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Die Drachen erheben sich, um Verderben über die Menschheit zu bringen – die Vorgeschichte des Bestsellers »Der Orden des geheimen Baumes«.
Zwei Frauen stehen am Scheideweg ihres Schicksals – und ahnen nicht, dass sich ihre Wege kreuzen werden. Das größte Problem von Glorian, der zukünftigen Herrscherin von Ynis, scheint es zu sein, sich für einen zukünftigen Prinzgemahl zu entscheiden. Gleichzeitig erfährt im fernen Seiiki am anderen Ende der Welt die junge Dumai, dass sie die Tochter des Kaisers ist, und muss sich völlig unvorbereitet den Intrigen des Hofes stellen. Doch all die Machenschaften der Sterblichen werden unwichtig, als auf dem Gipfel des Furchtberges drei Drachen ihre Schwingen ausbreiten, um Verderben über die Menschheit zu bringen …
Das Kloster des geheimen Baumes
1. Die Thronfolgerin
2. Die Drachenreiterin
Der Orden des geheimen Baumes
1. Die Magierin
2. Die Königin
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Seitenzahl: 883
Buch
Zwei Frauen stehen am Scheideweg ihres Schicksals – und ahnen nicht, dass sich ihre Wege kreuzen werden. Das größte Problem von Glorian, der zukünftigen Herrscherin von Inys, scheint es zu sein, sich für einen zukünftigen Prinzgemahl zu entscheiden. Gleichzeitig erfährt im fernen Seiiki am anderen Ende der Welt die junge Dumai, dass sie die Tochter des Kaisers ist, und muss sich völlig unvorbereitet den Intrigen des Hofes stellen. Doch all die Machenschaften der Sterblichen werden unwichtig, als auf dem Gipfel des Furchtberges drei Drachen ihre Schwingen ausbreiten, um Verderben über die Menschheit zu bringen …
Autorin
Samantha Shannon ist in West-London geboren und aufgewachsen. Mit zwölf Jahren begann sie zu schreiben, mit fünfzehn beendete sie ihren ersten Roman, der bislang jedoch unveröffentlicht blieb. Sie studierte Englische Sprache und Literatur in Oxford, wo sie 2013 ihren Abschluss machte. Die Werke der New York Times- und Sunday Times-Bestsellerautorin wurden bereits in 26 Sprachen übersetzt.
SAMANTHA SHANNON
DIE THRONFOLGERIN
Roman
Deutsch von Wolfgang Thon
Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel A Day of Fallen Night 1. A Roots of Chaos Novel (S. 1 – 463) bei Bloomsbury, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Copyright der Originalausgabe © 2023 by Samantha Shannon-Jones
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2023 by Penhaligon in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Sigrun Zühlke
Umschlaggestaltung: Isabelle Hirtz, Inkcraft, nach einer Originalvorlage von Bloomsbury Publishing Plc
Umschlagdesign: David Mann
Umschlagillustration: Ivan Belikov
Karten: © Emily Faccini, 2023
HK · Herstellung: mar
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-30900-8V001
www.penhaligon.de
Für meine Mutter, Amanda
Prolog
TEIL I Das Jahr der Dämmerung
TEILIIAls die Götter Schlummerten
TEILIIIZeitalter des Feuers
Die Figuren der Geschichte
Glossar
Zeittafel
Danksagungen
Ihr Name war Dumai, abgeleitet von einem alten Wort für einen Traum, der zu früh endet. Sie wurde in der letzten Glut der Ära des Sonnenuntergangs geboren, als die Tage in der Stadt Antuma wie weicher Honig dahinflossen.
Eines Frühlings passierte eine junge Frau das Stadttor, dorthin geleitet durch einen verbotenen Wunsch.
Sie behauptete, sich an ihre Vergangenheit nicht zu erinnern – nur, dass sie Unora genannt würde. Aufgrund ihrer staubigen Kleidung und schwieligen Hände hätte niemand vermutet, dass ihr Vater einst die Macht besessen hatte, den ganzen Kaiserhof erzittern zu lassen.
Und niemand hätte erraten können, was sie in der Hauptstadt vorhatte.
*
In jenen Jahren war es schwierig, das trockene Hinterland von Seiiki zu bewirtschaften. Seit dem Rückzug der Götter war die Insel von langen Dürreperioden heimgesucht worden. Und fern der wasserarmen Flüsse dürstete der Boden.
Wäre der Gouverneur von Afa ein Mensch wie alle anderen gewesen, hätte er über seinen Posten in dieser staubigen Provinz geklagt. Stattdessen arbeitete er unermüdlich daran, die Felder des Landes zu bewässern. Und jedes Mal, wenn er an den Hof zurückkehrte, erschien er Kaiserin Manai einfallsreicher und fleißiger geworden zu sein. Sie schenkte ihm eine Villa in der Hauptstadt, wo er seine Tochter Unora in die Obhut eines Kindermädchens gab.
Doch Kaiserin Manai war schon lange krank, und ihr Leiden linderte sich nicht. Sie verzichtete vorzeitig auf den Thron, zog sich auf den Berg Ipyeda zurück und ließ ihr einziges Kind zurück, damit es den Thron bestiege.
Obwohl Prinz Jorodu noch jung war, hatte er viel von seiner Mutter gelernt. Seine erste Amtshandlung bestand darin, den Gouverneur von Afa zum Flussherrn von Seiiki zu ernennen. Dafür überging er alle anderen Bewerber auf dieses Amt. Ein Jahr lang war der Gouverneur der vertrauteste und beliebteste Berater des jungen Kaisers.
Daher schockierte es auch niemanden, als er plötzlich verbannt wurde. Man beschuldigte ihn, einen Gott erweckt zu haben, um seine Provinz erblühen zu lassen. Denn es gab eine Familie am Hof, die den Kaiser fest im Griff hatte, und sie duldete niemanden sonst in seiner Nähe. Jedenfalls nicht lange.
*
Ihre Handlanger kamen zu Unora und warfen sie auf die dunkle Straße hinaus. Im Alter von neun Jahren wurde sie zu einer mittellosen Waise. Ihr Kindermädchen brachte sie heimlich aufs Land, und zehn lange Jahre vergaß die Welt sie.
Unora arbeitete auf den Feldern. Sie lernte, die Sonne zu ertragen. Doch ohne die Hilfe ihres Vaters floss das Wasser nicht mehr. Sie pflanzte Hirse, Gerste und Weizen an, gab die Samen in die trockene Erde. Sie lebte mit einer vor Trockenheit brennenden Kehle und einem dumpfen Schmerz in den Knochen. Jeden Abend ging sie zum Schrein auf dem Hügel, dem Schrein des Drachen Pajati, und klatschte.
Eines Tages würde Pajati erwachen. Eines Tages würde er ihre Gebete erhören und der Provinz Regen bringen.
Mit der Zeit vergaß sie ihr Leben in der Hauptstadt. Sie vergaß, wie sich das Rauschen eines Flusses anhörte oder wie es sich anfühlte, in einem kühlen Teich zu baden – ihren Vater jedoch vergaß sie nie. Ebenso wenig vergaß sie, wer sie beide vernichtet hatte.
Die Kuposa, hämmerte sie sich ein. Die Kuposa haben uns zerstört.
In ihrem zwanzigsten Lebensjahr suchte der Tod die Siedlung heim.
