Das kleine Boot am Hafen - Danka Todorova - E-Book

Das kleine Boot am Hafen E-Book

Danka Todorova

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Beschreibung

Das kleine Boot am Hafen. Eine Reise zu sich selbst.

Das E-Book Das kleine Boot am Hafen wird angeboten von BoD - Books on Demand und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Roman, Aufwachen, Selbstfindung, Leben, Lieben

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INHALTSVERZEICHNIS

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 1

Meine Haare sind triefend nass, die Regentropfen laufen bereits über mein Gesicht. Der Nebel hat alles verschlungen, die Bucht ist kaum sichtbar. Da ist nur das laute Prasseln des Regens aufs Meer. Von meinen Händen tropft Motoröl und vermischt sich mit Wasser zu einer erdfarbenen Flüssigkeit. Verdammt noch mal. Auch das noch! Ich hasse es, schmutzig zu sein. Ich hasse es, wenn die Dinge ins Stocken geraten. Eine Stimme links von mir stört meinen Wutgedanken.

»Moin. Brauchen Sie Hilfe?« Unter einer Kappe mit der weißen Schrift Berlin sehe ich dunkle kastanienbraune Augen, deren freundlicher Blick auf mich gerichtet ist.

»Nein, danke!« Meine Ablehnung kommt wie aus der Pistole geschossen. »Ich komme zurecht.«

Der Mann erwidert nichts, das irritiert mich. Ich habe erwartet, dass er so was wie »na, gut, wie Sie möchten« sagt und mit dem Sturm verschwindet.

Ich schwanke zwischen Wut und Ärger. Noch einer, der mit mir flirten möchte. So eine Hilfe kann ich nicht gebrauchen. Der Mann ist noch da. Ein leichtes Lachen ist auf seinen Lippen zu sehen. Er dreht sich um und schlägt die Richtung zum Eingang des Stegs ein, wo eine große Tafel mit dem Buchstaben F steht.

»Warten Sie! Doch, ich nehme Ihre Hilfe an. Mein Motor ist kaputt und morgen früh muss ich fahren«, rufe ich ihm nach. Allmählich kann ich klarer denken, bin aber immer noch sauer. Auf mich. Auf den Sturm und den kaputten Motor.

»Wie Sie möchten, mein Boot ist da.« Er zeigt zu einem Boot mit dunkelblauem Segel, und ich erkenne die deutsche und die dänische Flagge. Er macht ein paar Schritte zu seinem Boot und ich folge ihm. Der Mann wirkt gepflegt und sportlich. Er springt leichtfüßig ins Boot. »Wissen Sie, mein Auto ist in der Nähe. Ich kenne auch einen Werkstattbesitzer, der Motorteile hat. Wenn Sie möchten, kann ich Sie mitnehmen.« Seine einladende Stimme klingt sicher.

Ich gehe ein paar Schritte zu seinem Boot. Er ist stehen geblieben und mustert mich erneut. »Ich beeile mich«, sage ich, drehe mich um und laufe zu meinem Boot, um meine Tasche und die Regenjacke zu holen. Ein paar Minuten später sitze ich in seinem Auto.

Er fährt die Straße parallel zum Wasser entlang.

Ich fühle mich unbehaglich. Von meiner Regenjacke und den Haaren tropft es. »Normalerweise bin ich nicht so. Ich habe gedacht, ich schaffe es allein.« Meine Worte klingen wie die Entschuldigung eines Kindes.

»Meine Frau wird sich bestimmt freuen, wenn Sie mit uns eine Tasse Tee trinken. Übrigens, ich bin Paul.« Obwohl er mir nicht die Hand reichen kann während des Fahrens, spüre ich Wärme in seiner Stimme.

»Krista. Angenehm«, sage ich leise.

»Kommen Sie, Krista, wir sind da.«

Paul parkt vor einem hölzernen Gartentor. Die Rosenstöcke mit rosa und gelben Blüten zu beiden Seiten des Tors wirkend einladend. Der Zaun schaut wie ein Netz aus vielen Rauten aus, die nach oben zeigen. Ich habe das Gefühl, eine andere Welt zu betreten.

