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Keine Seele geht verloren. Die Frage nach dem Warum beschäftigt Hinterbliebene, die einen geliebten Menschen durch Suizid verloren haben, vermutlich am meisten. Schmerz und Schock sitzen tief. Vieles bleibt ungeklärt, da ein Abschiednehmen nicht möglich war. Steffany Barton kann mit Seelen, die ihren Tod selbst gewählt haben, kommunizieren. Viele von ihnen wenden sich an das Medium, um ihre Partner, Eltern oder Freunde zu trösten, ihren Übergang ins Jenseits zu erklären und ihnen Liebe zu schicken. Ein kraftvolles Buch, das den Angehörigen Trost spendet und Hilfe bietet, um einen plötzlichen Freitod besser zu bewältigen. Es verdeutlicht, dass der Tod nicht das Ende ist, sondern die Seele ein neues, friedvolles Zuhause findet.
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Seitenzahl: 219
Steffany Barton
Das Jenseits ist kein dunkler Ort
Der Weg der Seelenach dem Suizid
Heilender Trost für die Hinterbliebenen
Aus dem Amerikanischenvon Elisabeth Liebl
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www.nymphenburger-verlag.de
© für die Originalausgabe und das eBook:
2016 nymphenburger in der
F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München.
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel
Satz und eBook-Produktion:
Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
www.Buch-Werkstatt.de
ISBN 978-3-485-06136-0
Inhalt
Vorwort
Einleitung: Der Tag, an dem wir Julie verloren
1 Das Ende ist der Anfang
2 Wach und lebendig
3 Alles schon gesehen, alles schon erlebt
4 In der anderen Welt
5 Mit neuen Augen
6 Vom Dunkel ins Licht
7 Weshalb tut jemand so etwas?
8 Ohne Fehl und Tadel
9 Vergeben, um nicht zu vergessen
10 Schwimmende Schifflein und Treibholz
11 Die Brücke über den Abgrund
12 Nach dem Regen
Für meinen Mann David:
Du lehrtest mich, den leisen, sanften Stimmen zu trauen und der Stille hinter den Worten zu lauschen.
Ich liebe dich.
Vorwort
Ich bin Mutter, diplomierte Krankenschwester und Ehefrau. Ich halte Vorträge. Ich bin eine Tochter, die ihre Mutter verloren hat, und eine trauernde Freundin. Ich bin ein Mensch, der nicht viel anders ist als die Menschen, die diese Zeilen lesen. Ein Mensch, der versucht, das Beste aus dem zu machen, was er hat.
In meinem Fall ist das ein tiefes Mitempfinden mit allen, die einen Menschen verloren haben. Ich kann sehr gut nachvollziehen, welche emotionalen Auswirkungen der Tod eines Menschen auf uns haben kann. Es ist mein tief empfundener Wunsch, den unausgesprochenen Emotionen Ausdruck zu verleihen, die jene quälen können, die auf tragische Weise eine nahestehende Person durch Selbstmord verloren haben.
Über mein Diplom und meine Collegeausbildung hinaus bin ich außerdem eine spirituell Suchende und Lehrende. Ich weiß, dass wir mehr sind als nur eine Anhäufung von Atomen und Molekülen. Wir sind fließende Energie, Licht, das sich frei ausdrückt. Da Energie nicht zerstört, sondern nur umgewandelt werden kann, bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass beim körperlichen Tod die Energie, die im Körper gebunden ist, einfach nur umgewandelt wird. Sie geht nicht verloren.
Menschen, die sich das Leben genommen haben, haben einen Geist, Energie, die sich immer noch irgendwo in irgendeiner Form ausdrückt. Und auch wenn ich diese Energie spüren kann, wie ein Weinverkoster all die subtilen Geschmacksnoten eines edlen Weins schmecken kann, so schreibe ich dieses Buch doch in dem Wunsch, damit die Lebenden zu erreichen, oder richtiger, all jene, die mit dem Schmerz und dem nicht enden wollenden Kummer nach einem Selbstmord weiterleben, hadern und kämpfen.