Monatelang währte die Dürre in diesem Jahr. Die Feldarbeiter setzten ihre Hoffnungen auf den Brunnen, aber irgendetwas hatte das Wasser verunreinigt. Als ihr altes Kindermädchen erkrankte, blieb Unora an ihrer Seite und erzählte ihr Geschichten – Geschichten von Pajati, dem Gott, dessen Rückkehr sie alle ersehnten.
Die Dorfbewohner schafften die Leiche weg. Und sie starben als Nächste. Am sechsten Tag war nur noch Unora übrig. Sie lag in den Stoppeln der Felder, zu durstig, um weiterzukämpfen, und wartete auf das Ende.
Dann öffnete sich der Himmel. Regen tröpfelte auf den Boden, der längst zum Sterbebett geworden war – und aus dem Prasseln wurde ein Wolkenbruch, der die trockene Erde dunkel färbte und süß duften ließ.
Unora blinzelte die Tröpfchen von ihren Lidern. Sie setzte sich auf, legte die gewölbten Hände aneinander und fing den Regen auf, und als sie trank, lachte sie vor Freude.
Das Unwetter ließ so plötzlich nach, wie es heraufgezogen war. Unora stolperte in Richtung des Knarrenden Waldes, von Kopf bis Fuß mit Schlamm beschmiert. Tagelang nippte sie Tropfen von Blättern und trank aus Pfützen, fand indes kaum Essbares. Obwohl ihre Beine zitterten und ein alter Bär beharrlich auf ihrer Fährte blieb, folgte sie weiter den Sternen.
Endlich gelangte sie an den richtigen Ort. Hinter den rieselnden Überresten eines einst rauschenden Wasserfalls schlummerte der Weiße Drache Pajati – Pajati, der Wächter von Afa. Einst hatte er all denjenigen Wünsche erfüllt, die den entsprechenden Preis zahlten. Fast ohnmächtig vor Hunger und Durst suchte Unora die Glocke, die ihn wecken würde.
Von nun an würde sie ihr Schicksal in die Hände der Götter legen.
Die Götter schlummerten tief in jenen Jahren. Die meisten hatten sich in für Menschen unerreichbare Unterwasserhöhlen zurückgezogen, doch einige schliefen auch an Land. Obwohl Seiiki ihre Abwesenheit bedauerte, galt die Störung ihrer Ruhe als das schwerste aller Verbrechen. Nur die kaiserliche Familie besaß das Recht dazu.
Doch Unora kannte keine Angst mehr, denn sie hatte nichts mehr zu verlieren.
Die Glocke war größer als sie selbst – die Glocke, die den Wächter wecken würde und die bei Todesstrafe nicht berührt werden durfte. Die Bronze war bereits grün verfärbt. Unora näherte sich ihr. Wenn sie ihr Vorhaben in die Tat umsetzte, konnte sie getötet werden. Scheiterte sie, erwarteten sie nur noch Krankheit und der Hungertod.
Ich verdiene es zu leben.
Der Gedanke hallte wie ein Donnerschlag durch ihr Hirn. Sie hatte ihren Wert seit dem Tag gekannt, an dem sie geboren wurde. Das Exil hatte sie in den Staub gezwungen, aber dort würde sie nicht liegen bleiben. Keinen Tag länger.
Sie schlug die Glocke an. Nach Jahrhunderten der Stille zerriss ihr Läuten die Nacht.
Pajati folgte ihrem Ruf.
Vor Unoras Augen tauchte der Gott aus der Höhle auf und wand seinen langen Leib ins Freie. Er war vollkommen weiß, von den perlmuttfarbenen Zähnen bis zur schimmernden Blässe seiner Schuppen. Unora fiel auf die Knie und presste ihre Stirn auf den Boden.
»Der Stern ist noch nicht erschienen.« Seine Stimme rauschte wie der Wind. »Warum weckst du mich, Kind der Erde?«
Unora konnte nicht antworten. Niemand hätte das vermocht. Als Pajati ihr seinen Schweif hinhielt, ergriff sie ihn mit zitternden Händen. Seine Schuppen fühlten sich an wie nasses Eis.
Es stand ihr nicht zu, die Götter um Geschenke zu bitten. Das war das Privileg der Kaiserinnen und Könige.
»Erhabener, ich bin eine Frau aus deiner Provinz. Ich komme aus einem Dorf, das von der Dürre heimgesucht wurde.« Sie nahm allen Mut zusammen. »Ich bitte dich um Regen, oh König des Wassers. Bitte, schicke uns mehr Regen.«
»Diesen Wunsch kann ich nicht erfüllen. Es ist nicht an der Zeit.«
Unora wagte nicht, ihn zu fragen, wann die Zeit denn wohl kommen würde. Die Dürre dauerte bereits viel zu lange. »Dann bitte ich dich um einen Weg, an den glänzenden Hof von Antuma zu gelangen, damit ich den Kaiser anflehen kann, meinen Vater aus der Verbannung zu retten«, sagte sie. »Hilf mir, den Sohn des Regenbogens zur Barmherzigkeit zu bewegen.«
Pajati fletschte die Zähne. Er war der Glanz des Mondes, und seine Schuppen waren die Milch und die Tränen der Nacht.
»Das kostet seinen Preis.«
Und es war kein geringer Preis, hier, wo Wasser und Salz so kostbar und selten waren. Unora schloss die Augen. Sie dachte an ihren Vater, an die Toten in ihrem Dorf, an ihre Einsamkeit – und obwohl ihre Lippen rissig waren und ihre Schläfen vor Durst pochten, sickerte ein Tropfen über ihre Wange.
Die Schneewandelnde Jungfrau weinte um den großen Kwiriki, und er begriff, dass die Menschen Gutes in sich trugen, hatte ihr Kindermädchen ihr einst erzählt. Denn erst als sie um ihn weinte, wusste er, dass auch sie das Meer in sich trug.
Diese Warnung aus ihrer Kindheit pulsierte in ihr. Sie drängte sie dazu, den Tod zu akzeptieren, der auf sie wartete. Aber der Gott ihrer Provinz hatte bereits gesprochen.
»Eine Reise der Sonne wird es andauern, nicht länger.«
Er schenkte ihr im Gegenzug ebenfalls eine Träne, ließ sie wie eine Münze in ihre Handfläche fallen. Sie hob das silberne Glühen an die Lippen.
Es war, als würde sie in eine Sichel beißen. Der Tropfen fegte ein Jahrzehnt des Durstes aus ihrer Kehle und löschte ihn vollkommen. Pajati nahm ihre Träne mit der Zungenspitze von ihrer Wange, doch bevor er ihr die Bedingungen ihres Handels mitteilen konnte, fiel Unora ohnmächtig zu Boden.
Am nächsten Tag fand eine Botin sie immer noch dort liegend. Eine Botin des Strahlenden Hofes.
*
Die Frauen des Palastes sahen ganz anders aus als sie. Ihre Haare reichten fast bis zu den Füßen hinab, die Schleppen ihrer Gewänder glitten hinter ihnen über den Boden. Unora scheute vor ihren starren Blicken zurück. Ihr eigenes Haar war kurz, es fiel ihr gerade einmal bis auf die Schultern, und ihre Hände waren durch ein Jahrzehnt der Arbeit rau und schwielig. Das Getuschel der Frauen folgte ihr bis zum Mondpavillon, wo die Kaiserin von Seiiki sie in einem großen, dunklen Raum erwartete.