Er nimmt seine Tasche und eine grüne Regenjacke aus dem Auto, öffnet das Tor und geht auf das Haus zu, das sich hinter Zypressen versteckt. Der schmale Weg ist mit flachen Steinen bedeckt, und in mir wächst der Wunsch, mich umzudrehen und wegzurennen. Ich bemerke, dass Paul auf mich wartet und meine Schritte mit den Augen verfolgt.

Hat er meine Unsicherheit bemerkt? Weiß er, was in meinem Kopf vorgeht? Oder ist er nur ein höflicher, freundlicher Gastgeber?

Das Gebäude erinnert mich an das Haus, in dem ich meine Kindheit verbracht habe. Ich schüttle den Kopf, um die Erinnerungen loszuwerden. Die Hausfassade ist weiß, die Fenster sind blau gestrichen.

Paul bittet mich in einen großen Raum, der als Korridor und Wohnzimmer dienen könnte. An den Wänden hängen Bilder, die einen gemeinsamen Nenner haben - Wasser. Überall ist Wasser zu sehen. Ich habe das Gefühl, wenn ich noch mehr Wasser sehe, werde ich ertrinken.

Eine Frau mit kurz geschnittenen blonden Haaren lächelt mich an. Ihre blauen Augen mustern mich. Bevor sie etwas sagt, nähert sich Paul.

»Das ist meine wunderschöne Frau Elena«, sagt er. Dann blickt er zu mir. »Das ist Krista. Ihr Bootsmotor ist kaputt. Wir trinken jetzt Tee und danach kann sie den Bootsbauer anrufen, um die passenden Ersatzteile zu besorgen.«

Mir fällt ein bunter Teppich auf, der fast die gleichen Rauten wie der Zaun hat. Nur kunterbunt, irgendwie mexikanisch oder orientalisch. Paul zeigt mit einladender Handbewegung auf eine Sitzgruppe aus einem Sofa und drei Sesseln in Hellblau. Die Innenausstattung des Raumes ist klar, wirkt recht gemütlich. Die Sitzkissen sind in Blau gehalten - hell, dunkel, türkis, königsblau, rauchblau. Es gibt auch Kissen in Schwarz und Weiß, wohl, um etwas Abwechslung hineinzubringen. Wenn mir alles zu viel ist, konzentriere ich mich auf die Details, die mir begegnen. Ich mache das immer so. Eine Freundin von mir meinte, so könne ich zumindest präsent sein.

Typisch skandinavische Einrichtung, denke ich und setze mich auf dem Sofa zwischen ein türkisfarbenes und ein schwarzes Kissen. Ein weiteres Kissen, das meine linke Hand ertastet, nehme ich und halte es vor mich wie ein Schutzschild in Schwarz.

Elena verschwindet in der Küche, um Tee zu bereiten.

»Möchtest du Wasser?«, fragt Paul und schaut mich so an, als wisse er, was mit mir gerade los ist. »Ich hoffe, es ist in Ordnung, wenn wir uns duzen?«, möchte er sich versichern.

»Ja, bitte«, flüstere ich in der Hoffnung, dass nur er mich hört. Er wird an meiner Stimme merken, wie angespannt ich bin.

Paul geht in die Küche, um ein Glas Wasser zu holen. Um mich abzulenken, betrachte ich die Bilder, Kunstgegenstände und Fotos, die auf einer weißen Kommode auf ihre Bewunderer warten. Die meisten sind aus Holz und schwarzem Stein. Paul und seine Frau müssen sehr viel in der Welt herumgekommen sein, denke ich. Dann richtet sich mein Blick auf das Bild einer Frau am Strand. Es zieht mich in den Bann. Die Frau trägt ein hellgrünes Kleid, das sich durch die Meeresbrise bauscht, was mir gefällt. Die schöne Unbekannte trägt eine kleine rosa Handtasche und einen weißen Hut. Eleganz und Stil der Frau rauben mir den Atem. Jetzt bemerke ich den Fels unter ihren Füßen. In der Ferne sehe ich auf dem Meer ein kleines Boot.

»›Die wartende Schönheit‹, nenne ich das Bild«, sagt Paul hinter mir.

