebsten in unseren Milchflaschen verstecken.
»Zeit zum Abkühlen.«
Ah … Zeit zum Abkühlen. Welch süßen Klang diese Worte in sich tragen. Zeit zum Abkühlen bedeutet sanfte, einfache Dehnbewegungen und gleichzeitig die Chance, sich daran zu ergötzen, wie sehr man sich doch angestrengt hat. Es heißt auf dem Rücken treiben und zusehen, wie die Morgensonne die Wipfel der Palmen vergoldet, die den Pool umgeben. Meine Muskeln entspannen sich in freudiger Erwartung.
»Ihr gebt mir eure Milchflaschen rauf und schwimmt noch eine Runde Freistil bis zum seichten Ende. Das sollte heute zur Abkühlung reichen.«
Stille. Wir verharren regungslos. Ich nehme das Plätschern des Wassers gegen mein Kinn wahr und nur ganz entfernt den Turm, der vor mir emporragt und in Wirklichkeit ein genervter, hundert Kilo schwerer junger Mann ist. »Meine Damen … bitte.«
Mein Griff um die Milchflaschen wird fester.
Sean wird ungeduldiger. Meuterei ist er in seinem Schwimmkurs wahrscheinlich nicht gewöhnt.
»Ich bin noch nie gekrault«, sage ich mit – wie ich hoffe – selbstbewusster Stimme. »Können wir stattdessen nicht einfach Brustschwimmen?«
Sonnengebleichte Augenbrauen bilden eine strenge, harte Linie. »Das hat keinen sportlichen Nutzen.«
»Aber ich kann nicht kraulen«, jammere ich und schaue zu Laura. »Wie schaut’s bei dir aus?«
»Genauso. Das Konzept ist an sich klar. Man muss nur mit den Beinen treten und mit den Armen strampeln, oder?«
»Kein Ding, vorausgesetzt, man kann sich zur selben Zeit auf den Kopf klopfen und den Bauch reiben.«
Unser Blick schweift auf die andere Seite des Pools, der mit parallelen Seilen abgesteckt ist. Dort verbringen die wahren Athleten ihren Morgen, ziehen ihre Bahnen, durchqueren anmutig das Wasser, um dann anmutig wieder zurückzuschnellen.
»Meine Damen. Die Milchflaschen, bitte.«
Laura schaut mich wagemutig an. »Wenn du’s machst, mach ich’s auch.«
Ihre Stimmung ist ansteckend. »Wir werden ja wohl kaum ertrinken.«
»Wenn alles schiefgeht, können wir ja immer noch Brustschwimmen.«
Wir starren die fünfundzwanzig Meter des Soldiers’ Memorial Pool entlang. Fünfundzwanzig Meter Niemandsland. Sieht nach einem weiten, weiten Weg aus. Aber längst nicht so weit, wie die Wege, welche die Soldaten an der Somme, bei Verdun und bei Ypres zu gehen hatten.
»Also schön«, sage ich und gebe meine kostbaren Plastikflaschen ab. »Auf geht’s.«
Ich hole tief Luft – Köpfchen in das Wasser, Schwänzchen in die Höh’ – und fange an, mit den Füßen auszutreten. Es vergehen einige Sekunden, bis mir wieder einfällt, dass ich ja auch Arme besitze. Dann schlage ich eine Weile ohne Erfolg wild um mich, bis der Sauerstoffmangel mich dazu bringt, mich halb auf den Rücken zu wälzen und nach Luft zu schnappen. Gleichzeitig zu treten, die Arme zu bewegen und dabei noch zu atmen erscheint mir als eine unlösbare Aufgabe. Ich besitze keine Schutzbrille und bin deshalb fast blind vom Wasser, dem Chlor und meinen eigenen Haaren, die mir wie nasse Tentakel ins Gesicht klatschen.
Ich stoße am Poolrand an und reibe meine geschrammte Schulter. Aber ich hab schon fast die Hälfte hinter mir und bin ein bisschen stolz auf mich. Laura ist weit weg, schon fast am Ziel. Also weiter. Kopf runter, Hinterteil nach oben. Das Gekicher, das an mein Ohr dringt, überrascht mich nicht, ich weiß, wie ich momentan aussehen muss. Es ist ansteckend. Aber Kichern hilft wirklich nicht dabei, die Lunge wasserfrei zu halten. Ich fange an zu würgen und muss schließlich das letzte Drittel zu Fuß antreten.
Sean lacht. Sean lacht sonst nie. Der Versuch, seine Schwimmkünste schwimmenden Vollpfosten wie uns beizubringen – heute sind aus dieser Kategorie nur zwei anwesend –, langweilt ihn zu Tode. Er unterrichtet uns mit kaum versteckter Ungeduld. Jetzt aber lacht er.
»Ich hab doch gesagt, ich bin unfähig«, maule ich. Mein Stolz ist angeknackst.
»Vielleicht hilft es, wenn du schwimmen lernst«, schleudert er mir noch über die Schulter hinweg entgegen, stolziert dann von dannen und widmet sich den wahren Athleten.
Laura und ich hängen im seichten Bereich rum, machen Dehnübungen und zickige Bemerkungen über Sean. Im Wasser fühlen sich meine Glieder anmutig und geschmeidig an; es fällt mir hier nicht schwer zu glauben, ich sei schlank, geschmeidig und bildhübsch. Hoch auf die Zehenspitzen und wieder runter. Hoch und runter, so einfach ist das. Schwanensee, ich komme.
Ein paar junge Mädchen scharen sich um den Eingang der Umkleidekabine, umarmen sich und weinen. In ihren Schuluniformen sehen sie verloren und jämmerlich aus.
»Was glaubst du, was mit denen los ist?«
»Keine Ahnung.« Laura nimmt ihre Badekappe ab und schüttelt ihr dunkles Haar aus. Es ist üppig, fast schon wuschelig, weswegen sie gerne eine Kappe trägt, um zu verhindern, dass es am Ende zu sehr verfilzt. Sie hat die Sorte Haare, die größer und breiter statt – wie bei allen anderen – länger werden. Alles an Laura, mit Ausnahme unserer drallen Körper, ist das Gegenteil von mir. Während meine Augen schmucklos und schreckhaft wirken, wenn ich sie nicht großzügig mit Mascara aufbessere, sind Lauras dick bewimpert: ein natürlicher Saum, der sie zart wie ein Reh erscheinen lässt, obwohl sie das genaue Gegenteil ist. Und ihre goldbraune Brust ist übersät mit Sommersprossen, während meine Haut eher in den eisbedeckten Norden passen würde. Von meinem Haar ganz zu schweigen …
»Du solltest wirklich eine Badekappe tragen«, sagt sie mit einem prüfenden Blick auf meine farblosen, welken Tentakel. »Wenn’s morgens kalt ist, hält sie deinen Kopf warm.«
Es versammeln sich noch mehr heulende Mädchen. Sie bilden die Hälfte des schulischen Schwimmteams, immer noch in den normalen Klamotten, ganz klar ohne Ambitionen, ins Wasser zu gehen. Laura und ich klettern aus dem Pool, schnappen unsere Handtücher – strategisch klug auf unserer Seite des Pools drapiert, um die Strecke, die wir nur in unseren Badeanzügen zurücklegen müssen, so gering wie möglich zu halten – und machen uns auf zu den Duschen. Auf dem Weg dorthin kommen wir am Kiosk vorbei, wo Cate, die Poolgöttin, gerade ihre Schicht hat.
Cate ist einige Jahre jünger als Laura und ich und fast dreizehn Zentimeter größer, hat schmale Hüften und schlanke, aber dennoch muskulöse Beine, die mir bis zu den Achselhöhlen reichen. Wenn sie sich bewegt, wippt sie anmutig, statt wie ein Holzfäller zu schwanken. Cate, das lebhafte Fohlen. Und sie beherrscht diverse ernst zu nehmende Schwimmstile. Laura und ich fühlen uns jedes Mal ganz klein vor lauter Bewunderung, wenn sie in unserer Nähe ist. Wir halten heute kurz an, um Hallo zu sagen und zu fragen, warum hier so viele weinende Jugendliche rumstehen.