»Mir träumte, neben den Wasserfällen schliefe ein Schmetterling«, begrüßte sie sie. »Woher kommst du?«
»Ich erinnere mich nicht, Eure Majestät.«
»Kennst du deinen Namen?«
»Ja.« Ihr Name war alles, was ihr in dieser Welt geblieben war, und sie wollte ihn behalten. »Ich werde Unora genannt.«
»Sieh mich an!«
Unora gehorchte und sah eine blasse Frau, etwa in ihrem Alter, mit Augen, die sie an eine Krähe erinnerten und die neugierig und scharfsinnig unter einer Krone aus Wellhornschnecken und Herzmuscheln hervorblitzten. Zwei Wappen schmückten ihr Gewand. Eines war der goldene Fisch des kaiserlichen Hauses, in dessen Familie sie eingeheiratet hatte.
Das andere war die silberne Glocke des Clans Kuposa.
»Du bist sehr dünn«, bemerkte die Kaiserin von Seiiki. »Und du kannst dich nicht an deine Vergangenheit erinnern?«
»Nein.«
»Dann musst du ein Schmetterlingsgeist sein. Eine Dienerin des Großen Kwiriki. Man sagt, seine Lebensgeister schwinden, wenn er sich nicht in der Nähe von Wasser aufhält. Dein Zuhause muss hier sein, im Palast von Antuma.«
»Eure Majestät, meine Anwesenheit würde Euch beschämen. Ich besitze nichts als die Kleider, die ich trage.«
»Feine Gewänder kann ich für dich anfertigen lassen. Für Essen und Trinken kann ich sorgen. Was ich dir nicht geben kann, ist der Witz und das Talent eines Höflings«, erklärte die Kaiserin mit einem ironischen Lächeln. »Diese Dinge musst du mit der Zeit lernen, aber auch die kann ich dir geben. Vielleicht bringst du im Gegenzug meiner Familie Glück.«
Erleichtert verbeugte sich Unora vor ihr. Diese Kuposa-Kaiserin hatte nicht die geringste Ahnung, wer sie war. Und wenn sie wirklich zum Kaiser vordringen wollte, musste sie dafür sorgen, dass niemand es jemals erfuhr.
Unora ließ sich Zeit. In Afa war Zeit ein seltenes Geschenk gewesen. In der Hauptstadt verbrachten die Höflinge ihre Zeit mit Poesie und Jagd, mit Festen, Musik und Liebesaffären. Doch solche Künste waren Unora unbekannt.
Aber sie hatte jetzt so viel Essen, wie sie zu sich nehmen konnte, und so viel Wasser, wie sie zu trinken vermochte. Während sie sich von dem langen Nagen der Armut erholte, trauerte sie um die Zurückgebliebenen. Die Adligen badeten derweil in privaten Bädern, schöpften nach Belieben Wasser aus tiefen Brunnen und ruderten in Ausflugsbooten über den Tikara.
Sie wollte die Dinge verbessern. Wenn sie erst Kontakt zu ihrem Vater aufgenommen hätte, würden sie einen Weg finden.
Alle am Hof hielten Unora für einen Schmetterlingsgeist. Selbst die Dienstmägde wagten es nicht, sie anzusprechen. Wenn sie zusammen auf der Veranda aßen, wo es unmöglich war, nicht über die Schönheit des Berges Ipyeda zu sprechen, sprach nur eine von ihnen, eine freundliche Dichterin, die hochschwanger war, direkt mit ihr. Alle anderen beobachteten sie nur und warteten auf einen Beweis ihrer Macht.
In den Sommernächten schmerzte die Einsamkeit sie am meisten. Die Mägde saßen in den Gängen, kämmten ihr Haar und tuschelten leise miteinander. Ihre Haut wurde von der Hitze gedörrt. Kaiserin Sipwo winkte Unora oft zu sich, aber sie scheute immer zurück.
Sie konnte keine Kuposa um Hilfe bitten. Nur Kaiser Jorodu konnte ihr helfen.
Mittsommer kam und ging. Der Herbst rötete und vergoldete die Blätter, und Unora wartete auf den Kaiser. Der verließ nur selten seine Gemächer im Inneren des Palastes. Sie musste mit ihm sprechen, aber sie hatte nur einmal einen kurzen Blick auf ihn erhascht, als er seine Gemahlin besuchte – das Aufblitzen eines hellen Kragens unter schwarzem Haar, die würdevolle Haltung seiner Schultern.
Unora wartete weiter auf ihre Gelegenheit.
Kaiserin Sipwo war schon bald gelangweilt von ihr. Unora konnte nicht mit Wolken nähen oder ihr einen schönen Prinzen aus Meeresschaum spinnen. Pajati hatte ihr keine Macht gegeben, die sie hätte fassen können. Also wurde sie auf die entlegene Seite des Inneren Palastes geschickt, in eine enge, zugige Kammer. Obwohl ein Diener das Kohlenbecken stets füllte, konnte das die Kälte nie ganz vertreiben.
In Afa tanzten die Menschen, um sich im Winter warm zu halten, selbst wenn ihre Leiber protestierten. Es war an der Zeit, wieder damit anzufangen. Am nächsten Tag stand sie noch vor der Morgendämmerung auf und trat auf den überdachten Balkon, der den Inneren Palast umringte. Die Nordseite war dem Ipyeda zugewandt.
Unora stellte sich ihm gegenüber auf und tanzte.
Die Großkaiserin hatte sich auf diesen Berg zurückgezogen. Unora sehnte sich danach, ebenfalls dorthin zu flüchten. Wenn es ihr nicht gelang, den Kaiser zu erreichen, musste sie einen anderen Weg finden, um ihren Vater zu retten – aber sie hatte keine Ahnung, wo sie anfangen sollte zu suchen. Einstweilen würde sie sich hier hinein flüchten, in ihren Wintertanz.
Doch die Veränderung hatte begonnen und war nicht mehr aufzuhalten. Eines Nachts wurde eine Nachricht unter ihrer Tür hindurchgeschoben. Sie bestand aus zwei weißen Blättern eines Jahreszeitenbaums, beide unmöglich vollkommen.
Schlaflos wanderte ich vor Sonnenaufgang
hoffnungslos und verzweifelt umher,
bevor ich eine tanzende Jungfrau sah,
aus Mondlicht gesponnen.
Verzaubert träume ich und gehe nach der Dämmerung hinaus,
warte auf das erste Licht, wenn ich noch Hoffnung hege,
einen Blick auf sie zu werfen, während sie tanzt und lacht.
Jemand hatte sie gesehen. Es hätte ihr peinlich sein müssen, aber sie war so einsam, und ihr war so kalt. Sie forderte den Boten auf zurückzukommen und bat um einen Tuschestein, einen Pinsel, eine Wasserpipette.
In der Provinz durfte Wasser nicht für Tinte verschwendet werden. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, als sie es hier tat. Ihr Vater hatte sie das Schreiben gelehrt, indem er Zeichen mit einem Stock in die Erde kratzte. Ihr Pinsel spiegelte die Ebbe und Flut des ersten Gedichts, und sie stellte fest, dass es ihr mühelos gelang.
Rastlos tanze ich vor jedem Sonnenaufgang,
kalt in meiner Haut. Ich sah nie
meinen Zeugen im Schatten, der mir schreibt.
Gehetzt scheue ich den Morgen
und frage mich, wer zusieht, und doch muss ich
weiter tanzen im fallenden Schnee, lächelnd.