Ich glaube nicht, dass Selbstmord ein unvermeidliches, ein über einen Menschen quasi verhängtes Schicksal ist. Noch glaube ich, dass wir nichts tun können, wenn ein Mensch Selbstmordabsichten äußert. Ich bin vielmehr der Auffassung, dass wir unser Schicksal selbst bestimmen und seinen Lauf ändern können. Selbst wenn wir einen Menschen durch Selbstmord verloren haben, oder vielleicht gerade dann, können wir, wenn wir es wirklich wollen und dafür offen sind, wieder zu einer positiven Haltung dem Leben gegenüber finden, unser verwundetes Herz auf liebevolle Weise heilen und Frieden erfahren.
Selbstmord ist ein Akt der Gewalt, der auch die Hinterbliebenen trifft. Wir schieben die Beschäftigung mit dem Thema Tod gern beiseite, weil es uns Unbehagen bereitet. Über einen Selbstmord zu sprechen ist mehr oder weniger tabu. Doch was die Hinterbliebenen im Falle eines Selbstmords brauchen, ist unsere Akzeptanz, unsere Bereitschaft zuzuhören und unser Verständnis. Nur so können wir ein Klima schaffen, in dem sich Selbstmorde künftig wirksam verhindern lassen.
Selbstmord ist zu einer verschwiegenen Seuche geworden, zu einem Schandfleck für unsere Gesellschaft. In Deutschland nehmen sich Jahr für Jahr 10 000 Menschen das Leben. Das heißt, es sterben mehr Menschen durch Suizid als durch Verkehrsunfälle. Diese Zahl ist hoch – viel zu hoch. Irgendetwas stimmt hier nicht. Trotz aller Lippenbekenntnisse zu mehr Selbstmordprävention, trotz Therapieangeboten und Notfallintervention steigen die Selbstmordraten. Lässt sich Selbstmord überhaupt wirksam verhindern?
Ja.
Und nein.
Selbstmordprävention beginnt bei der Geburt. Damit, dass wir alle Kinder als Geschenk auf unserem Planeten begrüßen, als willkommene Gäste in unserem Leben. Üben wir uns in Rücksicht auf unsere Mutter Erde. Üben wir uns in Geduld mit uns und unseren Mitmenschen. Lehren wir unsere Kinder, dass das Leben eine Reise ist, ein gewaltiges Vorhaben, eine heroische Aufgabe, die wir nur bewältigen können, wenn wir einen Schritt nach dem anderen machen. Lassen Sie uns die Stille schätzen, weil Stille kostbar ist. Den Rhythmus der Tage und Jahreszeiten, denn in den Zyklen der Natur liegt die Weisheit der ewig währenden Wandlung. Nehmen wir unsere Zerbrechlichkeit ebenso an wie unsere Stärke, unsere Triumphe ebenso wie unsere Verletzlichkeit. Zeigen wir unseren Kindern, dass Probleme zu haben etwas ganz Gewöhnliches ist, sie zu überwinden aber außergewöhnlich. Lachen wir, wenn uns danach ist, und weinen wir, um loszulassen. Lehren wir sie diese Dinge, weil wir so leben möchten, wie unsere innere Wahrheit es verlangt. Wenn wir uns selbst annehmen, wenn wir dieses Leben mit der Bereitschaft antreten, allen Stürmen zu trotzen, wenn wir durch das Dunkel auf den neuen Morgen schauen, haben wir auch die Macht, den tödlichen Trend, der immer mehr Menschen Hand an sich legen lässt, umzukehren.
Dennoch glaube ich, dass jeder, der mit dem Tod konfrontiert wird, dadurch etwas über das Leben lernen kann. Der Tod gemahnt uns, dass nichts im Leben sicher ist. Der Tod gibt uns Gelegenheit, Bestandsaufnahme in unserem Leben zu machen, uns aufrichtig Rechenschaft darüber abzulegen, an welchem Punkt unserer Reise wir stehen, unsere Ziele neu zu bestimmen und unsere Prioritäten neu zu setzen, damit wir gemäß unserer inneren Wahrheit leben können.
Wer einen Menschen durch Selbstmord verloren hat, muss sehr viel Mut und Glauben aufbringen, während er die Tatsache anzunehmen lernt, dass er nicht schuld ist an diesem Selbstmord, nicht verantwortlich für den Tod eines anderen. Viele Hinterbliebene finden durch den Tod eines lieben Menschen zu einer spirituelleren Einstellung gegenüber dem Leben und zu der Bereitschaft, den Blick hinter die Welt der harten Fakten auf das Reich der Empfindungen, der Seele und des Geistes zu richten.
