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Eigentlich ist André Kudernatsch Satiriker und schreibt lustige Geschichten. Doch jetzt vergeht ihm das Lachen – fast. Er will sich vier Wochen um seinen demenzkranken Vater kümmern, obwohl er davon überhaupt keine Ahnung hat. Sofort landet er in einer Endlosschleife aus Herumsitzen, Herumsuchen und Herumstreiten. Ständig hört er sich an, dass er früher eine Pfeife war, jetzt ein Kackarsch ist und bestimmt ein guter Koch wird. In einem Moment gibt sein Vater ihm 100 Punkte, im nächsten wirft er ihm vor: „Du hast mein Leben zerstört.“ Kudernatsch ist überfordert. Seine Mutter, die einiges regeln könnte, ist weit weg. Sie hustet ihm was – im wahrsten Sinne des Wortes. Darum greift er zur Selbsthilfe und schreibt alles auf. So ist ein Buch entstanden, in dem es um Liebe, Hilflosigkeit, das Ende der Kindheit und den Umgang mit der Krankheit geht.
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Seitenzahl: 149
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Für meine Eltern
ISBN 978-3-96285-187-3
1. Auflage 2025
Copyright © by Salier Verlag, Eisfeld
Ein Imprint der SalierGroup GmbH
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved.
Printausgabe: ISBN 978-3-96285-078-4
Zitat auf Seite 5 aus Dieter Kudernatsch:
„Pannen, Pilze und ein Pool“, 2022
mit freundlicher Genehmigung des Engelsdorfer Verlags.
Einbandgestaltung: Christine Friedrich-Leye
Satz & Layout: InDesign im Verlag
Hersteller: SalierGroup GmbH
Eichberg 21, 98673 Eisfeld
www.salierverlag.de
www.salierdruck.de
„Geben Sie mir bitte niemals Ihre Schlüssel! Es sei denn, Sie brauchen sie nicht mehr.“
Davor – Dienstag, 2. Januar
Tag 1 – Mittwoch, 3. Januar
Tag 2 – Donnerstag, 4. Januar
Tag 3 – Freitag, 5. Januar
Tag 4 – Samstag, 6. Januar
Tag 5 – Sonntag, 7. Januar
Tag 6 – Montag, 8. Januar
Tag 7 – Dienstag, 9. Januar
Tag 8 – Mittwoch, 10. Januar
Tag 9 – Donnerstag, 11. Januar
Tag 10 – Freitag, 12. Januar
Tag 11 – Samstag, 13. Januar
Tag 12 – Sonntag, 14. Januar
Tag 13 – Montag, 15. Januar
Tag 14 – Dienstag, 16. Januar
Tag 15 – Mittwoch, 17. Januar
Tag 16 – Donnerstag, 18. Januar
Tag 17 – Freitag, 19. Januar
Tag 18 – Samstag, 20. Januar
Tag 19 – Sonntag, 21. Januar
Tag 20 – Montag, 22. Januar
Tag 21 – Dienstag, 23. Januar
Tag 22 – Mittwoch, 24. Januar
Tag 23 – Donnerstag, 25. Januar
Tag 24 – Freitag, 26. Januar
Tag 25 – Samstag, 27. Januar
Tag 26 – Sonntag, 28. Januar
Tag 27 – Montag, 29. Januar
Tag 28 – Dienstag, 30. Januar
Danach – Mittwoch, 31. Januar
Mit Abstand – Wochen später
Über den Autor
Ich habe Silvester ruiniert, Neujahr gleich mit. Brenda ist sauer. Sie sitzt neben mir im Auto und schmollt. Wir konnten Silvester nicht richtig feiern, weil ich am 1. Januar morgens arbeiten musste: Leute fotografieren, die über den Jahreswechsel Dienst hatten, und über sie schreiben. Kombiniert mit anderen Leuten, wichtigen Leuten, die sich bei diesen Leuten bedankten. Das ist mein Job. Das weiß Brenda. Und ich weiß, dass ich ihr mit so einem Jahreswechsel nicht noch einmal kommen darf. Jetzt bin ich erstmal für vier Wochen raus. Wir fahren rund 200 Kilometer nach Sachsen-Anhalt – in das Dorf, in die Straße, in das Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Wohlbehütet von meinen Eltern, die beide Lehrer an der Dorfschule gewesen sind.