»Gestern ist jemand ertrunken«, teilt sie uns mit.
Ertrunken. Was für ein Angst einflößendes, Albträume heraufbeschwörendes Wort. Ich schaue mit wachsender Beklemmung auf das kristallklare Wasser des Pools.
»Nein, nicht hier. Unten an der Küste«, sagt Cate.
Laura und ich sehen uns und dann wieder Cate an. »Ein Kind von dieser Schule?«
»Nein, der Vater von irgendjemand. Seine Kinder sind hier zur Schule gegangen. Ein Schwimmer. Er war Mitglied im hiesigen Schwimmclub, hat die Grillfeste mitorganisiert, die Kinder zum Schwimmfasching gefahren, lauter so Sachen. Alle kannten ihn.«
»Wer?«, fragen Laura und ich wie aus einem Munde. Die Macclesfield Primary ist keine große Schule. Die meisten Familien kennen sich untereinander.
»Ein Typ namens Adam Trainor.«
Meine Hände zittern am Lenkrad. Mein Kopf ist voll von entsetztem Leugnen und Schock. Ich habe Adam nur um die sechs Mal getroffen, aber ich kenne seine Frau Karen recht gut. Ihr Ältester ist genauso alt wie meine Zwillinge. Wir haben gemeinsam Lesenachmittage und Kuchenverkäufe in der Schule organisiert. Auch zum Wasseraerobic-Kurs war sie ein paarmal erschienen. Um ehrlich zu sein: Ich habe Karen immer ziemlich beneidet. Sie hatte zwei großartige Kinder, ein schönes Zuhause und einen wunderbaren Ehemann. Nun hat sie ihn verloren und muss sich dem Leben und den Aufgaben als Mutter alleine stellen.
Adam war einer dieser Ehemänner, der andere Frauen zum Seufzen brachte. Er war zwar nicht besonders attraktiv, keiner dieser fitnessclubgestählten Männer mit Wölbungen an den richtigen stellen. Dafür hatte Adam andere, beneidenswertere Qualitäten. Er war immer geradeheraus und absolut verlässlich. Es machte ihm mindestens genauso viel spaß, den Kinderwagen durch die Regale des Supermarktes zu schieben wie mit seinen Kumpeln Golf zu spielen. Im Packen von Vesperboxen war er genauso kompetent wie im Vorantreiben seiner Bankkarriere. Und er betete Karen an.
Nie sah er sich anderweitig um. Für ihn existierten keine anderen Frauen.
Karen hatte mir mal beim Broteschmieren für die Schulkantine erzählt, dass sie und Adam schon seit ihrem letzten Highschooljahr zusammen wären – nachdem sie ihn eine Biologieaufgabe hatte abschreiben lassen.
Ich zog sie ein bisschen auf. Menschliche Biologie? Habt ihr auch praktische Übungen dazu gemacht?
Ein Mona-Lisa-Lächeln. In seinen Träumen.
Und wie sah es mit deinen aus?
Es ist doch jedes Mal herrlich, eine erwachsene Frau zum Erröten zu bringen.
Aber nun ist dies alles vorbei. Von einem Augenblick zum anderen. Das Leben, das Karen gekannt und geliebt hat, existiert nicht mehr, und ich muss gegen das Bedürfnis ankämpfen, den Wagen zu wenden und direkt zu ihr zu fahren. Ich will ihre Last mit ihr teilen, ihren Schmerz lindern, aber das zu versuchen wäre anmaßend von mir. Karen hat Freunde, die ihr deutlich näher stehen als ich, und ihre Eltern wohnen ganz in der Nähe. Sie hat jede Menge Schultern, an denen sie sich ausweinen kann.
Zu Hause hat sie die Wärme und das Farbenfrohe, an welchem ich so lange gearbeitet habe, verflüchtigt, die Welt ist zu einem traurigen, trostlosen Ort verkommen. Ich bin auf Autopilot geschaltet, wecke Mikey und Dan, wecke sie ein zweites, ein drittes Mal, dränge sie, ihr Frühstück zu beenden, keife sie an, damit sie ihre Zähne putzen, packe ihren Schulranzen, finde ihre Schuhe. Als der Schulbus kommt, bin ich erleichtert. Ich gehe ins Haus, setze mich aufs Bett und schluchze.
Adam wäre wahrscheinlich ein wenig überrascht, wenn er die Heftigkeit meiner Trauer sehen könnte. Wobei ich zugeben muss, dass ich nicht nur seinetwegen weine. Diese Tragödie beeinflusst nicht nur sein Familienleben, sondern verletzt auch die poröse Oberfläche meiner eigenen Schutzhaut, durch die nun ein Strom verdrängten Kummers ungehindert nach außen dringt. Adams Tod hat die Geysire der Hölle freigesetzt, und ich habe keinen Schimmer, wie ich sie wieder bändigen kann.
Mein eigener Ehemann ist vor zwei Jahren abgehauen. Vor zwei Jahren und zwei Monaten, um genau zu sein, als Mikey und Dan gerade ihren neunten Geburtstag feierten. Er ist nicht einfach mit der Frau eines anderen, meiner besten Freundin oder seiner Sekretärin durchgebrannt. Oh nein, Alec floh auf geradezu spektakuläre Art und Weise. Er rannte mit Emma Lewis davon, die ein Jahr zuvor Schülerin in seiner Klasse an der hiesigen Highschool gewesen war.
Alec war ein beliebter Lehrer, witzig, engagiert und extrovertiert. Zu den Kindern hatte er einen großartigen Draht. Einige der frecheren Mädchen flirteten mit ihm, sandten ihm Nachrichten. Emma war unter ihnen sein Liebling. »Diese Emma Lewis ist schon so eine«, hatte er mir erzählt. »Sie ist klug, attraktiv und ambitioniert. Aus diesem Mädchen wird noch mal was.«
Wenn Alarmglocken klingelten, so hörte ich sie damals nicht. Wie hätte ich auch ahnen sollen, ahnen können, dass mein Ehemann und der Vater meiner Kinder mit einem Kind durchbrennen würde? Siebzehn mag legal sein, aber er war nur ein Jahr zuvor noch ihr Lehrer in der elften Klasse gewesen, hatte ihre Gedanken und Ideale beeinflusst, ihre Ziele geformt: eine Situation reich an Möglichkeiten, Macht zu missbrauchen. Und immer, immer wieder die Frage, auf die ich bis heute keine Antwort weiß: Wann hatte es angefangen? Ich werde nie wissen, ob Gesetze gebrochen wurden, oder nur Gebote.
Sie verschwanden, und ich blieb zurück, zurück, um die bedauernden, peinlich berührten, nicht selten aber auch die mit schlecht verborgenem Ekel mich musternden Blicke wahrzunehmen. War es denn meine Schuld, dass mein Ehemann eine Schwäche für Kinder hatte? Manchmal wechselten die Leute sogar die Straßenseite, wenn sie mich kommen sahen. Einige von ihnen tun das bis heute, ich weiß nicht, ob sie nicht mit mir reden wollen oder schlicht nicht wissen, wie sie mit mir reden sollen. Das passt mir ganz gut – ich will ja selbst nicht drüber reden. Ich zog es vor, meine Worte für zwei verwirrte Jungen aufzuheben, die nicht aufhörten, mich zu fragen, wann ihr Vater denn nach Hause käme. Ich habe ein ganzes Jahr gebraucht, um den Mut aufzubringen, ihnen die Wahrheit – niemals – zu sagen.