»Ist es nicht fantastisch?« Er hat meinen bewundernden Blick bemerkt. »Elena hat sich und ihre Heimat Dänemark gemalt. Sie liebt das Meer, wie wir alle.« Er stellt das Glas auf den Tisch und gesellt sich zu mir. »Weißt du, Krista, was wirklich im Leben wichtig ist, bleibt manchen Menschen verborgen. Dabei ist es so leicht, sich wohlzufühlen. Mit sich selbst im Reinen zu sein und alle Situationen des Lebens mit Leichtigkeit anzunehmen und zu meistern. «Er sieht zu seiner Frau, die mit den Schritten einer Ballerina das Tablett mit Tee bringt und auf den kleinen Tisch vor uns stellt. Ich schaue nur in die bernsteinfarbige Flüssigkeit, ohne die Tasse zu berühren.

»Du siehst bedrückt aus, Krista. Was ist los?« Pauls Augen begegnen meinen.

Reiß dich zusammen, sage ich mir. Ich nehme wahr, wie Wut, Unzufriedenheit und Zweifel meinen Magen verkrampfen. Mein Gesicht fühlt sich so nackt. Ich schütze es mit beiden Händen. Ich schluchze so stark, dass ich selbst verwundert bin. Bin ich das? Die Tränen kommen von selbst.

Paul holt Taschentücher und reicht mir eines. Sein Schweigen wirkt beruhigend. In diesem Moment bin ich ihm dankbar, dass er keine Floskel wie »ich verstehe dich« und »es tut mir leid« sagt. Schweigen tut gut. Nach einer Weile atme ich ruhiger und freier.

Ich sammle all meinen Mut, um zu reden. »Es läuft alles nicht so, wie ich es mir vorstelle. In der Familie streiten wir ständig. Mein Mann liebt mich nicht und mein Sohn sagt, dass ich ihn nicht verstehe. Über jedes Wort, das ich sage, diskutiert er. Dazu kommen die schlechten Noten in der Schule und das Computerspielen. Er hört mir nicht zu. Im Job werde ich gemobbt, ein Kollege mag mich nicht. Alle denken, ich sei blöd. Und nun noch das mit dem kaputten Bootsmotor. Jetzt reicht’s mir. Ich kann nicht mehr, habe keine Kraft mehr zu kämpfen.«

Paul zieht noch ein Taschentuch aus der Packung und reicht es mir. Ich nehme es dankbar und wische mein Gesicht ab.

»Was willst du, Krista?«, fragt er direkt.

»Was meinst du?« Ich verstehe ihn nicht.

»Was willst du jetzt in deinem Leben?« Die Frage irritiert mich.

»Ich weiß es nicht«, murmele ich mit tief gesenktem Kopf. »Na, ja. Ich möchte Ruhe haben.«

»Die meisten Menschen möchten glücklich sein, ohne etwas zu verändern. Einige wollen Erfolg im Job, Karriere machen. Andere wollen eine Familie mit Kindern und das reicht ihnen. Die Fähigkeit, glücklich zu sein, muss man sich erarbeiten und Schritt für Schritt aufbauen. Wie ein Boot. Die Elemente sind die Verbindungssteine. Sie bestimmen unser Leben. Wir bestehen aus Elementen. Auch das Universum besteht aus den gleichen Elementen wie wir. Jedes Element besteht aus Elementarteilchen beziehungsweise Quanten. Alles hängt mit allem zusammen. Ich bin Quantologe.«

»Quanto was?«

»Quantologe«, wiederholt er mit leichtem Lachen.

»Was ist ein Quantologe?«, frage ich wie ein kleines Kind, wenn es die Welt nicht versteht.

Pauls Blick wirkt milde. »Ein Quantologe ist jemand, der Menschen hilft, glücklich zu werden. Durch Elemente sich selbst und andere zu verstehen. Du hast die Elemente vergessen, dazu kommt Motivationsverlust, chronische Überforderung, Sinnlosigkeit, Lustlosigkeit, Niedergeschlagenheit, das Gefühl keine Hoffnung zu haben. Allem Anschein nach hast du Quantologis.«

»Ja, aber … was ist das? Woher weißt du das?«

»Ich habe dich beobachtet, Krista. Alles deutet darauf hin. Das ist ein seelisches Leiden.« Er schaut mich offen, aber nicht bedrängend an.

Ich habe das Gefühl, dass sein Blick in mein Herz gelangt und etwas damit macht.