Sie warten schon, dass wir kommen. Meine Mutter will in die Reha – und ich will mich um meinen Vater kümmern. Brenda ist am Anfang dabei, „um das Schlimmste zu verhindern“. So hat sie es gesagt, und ich bin ihr dankbar. Mein Vater hat Demenz – und zwar in dem Stadium, in dem keiner das zugibt. Keine Ahnung, ob sich das jemals ändert. Meine Mutter verreist für vier Wochen an die Ostsee. Sie hat einen grässlichen Husten – den will sie dort loswerden. Der Seewind bläst ihn weg, die Wellen spülen ihn davon. Das ist der Plan.
Brenda seufzt und schaut zu mir rüber. Vielleicht ist sie nicht mehr sauer. „Wir schaffen das schon“, sagt sie und legt ihre Hand auf mein Bein. Wir fahren von der Autobahn ab und rufen bei meinen Eltern an.
„Bis gleich“, flötet meine Mutter ins Telefon und hustet.
„Jetzt zieht sich mein Vater an und öffnet das Hoftor“, prophezeie ich. Brenda weiß, dass das stimmt. Als wir in die Straße biegen, steht mein Vater schon da und winkt.
„Komm’se rein, könn’se rausgucken“, begrüßt er uns gut gelaunt mit seinem Lieblingsspruch. Beim Rückwärtsfahren auf den Hof erwische ich fast seinen Fuß, weil er nicht ausweicht.
Meine Mutter hat eine „schnelle Suppe“ vorbereitet. So heißt das bei uns. Danach legt sich mein Vater hin. Er braucht seinen täglichen Mittagsschlaf. Meine Mutter führt uns durchs Haus. Sie erklärt den Herd, das Geschirr, die Waschmaschine, den Trockner, den Staubsauger, die Heizungssteuerung und die Fächer mit der Wäsche. Ich bin froh, dass Brenda dabei ist. Sie merkt sich so etwas sehr gut. Dafür hat sie später Kopfweh.
Vor dem Wohnzimmerfenster steht ein kleiner Weihnachtsbaum auf der Terrasse. Er ist mit Stricken festgebunden, dass er nicht umfällt. Auch ein Orkan könnte ihm nichts anhaben. Mein Vater, der eben aufgestanden ist, soll den Biomüll zum Gartenkompost bringen. Er tritt auf die Terrasse und klettert über die Stricke. Ein Bein hievt er nicht hoch genug, er verheddert sich. Der Baum wackelt bedrohlich hin und her, mein Vater fällt beinahe und kämpft noch immer mit dem Strick. Kurz bevor Tanne und Mann stürzen, kommt mein Vater wie durch ein Wunder frei. Der Baum schüttelt sich und wirft die Hälfte seiner Kugeln ab. Sie zerschellen auf dem Steinboden. Weihnachten ist vorbei.
„Mensch, pass auf!“ Ich bin aufgesprungen und stehe in der Tür.
„Ach was, ich bin hier schon tausend Mal drübergestiegen“, prahlt mein Vater und stapft mit dem Biomüll davon. Bei seiner Rückkehr hänge ich zur Sicherheit die Stricke aus.
„Guck mal, wie eine Schranke“, führe ich ihm meine Lösung vor.
„Du Kackarsch!“, motzt er und betont: „Das habe ich noch nie so gemacht. Ich bin hier schon tausend Mal drübergestiegen.“
Ich hole Handfeger und Kehrblech und kümmere mich um die Scherben. Brenda verdreht die Augen. Meine Mutter nimmt es locker.
Nach dem Kaffee biete ich meinem Vater eine Runde Schach an.