Als sie fertig war, schob sie ihr Gedicht unter der Tür hindurch, und der Bote nahm es mit.
Zunächst kam keine Antwort. Unora beschloss, nicht weiter daran zu denken, doch die einmal geweckte Sehnsucht war schwer zu unterdrücken – eine Sehnsucht danach, dass jemand sie sah. Ein zweites Gedicht belohnte ihre Geduld, am Abend vor dem Tag der Schlaflosen. Unora drückte es an ihre Lippen.
Schnee fiel auf die Stadt. Weitere Gedichte trafen ein, oft zusammen mit Geschenken: feine Bürsten, ein goldener, mit einer Muschel verzierter Kamm, duftendes Holz für ihr Kohlenbecken. Als zwei der Mägde an ihrer neuen Unterkunft vorbeikamen und sie wegen ihres offensichtlichen Unglücks belächelten, erwiderte sie dieses Lächeln ohne Bitterkeit. Denn sie wusste, dass die Liebe den Boden ihrer Kammer mit Matten belegte.
Als er schließlich zu ihr kam, bat sie ihn herein. So wie er gekleidet war, hätte er jedermann sein können. Sie führte ihn durch den Raum, dorthin, wo das Mondlicht auf den Boden fiel. Seine schlanken, zarten Hände machten kurzen Prozess mit ihrer Schärpe. Als er ihr ewiges Frösteln spürte, versuchte er, ihre Finger mit seinem Atem zu wärmen. Sie lächelte, und er erwiderte es.
Das war das erste von vielen Malen. Wochenlang kam er nachts zu ihr, malte mit dem Finger Verse auf ihre Haut. Sie zeigte ihm, wie man das Wetter vorhersagen konnte. Er las ihr Märchen und Reiseberichte vor, im tanzenden Licht einer Öllampe zwischen ihnen. Sie lehrte ihn Nähen und Weben, sang ihm Arbeiterlieder aus ihrem Dorf vor. Sie liebten einander im Schatten und im Licht der Lampe, ohne sich je gänzlich zu sehen.
Er hielt seinen Namen geheim. Sie nannte ihn ihren Tanzenden Prinzen, und er nannte sie seine Schneewandelnde Jungfrau. Er flüsterte ihr zu, dass es wohl ein Traum sein müsse, denn nur im Traum könne es solche Freude geben.
Er behielt recht. In der Geschichte war der Tanzende Prinz nach einem Jahr verschwunden und hatte die Schneewandelnde Jungfrau allein gelassen.
Am Morgen vor dem Einbruch des Winters bereitete ein Diener ein Essen für Unora vor. Sie hob den Napf mit der heißen Suppe an die Lippen, hielt jedoch inne, bevor er ihren Mund berührte. In dem Dampf nahm sie den Duft der Schwarzschwinge wahr, eines Krauts, das wild in ihrer Provinz wuchs. Sie hatte es schon einmal genommen, freiwillig.
Dieses Gewächs verhinderte, dass ein Kind Wurzeln schlug, oder trieb es aus dem Mutterleib heraus.
Unora hielt sich den Bauch. Sie war in letzter Zeit erschöpft und empfindlich gewesen, hatte sich in ihren Kammertopf erbrochen. Jemand anderes hatte die Wahrheit erraten, noch bevor sie selbst es festgestellt hatte.
Und es gab nur einen Mann, dessen Kinder eine Bedrohung für die Ordnung der Dinge darstellen konnten. Jetzt begriff sie, doch er hatte den Hof bereits verlassen. Es war zu spät, ihn zu bitten, ihren Vater zu begnadigen. Es war zu spät, irgendetwas zu tun. Alles, was ihr noch blieb, war, ihr Kind zu schützen – ein Kind, beschloss sie in diesem bittersüßen Moment, das sie behalten würde.
Sie schüttete die Suppe leise in den Garten und lächelte den Diener an, der den Napf abholte.
*
In dieser Nacht verließ Unora von Afa den Hof. Sie machte sich zum Heiligen Berg auf und nahm nichts mit außer einem goldenen Kamm und ihrem Geheimnis. Hätte jemand sie gesehen, hätte er gesagt, sie sei eine Wassernymphe, die um etwas Verlorenes trauerte.
Sie wurde Glorian genannt, um ihre Dynastie zu stärken, in Ascalon, der Krone des Westens. So hatte die Stadt einst geheißen – bis zum Jahrhundert der Unzufriedenheit, in dem Inys drei schwache Königinnen erlebte.
Als Erstes kam Sabran die Fünfte, Königin seit dem Tag, an dem sie aus dem Leib ihrer Mutter geschnitten wurde. Sie liebte es, dass allein ihre Existenz den Namenlosen davon abhielt aufzusteigen. In ihren Augen war es nur fair, dass sie ihr Leben damit verbrachte, sich selbst für diesen Dienst zu belohnen.
Die Tugenden der Ritterschaft hatten keinen Einfluss auf Sabran. Sie kannte keine Mäßigung in ihrer Gier, keine Großzügigkeit in ihrem Raffen, keine Gerechtigkeit in ihrem Mangel an Barmherzigkeit. Sie verdoppelte die Steuern, ihre Staatskasse blutete, und nach nur einem Jahrzehnt war ihr Reich nur noch ein Schatten seiner selbst. Alle, die es wagten, sie infrage zu stellen, wurden gevierteilt, und ihre Köpfe wurden auf die Schlosstore aufgespießt.
Ihre Untertanen nannten sie die Katzen-Königin, denn sie war für ihre Feinde ebenso tödlich wie die Katze für die Maus.
Es gab keinen Aufstand. Nur Tuscheln und Furcht. Immerhin wussten die Inysh, dass ihre Blutlinie den Namenlosen Einen an die Kette legte. Nur die Berethnets hielten den Wyrm in Schach.
Doch da es nur Verdorbenheit gab, sie anzuleiten, verloren die Menschen jeglichen Stolz auf ihre Hauptstadt. Hunde, Ratten und Schweine liefen frei herum. Der Dreck erstickte den Fluss, ließ ihn träger fließen, sodass die Menschen ihn von Limber in Lumber umbenannten, den Trödler.
In ihrem vierzigsten Lebensjahr geruhte die Königin, ihre Pflicht gegenüber dem Reich zu erfüllen. Sie heiratete einen Adligen aus Yscalin, dessen Herz nicht lange nach der Zeremonie versagte. Ihre Ratgeber beteten darum, sie möge im Kindbett sterben, doch sie schritt triumphierend aus dem Gebärsaal, während hinter ihr ein pummeliges kleines Mädchen brüllte. Ein neues Glied in der Kette, welche die Bestie für die nächste Generation fesseln sollte.
Die Königin machte sich einen Spaß daraus, das Kind zu verhöhnen, denn sie sah in ihrer Tochter nur eine schwächliche Nachahmung ihrer selbst. Daraufhin wurde Jillian hart und bitter und schließlich grausam. Was immer ihre Mutter ihr antat, gab sie zurück, und die beiden hackten aufeinander ein wie ein Paar eifersüchtiger Krähen. Sabran verheiratete sie mit einem närrischen Trunkenbold, und schon bald gebar Jillian selbst ein Mädchen.
Marian war eine zerbrechliche Seele, die es nicht wagte, ihre Stimme über ein Flüstern hinaus zu erheben. Ihre Verwandten ignorierten sie, und sie dankte dem Heiligen dafür. Sie lebte ruhig, heiratete unauffällig und wurde beiläufig schwanger.