»Wenn du möchtest, kann ich dir helfen, Krista«, sagt Paul, holt eine Visitenkarte aus seiner Tasche und reicht sie mir. Ich stecke sie automatisch in meine Jackentasche. Dieser Mann scheint sehr viele Geheimnisse zu haben, denke ich.

»Trinken wir unseren Tee und danach bringe ich dich zur Haltestelle, wenn das für dich in Ordnung ist.«

»Ja, gut. Danke, Paul.« Plötzlich werde ich hektisch und trinke meinen Tee auf einmal aus. Danach bedanke ich mich bei Elena für die Gastfreundschaft. Wir gehen zum Auto und Paul fährt mich zu der Haltestelle, an der ich den Bus nach Hause nehmen kann. Es ist noch Zeit, bis er kommt, so gehe ich die Straße entlang. Mein Boot werde morgen repariert, hatte mir der Bootsbauer am Telefon versichert. Ich denke über diese Quantensache von Paul nach, irgendwie merkwürdig. Ein lauter Motorbrummen hinter mir, ich drehe mich um, sehe den Bus, der gerade an mir vorbeibraust. Verdammt, ich war viel zu weit von der Haltestelle wegspaziert. Auch das noch. Ich sprinte hinterher. Sinnlos.

Der nächste Bus kommt in einer halben Stunde. Ich stelle mein Smartphone ein, um mich benachrichtigen zu lassen, bevor der nächste Bus kommt. Wie schlau, denke ich. Jetzt sitze ich an der Haltestelle allein im Dunkeln. Der Regen hat aufgehört und Nebel ist aufgezogen. Die kleinen Pfützen auf der Straße spiegeln die Wolken über mir und den herannahenden Bus.

Mit schweren Beinen und Armen falle ich auf den Sitz. Wieder denke ich über Paul nach. Wie seltsam, diese Begegnung und das Gespräch. Der Mann ist doch verrückt. So was gibt es nicht – Quantologe. Ich war vermutlich bei der größten Märchenstunde meines Lebens. Wie gut, dass Thomas nicht dabei war. Er hätte bestimmt gesagt: »Wie konntest du einem solchen Menschen glauben? Hast du keinen eigenen Kopf, Krista?« Bei diesen Gedanken wird mir kalt. Die Wut kommt zurück - auf mich, auf meinen Mann Thomas, auf Paul. Was ist mit mir los?

Der Bus hält an meiner Haltestelle, ich steige aus und nehme den kürzesten Weg zu unserem Haus. Wir wohnen in einem Familienhaus am Rande von Eckernförde.

Eine laut zugeknallte Tür reißt mich aus dem Schlaf. Die Morgensonne wirft ihr friedliches Licht auf mein Gesicht. Mein Kopf dreht sich und alle Gegenstände im Zimmer scheinen zu schwanken. Was ist los? Was geschieht mit mir? Ich richte meinen Blick auf die Tür. Sie schwankt auch. Langsam wird es mir unheimlich. Was hat der Mann gestern mit mir gemacht? War das eine Art Magie oder bin ich wirklich krank? Ich drücke meine Augenlider fest zu und warte einen Moment in der Hoffnung, das Drehen der Welt werde aufhören. Tatsächlich.

Ich richte mich vorsichtig auf und setze mich auf die Bettkante. Hoffentlich ist nun alles vorbei. Langsam Krista, langsam, sage ich mir. Kopfschmerzen kündigen einen unangenehmen Tag an. Ich kenne mich; wenn der Tag so anfängt, sind die Welt, die anderen Menschen, meine Arbeit und auch ich selbst nur eine Belastung. Als ich aufstehen will, überfällt mich ein Schwindel und ich beschließe, zu Hause zu bleiben.

Später rufe ich meinen Arzt an, um einen Termin auszumachen.

»Was haben Sie denn?«, fragt mich die Arzthelferin am Telefon.

»Die Welt dreht sich. Ich kann nicht mehr.« Das stimmt. Die Angst nistet sich in mir ein, wie ein dunkler Fleck in meinem Herz. Ich erhalte einen Arzttermin für Nachmittag und rufe bei der Arbeit an, dass ich heute nicht kommen kann. In der Nacht konnte ich nicht schlafen und habe über die Pauls Worte nachgedacht. Er hatte mir ja angeboten, mir zu helfen und mich zu unterstützen.