Zu dieser Zeit verhielt sich Emmas Mutter Sharon wie eine Furie. Ich konnte ihren Schmerz verstehen. Schlimm genug, dass ihre Tochter mit einem Mann durchbrannte, der dreiundzwanzig Jahre älter war als sie, war schlimm genug. Aber die Tatsache, dass er ihr Lehrer gewesen war … Nun, ich hatte vollstes Verständnis dafür gehabt, wenn sie sein Blut gewollt hatte. Wann hatte ihre Kampagne angefangen? Sechs Monate nach dem Verschwinden der beiden wandte Sharon sich jedenfalls an die Fernsehsendung A Current Affair, die die beiden Liebenden aufspürte. Alec, Hand in Hand mit Emma den Strand entlangschlendernd, schwor, sie hätten nichts falsch gemacht. Wir sind so verliebt, sagte er.
Das alles ist jetzt zwei Jahre her. Zwei Jahre sind genug Zeit, um den Schock zu betäuben, genug Zeit, um vorsichtig neue Haut über die offene Wunde wachsen zu lassen. Außerdem, was ist ein abgehauener Ehemann verglichen mit dem Tod durch Ertrinken? Es scheint mir heute falsch zu sein zu vergleichen, aber damals fühlte es sich – für mich – wie ein unwiederbringlicher Verlust an.
Mein Stapel mit nassen Taschentüchern wächst kontinuierlich. Ich greife nach einem neuen Taschentuch und versuche, mich selbst wieder daran zu erinnern, dass es ein paar wenige Vorteile hat, ohne Ehemann durchs Leben zu gehen: Ich kann leben, wo immer ich will. Reisen, wohin immer ich will. Anziehen, was immer ich will. Ich kann mit den Kindern essen, oder ich kann die Mahlzeiten ausfallen lassen und stattdessen Schokolade fressen. Aber das Tollste ist: Nachdem ich die Jungs ins Bett gebracht habe, kann ich Wiederholungen von SeaChange schauen, ohne fürchten zu müssen, mich der Lächerlichkeit preiszugeben. Dies ist mein Mantra, das mir – neben so vielen Anrufen bei meiner Mutter in England, dass es den Strafbestand der telefonischen Belästigung erfüllt – die Stärke gab, mit dem Leben weiterzumachen: das Haus zu verkaufen, das ich mir mit Alec geteilt hatte, ihm das zu bezahlen, was ihm seiner Meinung nach zustand, und einen Zufluchtsort für die Jungen und mich zu kaufen, einen Ort, der von schmerzvollen Erinnerungen unberührt war. Dann begann ich, meine sträflich vernachlässigte Karriere als Schriftstellerin wieder in Gang zu bringen – ein ebenso dramatischer wie gewinnbringender Wandel in meinem Leben – und alles daran zu setzen, eine unabhängige Frau zu werden.
Aber nichtsdestotrotz genügt auch heute noch eine einzige Kugel, der ich erlaube, meinen Schutzpanzer zu durchdringen, ein einziger Augenblick, in welchem ich nicht schnell genug alle meine Schotten dicht mache, und die tiefsitzende Einsamkeit und die Trauer über mein Verlassensein brechen herein, um meine neu gefundene Stabilität einfach wegzuspülen.
Mit voll gerotzten Taschentüchern in den zitternden Händen, aufgequollenem Gesicht und Augen, die so viele Tränen vergossen haben, dass sie brennen, erzähle ich mir selbst, ich würde um Karen weinen, obwohl ich genau weiß, dass ich in Wahrheit um uns beide weine. Karens Verlust hat mich aus der Bahn geworfen und mich in die ersten, trostlosen Tage meiner eigenen Trauer zurückversetzt.
Ich greife nach dem Hörer und rufe Laura an.
Laura ist Ärztin, und als der einzige weibliche Hausarzt weit und breit verbringt sie ihre Tage entweder mit Vaginalabstrichen oder mit Zuhören, wenn andere Leute ihre Wehwehchen zum Besten geben. »Ich kuriere Leiden und scheiden«, lautet ihre Antwort, wenn jemand sie nach ihren alltäglichen Aufgaben fragt. In ihrer Praxis ist sie immer total beschäftigt, aber heute ist Dienstag, ihr freier Tag. Ich riskiere ohne Zweifel ihre Freundschaft, wenn ich zu diesem Zeitpunkt, der, selten genug, es ihr ermöglicht, sich von einer emotional aufgeladenen Öffentlichkeit zu erholen, tränenerstickt anrufe.
»Ich halte das nicht aus«, schluchze ich. »Ich kann einfach nicht nur hier rumsitzen und Däumchen drehen. Was können wir bloß tun, um ihr zu helfen?«
»Im Moment gar nichts«, sagt die ruhige Stimme der Vernunft am anderen Ende der Leitung. »Sie hat ihre Mutter und ihren Vater um sich, und höchstwahrscheinlich die Hälfte der Nachbarschaft. Wenn du wirklich helfen willst, versuch’s in einem oder drei Monaten, oder sogar in drei Jahren, wenn all die gutmenschelnden Wichtigtuer am Wegrand liegen geblieben sind. Das wird dann der Zeitpunkt sein, zu dem sie Hilfe braucht.«
Manche Leute meinen, Laura wäre viel zu schroff, aber ich liebe sie für ihre Ehrlichkeit. An ihrer Seite gibt es keinen Zweifel daran, wo es langgehen soll.
»Hast ja recht«, antworte ich schniefend. »Wie du immer völlig recht hast.«
Ich heule noch ein bisschen mehr, und Laura sagt: »Du solltest dringend was unternehmen. Heute schon geschrieben?«
»Mir ist nicht danach. Später vielleicht.«
In den letzten Jahren habe ich die Jungs und mich durchgebracht, indem ich mich auf das Schreiben von Liebesromanen konzentrierte. Laura lacht immer über die nicht gerade unironische Tatsache, dass eine unabhängige, sexuell enthaltsame Achtunddreißigjährige verruchte Geschichten über wolllüstige Hengste und ergebene Jungfrauen schreibt.
Lust und Leidenschaft mögen ja vielleicht aus meinem Leben verbannt sein, ist dann meine Antwort, aber schließlich gibt es ja auch noch so etwas wie Erinnerungen.
»Wie schaut’s bei dir aus?«, frage ich. »Wie geht’s dir?«
»Ach, ich hab Sam eine dicke Umarmung verpasst, als ich zurück vom Pool kam. Schon komisch, wie einem der Ehemann plötzlich besonders wichtig erscheint, sobald eine andere ihren verloren hat.«
»Sam kannte Adam?«
»Hat ihn ein paarmal getroffen. Aber …« Sie zögert, etwas scheint ihr zu widerstreben.
»Aber was?«
»Er hat kaum mit der Wimper gezuckt. Wirkte gedankenverloren und irgendwie seltsam.«
»Lass uns ins Kino gehen«, sage ich spontan. »Wir haben noch genug Zeit, bis ich die Jungs wieder in Empfang nehmen muss.«
Macclesfield, die Stadt, in der wir leben, ist bekannt für ihre wunderschönen, von üppigem Regenwald bedeckten Hügel, das fantastische Bergpanorama und den überwältigenden Meerblick, aber wegen des Entertainments war noch nie jemand hier. Wenn man in Macclesfield ins Kino gehen will, muss man sich bis zum letzten Samstag des Monats gedulden, denn da wird im Gemeindehaus ein überdimensionales Bettlaken aufgehängt und der temperamentvolle, uralte Projektor zu neuem Leben angekurbelt. Wem das nicht genügt, der kann als Alternative eine vierzigminütige Fahrt entlang kurviger, malerischer Straßen bis zur Küste unternehmen, wo ihn eine ganze Reihe von Einkaufszentren und Multiplexkinos erwarten.
Normalerweise erspare ich mir das Küstenchaos, aber heute ist es anders. Heute bin ich heilfroh über eine Ausrede, den Berg verlassen zu dürfen. Nach Ablenkung geradezu lechzend, erreiche ich Lauras Haus.
Wir haben Anfang Oktober, eine Blütenspur ziert die Zweige der Palisanderbäume, die Lauras Straße säumen. Die ganz große Show wird es wohl erst am Ende des Monats geben, wenn sich die Straße in einen lavendelblauen Tunnel verwandelt hat, der in das duftende Wunderland rund um das Haus mündet.