Gibt es Fälle, in denen Selbstmord trotzdem nicht zu verhindern ist? Ja, immer dann, wenn jemand seine Absicht bereits wahr gemacht hat. Es ist mir sehr wichtig, eines vollkommen klarzumachen: Nichts und niemand hätte einen Menschen, der Hand an sich gelegt hat, aufhalten können. Sonst würde er noch leben.
Ein ausgeführter Selbstmord ist ein Selbstmord, der nicht zu verhindern war. Wenn Sie das akzeptieren, werden alle Schuldgefühle von Ihnen abfallen, und die Fesseln der Scham, die die Hinterbliebenen einengen, werden sich lösen.
Verspüren Selbstmörder, wenn sie auf die andere Seite gegangen sind, so etwas wie Enttäuschung? Nein, das ist nicht möglich. Doch empfinden diese Seelen in der Rückschau so etwas wie Unzufriedenheit mit dem Leben, das sie verlassen haben, und hungern, begierig nach mehr, nach einer zweiten Chance.
Dennoch glaube ich – und werde dies im Laufe dieses Buchs zeigen –, dass in diesen Seelen ein Heilungsprozess einsetzen kann und sie Frieden finden werden, wenn die Hinterbliebenen sie als das annehmen, was sie in Wahrheit sind.
Es wäre nun aber falsch, sich jene, die durch Selbstmord auf die andere Seite gegangen sind, als engelsgleiche Wesen vorzustellen. Genauso sinnlos wäre es aber, sie negativ zu sehen. In den folgenden Kapiteln wird uns auch die Erkenntnis beschäftigen, dass es immer Gut und Böse, Liebe und Furcht, Siege und Niederlagen, Höhen und Tiefen gibt, durch die wir alle gehen müssen, dass kein Leben »perfekt« ist und wir ständig dazulernen, wachsen und uns wandeln müssen. Wir dürfen getrost Gefühle der Schuld, der Scham, der Todesangst ablegen und eine Haltung einnehmen, die uns freudvoll zurück ins Leben bringt.
Mein Ziel ist es, allen Leidtragenden und Trauernden zu helfen, ihren Schmerz zu artikulieren und Wege der Heilung zu erkunden, die auf dem Verständnis der Gesetze des Daseins beruhen. Das bedeutet, dass wir unsere Gefühle annehmen, dass wir uns aktiv und selbstverantwortlich um unser spirituelles Wachstum kümmern, dass wir lernen, achtsam zu sein und liebevoll mit uns selbst umzugehen.
Selbstmord ist kein unausweichliches Schicksal. Aber hat sich ein Mensch das Leben genommen, gibt es für seine Angehörigen und Freunde dennoch Wege, wieder Hoffnung zu fassen und Freude im Leben zu erfahren.
Dieses Buch zeigt den Weg zu solch einem neuen Leben auf. Der Weg dorthin mag nicht immer eben, die Wasser, die es zu überqueren gilt, mögen nicht immer ungetrübt sein. Die Antworten, nach denen wir suchen, werden uns nicht immer gebrauchsfertig auf dem Silbertablett präsentiert. Doch diese Reise ist die Strapazen wert. Das Leben ist ein Geschenk – ein starker und doch zerbrechlicher Schatz. Wir müssen das Leben in jeder Form, alles und jeden auf dieser Welt, mit zärtlicher Liebe und größter Behutsamkeit behandeln.
Wir werden uns gemeinsam der Finsternis stellen und gemeinsam das Licht finden.
Wenn Sie sich mit Selbstmordabsichten tragen oder mit Depressionen kämpfen, mag die Aussicht auf ein ewiges Paradies etwas Verlockendes haben. Die Vorstellung von Frieden und tiefer innerer Ruhe mag verführerisch klingen. Wenn der Schmerz zu groß, die Trauer zu tief ist, wenn es so aussieht, als wäre der einzige Weg, diese schmerzlichen Empfindungen abzustellen, allem ein Ende zu machen, dann mag der Tod als akzeptable Lösung, vielleicht sogar als der einzige Weg erscheinen.
Doch dies ist keine Selbstmordfibel, sondern ein Buch darüber, wie wir unser Leben leben können.
Wenn Sie erwägen, Selbstmord zu begehen, denken Sie doch einmal über eine Alternative nach: Kuchen.