„Hä? Seit wann kannst du Schach spielen?“, will er wissen. Er verliert zwei Partien und hat keine Lust mehr.
Morgen fährt meine Mutter. Morgen geht es los. Morgen ist der erste Tag.
Das Zimmer meiner jüngeren Schwester liegt im Obergeschoss. Es ist dekoriert mit Diddl-Mäuschen und Schlümpfen. Am aktuellsten ist das Harry-Potter-Poster. Die Zeit steht still. Meine Schwester ist längst ausgezogen, sie ist 40. Hier sieht es aus, als wäre sie 12 und käme gleich zur Tür herein. Ich würde mit ihr Luftballon-Volleyball spielen oder „Mila Superstar“ im Nachmittagsfernsehen schauen.
Natürlich würde sie schimpfen, wenn sie wüsste, dass wir in ihrem Bett schlafen.
Was nicht ganz richtig ist. Brenda schläft darin, ich schlafe in einer Art Bettkasten, der sich aus dem richtigen Bett herausziehen lässt. „Prinzessinnenbett“ und „Dienstbotenbett“ habe ich die beiden Schlafplätze getauft. Klar, dass ich im Dienstbotenbett liege.
Aber meine Schwester kommt nicht herein, um mit uns zu schimpfen. Sie ist weg und hat ganz andere Probleme. Ihr Zimmer ist geblieben.
Mein Zimmer hingegen ist Geschichte. Es wurde sofort von meinen Eltern besetzt, als klar war, dass ich nicht wieder nach Hause komme. Eine alte Klapp-Couch, ein kaputter Massagesessel und eine Infrarot-Wärmekabine ersetzen alle Kinderzimmer-Möbel, die mal darin standen. Die knüppelharte Klapp-Couch ist als Gästebett gedacht. Wir nehmen lieber das Prinzessinnenbett und das Dienstbotenbett.
Zur Infrarot-Kabine kann ich nicht viel sagen. Ich habe nie gesehen, dass meine Eltern diese Mini-Sauna benutzt haben. Die Elektro-Dusche daneben auch nicht. Was hingegen rege benutzt wird, ist der Hohlraum, der hinter der Kabine und der Dusche entstanden ist. Meine Mutter hat den ungeliebten Hometrainer in die hinterste Ecke verbannt. Davor stehen Deko-Artikel aller Art – Osterhase, Weihnachtsmann, Herrnhuter Stern. „Griffbereit“, wie meine Eltern sagen. Sie sind sehr praktisch veranlagt. Das ist ihr Lager, auf das sie jederzeit zugreifen können.
Wir bringen meine Mutter in die Stadt zum Bahnhof. Mein Vater ist aufgeregter als sie. Vom Bahnsteig aus sehe ich ein rosa Haus in der Nähe.
„Das könnte der Puff sein“, vermute ich laut. Meine Eltern lachen – es ist der Puff. Die Stimmung ist gelöst. In der Bahn-App schaue ich nach, wo der Wagen meiner Mutter ungefähr stoppen wird. Das ist gut so, denn als sich der Zug ohne Ansage in den Bahnhof schiebt, sehen wir, dass er schier endlos ist. Wir stehen fast richtig und müssen dennoch eine kurze Strecke flitzen. Meine Mutter hustet. Ich hebe ihr den Koffer in den Zug. Mein Vater winkt. Wir winken. Dann rauscht sie davon.
Brenda möchte zum Wochenmarkt und stellt sich diesen groß und bunt wie in unserer Stadt vor. Natürlich ist er das nicht. Er besteht aus einem Gemüsestand, einem Messerschleifer und dem Gourmet-Mobil mit Käse und Oliven. Mein Vater weiß nicht, was wir hier wollen. Ich weiß es auch nicht.