Brauche ich das tatsächlich?

Seine Worte bringen mich durcheinander. Meine Welt ist durcheinander. Was würden meine Arbeitskollegen denken, wenn ich anders wäre? Ich möchte, dass sie mich akzeptieren und mit mir reden. Die letzten Monate verhielten sie sich mir gegenüber sehr kalt. Die auf mich gerichteten Blicke waren misstrauisch. Bin ich dieser Arbeit gewachsen? Schaffe ich die Sachbearbeitung rechtzeitig? Was ist mit meinem Kollegen Karl? Er spricht nicht mit mir und macht mir Angst. Will er mir wehtun oder ist er auf meinen Posten scharf? Oder gibt es anderes, was ich nicht weiß? Yvonne meinte einmal, alle verbergen etwas. Ist das hier der Fall?

Krista, Krista, reiß dich zusammen. Diese Gedanken bringen dich in Teufels Küche.

Brauche ich eine Veränderung? Warum hat mir Paul diesen ganzen Blödsinn von den Elementen erzählt? Was soll das sein? Wie soll es mit uns beiden, mir und Thomas, weitergehen? Liebt er mich noch? Seit dem letzten Streit habe ich keine Lust, mit ihm über uns zu reden.

Er nimmt mich sowieso nicht ernst. Sagt immer: »Komm, lass uns ein anderes Mal darüber reden« und geht zu seinem Kampfsporttraining. Er ist ein Meister in Aufschieberitis. Ihm genügt es, mir auszuweichen und abzuwarten, was ich mache. Ist das Liebe? Gibt es sie zwischen uns noch? Als ich das Gefühl hatte, er geht fremd, konnte ich nicht offen mit ihm reden.

Ich habe Yvonne alles erzählt. Wir sind Freundinnen vom Kindergartenalter an. Sie ist mein Rettungsanker, in jeder Situation.

Ob Thomas eine Affäre hat, weiß ich nicht. Dieser rote kleine Fleck auf seinem Hemd kann alles bedeuten. Oder ich bilde es mir nur ein. Nach einer Geschäftsreise nach Irland war er distanziert und verschlossen. Hat sogar mein neues schickes Kleid nicht bemerkt. Ihn beschäftigt etwas. Hat er Zahlen und Programmiersprachen im Kopf oder steckt eine Frau dahinter? Die Grübelei und die Zweifel hinterlassen einen bitteren Geschmack in meinem Mund.

Ich gehe hinunter in die Küche und mache mir einen Kaffee. Die Reste des Frühstücks von meinen Männern stehen noch da. Fast leere Gläser mit Cola und Apfelschorle. Brot, Butter und Nutella sind auch noch da. Mikka, mein Sohn, führt seinen Papa an der Nase herum, und hat es wieder mal geschafft, sein Lieblingsfrühstück zu bekommen. Für Thomas ist es leicht, den Wünschen seines Sohns zu folgen, statt Grenzen zu setzen. Wir müssen unbedingt darüber reden, denke ich. Mikka ist erst neun. Wie sollen wir unseren Sohn erziehen, wenn wir verschiedener Meinungen sind?

»Wir müssten an einem Strang ziehen«, sagte seine Lehrerin zu uns, nachdem sie uns beide in die Schule bestellt hatte. Die schlechten Noten unseres Sohnes ließen sie vermuten, wir würden uns scheiden lassen. Das war so unangenehm und erniedrigend für mich. So eine Situation erlebte ich zum ersten Mal. Was machen wir als Eltern falsch? Mikka hat doch alles. Sein Zimmer ist voll mit Legosteinen, Spielfiguren von Star Wars, Mario, Speakerman. Tablet, Laptop, Smartphone und Alexa hat er auch. Damit unser Sohn auf dem neuesten Stand ist, dachten wir, er müsse alles haben, denn Kinder können grausam sein. Wenn ein Kind nicht die gleichen Sachen hat wie die anderen, wird es zur Zielscheibe. Ich wollte, dass mein Sohn eine bessere Kindheit hat als ich. Wo sind dann die Grenzen? Wie erziehen wir unseren Sohn, wenn ich nur am Schimpfen bin, weil er sein Zimmer nicht aufräumt, zu spät in die Schule kommt und ständig mit mir diskutiert?