Denn sehen Sie: Wir Menschen wünschen uns bei all unseren Schwächen, bei all der Hektik, die wir entfalten, nur eines: das Gefühl innerer Zufriedenheit. Wir möchten das Gefühl haben, dass wir etwas geleistet haben. Wir möchten stolz sein auf uns selbst. Wir wollen von uns sagen können, dass wir – im Großen oder im Kleinen – für einen anderen Menschen, ein anderes Wesen, wichtig waren und in dessen Leben etwas Gutes bewirkt haben.
Nehmen wir den Kuchen als Beispiel. Wenn Sie ein paar Cents für das tiefe Zen der Kuchenerfahrung lockermachen können, spendieren Sie sich dazu noch etwas Zuckerguss oder Glasur, ein Häubchen Schlagsahne, einen Löffel Kirschen oder frische Erdbeeren. Oder Sie probieren es gleich mit einem Kuchen, der gerade frisch aus dem Ofen kommt.
Aber wenn Sie den Kuchen nun zu früh aus dem Rohr holen, wird er spintig. Das ist vielleicht gut genug, wenn Sie Ihre Zuckerreserven schnell auffüllen müssen, doch Kuchen fürs Kuchen-Zen sieht anders aus. Dann sind Sie enttäuscht und unzufrieden mit sich selbst.
Lassen Sie sich aber etwas Zeit und malen sich währenddessen aus, was Sie da nachher Feines aus dem Backrohr holen werden … lecker! Wenn alle Zutaten sich zu einer überwältigenden Geschmackssymphonie verbunden haben, welche Gaumenfreuden erwarten Sie da. Das himmlische Aroma, der herrliche Anblick, der luftige Schmelz des weichen, warmen Backwerks schenkt der Seele Frieden und entschädigt für das Warten. Die tiefe Zufriedenheit, die uns ein frischer, selbst gebackener Kuchen schenkt, ist erhaben, ja geradezu göttlich!
Unser Leben kann manchmal ziemlich in Unordnung geraten, und wie bei den schmutzigen Teigschüsseln in unserer Küche heißt es dann: sauber machen.
Unser Leben kann langweilig, beschwerlich und hart werden. Doch anders als für Kuchen gibt es für die harten Zeiten im Leben keine erprobten Rezepte. Keine Gebrauchsanweisung, kein Rezept, das man für eine spätere Verwendung aufbewahren könnte.
Trotzdem haben Sie alles, was Sie für solche Zeiten brauchen, schon zur Hand oder zumindest im Herzen. Vielleicht müssen Sie zuerst ein bisschen rumprobieren, eine kleine Pause einlegen. Vielleicht möchten Sie zwischendurch den ganzen Krempel einfach hinschmeißen … doch die Reise ist lohnend. Und unendlich köstlich ist, was am Ziel auf uns wartet.
Wenn Sie an Selbstmord denken, bedenken Sie bitte eines:
Sie können etwas bewirken. Sie können dafür sorgen, dass Sie sich wieder besser fühlen. Sie können für sich etwas zum Besseren verändern. Vielleicht sehen Sie sich nicht so, aber Sie sind intelligent. Möglicherweise fühlen Sie sich nicht so, aber Sie sind stark. Unter Umständen glauben Sie es nicht, aber Sie sind nicht hier, um zu leiden, verletzt zu werden und nur zu bekommen, was Sie nicht haben wollen.
Sie sind hier, um wirkliche Befriedigung zu erfahren. Sie sind hier, um Ihre Aufgabe zu finden. Sie sind um des Lebens selbst willen hierhergekommen!
Wenn Sie sich mit Selbstmordgedanken tragen: Bitte suchen Sie sich professionelle Hilfe. Finden Sie jemanden, mit dem Sie arbeiten können. In allen akuten Krisen wenden Sie sich bitte an den psychiatrischen Bereitschaftsdienst (Deutschland: bundesweite Telefonnummer 11 61 17; Österreich 01-313 30) oder an die Telefonseelsorge (Deutschland: Tel. 0800-111 01 11 oder 0800-111 02 22; Österreich: Tel. 142; Schweiz: Tel. 143). Holen Sie sich Hilfe, bitten Sie um Unterstützung, reden Sie.