Egal wie langsam ich laufe, er läuft immer zwei Meter hinter mir. Brenda ist längst davongeeilt und erledigt die Einkäufe. In der Einkaufsmeile hinter dem Markt suche ich für meinen Vater die Toilette. Danach setzt er sich auf eine Bank. Ich halte Ausschau nach Brenda, die inzwischen in einem der Supermärkte verschwunden ist. Da ist sie, in der Schlange an der Kasse. Ich drehe mich zurück zu meinem Vater. Er redet auf zwei fremde Leute ein. Alle lächeln, alle vertragen sich.
Wir fahren zurück ins Dorf. Mein Vater glaubt nicht, dass wir nachher noch einmal in die Stadt aufbrechen, weil sich seine Herzsportgruppe trifft. Ungläubig schüttelt er immer wieder den Kopf. Ich tippe auf den Kalender an der Küchenwand: Meine Mutter hat es schön eingetragen.
„Das kannst du voll vergessen“, grummelt er, als wir erneut im Auto sitzen, er in Sportklamotten. „Da ist nichts heute.“
Ich setze ihn vor der Physiotherapie ab und warte.
„Das war toll. Mein Kumpel Bodo war da“, schwärmt er nach der Stunde und ist verwirrt: „Wieso holst du mich? Ich habe Bodo gesagt, meine Frau holt mich ab.“
„Die haben wir doch vorhin zum Bahnhof gebracht,“ erinnere ich ihn.
„Ach Mensch“, sagt mein Vater.
Brenda hat in der Zwischenzeit einen Rollbraten für uns gezaubert. Mein Vater langt tüchtig zu. Nach der dritten Scheibe stellt er fest: „Noch mehr hieße die Götter besuchen!“ Diesen Besuch soll er sich bitte noch lange aufsparen.
Nach dem späten Mittagsschlaf erschreckt uns alle ein Krankenkassen-Schreiben, das in der Post steckt: eine Vollmacht für meine Mutter, von der mein Vater nichts weiß. Er regt sich furchtbar auf: „Das hat deine Mutter ja sauber eingefädelt!“
Ich weiß nichts davon – sie hat nichts erzählt. Mit Plätzchen und Kaffee lenken wir meinen Vater ab. Wir diskutieren über Lieblingsplätzchen und Lebkuchen, bis mein Vater nicht mehr an den Brief denkt. Ich packe das Schreiben auf einen versteckten Poststapel. Nur dass da noch kein Stapel ist. Dieser Brief ist der erste.
Am Abend schauen wir „Fantomas“. Brenda und ich haben extra einen alten Film ausgewählt, weil mein Vater den sicherlich mag. „Scheiße, so ein Mist“, urteilt er danach sehr klar.
Meine Mutter schreibt übers Handy, dass sie gut angekommen ist und ihr Zimmer bezogen hat. Auch der große Koffer, den sie vorausgeschickt hat, ist schon da. Mein Vater ist sauer, weil sie nicht anruft. Wir erklären ihm, dass es zu spät ist und sie bestimmt morgen telefonieren.
Beim Hinaufgehen zum Dienstbotenbett ruft mir Brenda aus der Küche etwas hinterher. Ich drehe mich auf der Treppe um und dekoriere einen der vier Wandteller ab, die dort im Aufgang gemalte Jahreszeiten zeigen. Der Winter wird künftig fehlen.
Ich versuche, es Brenda in die Schuhe zu schieben: „Nur weil du gerufen hast, habe ich mich umgedreht!“
Es klappt nicht, sie lacht mich aus. Mein Vater hört das nicht. Er ist schon beim Zähneputzen. Wahrscheinlich fällt ihm gar nicht auf, dass einer der Teller fehlt. Er geht nie nach oben.
Draußen stürmt es. „Da pfeift der Fuchs“, warnt mein Vater. Regen klatscht gegen die Fenster. Heute ist Duschtag. Brenda hat es frech in den Kalender geschrieben. Auch für die Wochen, die noch folgen. Was im Kalender steht, wird gemacht. Denn was im Kalender steht, stimmt.