Laura hat nicht viel Zeit für Gartenarbeit, dafür hat sie ihren Ehemann sam, Künstler bis in die Fingerspitzen, der ihren ganz eigenen Garten Eden erschaffen hat. Sams Blick für Gestaltung ist makellos, alles, was er pflanzt, wächst und gedeiht, nur wenn es um das Zuschneiden geht, ist er ein wenig nachlässig. In unserem satten Klima und in der reichhaltigen vulkanischen Erde, durch die ein Setzling seine Größe während des Sommers innerhalb eines Monats verdoppelt, kann einem ein Garten schon mal ganz schnell außer Kontrolle geraten.
Laura wartet heute auf den Eingangsstufen auf mich, unter einem Wasserfall aus Glyzinienblüten, die beinahe den Weg durch die Vordertür versperren.
»Das Imperium der Schreckensblumen schlägt zurück«, sagt sie. Ich springe aus dem Auto und gebe ihr einen Kuss.
Sie lächelt, als ich ein paar Glyzinienblüten aus ihrem Haar zupfe. Laura besitzt ein einmaliges Lächeln. Es wölbt sich scharf um die Ecken ihres Mundes: ein Delphinlächeln. »Das Geißblatt hat meinen Nachttisch erreicht. Ich hab den Versuch, das Schlafzimmerfenster zu schließen, vor Wochen aufgegeben.«
»Romantisch«, entgegne ich. »Stell dir vor, dich weckt der Duft von Geißblatt auf deinem Kissen.«
»Und bringt dich zum Niesen.«
Ich lächle über ihre Worte. Wenn du geweint hast, dein Kopf schmerzt und dein Gesicht angeschwollen ist, fühlt sich das Lächeln angespannt und unnatürlich an. »Danke«, sage ich. »Danke, dass du mitkommst. Genau das, was der Arzt mir verschrieben hat.«
»Genau genommen hast eigentlich du mir befohlen mitzukommen.«
Sie wartet auf ein weiteres Lächeln, aber plötzlich ist mir nicht mehr danach. »Gehen wir«, sage ich.
Im Kino ist Retro-Woche, deshalb läuft Ghost mit Patrick Swayze und Demi Moore. Am Ende des Films, als sich Patrick Swayze in einen Tunnel aus Licht verflüchtigt, gen Himmel fährt und seine junge Witwe Demi Moore ihn weinend gehen lässt, muss ich so stark heulen, dass die Tränen mein Gesicht herunterrinnen, mein Kinn herabstürzen und schließlich meinen BH durchnässen. Ich habe noch nie in meinem Leben meinen BH nass geheult.
Der Morgen von Adams Beerdigung bricht geradezu unverschämt schön und perfekt an. Nicht mal der Hauch eines Lüftchens weht: Die Welt ist so still und leise, als hätte die Natur aus Respekt vor dem Verstorbenen eine Pause eingelegt. Oder vielleicht aus Schuldbewusstsein darüber, dass sie es war, die ihm das Leben nahm.
Als ich mit Laura und Sam bei der Kirche ankomme, strecke ich mich nach vorne, um zwei blasslila Blüten aus einem Palisanderbaum zu pflücken, der über den Parkplatz hängt. Eine davon händige ich Laura aus, die andere stecke ich mir ins Knopfloch. Dann gehen wir rein und setzen uns.
Die Redner sind sehr bemüht, eine positive Note in den Gottesdienst zu bringen. Wir hören von Adams erfolgen, seiner Lust zu leben, seiner Liebe zur Familie, davon, dass er mit seinen Kindern nicht einen einzigen Schwimmfasching versäumt hat. Wir hören, wie sehr er die Musik der Beatles liebte und dass er als Student an der Uni ziemlich wild war. Aber nichts von der bemüht wirkenden Heiterkeit kann die Tatsache beiseitewischen, dass ein hingebungsvoller, gesunder Ehemann und Vater völlig grundlos aus dem Leben gerissen wurde und deswegen eine junge Familie vor sorge erdrückt wird.
Als ich Karen mit ihrem dunklen Haar, das wie ein Vorhang den größten Teil ihres Gesichts verdeckt, zusammengesunken im Eingangsbereich der Kirche sehe, drängen sich mir all die Fragen nach dem Warum und dem Wie auf, die unmöglich zu beantworten sind. Warum sollte ein guter Mann wie Adam umkommen, während so viele Bastarde da draußen leben und ein hohes Alter erreichen dürfen? Vergewaltiger und Kindermörder. Wo bitte ist da die Gerechtigkeit? Wenn ich nicht schon vor langer Zeit den Glauben an Gott aufgegeben hätte, wäre dies nun sein endgültiger Sargnagel.
In Gedanken ganz bei den verschwindenden Ehemännern fällt mein Blick auf sam. Bilde ich mir das ein, oder sieht er wirklich nicht so gesund aus? Sam war schon immer hager und drahtig, heute wirkt er zudem vernachlässigt. Sein Haar ist strähnig, als würde es eine gründliche Wäsche brauchen, und ich spüre eine unruhige, rastlose Aura um ihn, die mir zuvor nie aufgefallen war. Als Paar waren Sam und Laura seit Langem einer der Stützpfeiler meines Lebens. Freunde kommen und gehen, Ehemänner hauen ab, Paare streiten sich, trennen sich, kommen wieder zusammen, aber Sam und Laura waren einfach immer da, robust und zuverlässig, im selben Haus, das sie seit fast zwanzig Jahren bewohnten. Ein Fels im Strudel des Lebens. Ich könnte es nicht ertragen, wenn irgendetwas diese Konstante, die ich immer noch als selbstverständlich ansehe, ins Wanken bringen würde.
Sam umklammert nervös seine Finger, starrt auf den Boden, dann auf die Tür, als wolle er so schnell wie möglich abhauen. Laura blickt gelegentlich besorgt zu ihm rüber. Vielleicht nimmt ihn Adams Schicksal mehr mit, als er sich selbst eingestehen will. Das, was Adam passiert ist, reicht wohl aus, um jeden wieder an seine Sterblichkeit zu gemahnen. Unsere Blicke treffen sich, und ich nehme den Ansatz eines Lächelns wahr. Absurderweise fühle ich mich beruhigt. Meine Besorgnis erscheint mir auf einmal unbegründet, nur ein blöder Anfall von Beunruhigung über die Ungewissheit von Ehemänner-Existenzen.
Der Gottesdienst ist zu Ende, und die Gemeinde steht auf. Als die Sargträger den Sarg anheben, ertönt Yesterday. Bis heute hatte ich keine Ahnung darüber, dass Adam ein Beatles-Fan war, aber jetzt, da ihre Musik durch die kleine Kirche hallt, kann ich mir nicht vorstellen, sie jemals wieder zu hören, ohne mich dabei an ihn zu erinnern. Für mich hat nicht der Song den Moment verschönert, nein, der Moment hat den Song verkrüppelt.
Karen, an ihre Kinder geklammert, von ihrer Mutter und ihrem Vater gestützt, folgt dem Sarg ihres Mannes raus aus der Kirche. Laut meiner Mutter, die weit mehr Beerdigungen besucht hat als ich und deren gleichaltrige Freunde und Bekannte inzwischen alle dieses gefährliche Alter mit labiler Gesundheit erreicht haben, wird heutzutage eine riesige Anstrengung unternommen, der Trauer auf einer Beerdigung zu begegnen, indem man das Leben feiert mit Musik und Erinnerungen, Witzen und Anekdoten, die die Leute zum Lachen bringen sollen. Wenn ich jetzt Karen und ihren Kindern nachsehe, denen das Schicksal alle Lebensfreude raubte, fällt mir beim besten Willen kein Grund zum Feiern ein. Das Leid und die Verwirrung in den Gesichtern der Kinder erinnern mich schmerzlich an den Gesichtsausdruck der Zwillinge, den sie noch lange nach Alecs Verschwinden nicht ablegen konnten. Ich wende mich ab.