Wenn Sie sich mit Selbstmordgedanken tragen: Bitte bedenken Sie, dass der Tod Ihnen im Augenblick als sinnvoller Ausweg erscheinen mag. Doch der Tod wird Ihrer Seele nicht den Frieden schenken, den sie eigentlich sucht. Sie sind nicht hierhergekommen, um sich in ein Nichtsein hinüberzuquälen, um zu verkümmern und zu sterben. Sie sind hier, um zu leben und wahre Zufriedenheit zu erfahren.
Dies ist ein Buch über das Leben und dieses Buch ist für SIE.
EINLEITUNGDer Tag, an dem wir Julie verloren
Ich konnte nicht so lange warten. Ich musste sie sehen. Jetzt. Und wenn hundertmal die stille, Heilige Nacht vor der Tür stand und wir danach aus der Stadt rauswollten, und wenn ich hundertmal für drei Kinder Weihnachtsmann spielen, noch einen Vortrag halten und den nächsten Newsletter verschicken musste und auch der Hausputz in unseren weihnachtlich geschmückten vier Wänden noch anstand. Ich ließ diesen ganzen vorweihnachtlichen Trubel Trubel sein und eilte zu ihr nach Hause.
Ich konnte nicht warten. Ich wollte sie sehen.
Dass Julie und ich einander begegnet waren, war reiner Zufall gewesen, einer von den Zufällen, hinter denen sich eine höhere Absicht verbirgt. Obwohl ich sie schon circa zehn Jahre vom Hörensagen kannte, waren wir uns bis zu jenem kalten Nachmittag im November, als sie an meiner Tür läutete, noch nie von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden. Dass sie es war, wusste ich nur, weil ich, kurz bevor sie an der Tür läutete, eine SMS von unserer Babysitterin bekommen hatte: »Schaffe es heute nicht. Schicke Ersatz: Julie. Sie werden sie mögen. LG.«
Ich machte die Tür auf und ließ erst einmal den Anblick des unerwarteten Gastes auf mich wirken. Sie schien jünger als ich zu sein, hatte ein rundes Gesicht und rote Wangen. Die Kieferpartie wirkte ein wenig markant, wozu wohl auch der gerade Pagenschnitt beitrug, der irgendwo zwischen tiefrot und orange changierte. Die Muster der bunten Wollweste, die sie trug, erinnerten mich an den amerikanischen Südwesten. Was mir auffiel, war, dass sie, die gar keine Kinder hatte, ihren weißen Rollkragenpullover straff in ihre Bundfaltenhose gestopft hatte, zu welcher die kniehohen schwarzen Stiefel im Military-Stil nicht so recht passen wollten. Sie sah mich mit funkelnden Augen und lebhaftem Lächeln an und sagte mit sonorer Altstimme: »Hallo. Ich bin Julie. Ich werde heute auf Ihre Kinder aufpassen.«
Ich winkte sie herein und fragte mich insgeheim, was das wohl geben würde. Doch alle Bedenken waren verflogen, sobald ich sah, dass meine Kinder, höchsterfreut über diesen neuen Besucher, dem sie all ihre Geschichten erzählen konnten, munter mit Julie zu plappern anfingen, als wäre sie eine alte Freundin. Sie lachte, hörte ihnen zu und machte einen ziemlich entspannten Eindruck, und so sah auch ich dem Ganzen gelassen entgegen. Kein Grund zur Sorge. Mit Julie schien so weit alles in Ordnung zu sein.
Doch mit Julie war nicht alles in Ordnung. Sie war todkrank und starb eines langsamen, qualvollen Todes. Kein medizinischer Test und kein Laborwert würden auf eine Krankheit hinweisen, doch sie fühlte sich unwohl, war verzweifelt und depressiv. Sie hatte genug von einem Leben, das aus einer langen Reihe verpasster Gelegenheiten und gescheiterter Beziehungen zu bestehen schien. Julie wollte aus alldem nur noch heraus. Sie hatte schon zu lange und viel zu viel gelitten. Doch noch harrte sie aus.