In dieses verkommene Haus wurde eine dritte Prinzessin geboren.
Sie wurde Sabran genannt, um der Tyrannin zu schmeicheln. Sie gab keinen Mucks von sich, aber eine Falte runzelte ihre kleine Stirn, und sie schob die Unterlippe trotzig vor.
»Beim Heiligen, das arme Lämmchen«, sagte die Hebamme. »Wie ernst sie aussieht.« Marian war zu erschöpft, um darauf zu achten.
Nicht lange nach der Geburt kam die Katzen-Königin zu Besuch, gefolgt von der Kronprinzessin. Marian wich vor den beiden zurück.
»Sie wurde nach mir benannt, nicht wahr?« Die mittlerweile weißhaarige Königin lachte sie an. »Wie du mir schmeichelst, kleines Mäuschen. Aber lass uns sehen, ob dein Balg nicht doch mehr nach dir schlägt, bevor wir Vergleiche anstellen.«
Nicht zum ersten Mal in ihrem Leben wünschte sich Marian Berethnet, die Erde möge aufbrechen und sie verschlingen.
*
Wie jede andere Frau ihres Hauses wuchs Sabran zu einer großen und auffälligen Schönheit heran. Es war bekannt, dass jede Berethnet-Königin ein Mädchen gebar, das genauso aussah wie sie selbst. Immer das gleiche schwarze Haar. Immer die gleichen Augen, grün wie Äpfel des Südens. Immer die gleiche blasse Haut und die gleichen roten Lippen. Bevor das Alter sie veränderte, fiel es den Menschen oft schwer, sie auseinanderzuhalten.
Aber die jüngere Sabran hatte weder die Angst ihrer Mutter noch die Bosheit und Grausamkeit ihrer tyrannischen Großmutter geerbt. Sie verhielt sich mit Entschlossenheit und Würde und ließ sich nie zu Hohn und Spott hinreißen.
Sie begnügte sich, soweit sie konnte, mit ihrer eigenen Gesellschaft und der ihrer Hofdamen, denen sie mehr als allen anderen vertraute. Ihre Tutoren unterrichteten sie in der Geschichte des Tugendtums, und als sie in diesen Lektionen brillierte, lehrten sie Sabran zu malen, zu singen und zu tanzen. Allerdings taten sie dies im Geheimen, denn die Königin hasste es, andere Berethnets glücklich zu sehen – mit anzusehen, wie sie lernten zu herrschen.
Zehn Jahre lang beobachtete der gesamte Hof die Jüngste der vier.
Ihre Kammerfrauen waren die Ersten, die hofften, dass sie ihre Retterin sein könnte. Sie sahen die kleine Falte, die ihren Platz zwischen ihren Brauen niemals aufgab. Sie begleiteten sie zu den Schlosstoren, wo sie eine Bestandsaufnahme der verwesten Schädel machte, schmallippig und voller Abscheu. Sie waren dabei, als die Katzen-Königin versuchte, sie zu brechen, an dem Tag, an dem sie zum ersten Mal Blut auf ihrem Laken entdeckte.
»Ich habe gehört, dass du reif bist, selbst ein grünäugiges Kind zu bekommen«, erklärte die alte Königin. »Fürchte dich nicht, Kind … Ich werde deine Schönheit nicht am Stock verwelken lassen.« Ihr Gesicht wirkte wie die Haut auf der Milch, der Puder war tief in die Falten gesunken. »Träumst du schon davon, Königin zu sein, mein Lämmchen?«
Sabran stand in der Mitte des Thronsaals, in Sicht- und Hörweite von zweihundert Höflingen.
»Das würde ich niemals wagen, Majestät«, erwiderte sie mit ruhiger, aber klarer Stimme. »Schließlich könnte ich nur Königin sein, wenn Ihr nicht mehr auf dem Thron säßet. Oder, was der Heilige verhüten möge, wenn Ihr tot wäret.«
Dem Hof stockte der Atem.
Es war Hochverrat, sich den Tod der Herrscherin auch nur vorzustellen, geschweige denn darüber laut zu sprechen. Die Königin wusste das. Sie wusste allerdings auch, dass sie ihre Enkelin nicht umbringen konnte, weil das das Ende der Blutlinie und ihrer Macht bedeutet hätte.
Bevor sie etwas erwidern konnte, ließ das Kind sie einfach stehen, ging hinaus, gefolgt von ihren Kammerfrauen.
Zu diesem Zeitpunkt hatte die Katzen-Königin den Thron bereits seit über einem Jahrhundert inne. Zu lange war niemand in der Lage gewesen, sich eine Welt ohne sie vorzustellen, aber an diesem Tag wurde diese Hoffnung wiedergeboren. Von diesem Tag an nannten die Diener Prinzessin Sabran, wenn auch flüsternd hinter vorgehaltener Hand, die Kleine Königin.
Die Tyrannin starb im Alter von einhundertsechs Jahren in ihrem Bett auf feinster ersyrischer Seide, lasianisches Gold an jedem Finger. Jillian die Dritte bestieg den Marmorthron, aber nur wenige jubelten ernsthaft. Sie wussten, dass Jillian sich alles nehmen würde, was ihre Mutter ihr verweigert hatte.
Nicht einmal ein Jahr nach ihrer Krönung schlich sich ein Mann in den Speisesaal, in dem Königin Jillian speiste. Die verstorbene Königin hatte angeordnet, ihn bis zum Wahnsinn zu foltern. Er rammte ihrer Tochter einen Dolch ins Herz, weil er sie für seine Peinigerin hielt. Sie wurde neben der Tyrannin im Heiligtum Unserer Dame aufgebahrt.
Marian die Dritte trug die Krone, als wäre sie eine giftige Schlange. Sie weigerte sich, Bittsteller zu empfangen. Sie fürchtete sogar ihre Ratsmitglieder. Sabran drängte ihre Mutter, mehr Stärke zu demonstrieren, aber Marian hatte zu viel Angst vor Inys, um den Staat zu beherrschen. Und nicht zum ersten Mal erhoben sich grollende Stimmen – nicht nur der Unzufriedenheit, sondern auch solche, die von Rebellion sprachen.
Doch Blutvergießen wendete Blutvergießen ab, denn in Hróth entbrannte ein Krieg.
*
Der verschneite Norden war den Inysh immer fremd gewesen. In manchen Jahren hatte Hróth ihnen angeboten, Handel zu treiben, während sie in anderen Jahren als Plünderer mit ihren wilden Schiffen mit den Keilerschädeln am Bug eingefallen waren, um Städte der Inysh niederzubrennen und zu plündern.
Doch dann griffen die Clans über Eiskaskaden und tiefe Wälder hinweg zu den Waffen und stürzten sich gegeneinander ins Gemetzel.
Es begann mit Verthing Blutklinge, der nach Askrdal, der größten der zwölf Domänen Hróths, gierte. Als deren Herrin, Skiri Langbein, ein Bündnis ablehnte, tötete er sie und nahm ihr Land für seinen eigenen Clan in Besitz. Diejenigen, die Skiri Langbein geliebt hatten, nahmen Rache, und schon bald hatte die Fehde ganz Hróth ergriffen.