Nach der Beerdigung kehren wir in die Kirche zurück, um Sandwiches und Tee zu uns zu nehmen. Niemand isst viel, der Tee geht dafür umso besser runter. Ich gehe rüber zu Karen und umarme sie. Ich habe sie noch nie ganz in Schwarz gesehen, geschweige denn so dermaßen beschwert und ermattet. Die normale Karen, die Karen vor der Trauer, war lebhaft und fröhlich, mit einem Glitzern in den dunklen Augen, das Energie und spaß verhieß. Dieses Glitzern ist heute verschwunden. Heute sind ihre Augen blanke Höhlen.
»Danke, dass du gekommen bist«, sagt sie und umarmt mich erneut. »Ich weiß nicht, warum ich immer noch weine. Man sollte meinen, ich habe keine Tränen mehr übrig«, murmelt sie in mein Ohr.
Ich lächle und lasse sie los. Vielleicht liegt es an der tiefen Trauer, in die sie gehüllt ist, aber sie sieht klein und zusammengedrückt aus, wie ein stück Teig, das zu einem festen kleinen Ball gequetscht wurde. Und ich nehme die enorme Disziplin wahr, die sie aufbringen musste, um den heutigen Tag zu überstehen.
»Tränen sind nicht begrenzt«, sage ich ihr. »Wir produzieren sehr leicht neue. Du musst nur ganz viel Wasser trinken, damit du nicht austrocknest.«
Sie erwidert mein Lächeln und wischt sich die Augen. Ihr Gesicht ist aufgebläht wie ein Kugelfisch, mit blassen Stellen inmitten ihrer Bräune. Wendy Jackson, auch eine Mutter aus der Schule, steht an ihrer Seite. Sie beobachtet Karen genau, wie eine Löwin, die ihr Junges beschützt. Ich begrüße sie und frage Karen dann, wie es ihren Eltern geht.
»Sie halten den Laden am Laufen?«
»Natürlich«, antwortet sie. »Sie füttern die Kinder, kümmern sich um die Besucher, machen Dienstpläne fürs Rasenmähen, gehen mit dem Hund Gassi, fahren die Kinder zur Schule.«
»Versuchen, dich zum Essen zu bewegen«, sagt Wendy und drückt Karens Hand.
Wahrscheinlich zum allerersten Mal nehme ich Wendy Jackson wahr. Ich habe sie gelegentlich in der Schule gesehen, aber ihr bislang niemals wirklich Beachtung geschenkt. Sie ist ein bisschen größer als der Durchschnitt und erstaunlich schlank. Eine jener Frauen, die mit einem schmalen Skelett gesegnet sind, das ihren Gliedern Anmut und ihren Hüften Jugendlichkeit beschert. Sie ist sehr braun gebrannt, mit kurzem blondem, sonnenverwöhntem Haar. Ich denke, dass sie jede Menge Zeit außerhalb des Hauses verbringt. Sie hat ein süßes Lächeln, und ihr marineblaues Leinenkleid ist perfekt gebügelt. Sie sieht gepflegt und unerschütterlich aus. Ein guter Mensch, den man in einer Krise gerne neben sich weiß.
»Karen hat vor, mich mal mit zur Wasseraerobic zu nehmen«, erzählt sie mir. »Ich habe gehört, dass sie eine echte Anhängerin dieses Sports sind, Charlie.«
Anhängerin ist wohl ein ganz kleines bisschen übertrieben, aber heute bin ich froh über jede Ablenkung. Ich strahle Karen an. »Das ist eine großartige Idee. Zuletzt waren nur noch Laura und ich dabei. Es wäre schön, wenn sich die Ränge wieder füllen würden.«
»Ich will zurück ins Wasser«, sagt Karen. »So bald wie möglich.«
Ihr Mut überwältigt mich. Vorausgesetzt, sie meint es ernst. Ich meine, nach dem, was ich mitbekommen habe, war sie zusammen mit ihm im Wasser. Im einen Moment war er noch neben ihr, im nächsten war er fort. Gefangen in einem außergewöhnlich heftigen Sog. Natürlich gab es eine umfangreiche Suche, gefunden hat man ihn aber erst Stunden später. Meine überschäumende Fantasie – manchmal ein Segen, sehr oft ein Fluch – ist völlig außerstande, sich auch nur ansatzweise vorzustellen, was Karen an diesem Tag durchlitten haben muss. Obwohl ich den unangenehmen Verdacht hege, dass ich, wäre ich an ihrer Stelle gewesen, von nun an vor jeder Regenpfütze schreiend davonrennen würde. Bevor ich die Worte finde, um meine Bewunderung auszudrücken, erscheint Karens Vater neben ihr, und sie ist abgelenkt.
Der Anblick ihrer vornübergebeugten, geschrumpften Gestalt, die sich in sich zurückzieht, lässt das hilfloseste Gefühl der ganzen Welt in mir aufsteigen. Plötzlich fühle ich mich, als würde ich durch Reifen springen, mich selbst auspeitschen, mich freiwillig für die Folterbank melden, als würde ich alles tun, um nur einen Bruchteil ihres Schmerzes übernehmen zu können und den Glanz in ihr Gesicht zurückkommen zu sehen, das leise Lächeln, den Hauch von Schamesröte. Aber es gäbe nur eine Sache, die diese Verwandlung bewerkstelligen könnte. Und da Adam wohl kaum durch die Tür schlendern wird, fröhlich, gesund und munter, und uns sagen wird Das war alles nur ein Missverständnis, ich bin gar nicht ertrunken, tut mir leid, dass ich euch solch einen Schrecken eingejagt habe, muss ich einsehen, dass Karens einzige Hoffnung die Zeit ist.
Gott, wie ich es gehasst habe, wenn die Leute mir gesagt haben, mit der Zeit würde ich schon über Alec hinwegkommen. Ich erinnere mich an den Tag, als ich mit einer alten Freundin in der Bücherei zusammenstieß. »Lass dir Zeit, Charlie«, sagte sie. Sie versuchte, nett zu sein. »Die Zeit heilt alle Wunden.« Ich hätte ihr am liebsten die Nase gebrochen. Wie konnte sie es wagen, meinen Kummer und Zorn derart zu verharmlosen – sie hatte keine Ahnung, dass ich mich nie und nimmer von dem schlag, den Alec mir und den Jungen verpasst hatte, erholen würde.
Aber natürlich hatte sie recht. Die Zeit hilft tatsächlich. Nicht dass ich vorhabe, es Karen zu sagen. Nichts von diesem Kopf-hoch-, Warte-ab-Liebes- und Es-wird-dir-schon-bald-wieder-gut-gehen-Quatsch.
Karen muss wissen, dass wir verstehen, dass das, was ihr zugestoßen ist, der herzzerreißendste, schmerzvollste, brutalste Akt der Zerstörung ist, den man sich vorstellen kann, und dass wir bei all ihrem Kummer und Zorn für sie da sein werden, so lange es auch dauern mag.
Karen muss wissen, dass sie nicht alleine ist.
Es ist der letzte Novembertag. Ich hechte um fünf Uhr früh aus dem Bett und hetze durch meine Morgentoilette, packe meine Schwimmtasche, stürze eine Tasse kochendheißen Tee hinunter und renne mit einer Scheibe Toast in der Hand zum Auto. Gestern Abend hat Wendy Jackson angerufen und angekündigt, dass sie heute Karen mit zum Pool bringen wird und auf ein paar bekannte Gesichter hofft.
Sie kommen vor mir an und steigen gerade aus Wendys Auto aus, als ich auf den Parkplatz rolle. Unglaublich, dass Karen sich dieser Herausforderung so bald stellen kann, ohne vor Angst durchzudrehen. Ich werde ganz demütig angesichts ihrer Entschlossenheit.