Ob mein Vater wirklich duscht, weiß ich nicht. Die Dusche ist später blitzblank und wirkt unbenutzt. Oder hat er sie danach stundenlang geputzt? Von der Zeit her passt das. Er ist ewig im Bad gewesen. Ich wäre am liebsten gucken gegangen, aber Brenda hat mich zurückgehalten.
Jetzt spiele ich Schach mit meinem Vater. Wieder fragt er: „Du kannst Schach spielen? Seit wann denn das?“ Nach 20 Minuten gibt er auf und kippt seinen König um. Nur dass es seine Dame ist.
Zum Mittag gibt es Nudeln mit Tomatensauce. Mein Vater hasst dieses Essen, das es in der Schulspeisung einmal pro Woche gab. Jahrelang hat ihn das als Lehrer verfolgt.
Doch nun lobt er Brenda: „Die Sauce – einwandfrei! 100 Punkte!“
Sie lässt rasch das Glas, aus dem die fertige Sauce stammt, verschwinden.
Anschließend wird akribisch der Mittagsschlaf geplant und genau auf 70 Minuten festgelegt. Mein Vater hat scheinbar einen Timer verschluckt. Er steht superpünktlich auf und ist fit, um sich ausgiebig zu streiten, warum die Mülltonne auf der Straße nicht geleert wurde.
„Du hast die falsche Tonne rausgestellt“, befürchte ich. Mein Vater hat einfach die ausgewählt, die am vollsten war. Ich suche auf dem Tablet nach der Müllfibel für das Dorf meiner Eltern und finde sie. Ich übertrage die Termine in den Küchenkalender.
Mein Vater glaubt mir nicht und will die Nachbarin anrufen. Er drückt auf dem Telefon herum. Doch keine Taste führt zum Erfolg. Da klingelt das Telefon – meine Mutter ist dran. Sie schwärmt von der Kurklinik und von der Ostsee. Mein Vater ist glücklich und will auch an die Ostsee. Meine Mutter hustet, und er ist traurig, weil der Husten noch nicht verschwunden ist.
„Das wird schon“, gibt sie sich zuversichtlich.
Wir decken den Tisch fürs Abendbrot. Mein Vater ist ganz beschwingt vom Telefonat und wirft mit diesem Schwung sein Glas um. Die Zitronenlimo läuft auf den Teller mit der Wurst. Brenda und ich legen sie trocken. Mein Vater preist anschließend den frischen Wurstgeschmack an und vergibt 100 Punkte. Dass die Tischdecke in die Wäsche muss, stört ihn nicht. Er bewundert den Holztisch darunter, als ob er ihn noch nie so blank gesehen hat.
Brenda und ich genehmigen uns in der Küche heimlich einen Enzian, der im Kühlschrank steht. Wir haben ihn vor einer Weile den Eltern geschenkt und trinken ihn nun weg. Aber wir finden das in Ordnung.
„Für unseren Einsatz hier“, flüstert Brenda, und ich schenke nach.
Die frische Unterwäsche, die ich meinem Vater hingelegt habe, ist spurlos verschwunden. Schlüpfer, Socken, Unterhemd – nichts davon ist im Schlafzimmer zu sehen. Ich suche weiter. Hose und Socken liegen über dem Wannenrand im Badezimmer meiner Eltern. Aus dem einen Unterhemd sind drei geworden. Ich sammle dieses Trio ein und werfe es in den Wäschekorb.
Es ist früh. Sonst stehen wir um acht auf, heute ist es um sieben. Mein Vater wird zur Tagespflege abgeholt. Das gefällt ihm überhaupt nicht.
„Was soll ich da? Das bringt doch nichts“, nörgelt er herum. Weil er es möchte, warten wir draußen auf der Straße auf den Bus. Er motzt weiter: „Da sind lauter alte Leute, die lachen nicht mal!“
Kurz nach acht ist der Bus da.
„Hallo“, begrüßt uns die Frau, die ihn fährt, „Herr Kürschner freut sich schon sehr auf Sie, Herr Kudernatsch!“
Mein Vater zuckt mit den Schultern. Er hat keinen Schimmer, wer das ist.