Mitten im Winter desselben Jahres, in dem das Blut den Schnee rot färbte, flammte Gewalt auch im Süden auf, im friedlichen Land Mentendon. Eine verheerende Flut hatte die Küste heimgesucht und ganze Landstriche und Siedlungen überflutet. Im Kielwasser der Naturkatastrophe fiel Heryon Vattenvarg über sie her, der Meereskönig, der brutalste aller Hróthi-Plünderer. Da in Hróth der Krieg tobte, hatte er sich auf die Suche nach grüneren Weiden begeben. Doch dieses Mal wollte er nicht brandschatzen, sondern sich ansiedeln.
In Inys hörte Sabran Berethnet zu, wie das Konzil der Tugenden darüber stritt, was zu tun wäre. Am Kopfende des Tisches saß ihre Mutter, abgemagert und schweigsam, zusammengekauert unter ihre Krone.
»Ich stimme zu, dass wir uns nicht in den Krieg im Norden einmischen sollten«, sagte ihr Sabran später unter vier Augen, »aber wir sollten den Mentenen helfen, diesen Vattenvarg im Gegenzug für ihre Bekehrung hinauszuwerfen. Yscalin könnte ihnen zu Hilfe eilen. Stell dir vor, wie der Heilige lächeln würde – ein drittes Reich, das ihm Treue schwört.«
»Nein. Wir dürfen den Seekönig nicht provozieren«, widersprach Marian. »Seine Salzkrieger metzeln erbarmungslos alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellt, während die Mentenen noch unter den Auswirkungen dieser furchtbaren Flut taumeln. Noch nie habe ich von solch einer böswilligen Grausamkeit gehört.«
»Wenn wir den Mentenen jetzt nicht helfen, wird Vattenvarg sie vernichten. Dies ist kein gewöhnlicher Plünderer, Mutter.« Sabran verlor allmählich die Geduld. »Vattenvarg will die Königin von Mentendon vom Thron stoßen. Wenn der Sieg ihn ermutigt, wird er als Nächstes nach Inys greifen. Verstehst du das nicht?«
»Genug, Sabran!« Marian massierte sich die Schläfen. »Bitte, Kind, lass mich in Ruhe. Ich kann nicht denken.«
Sabran gehorchte, war innerlich jedoch empört. Sie war bereits sechzehn Jahre alt und verfügte immer noch über keinerlei Macht.
Bis zum Sommer hatte Heryon Vattenvarg den größten Teil von Mentendon in seine Gewalt gebracht und herrschte von seiner neuen Hauptstadt aus, Brygstad. Er beanspruchte das Land für den Clan Vatten. Geschwächt durch Überschwemmungen, Hunger und Kälte, gaben die Mentenen den Kampf auf und unterwarfen sich ihm. Zum ersten Mal in der Geschichte hatte ein Plünderer ein Reich erobert.
Zwei Jahre nach der Eroberung von Mentendon endete auch der Krieg in Hróth. Die Häuptlinge hatten einem jungen Krieger von Bringard ihre Treue geschworen, der ihre Loyalität mit seinem scharfen Verstand und seiner enormen Stärke gewonnen hatte. Er war der Krieger, der Verthing Blutklinge erschlagen hatte, um Skiri Langbein zu rächen. Es gelang ihm, die Clans zu einen, was noch keinem vor ihm gelungen war. Bald erreichte Inys die Kunde, dass Bardholt Hraustr – der uneheliche Sohn eines Knochenschnitzers – als erster König über Hróth herrschen würde.
Er wollte nach Inys segeln, um die Königin aufzusuchen.
»Na wunderbar«, bemerkte Sabran während der Lektüre des Briefs bissig. »Jetzt werden schon zwei benachbarte Länder von heidnischen Schlächtern regiert. Hätten wir den Mentenen geholfen, wäre es nur einer gewesen.«
»Beim Heiligen. Wir sind dem Untergang geweiht!« Marian rang die Hände. »Was kann er nur von uns wollen?«
Sabran konnte es sich denken. Wie die Wölfe, die durch ihre Wälder streiften, witterten die Hróthi verwundete Kreaturen, und Inys war ein Reich, das noch blutete.
»König Bardholt hat lange für seine Krone gekämpft. Ich bin sicher, er will keine weiteren Feindseligkeiten«, antwortete sie, um ihre Mutter zu beruhigen. »Falls doch, wird Yscalin uns beistehen.« Sie erhob sich. »Ich vertraue in den Heiligen. Soll der Bastard ruhig kommen.«
*
Bardholt Schlachtenmut – wie einer seiner vielen Beinamen in Hróth lautete – kam auf einem schwarzen Schiff mit dem Namen Pinne des Morgens nach Inys. Königin Marian schickte ihren Gemahl, um ihn zu empfangen. Den ganzen Tag ging sie mit schwingenden Zöpfen im Thronsaal auf und ab. Sie trug ein tiefgrünes Kleid, das mit so viel Elfenbein besetzt war, dass sie fast darunter erstickte. Sabran hielt mit absoluter Regungslosigkeit dagegen.
Als der König von Hróth erschien, begleitet von seinen Gefolgsleuten, schien der ganze Hof um ihn herum zu Eis zu erstarren.
Die Nordmänner trugen schwere Pelze und Stiefel aus Ziegenleder. Ihr König war gekleidet wie alle anderen. Sabran war groß, aber selbst wenn sie sich auf die Zehenspitzen gestellt hätte, hätte ihr Kopf vermutlich nicht einmal sein Kinn erreicht. Sein dichtes goldenes Haar fiel ihm bis zur Taille. Muskeln überzogen seine Arme, und seine Schultern wirkten so breit und stabil wie eine Aussteuertruhe. Sie hatte gehört, er sei Anfang zwanzig, aber er hätte auch in ihrem Alter sein können, verwittert durch den Tribut, den der Krieg forderte.
Denn dieser Krieg hatte Spuren in seinem braungebrannten und wohlgeformten Gesicht hinterlassen. Eine Narbe reichte von der linken Schläfe bis zum Mundwinkel. Eine weitere zeichnete seinen rechten Wangenknochen.
»Königin Marian.« Er legte seine riesige Faust aufs Herz. »Ich bin Bardholt Hraustr, König von Hróth.«
Seine Stimme war tief und rau. Bei ihrem Klang überlief es Sabran kalt, wie auch beim Anblick seiner Krone. Selbst aus der Ferne sah sie, dass sie aus Knochensplittern zusammengesetzt war.
»König Bardholt«, erwiderte Marian. »Willkommen in Inys.« Sie räusperte sich. »Wir gratulieren Euch zu Eurem Sieg in der Nurthernold. Und wir freuen uns zu erfahren, dass der Krieg vorbei ist.«
»Gewiss nicht so sehr, wie ich mich freue.«
Marian drehte nervös die Ringe an ihren Fingern. »Das ist meine Tochter«, sagte sie. »Prinzessin Sabran.«
Sabran straffte sich. König Bardholt sah flüchtig zu ihr hinüber, dann schaute er noch einmal hin, und diesmal blieb sein Blick auf ihrem Gesicht haften.
»Hoheit«, sagte er.
Ohne den Blick abzuwenden, knickste Sabran. Die bleichen Ärmel ihres Gewandes streiften über den Boden. »Majestät«, sagte sie, »dieses Königinnenreich entbietet Euch seine Wertschätzung. Feuer für Euren Herd und Freude für Euren Saal«, begrüßte sie ihn in perfektem Hróthi.