Drei Nachmittage hintereinander erschien Julie auf unserer Veranda als außerordentlicher »Gast-Babysitter«. In den Stunden, die meine Kinder und ich mit Julie verbrachten, haben wir sie lieben gelernt. Mit ihrer Tierliebe gewann sie das Herz meines Sohnes: Furchtlos fischte sie sich aus unserem Terrarium fünf Rotbauchunken und ließ sie frei auf ihren Armen, auf Hals, Gesicht und Brust herumspazieren. Sie bastelte ein Teeservice aus Knete, fertigte eine Brieftasche aus Isolierband, las den Kindern aus König Artus vor und lernte, wie man eine Barbiepuppe richtig anzieht. Sie malte sich und den Kindern die Fingernägel mit Permanentmarker an und alle drei klebten sich ein paar Abziehtattoos auf. Julie zeichnete gern. Von ihrem Bild einer singenden und tanzenden Katze war meine älteste Tochter ganz hingerissen.
Als mein Dienst für diese Woche vorüber war, waren wir uns alle einig, dass Julies Gastspiel als Babysitter ein voller Erfolg gewesen war, und beschlossen, dass wir sie künftig immer holen würden, wenn wir jemand brauchten.
Ich gab Julie einen Scheck mit ihrem Lohn. Sie schaute mich an – als wollte sie tief in mich hineinsehen – und sagte dann schwer atmend: »Steffany, werden Sie mir helfen?«
»Natürlich werde ich Ihnen helfen. Das kann ich schließlich am besten«, meinte ich munter.
Mit dem, was nun kam, hätte ich jedoch niemals gerechnet.
»Ich weiß nicht, ob ich noch länger hier sein möchte, wissen Sie?«, sagte sie und wippte dabei mit gesenktem Blick auf den Zehenspitzen.
»Ja, das versteh ich. Kansas kann manchmal ziemlich muffig sein. Wollen Sie wegziehen?«, versuchte ich, sie aus der Reserve zu locken. Da fiel mir auf, dass sie sehr, sehr still war und nun völlig regungslos dastand.
»Ich meine, ich weiß nicht, ob ich noch länger hier sein will. Hier. Dieser Schmerz. Er geht manchmal wie ein Messer durch mich hindurch. Ich weiß einfach nicht …« Ihre Stimme verebbte.
Ruhig und möglichst behutsam fasste ich die Gedanken, die mir in dem Moment durch den Kopf gingen, in Worte: »Kann ich ein Gebet für Sie sprechen? Vielleicht könnten wir diese Sache auch mal von der spirituellen Seite ansehen?«
»Bitte helfen Sie mir. Ich weiß einfach nicht mehr …« Wieder sah sie mir schweigend in die Augen. Auf ihrem Gesicht zeichnete sich eine Mischung aus Angst, Unsicherheit, Erschöpfung und Schmerz ab. »Ich muss jetzt gehen. Sonst drehen die Hunde durch, wenn sie so lange nicht rauskönnen. Vielen Dank.«
Damit verstaute sie den Scheck in ihrer Tasche, drehte sich um und marschierte entschlossen in ihren kniehohen schwarzen Stiefeln zu ihrem Van.
Etwas mehr als zwei Wochen nach diesem Gespräch erfuhr ich, dass sie auf der Intensivstation lag und von da in die Psychiatrie gebracht werden sollte. Sie hatte im Haus ihrer Eltern einen Selbstmordversuch unternommen, war aber noch rechtzeitig entdeckt und sofort in die Notaufnahme gebracht worden. Außer einer tiefen Schnittwunde am Hals hatte sie keine bleibenden Verletzungen davongetragen. Der schneidende, messerartige Schmerz, von dem sie mir erzählt hatte, hatte sich also materialisiert. Sie blieb kurz in der Psychiatrie und wurde dann nach Hause zu ihrer Familie entlassen.
Das war an jenem kalten Dezemberabend, an dem ich sie unbedingt sehen musste.
Als sie mir die Tür öffnete, musterte ich sie schnell. Sie trug einen cremefarbenen Hoodie, eine dunkelgrüne Jogginghose und knallweiße Sportsocken. Ihr Blick war leer, und sie hatte Ringe unter den Augen. Kein Leuchten, kein Funkeln, nicht einmal mehr ein schwacher Schein lag in ihrem Blick, der durch mich hindurchging. Sie lächelte freundlich, aber wie jemand, der völlig erloschen ist. Sie schien mir gebrochen, nur noch eine leere Hülle. Während ich draußen in der Kälte stand, betete ich, dass mein Besuch sie ein bisschen aus ihrer Erstarrung lösen möge.