Es hat zwei Monate gedauert, bis sie diesen mutigen Schritt tun konnte, eine Zeit, die sie mit ihrer Mutter, ihrem Vater und ihren Kindern hauptsächlich zu Hause verbracht hat. Vor die Tür zu gehen ist in einer solchen Situation ziemlich schwierig, besonders wenn die ganze Stadt weiß, was dir zugestoßen ist. Nach meiner eigenen Krise zog ich es lange vor, nur mit einer Freundin zusammen das Haus zu verlassen – meist war es Laura. Sie beschützte mich wie eine Löwin vor den Fragen der allzu Neugierigen, von denen es ganz schön viele gab. Sie war mein Puffer, und sie scheuchte mich sofort nach Hause, wenn ich drohte zusammenzuklappen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich diese Zeit ohne Laura überstanden hätte, und ich sehe, dass Wendy Jackson für Karen eine ebensolche Stütze ist.
Ich winke den beiden zu, und sie warten lächelnd auf mich, ihre Körbe in der Hand. Karen wirkt ruhig und gelassen – gar nicht so, als habe sie gerade erst einen schrecklichen Schicksalsschlag erlebt –, und ich staune darüber, wie gut manche Menschen ihren unerträglichen Schmerz verbergen können und mit erhobenem Haupt durchs Leben gehen, obwohl ihnen das Teuerste geraubt wurde. Es ist überhaupt nicht zu erkennen, dass es gerade ein paar Wochen her ist, seit sie das Zentrum ihres Lebens verloren hat. Man sieht es erst, wenn man ihr nahe genug kommt und in ihre Augen schauen kann. Früher leuchteten sie voller Esprit und Humor, jetzt sind sie leer und voller Trauer. Ich drücke Karen kurz an mich, dann gehen wir zu dritt zum Eingangstor.
Es ist ein wunderschöner Morgen, die Luft ist weich, und die aufgehende Sonne erleuchtet die Kronen der Kokospalmen, die das Poolgelände säumen. Wir sind die Ersten heute Morgen, und das Becken ist leer. Das Wasser berührt leise plätschernd die Bahnenbegrenzungen, als wolle es sagen: Kommt rein … kommt rein …
Das Schwimmen in Freibädern war eine Offenbarung für mich, als ich aus England hierherkam. Ich war an überfüllte Hallen voller Dampf gewöhnt, der mehr aus Chlor als aus Sauerstoff zu bestehen schien. Sogar als Kind hasste ich es, in eine Chemikalienbrühe zu steigen, die so warm war, dass mein Blut kochte und mir Hände und Füße anschwollen.
Ich genieße es also ganz besonders, die reine Luft dieses milden Morgens in Queensland zu atmen. Aus einem Nachbargarten weht ein Hauch von Gardenienblüten zu uns herüber. Und es duftet nach dem Kaffee, der im Kiosk frisch aufgebrüht wird. Es ist noch ein wenig Feuchtigkeit von dem Regenschauer der letzten Nacht zu spüren.
Wir sitzen am Beckenrand, lassen die Füße ins Wasser baumeln und greifen gerade nach unseren Milchflaschen, als Laura – wie immer zu spät – angerannt kommt. Sean schaltet die Anlage an, Shania Twain plärrt mal wieder los, und wir vier lassen uns ins Wasser gleiten.
Karen ist noch ein gutes Stück kleiner als Laura und ich, aber kräftig und robust gebaut. Nur Hintern und Titten wie sie selbst sich humorvoll beschreibt. Aber unter ihren leicht pummeligen Armen und Beinen sind ausgeprägte Muskelpartien zu erahnen. Wahrscheinlich war sie während ihrer Schulzeit ziemlich sportlich und könnte uns einiges beibringen, falls Sean uns wieder zum Schwimmen zwingt.
Er zwingt uns. Erneut bin ich das Schlusslicht. Wendy überrascht uns alle. Obwohl sie schwört, dass sie schon seit Jahren nicht mehr richtig geschwommen ist, bahnt sie sich mühelos ihren Weg durch die fünfundzwanzig Meter Niemandsland. Karen erreicht das andere Ende als Nächste. Sie spritzt ziemlich stark, hat aber eine Menge Kraft. Laura platscht als Dritte ins Ziel, und ich schwimme genau wie beim ersten Mal: erbärmlich.
Im seichten Wasser dehnen wir uns wie Ballerinas. Karen hat unsere ganze Aufmerksamkeit. »Ich schaffe es, im Pool zu schwimmen«, antwortet sie auf unsere unausgesprochene Frage. Sie nimmt mit ihrer kleinen, quadratischen Hand ein bisschen Wasser auf und lässt es durch ihre Finger rinnen. »Seht ihr, wie klar es ist? Wie es glitzert?« Als sie aber aufsieht, liegen Qualen in ihrem Blick. »Ich konnte ihn nicht finden. Ich bin immer wieder untergetaucht und habe nach ihm gesucht, aber das Wasser war trübe, und ich war ganz alleine.« Ihr Gesicht verzerrt sich, und Wendy legt ihr den Arm um die nackten schultern.
Karen holt zitternd Atem. »Ich habe eine Ewigkeit nach ihm gesucht. Ich wusste, dass er irgendwo dort sein musste. Ich tauchte immer wieder und fuhr mit den Armen durchs Wasser. Es dauerte sechs Stunden, bis die Taucher ihn fanden. Er war zwei Kilometer abgedriftet. Aber dieses Wasser hier ist so klar, dass man den Grund sehen kann. Es hat überhaupt nichts mit dem Meerwasser zu tun. Ich verbinde nichts damit.«
Karens Erinnerungen müssen ihr Albträume bereiten. Ich würde das ihr gegenüber niemals äußern, aber den Tod durch Ertrinken stelle ich mir besonders entsetzlich vor. Man treibt in der unendlichen Tiefe und ist hilflos den unsichtbaren Strömungen ausgesetzt, wie ein Astronaut, der mit gerissener Sicherheitsleine in den Weltraum hinaustreibt. Er fuchtelt mit Armen und Beinen und versucht, zum Mutterschiff zurückzuschwimmen, obwohl er weiß, dass er es niemals erreichen kann.
»Ich glaube nicht, dass ich jemals wieder in trübem Wasser schwimmen kann«, sagt Karen. »Ich will es kristallklar haben. Genau wie hier. Lasst uns morgen wieder herkommen.«
Karens Worte reißen mich aus meinen düsteren Gedanken. Morgen? Es ist schon ein riesiger logistischer Aufwand, zweimal die Woche um sechs Uhr früh hier zu stehen. Ich sehe meine Bedenken in Lauras Gesicht gespiegelt. Aber besondere Umstände erfordern besondere Maßnahmen.
»Morgen«, nicken wir beide gleichzeitig.
Ich bin um Punkt sechs Uhr da. Außer mir ist niemand zu sehen, die Tore sind noch verriegelt. Da kommt Cate, die Poolgöttin, die ein Hemdchen aus Lycra und einen Mikromini trägt, der ungefähr einen Kilometer gebräunte, trainierte Beine freigibt. »Ihr werdet ja richtig süchtig«, sagt sie lachend und schließt das Tor auf.
»Wenigstens ist diese Sucht gesund«, erwidere ich.
Sie folgt mir in den Umkleideraum. »Es wäre gesünder, wenn ihr schwimmen würdet, statt diese Rentnerübungen zu machen.«
Ich finde die Übungen ziemlich anstrengend, aber es ist mir zu peinlich, das zuzugeben. »Ich bin keine große Schwimmerin«, murmele ich. Cate lächelt. Ihr Gesicht wirkt anziehend und jugendlich: eine süße Nase, ein paar Sommersprossen.
»Denk drüber nach. Sean könnte euch statt Aerobic- auch Grundlagenunterricht geben. Dann machst du in null Komma nichts Fortschritte.«
Sie als Göttin hat leicht reden, denke ich. Ich bin eine ganz normale sterbliche, die schon nach einer Bahn aus dem letzten Loch pfeift.
Wendy und Karen treffen gerade rechtzeitig ein, um Cates schicksalhafte Worte zu hören.