Er hob die Brauen. »Ihr sprecht meine Sprache.«
»Ein wenig. Und Ihr die meine.«
»Ein wenig. Meine verstorbene Großmutter stammte aus Inys, aus Cruckby. Von ihr habe ich so viel gelernt, wie ich für nötig erachtete.«
Sabran neigte den Kopf. Und es wäre gar nicht nötig gewesen, wenn er kein Interesse an Inys hegte.
König Bardholt richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf ihre Mutter, aber während sie Höflichkeitsfloskeln austauschten, kehrte sein Blick immer wieder zu Sabran zurück. Unter ihren Ärmeln erwärmten sich ihre Handgelenke und Finger.
»Seid unbesorgt«, sagte er. »Die Gewalt in meinem Land wird sich nicht weiter ausbreiten, jetzt, wo Blutklinge tot ist. Ich regiere ganz Hróth – und ich werde auch über Mentendon herrschen, sobald Heryon Vattenvarg mir die Treue schwört. Und das muss er, denn er ist ein Hróthi.« Er lächelte und zeigte makellose Zähne. Ein unversehrtes Gebiss musste nach einem solchen Krieg ziemlich außergewöhnlich sein, dachte Sabran. »Ich wünsche mir Inys nur als Freund.«
»Und wir nehmen Eure Freundschaft an!« Marians Erleichterung war so unverkennbar, dass Sabran sie beinahe riechen konnte. »Unsere Reiche sollen in vollkommenem Frieden leben, jetzt und immerdar.« Da die Gefahr vorüber zu sein schien, wurde sie ruhiger. »Unser Burgvogt hat das Torhaus für Euer Gefolge vorbereitet. Ihr müsst gewiss sehr bald nach Hróth zurückkehren. Falls Ihr jedoch bleiben möchtet, um das Fest der Gemeinschaftlichkeit mit uns zu begehen, das in einer Woche stattfindet, wäre uns das eine große Ehre«.
»Die Ehre wäre ganz meinerseits, Eure Hoheit. Meine Schwester und meine Häuptlinge werden das Reich in meiner Abwesenheit gut verwalten.«
Er verbeugte sich und schritt aus dem Thronsaal.
»Beim Heiligen! Das habe ich doch nur aus Höflichkeit gesagt!« Marian sah elend aus. »Er hätte die Einladung doch nicht annehmen sollen!«
»Also sind deine Höflichkeiten nichts als leere Floskeln, Mutter?«, fragte Sabran kühl. »Das würde der Heilige gewiss nicht gutheißen.«
»Nein, nein, aber je eher er abreist, desto besser. Er wird die Schätze unserer Heiligtümer sehen und sie für sich selbst haben wollen.« Als die Königin sich erhob, nahm eine ihrer Kammerzofen ihren Arm. »Pass in den kommenden Tagen gut auf dich auf, Tochter. Ich könnte es nicht ertragen, wenn du als Geisel genommen würdest.«
»Ich würde gerne sehen, wie sie mich festsetzen wollen«, erwiderte Sabran und verließ den Thronsaal.
*
In dieser Nacht, nachdem die Kammerfrauen ihr Haar gewaschen hatten, eine recht aufwendige Angelegenheit, saß Sabran am Kamin und dachte darüber nach, was der König von Hróth gesagt hatte. Sie dachte über die Worte nach, die die Wahrheit verraten hatten.
Für den Moment hat es genug Blutvergießen gegeben.
»Florell, du kennst doch alle Geheimnisse.« Sie blickte zu ihrer engsten Vertrauten auf. »Ist König Bardholt bereits jemandem versprochen?«
»Nicht, soweit ich gehört habe.« Florell bürstete ihr Haar. »Ich zweifle allerdings nicht, dass er sich Geliebte nimmt, so wie er aussieht. Dort oben folgen sie nicht den Weisungen des Ritters der Gemeinschaftlichkeit.«
»Nein«, bestätigte Sabran. »Das tun sie nicht.« Ein Holzscheit im Feuer zerfiel. »Ist er ein Mann des Glaubens?«
»Ich habe gehört, dass die Hróthi Geister aus dem Eis und gesichtslose Götter anbeten, die in den Wäldern hausen.«
»Aber du hast nichts über seinen Glauben gehört.«
Florell bürstete langsamer, als sie sich mit einem hartnäckigen Knoten beschäftigte. »Nein«, gab sie nachdenklich zu. »Nicht einmal ein Flüstern.«
Sabran dachte darüber nach. Dann nahm eine Idee Gestalt an. »Ich will eine Privataudienz bei ihm.«
Liuma saß in einer Ecke des Raumes und ließ ihre Handarbeit sinken. »Sabran, er hat viele Leben genommen«, sagte sie auf Yscali. »Auf ihn wartet kein Platz in Halgalant. Warum solltest du mit ihm sprechen wollen?«
»Ich will ihm einen Antrag machen.«
Nur das Knistern des Feuers störte die Stille. Als Liuma schließlich begriff, holte sie scharf Luft.
»Warum?«, wollte Florell nach einem weiteren Moment des Schweigens wissen. »Warum ausgerechnet er?«
»Es würde ein weiteres Reich unter den heiligen Schild bringen – sogar zwei, wenn Heryon Vattenvarg vor ihm das Knie beugt«, antwortete Sabran leise. »Wenn Bardholt auf unserer Seite steht, müsste der Seekönig es ihm gleichtun.«
Florell ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Heiliger«, sagte sie. »Das müsste er. Sabran, du hast recht.«
»Deine Mutter würde dem niemals zustimmen«, flüsterte Liuma. »Wärst du bereit, einen solchen Plan hinter ihrem Rücken zu schmieden?«
»Für Inys, ja. Mutter fürchtet ihren eigenen Schatten«, sagte Sabran düster. »Denk nur, was als Nächstes geschehen wird. Entweder Bardholt oder Heryon werden dieses Königinnenreich für sich beanspruchen, und sei es nur, um dem anderen ihre Überlegenheit zu beweisen.«
»Bardholt hat gesagt, er würde uns nicht angreifen«, erinnerte Florell sie. »Soweit ich höre, nehmen die Hróthi ihre Schwüre ernst.«
»Bardholt Hraustr ist nicht aus demselben Eis geschlagen wie seine Vorfahren. Aber ich kann sicherstellen, dass er keine Bedrohung für uns darstellt.« Sabran wandte sich an die beiden Kammerfrauen. »Es ist schon mehr als ein Jahrhundert her, seit die Katzen-Königin Fäulnis in Inys gesät hat. Diese Fäulnis ist zu tief eingesunken, als dass wir einen Krieg gegen die Heiden gewinnen könnten. Ich werde eine Friedensweberin sein. Ich werde das Haus Berethnet retten und dafür sorgen, dass es wieder aufersteht, und zwar stärker denn je. Als Oberhaupt von vier Reichen, die dem Heiligen und der Jungfrau verpflichtet sind. Wir werden über die Aschensee herrschen.«
Florell und Liuma führten ein wortloses Gespräch. Schließlich kniete Florell vor Sabran nieder und küsste ihre Hand.
»Dafür werden wir sorgen«, sagte sie entschlossen. »Meine Herrin. Meine Königin.«
*
Kurz vor dem Morgengrauen schlüpfte Sabran in Reitkleidung aus ihrem Schlafgemach und ließ Florell und Liuma zurück, um ihre Abwesenheit nicht kundzutun. Sie stahl sich über das Schlossgelände, durch die Wildblumen und Eichen. Mit ihren achtzehn Jahren war sie noch niemals allein, ohne ihre Wächterinnen so weit gegangen.