Einmal fragte er: »Mama, wieso bist du ständig sauer?«

»Ich bin nicht sauer. Ich bin wütend, weil du noch nicht verstanden hast, dass es Regeln gibt. Anscheinend sind die Jahre im Kindergarten reine Verschwendung gewesen«, murmelte ich.

»Mama, bleibt mal locker, es ist nicht cool, wenn du immer so bist, gestresst und sauer«, meinte mein Kind.

In seinen Worten steckt eine gute Portion Wahrheit, gebe ich zu. Dass ich einen anderen Weg zu ihm finden muss, liegt auf der Hand.

Wie soll das aber gehen, wenn Thomas der Meinung ist, wir sollten unserem Sohn die Freiheit geben, selbst zu entscheiden? Er ist noch ein Kind, mein Gott. Wir als Eltern tragen die Verantwortung für ihn.

Mein Blick fällt auf ein Foto links vom Kühlschrank. Wir beide, ich und Thomas, auf unserem Boot. Damals, als wir uns kennengelernt haben, sind wir oft nachts aufs Meer hinausgefahren, um den Mondschein zu betrachten. Wir saßen viele Stunden umarmt, mit Blick aufs Wasser, um die Lichtspiele zu beobachten. Was für schöne, romantische Momente waren das. Was ist jetzt passiert? In unserem Eheleben hat sich so viel verändert. Wir sind in die alltägliche Routine geraten. Das ist doch langweilig. Ist das das Leben, wovon wir beide damals träumten? Lieben wir uns noch? Liebt er mich noch? Wann hat es sich verändert? Als Mikka geboren wurde? Oder als Thomas in eine andere Abteilung versetzt wurde? Er brachte Arbeit nach Hause mit und saß stundenlang an seinem Computer, um die Programme rechtzeitig fertigzustellen. Oft sollte ich Mikka zur Schule bringen. Auch wenn mein Auto kaputt war. Auf dem Weg zu meiner Arbeitsstelle, außer Atem und trotz Kälte in Schweiß gebadet, ließ ich mich in der Bahn auf einem freien Platz fallen und fragte mich, wie ich den Tag überstehen sollte. Genug jetzt, Krista, sage ich mir mit einem Kopfschütteln.

Eine Kaffeetasse steht vor mir. Die blaue Aufschrift sticht ins Auge: Ein Moin sagt mehr als tausend Worte. Es ist meine Lieblingstasse.

Heute lässt sich meine schlechte Laune auch davon nichts ablenken. Mein Blick fällt auf den Garten. Durch das Küchenfenster schaue ich auf Unkraut und wild wuchernde Pflanzen, die wie ein grünes Meer aussehen. Durcheinander gewürfelt und vernachlässigt. Es muss etwas passieren.

Ich versuche, das alles zur Seite zu schieben. Eine andere Perspektive auf die Dinge einzunehmen. Abstand zu gewinnen. Bin ich in der Midlife-Crisis, wie die meisten sagen?

Woher wusste Paul, was ich brauche und was mit mir geschieht? Nur von Beobachtung und Erfahrung? Er war offen und freundlich zu mir. Sein Herz war offen für neue Situationen und Menschen. Deswegen hat er mir seine Hilfe und Unterstützung angeboten.

Er sagte, die Elemente seien verantwortlich für unser Leben. Wenn wir sie verstehen, komme alles in Bewegung. Ich möchte von ihm mehr darüber erfahren, vielleicht ist das doch nicht so verrückt, wie ich dachte.

Glücklich zu leben, scheint einfach zu sein. Wieso bin ich dann unzufrieden? Ich habe eine Familie, Haus, Garten, Job, eine gute Freundin. All das, was ich mir als Kind gewünscht hatte. Trotzdem zweifle ich und bin unzufrieden. Mache ich mir nur falsche Hoffnungen und hege zu große Erwartungen an mich und mein Leben? Ich stehe auf, kippe den restlichen Kaffee ins Spülbecken und stelle die Tasse hinein. Ich möchte mich jetzt hinlegen und über nichts nachdenken. Ich gehe ins Schlafzimmer, verdunkle die Fenster und versinke in die Welt der Träume.