»Ich hab mal einen Grundlagenkurs gemacht«, sagt Wendy und stellt ihren Korb auf die Bank. Wendys Korb ist eine duftende Wundertüte voller ordentlich eingepackter und gestapelter Kosmetika in kleinen Fläschchen. Außerdem hat sie noch ein flauschiges, pinkes Handtuch drin, das aussieht wie gebügelt. »Das ist schon Jahre her. Kurz nach Kursbeginn wurde ich schwanger, dann bin ich nicht mehr hingegangen.«
»Das ist also das Geheimnis deiner Anmut und Technik.« Ich wühle in dem Krempel meiner Tasche nach meiner neuen Badekappe. Ihr grelles Pink lässt meinen Kopf aussehen wie eine überdimensionale Cocktailkirsche. »Aber vielleicht ist es für uns alte Knochen auch zu spät, um einen neuen Sport zu erlernen«, füge ich hoffnungsvoll hinzu.
»Das ist nicht dein Ernst, oder?« Cate klingt ehrlich entsetzt, und einen Moment lang weiß ich nicht, ob sie von meiner Kappe oder meinem Mangel an Begeisterung für den Schwimmunterricht spricht.
»Na ja, doch«, gebe ich zu. Ich habe mich für Letzteres entschieden. »Es ist viel einfacher, etwas Neues zu lernen, wenn man jung und fit ist und weniger Angst hat.«
Sie starrt mich an, als redete ich unverständliches Zeug. »Du klingst, als seiest du neunzig.«
Ich lache, aber Cate hat einen Nerv getroffen. Aber ich bin entschlossen, das zu ignorieren, denn ich habe keine Lust, meinen sicheren Kokon der Unsportlichkeit zu verlassen.
Wendy zieht Shorts und Hemdchen aus und sagt: »Meine Großmutter hat mit dreiundsiebzig Jahren den Pilotenschein gemacht. Opa hatte anfangs ziemliche Angst, aber er hat sich dran gewöhnt. Am Ende war er unglaublich stolz auf sie.«
»Na siehst du«, sagt Cate.
»Und ich habe von einer Neuseeländerin gehört, die mit über achtzig noch das Kajakfahren gelernt hat.«
»Nicht zu vergessen die Neunzigjährige, die vor Kurzem Skydiving als Hobby entdeckt hat«, fügt Laura hinzu, die gerade hereinstürmt. Sie wirft ihre Tasche auf die Bank. »Worum geht es eigentlich?«
Karen, die eindeutig fröhlicher aussieht als gestern, informiert sie: »Die Hemmung, in einem so greisen Alter wie vierzig noch schwimmen zu lernen.«
Laura wirft mir einen Blick zu – es ist nicht schwer, zu erraten, wer hier die Hemmungen hat – und schenkt Karen ihr Delfinlächeln. »Dann haben wir ja noch einiges zu tun.«
Wir werden durch das fröhlichste Grinsen belohnt, das wir bisher von Karen gesehen haben. Und mich beschleicht das grässliche Gefühl, dass Laura die Gelegenheit beim Schopf ergreifen wird, Karen dadurch zu motivieren, dass mein Widerstand gebrochen wird.
Entweder das, oder mein besonderes Mitgefühl für Karens Verlust wird schamlos ausgenutzt. Ich weiß nicht, ob Karen das schon merkt, weil sie Laura noch nicht so gut kennt wie ich, aber sie wird es schon noch merken.
»Schwimmen ist nämlich ein wunderbarer Sport«, sagt Laura laut auf dem Weg zum Becken. »Schont die Gelenke, trainiert alle Muskeln im Körper, steigert die Lungenkapazität.«
Ich ignoriere sie entschlossen, aber ich bemerke, wie enthusiastisch Karen nickt. Sie wirkt plötzlich aufrechter, man erahnt ihre alte, energische Haltung, als sie sagt: »Es lohnt sich auf jeden Fall, gut schwimmen zu lernen. Du hattest in England wahrscheinlich nur wenig Gelegenheit dazu, Charlie.«
Ich lege mein Handtuch ab und setze mich an den Beckenrand. »Das stimmt«, gebe ich zu und greife nach meiner Milchflasche. »In England können viele Kinder überhaupt nicht schwimmen.«
Sean kommt auf uns zu, und wir lassen uns ins Wasser gleiten. Die Unterhaltung verstummt, und unsere anstrengende Session beginnt: eine Stunde Wassergymnastik und Wassertreten mit hochgereckten Armen.
Meine Glieder sind schon Minuten später taub. Ein schneller Blick auf die anderen verrät mir, dass Karen und Wendy die Übungen mühelos mitmachen, besonders Wendy, die mit einer Anmut durchs Wasser tanzt und neben der ich mir vorkomme wie ein Nilpferdbaby, das zum ersten Mal in den Nil geworfen wurde. Ich schnaube und pruste so laut, dass ich nicht einmal Seans gebrüllte Anweisungen verstehe.
In der Privatsphäre der Umkleidekabine setzt sich Karen nach der stunde neben mich. »Geht es darum, dass du dir im Wasser nichts zutraust, Charlie?«
»Ich kann doch ganz gut brustschwimmen«, sage ich trotzig, aber natürlich gilt das nur im Vergleich zu meinen sonstigen Schwimmkünsten, die bei den Leistungsschwimmern zwei Bahnen weiter sicherlich für Heiterkeitsstürme sorgen.
»Aber stell dir vor, wie toll es sein muss, sich im Wasser stark und schnell zu fühlen. Wäre das nicht ein lohnendes Ziel? Ich würde gerne besser schwimmen lernen«, fügt sie hinzu. »Ich möchte eine gute Schwimmerin werden.«
Wenn Karen spricht, hören alle zu, analysieren ihre Worte und überlegen sich positive, bestärkende Antworten.
»Du bist schon ziemlich gut«, sage ich zu ihr. »Tausendmal besser als Laura und ich.«
»Aber nicht gut genug«, sagt sie, und wir wissen genau, woran sie denkt.
»Alles in allem hält sie sich wirklich gut«, sagt Laura zu uns. Es ist Donnerstag, ihr freier Tag, und sie sitzt mit Wendy und mir im Marc’s, unserem Lieblingscafé in der Stadt. Wir trinken Kaffee, essen Granatapfel-Käsekuchen und holen damit alle Kalorien wieder an Bord, die wir heute Morgen im Pool verbrannt haben.
»Sie hält sich wirklich gut«, stimmt Wendy zu. Sie ist tipptopp gestylt, jedes Haar sitzt an seinem Platz.
Es ist mir ein Rätsel, wie Wendy es schafft, nach einer Stunde Schnaufen und Keuchen im Wasser schon wieder so gepflegt auszusehen. Verglichen mit ihr wirken Laura und ich mit unserem feuchten, wirren Haar und den schnell übergeworfenen Klamotten wie zwei Megären. Lauras Hemd ist so nachlässig geknöpft und schief, dass eine sommersprossige Schulter herauslugt. Und ich sehe – da mir zwischen der Wasseraerobic und dem Sprint nach Hause, um die Jungs zum Schulbus zu bringen, keine Zeit für Schönheitspflege blieb – zweifellos aus wie eine abgehalfterte Schabracke, was schon meine alte Schuldirektorin gerne zu mir sagte.
Ich nehme noch einen Schluck Kaffee und stochere in den Überresten meines Käsekuchens herum. »Ich würde sagen, das ist die Untertreibung des Jahres. Karen ist schon viel weiter als ich so kurz nach dem Schock, den ich durchlebt habe. Und ich musste nicht mit dem Tod eines geliebten Menschen klarkommen, sondern wurde nur verlassen.«
Ich erhalte ein mitfühlendes Lächeln, und Wendy klopft mir auf die Schulter. »Es ist viel besser geworden, seit wir regelmäßig zum Pool gehen«, sagt sie. »Jetzt hat sie ein Ziel, und das braucht schließlich jeder.«
»Zum Beispiel schwimmen zu lernen«, fügt Laura hinzu.
Wie sind wir jetzt wieder bei diesem Thema gelandet?