Wir unterhielten uns über Gott und die Welt. Das Wetter, den Urlaub, Eierlikör, Katzen, Colorado, Schnee, ob Fäustlinge oder Fingerhandschuhe besser sind und welche Art Decken wir am liebsten hatten. Sie schien in einer anderen Welt zu sein, obwohl ich direkt neben ihr saß. Ich konnte sie berühren, aber allem Anschein nach nicht erreichen. Ich konnte sie sehen und trotzdem hatte ich das Gefühl, dass sie in Wirklichkeit nicht da war.
Schließlich fragte ich sie: »Julie, darf ich mich zu deinen Füßen setzen und dir etwas Liebe und Mitgefühl schicken?«
»Klar«, sagte sie, »das wäre schön.«
Ich platzierte mich auf den Dielen des Holzbodens, genau in dem Spalt zwischen Sofa und Couchtisch. Ich zog meine Jacke eng um mich und atmete tief ein. Dabei stellte ich mir vor, wie ein wunderbares Licht Julie und mich umgab. Dann blickte ich kurz zu ihr hinauf. Sie hatte die Augen geschlossen und wirkte ein wenig gelöster. Ich schloss ebenfalls die Augen und legte meine Hände um ihre Knöchel, um eine physische Verbindung herzustellen, eine einfache Berührung, eine freundliche Geste von Mensch zu Mensch. Ich wollte, dass sie wusste, dass mir etwas an ihr lag.
So saßen wir eine Weile still da, ich auf dem Fußboden, sie auf ihrem Sessel, als sie mich unvermittelt anschrie: »Lass mich gehen!«
Erschrocken sah ich zu ihr auf. Sie wirkte heiter, so, wie sie jetzt dasaß mit geschlossenen Augen, während ihre Lippen ein Lächeln andeuteten. Ich fragte mich, ob ich mir ihre Worte nur eingebildet hatte.
Ich schloss die Augen wieder, legte meine Hände auf ihre Knie und stellte mir vor, wie sie von noch mehr Licht und Liebe umgeben war. Diese friedvolle Stille wurde abermals durch einen lautstarken Ausruf unterbrochen: »Hör auf, mich therapieren zu wollen. Lass mich in Liebe gehen!«
Jetzt war ich mir sicher, dass ich mir das Ganze nicht nur eingebildet hatte. Ich riss die Augen auf und sah, dass Julie noch genauso dasaß wie gerade, nur dass jetzt ein Lächeln über ihr Gesicht glitt.
»Was hast du gerade gesagt?«, fragte ich leise flüsternd.
Sie hielt die Augen geschlossen, als sie mir antwortete: »Nichts. Ich sitze einfach nur da.«
»Oh, entschuldige«, sagte ich. Ich machte die Augen wieder zu, dann hörte ich die Worte: »Verurteile mich nicht. Liebe mich! Jetzt!«
Ich öffnete meine Augen und zog meine Hände weg. Da es mir auf dem Fußboden zu unbequem wurde, stand ich auf und setzte mich neben sie. Julie saß ruhig da. Die Spannung war ganz offensichtlich von ihr abgefallen.
»Julie, ich verurteile dich nicht. Ich verstehe nur nicht, was in dir vorgeht. Aber ich liebe dich«, sagte ich als Antwort auf ihre stillen Schreie.
Diesmal öffnete sie die Augen und sah mich an. Die Trauer kehrte wieder und das Lächeln auf ihrem Gesicht erlosch. »Ich weiß, dass du mich nicht verurteilst. Ich bin so froh, dass wir uns endlich begegnet sind. Ich bin nur ein bisschen müde jetzt.«
Das war für mich das Stichwort, dass sie allein sein wollte. Sie brachte mich zur Tür und bedankte sich für meinen Besuch.
»Ich möchte mich bald wieder mit dir unterhalten. Ist es dir recht, wenn ich dich wieder besuchen komme?«, fragte ich sie, während sie mir die Tür öffnete.
»Wir werden reden«, rief sie mir nach, während ich zu meinem Auto ging. »Wir werden reden.«
Mein Atem formte sich zu weißen Wölkchen und meine Hände zitterten, als ich ins Auto stieg. Ich ließ den Motor an, setzte langsam im Rückwärtsgang auf die Straße. Im Rückspiegel sah ich, wie die Dunkelheit Julie verschluckte. Ich schauderte, aber nicht vor Kälte.