„Beim letzten Mal hat Ihr Vater alle unterhalten. Ich musste gar nichts machen“, wendet sich die Frau an mich.
Ich drücke der Fahrerin die Tablettendose meines Vaters in die Hand.
Sie nickt. „Geht klar!“
Sie steigen ein, mein Vater darf sogar vorn Platz nehmen. Der Bus hat getönte Scheiben – ich sehe nicht, wer noch darin sitzt.
Den freien Tag nutzen Brenda und ich zum Einkaufen. Der günstige Supermarkt im übernächsten Dorf ist sehr vollgerumpelt.
„Ein echter Rumpel-Pumpel-Markt!“
Bei Brenda hat er sofort seinen Namen weg. Das Angebot ist überschaubar und rustikal in die Regale gestopft.
Ich zische sie an: „Das kannst du doch nicht laut sagen. Es kann durchaus sein, dass mich hier jemand kennt.“
Wir fahren rasch weiter. Der Supermarkt im großen Einkaufszentrum in der Stadt ist okay. Dafür ist er teurer, weshalb meine Mutter nur im Notfall dort einkauft. Wir tun es sofort. Vermutlich sind wir sehr verwöhnt und schnöselig. Wir stehen auf Supermärkte, die hell und gut sortiert sind, in denen die Verkäuferinnen und Verkäufer Namensschilder tragen und wie der Mann an Kasse 2 „Lämmerhirt“ heißen. Man fühlt sich behütet und will gern zu seinen Schäfchen gehören.
Beim Bäcker gegenüber erzielen wir punktgenau einen Preis von 12,34 Euro. Das ist eine kleine Sensation. „Das hatte ich noch nie: 1, 2, 3, 4“, staunt die Bäckersfrau. Wir lachen gemeinsam und dann versprechen wir ihr, abends darauf einen Schnaps zu trinken – es müsste noch Enzian da sein – und an sie zu denken.
Vor lauter Freude gehen wir in der Innenstadt asiatisch essen. Ein Mittagsmenü wird gereicht, das sogar schmeckt. Der Tag entwickelt sich prächtig.
Um 16 Uhr bringt der Bus meinen Vater wieder. Mein Vater ist verblüfft, weil ich die Tür öffne. Ich bin verblüfft, weil seine Handschuhe fehlen.
„Es war schön“, berichtet er, „wir haben viel gelacht.“
Dann muss er sich hinlegen, er ist kaputt.
„Es war schrecklich. Das kannst du dir nicht vorstellen“, klagt er, als er aufgestanden ist.
Brenda zaubert einen bunten Schnittenteller mit viel Gemüse. Das lenkt ihn ab. Mein Vater will die Farben zählen. Immer wieder kommt eine neue hinzu.
Nach dem Abendbrot schalten wir den Fernseher ein. „Sachsen-Anhalt heute“ läuft – die Sendung, die meine Eltern jeden Abend schauen.
„Wir gucken das nie. Nur die Tagesschau“, streitet mein Vater ab.
Ich fummle derweil an der alten Stereoanlage herum. Wenn sie liefe, könnten wir Radio oder CDs im Wohnzimmer hören. Zu Weihnachten hat sie noch funktioniert. Jetzt lässt sie sich nicht mehr einschalten. Alles hier im Haus geht nach und nach kaputt.
Wir wählen einen österreichischen Film aus, der „Das letzte Problem“ heißt. Er fängt lustig-drollig an und wird dann sehr schräg. Der Assistent des Kommissars existiert gar nicht, und der Kommissar ist gar keiner. Mein Vater hat kein Verständnis dafür. Wenn er nicht gerade in seinem Sessel einnickt, schimpft er: „So eine Scheiße! Was soll denn das?“
Ich schalte den Fernseher aus. Um nicht erneut die Wäsche suchen zu müssen, zeige ich meinem Vater, wohin ich ihm Unterhose, Hemd und Socken lege – auf seinen Stammhocker im Schlafzimmer. Da kann nichts mehr schiefgehen!