»Ich finde wirklich, wir sollten es uns überlegen«, fährt Laura fort und isst genüsslich ihren Käsekuchen. »Cate hat vollkommen recht. Es wäre ein viel besseres Fitnesstraining.«
Misstrauisch schaue ich sie an. Ich vermute allmählich, dass diese immer stärker werdende Begeisterung für Sport etwas maskieren soll. Vielleicht benutzt sie das Schwimmen, um sich von einem Problem in ihrem eigenen Leben abzulenken. Mir fällt wieder ein, dass ich bei Adams Beerdigung dachte, Sam habe sich verändert, obwohl ich nicht sagen konnte, inwiefern. Er wirkte schmaler, aber das war es nicht. Er wirkte irgendwie grundsätzlich anders als vorher. Laura bedeutet mir unglaublich viel, wir sind seit Jahren befreundet. Sie würde mir doch sicher sagen, wenn Sam krank wäre? Vielleicht denkt sie aber, dass wir alle in letzter Zeit zu viel durchgemacht haben, und möchte uns nicht noch die Probleme mit ihrem Ehemann aufbürden. Sie ist stark genug für ein solches Verhalten und würde jederzeit eine Last auf ihre Schultern nehmen, um andere zu beschützen. Ich nehme mir vor, sie in nächster Zeit genau im Auge zu behalten.
Heute Morgen wirkt sie allerdings strahlend und fröhlich, voller Energie und offenbar entschlossen, uns alle zu Schwimmerinnen zu machen. In meinem Magen breitet sich Panik aus. Ich sollte schnell etwas sagen.
»Aber wir machen doch jetzt fünfmal die Woche Wasseraerobic, da werden wir doch superfit. Wieso sollten wir dazu noch schwimmen?«
»Nicht zusätzlich. Stattdessen.«
»Na gut. Stattdessen.« Ich lecke meinen Löffel ab. Ich kann nicht leugnen, das der Gedanke, gut schwimmen zu können, etwas sehr Reizvolles an sich hat, aber ich habe Angst, mich ständig lächerlich zu machen, immer die Schlechteste zu sein und als Letzte ins Ziel zu keuchen, ein ewig unkoordinierter Trampel. Außerdem habe ich gerade erst die Wasseraerobic einigermaßen gemeistert und brauche nun wirklich keine neue Herausforderung.
»Denk daran, wie begeistert Karen von der Idee war«, sagt Laura listig. Sie ist offenbar entschlossen, jede meiner Achillesfersen in Angriff zu nehmen.
Ich zögere für den Bruchteil einer Sekunde. Großer Fehler. »Karen braucht uns«, sagt Laura entschlossen und legt ihren Löffel weg. Dies ist der Todesstoß, und das weiß sie. Ich habe verloren.
Als wir aus der Umkleide kommen, erwartet uns Sean bereits energiegeladen und ungeduldig, die Hände in die Hüften gestemmt, eine Stoppuhr um den Hals. Ich sehe ein sadistisches Funkeln in seinen Augen, als wir vier uns mit Schwimmkappe, Schwimmbrille und Schwimmflossen ausgerüstet nähern.
Laura, Karen und ich sind fest in Handtücher gewickelt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich jemals so viel Selbstbewusstsein haben werde wie Wendy, die nur im Badeanzug die Strecke vom Umkleideraum zum Becken zurücklegt. Und das vor den unbekannten Sportlern in den abgetrennten Trainingsbahnen. Wir sehen nie ihre Gesichter, sondern nur ihre muskulösen Schultern und Rücken. Gelegentlich blitzt ein Fuß aus der weißen Gischt hinter ihnen hervor.
Sean macht einen Schritt auf uns zu. »Erste Regel: Zieht eure Flossen erst am Beckenrand an. Wenn ihr wie eine Horde Pinguine herumwatschelt, knallt ihr noch aufs Gesicht.«
Wir blicken peinlich berührt auf unsere riesigen, orangen Füße.
»Zweite Regel: Was soll denn das mit den Handtüchern? Die werden doch nur nass hier. Lasst sie im Umkleideraum. Gebt sie her.«
Laura, Karen und ich übergeben ihm widerstrebend unsere Handtücher und stehen unsicher vor Sean. Ich würde am liebsten sofort ins Wasser springen und meinen aufgedunsenen Körper verstecken. Laura und Karen sind ebenfalls wohl gerundet, aber wenigstens gebräunt. Ich fühle mich wie ein Engerling, der zum ersten Mal in seinem Leben unter einem Stein hervorkriecht und in die Sonne blinzelt. Bleich, verwundbar und prall.
»Rein mit euch, Ladys.«
Das muss er uns nicht zweimal sagen. Wir springen rein, ziehen die Brille vor die Augen und die Kappen über die Ohren. Wir starren uns an, fühlen uns merkwürdig und fremd. Wir sehen aus wie Käfer.
Sean gibt uns je ein Kickboard. »Zwei Bahnen Beinbewegungen«, sagt er. »Das wird euch aufwärmen.«
Wir brechen auf.
Zu meinem Erstaunen liege ich vorne. Endlich haben meine kräftigen Schenkel ihre wahre Berufung entdeckt. Sie können strampeln. Und zwar kräftig. Ich strenge mich an, vergrößere den Abstand zwischen mir und den anderen und erreiche atemlos, mit brennenden Beinen, aber triumphierend das seichte Ende.
Sean hält ein weiteres Kickboard mit der Hand hoch. »Das sollt ihr jetzt machen«, sagt er, macht Kraulbewegungen und reicht das Board von Hand zu Hand. »Gesicht nach unten. Atmet zur Seite hin. Los geht’s.«
Mein kurzer Moment des Triumphs ist vorbei. Ich plansche, rolle hin und her, verliere das Kickboard und jage ihm durch das gesamte Becken nach. Die einstündige Session ist pure Qual. Meine Arme und Schultern sind überhaupt nicht zu gebrauchen, und ich fühle mich, als hätte ich mich die ganze Zeit auf der Stelle abgemüht. Laura kann es nicht viel besser als ich, aber sie bleibt sich treu und zeigt ihren stahlharten Kern. Wendy und Karen sind wirklich gut, was mir nicht gerade hilft. Warum suche ich mir immer so fähige, resolute Freundinnen aus? Vielleicht, flüstert die Stimme der Paranoia in meinem Kopf, suchen sie ja mich aus. Neben einem pummeligen, unkoordinierten, blutarmen Kumpel strahlen die eigenen Talente und Eigenschaften doch gleich noch mal so hell.
Ich versuche, im seichten Wasser wieder zu Atem zu kommen, und betrachte meine Freundinnen argwöhnisch. Ob ich mich einfach davonschleichen sollte? Würde sicherlich niemand merken. Dann winkt mir Laura vom tiefen Ende her zu, und plötzlich schäme ich mich vor ihr und ihrer sturen Entschlossenheit weiterzuschwimmen. Ich greife nach meinem Kickboard und schwimme wieder los.
Im Umkleideraum vergleichen wir unsere Eindrücke. Ich erzähle von meinem Arm- und Schulterproblem.
»Mir geht es genau umgekehrt«, sagt Wendy. »Nutzlose Beine, aber starke Arme.«
Sie springt hoch und hält sich mit beiden Händen am oberen Türrahmen der Toilettentür fest. Dann legt sie zu unserem Erstaunen fünf fehlerlose Klimmzüge hin. Uns fehlen die Worte. Ich habe noch nie eine Frau einen Klimmzug machen sehen. Sie lässt sich zu Boden gleiten und lächelt über unser fassungsloses Erstaunen.
»Es liegt am Verhältnis von Kraft und Gewicht«, sagt sie. »Ich bin dünn und wiege wenig, habe aber starke Arme. Hätte als Mann geboren werden sollen. Ich werde es nie schaffen, so zu strampeln wie du, Charlie.«
Ich starre auf meine kräftigen Beine. Bisher hatte ich mir nicht vorstellen können, dass sie mir irgendwann nützlich sein würden. »Alec nannte sie immer Krautstampfer«, sage ich. »Ich tat immer so, als mache mir das nichts aus, aber ich habe es gehasst. Emma hat lange, schlanke Beine.«