Während der Heimfahrt war ich völlig durcheinander. Die Erfahrung mit Julie hatte meine Überzeugungen ins Wanken gebracht und ließ mich zweifeln an dem, was ich bisher zu wissen geglaubt hatte. Wenn es stimmte, was sie gesagt hatte, wenn ein Teil von ihr glaubte, dass lieben akzeptieren heißt und akzeptieren zulassen und wenn zulassen bedeutete, sie loszulassen, dann …
Ja, dann was? War Sterben die Antwort? Musste sie gehen? Gab es etwas, das sie rief?
Wenn meine Akzeptanz ehrlich und meine Liebe aufrichtig sein sollte, dann hieß das für mich, dass ich sie wirklich annehmen und aufrichtig lieben musste, was auch immer sie tun würde.
Stunden später ging in meinem Kopf immer noch alles drunter und drüber, und so schnappte ich mir zu mitternächtlicher Stunde meinen Mantel und trat hinaus ins Dunkel. Ich ging spazieren und wälzte meine Gedanken, vergaß darüber das Wetter und den Verkehr, der an mir vorbeirauschte, völlig. Ich verlor mich in dem Wirrwarr meiner Überzeugungen, die gerade unwiderruflich in sich zusammenfielen.
Ich hatte immer von mir gedacht, eine Heilerin, eine Helferin zu sein. Ich hatte geglaubt, Julie retten, ihr helfen zu können. Ich hatte immer geglaubt, dass leben in jedem Fall die bessere Alternative war, dass dazubleiben besser war, als sich davonzumachen. Diese Überzeugung war nun erschüttert. Ich konnte nicht mehr daran glauben. Keinen Tag länger. Ich war nicht mehr die, die ich gewesen war. Julie hatte eine derartige Sprengladung in meinem Herzen zum Explodieren gebracht, dass ich meine Überzeugungen auf eine neue Basis stellen musste.
Nach einiger Zeit kam ich wieder zu Hause an. Ich trat über die Schwelle und suchte mein Handy. Mit klopfendem Herzen und zitternden Fingern, aber ganz klar im Kopf und fest entschlossen schickte ich ihr die folgende SMS: »Ich werde dich lieben, was auch immer geschieht!«
Sie antwortete nicht darauf.
Drei Wochen später gab meine älteste Tochter bei uns zu Hause eine Party, und eine der ersten Einladungen ging an Julie. Sie reagierte nicht, und so hatte ich keine Ahnung, ob sie kommen würde oder nicht.
Die Party war gerade in vollem Gange, und ich wollte der fröhlichen Schar Kuchen und Getränke bringen. Mit dem Tablett in den Händen machte ich mich auf den Weg ins Wohnzimmer – und blieb wie angewurzelt stehen. Einen kurzen Augenblick lang, der sich wie eine Ewigkeit anfühlte, sah ich Julie mit Hoodie, Bundfaltenjeans und schwarzen kniehohen Military-Stiefeln am Ende der Couch sitzen. Sie schaute mit blitzenden Augen und breitem Lächeln zu mir herüber. Sie sah mich an, in mich hinein. Ich blinzelte, dann war sie verschwunden.
Julie war nicht mehr da.
Später an diesem Abend, nachdem unsere Partygäste längst wieder zu Hause waren und der Geschirrspüler lief, kam der Anruf. Julie hatte heimgefunden. Sie hatte ihrem Leben ein Ende gesetzt.
Als ich diese Nachricht hörte, durchlief mich eine Welle der Emotionen. Abgrundtiefer Schmerz, Wogen von Schuldgefühlen und dann: eine gewaltige und tiefe Stille. Ein Gefühl, bislang verborgen in meinem Herzen, stieg darin auf. Vielleicht war es die Vision, die ich an diesem Nachmittag gehabt hatte, vielleicht war es ihr stiller Schrei, den ich damals vernommen hatte – irgendetwas hatte dieses überwältigende Gefühl ans Licht gebracht: die Erkenntnis, dass sie nun von ihrer Last befreit war. Es war kein bitteres Ende, das ich spürte, ich durfte vielmehr einen kurzen Blick auf ihre Neugeburt tun. Gleich einem unaufhaltsamen, strahlenden, gleißenden Sonnenaufgang erstand sie vor mir als Licht, das die Finsternis vertrieb und den Morgen kündete.