Eine Woche verging und ich schaute jeden Tag Pauls Visitenkarte an. Drehte sie, las sie mehrmals und steckte sie wieder in die Tasche. Nach dem Termin beim Arzt musste ich bestimmte Übungen machen, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Etwas in meinen Ohren hatte sich gedreht. Er erklärte es mir mit medizinischen Fachbegriffen und beruhigte mich, dass alles gut wird.

Nichts ist gut. Ich hasse es, wenn die Menschen »alles wird gut« sagen. Sie merken nicht mal, dass sie in die Zukunft denken. Dabei liegt das Geschehen im Jetzt.

Gestern, bei einem Meeting, war ich wieder unkonzentriert. Die von mir gemachten Fehler zeigten größere Zahlen als normal. Als mein Chef das merkte, stellte er mir die Frage, ob ich krank sei. Ich wurde von meinem Chef vor den Kollegen angefahren und alle haben mich ausgelacht. Das möchte ich nicht noch einmal erleben, es muss sich etwas verändern, denke ich. Dann fällt mir ein, dass ich Pauls Visitenkarte noch in der Tasche habe.

Nach dem Meeting gehe ich nach draußen in die Sonne. Unser Büro liegt direkt am Wasser. Ich setze mich auf eine Bank, hole mein Telefon heraus und wähle die Nummer auf der Karte.

»Guten Tag, Paul. Hier ist Krista. Erinnern Sie sich an mich?«, spreche ich ihn unbewusst per Sie an.

»Hallo Krista. Wie geht es dir?«, kehrt er zum Du zurück.

»Gut, aber ich weiß es nicht. Ich fühle mich nicht so gut, ehrlich gesagt. Deswegen rufe ich an.«

»Ich verstehe.«

»Du hast gesagt, du könntest mir mehr über die Art deiner Unterstützung sagen. Und das möchte ich nun. Wenn es für dich in Ordnung ist.«

Das Schweigen am Telefon macht mich nervös. Hat er kein Interesse und sucht eine Ausrede? War das Gespräch nur dazu da gewesen, mich zu beeindrucken, was für ein toller Mann er ist?

»Lass mich überlegen, Krista. Am Donnerstag um zwanzig Uhr in meinem Büro in Flensburg? Passt es dir?«

Ich überlege kurz, was ich donnerstags um diese Uhrzeit mache. Thomas hat Kampftraining und Mikka ist allein zu Hause. Ich muss meine Mutter oder Yvonne bitten, auf ihn aufzupassen.

»Das kriege ich hin. Vielen Dank. Dann bis Donnerstag.«

»Ja, bis Donnerstag, Krista. Und passt gut auf dich auf. Bleib gesund.«

Erleichterung breitet sich in mir aus. Ich atme jetzt freier. »Pass gut auf dich auf« und »Bleib gesund«, hat Paul gesagt. Diese zwei Sätze haben in der Coronazeit eine andere Bedeutung gewonnen. Sie zu hören, tut gut. Sie auszusprechen, bedeutet viel.

In einer Welt, in der Menschen andere niedermachen, um ihr eigenes Ego glänzen zu lassen, bedeuten sie viel. Mir bedeuten sie viel. Ich bin die einzige Frau im Büro und solche aufbauenden Worte von jemandem zu hören, tut gut. Ich möchte nicht mehr kämpfen. In einer von Männern dominierten Welt braucht man Mumm, sagt meine Mutter. Ich hasse es, wenn sie recht hat. Sie wollte, dass ich einen Beruf erlerne, der mich finanziell unabhängig macht und mir Freiheit gibt.

Ihr ganzes Leben hat sie gearbeitet, um uns allein groß zu ziehen. Mich und meine Schwester. Zuerst war sie als Weberin in einer Textilfabrik tätig, und als diese Firma pleiteging, arbeitete sie als Verkäuferin in einem Schuhgeschäft, einem Laden für Haushaltswaren, im Lebensmittelhandel, in einer Konditorei und zuletzt bis zur Rente in einem Stoffgeschäft.

Als Kind liebte ich es, mich bei ihr im Laden aufzuhalten und zu beobachten, wie freundlich und ungezwungen sie mit den Kunden umging. Ich