Es könnte eine Torheit sein. Genauso wie ihre Idee – ihre gefährliche und wilde Idee, die sich in ihr wie eine Natter schlängelte, bereit, ihre Zähne in einen König zu schlagen. Wenn sie ihn überzeugen konnte, würde sie die Welt verändern.
Heiliger, gib mir Kraft. Öffne seine Ohren.
Die Sonne war schon fast aufgegangen, als der See vor Sabran auftauchte. Sie sah den Heiden im flachen Wasser baden. Als der König sie erblickte, strich er sich das Haar aus den Augen und watete auf sie zu, nackt bis zur Taille.
Unter seinen zahllosen Narben spielten die Muskeln.
Als er das Ufer erreichte, versagten ihr fast die Nerven. Er hielt gerade so viel Abstand, dass sie ihm in die Augen sehen konnte, ohne sich den Hals zu verrenken.
»Prinzessin Sabran«, begrüßte er sie, »vergebt mir meine Nacktheit. Ich schwimme immer im Morgengrauen, um mein Blut in Wallung zu bringen.«
»Wenn Ihr mir verzeiht«, erwiderte Sabran, »dass ich Euch hier ohne weitere Förmlichkeiten aufgesucht habe.«
»Kühnheit ist eine bewundernswerte Eigenschaft an einer Kriegerin.«
»Ich bin keine Kriegerin.«
»Und doch seid Ihr bewaffnet, wie ich sehe.« Er nickte zu der Klinge an ihrer Hüfte. »Ihr scheint mich zu fürchten.«
»Ich habe gehört, dass man Euch Bärenklaue nennt. Und es wäre töricht, einem Bären ohne eine Klinge entgegenzutreten.«
Einen Moment sah er sie nur an, regungslos wie ein Tier vor dem Sprung. Dann lachte er tief in seiner Kehle. »Na dann!« Er verschränkte die muskulösen Arme. »Sagt, was Ihr zu sagen wünscht.«
Das Wasser glitzerte auf seiner Brust. Seine Stimme schärfte ihre Sinne. Sie roch den süßen Duft von Labkraut und Gras an ihm, fühlte das gehämmerte Gold ihres Armbandes an ihrem Handgelenk, das ihre Haut erwärmt hatte.
»Ich habe ein Ansinnen an Euch«, sagte sie schließlich. »Eines, das ich nur vertraulich an Euch herantragen kann.« Sie machte einen Schritt auf ihn zu. »Ich habe gehört, dass die Schneedeuter noch keine Religion für das neue Königreich Hróth verkündet haben.«
»Das haben sie nicht, nein.«
»Ich wüsste gern, warum nicht.«
Nichts in seinem Blick verriet eine Regung. So nah bei ihm sah sie, dass seine Augen haselnussbraun waren, mehr golden als grün.
»Mein Bruder«, sagte er, »wurde während des Krieges ermordet.«
Sabran hatte nicht um ihre Großmutter getrauert, und sie bezweifelte, dass sie allzu lange um ihre Eltern trauern würde. Dennoch konnte sie sich vorstellen, dass der Verlust eines geliebten Menschen schmerzen konnte wie eine Pfeilspitze, die sich einem ins Fleisch bohrte. Das Leben würde weiter wachsen und sich um den Verlust herumwinden, doch er würde immer bleiben und schmerzen.
»Als ich ihn fand, labten sich die Krähen an seinen Augen«, fuhr König Bardholt fort. »Verthing Blutklinge hatte ihm die Kehle durchgeschnitten und ihn achtlos liegen lassen wie einen alten Pelz. Mein junger Neffe entkam diesem Schicksal nur, indem er sich die Hand abschnitt.« Sein Kiefer mahlte. »Mein Bruder war noch ein Kind. Ein unschuldiges Kind. Kein Gott und kein Geist, der meiner Lobpreisung würdig wäre, hätte seinen Tod zugelassen.«
Das einzige Geräusch um sie herum war das Rauschen der nahen Bäume. Wäre Sabran als Heidin geboren worden, hätte sie vielleicht gedacht, in jenen Eichen hätte etwas seine Blasphemie gehört.
Ich muss jetzt handeln, mit aller Kraft, oder gar nicht.
»In Inys glauben wir nicht mehr an solche Dinge. Stattdessen ehren wir das Andenken eines Mannes, meines eigenen Vorfahren, und leben nach seinen sechs Tugenden«, erwiderte sie. »Wie Ihr war der Heilige ein Krieger in einem Land mit kleinen und sich befehdenden Königreichen. Wie Ihr hat er sie alle unter einer Krone vereinigt.«
»Und wie hat er das angestellt, Euer Heiliger?«
»Er erschlug einen schrecklichen Wyrm und gewann so das Herz der Prinzessin Cleolind von Lasia. Sie sagte sich von ihren alten Göttern los und stellte sich an seine Seite.« Der Wind zupfte lange Haarsträhnen aus ihrem Reif. »Inys und Yscalin sind vereint im Lobgesang auf ihn. Schließt Euch uns an. Bekehrt Hróth zu den Tugenden der Ritterschaft. Mit zwei alten Monarchien an Eurer Seite werdet Ihr dem Seekönig keine andere Wahl lassen, als vor Euch niederzuknien.«
»Heryon wird sich mir auch ohne solche Hilfe unterwerfen«, gab er gelassen zurück.
»Seine Loyalität mit Gewalt zu erzwingen bedeutet einen weiteren Krieg. Viele würden sterben. Sogar Kinder.«
»Ah, Ihr appelliert an mein Herz.«
»Mehr, als Ihr glaubt.« Sabran hob hoheitsvoll die Brauen. »Mich bekommt Ihr nicht, ohne Euch zu bekehren.«
Das entlockte ihm ein Lächeln. Es war ein düsteres Lächeln, und doch enthielt es Wärme.
»Wie kommt Ihr darauf, dass ich Euch will, Prinzessin Sabran?« Ihr Name drang in einem dunklen Grollen aus seiner Kehle. »Woher wollt Ihr wissen, dass ich nicht schon eine Gemahlin in meinem eigenen Reich erwählt habe?«
»Weil ich gesehen habe, wie Ihr mich im Thronsaal angeschaut habt.« Er hat nicht nein gesagt! »Und wie oft.«
König Bardholt antwortete nicht. Sabran stand hoch aufgerichtet vor ihm, denn sie war schließlich nicht wie ihre Mutter.
»Ich glaube«, sprach sie weiter, »dass Ihr ein Mann seid, der gewohnt ist zu bekommen, was er will. Diesmal müsst Ihr es nicht mit Blut und Gewalt an Euch reißen. Ich biete es Euch an. Alles. Werdet mein Gemahl.«
»Eure Religion begann mit einer Liebesgeschichte. Bin ich der Heide in dieser Geschichte? Oder der mächtige Schlächter?«
Sabran erwiderte nur seinen Blick. Sie war der Köder am Haken, gerade so ruhig, um einen kreisenden Fisch anzulocken.
»Ich habe gehört, dass die Berethnet-Königinnen nur ein Kind gebären. Immer, soweit die Lieder und Legenden zurückreichen«, sagte er schließlich. »Ich jedoch brauche einen Erben für Hróth, um die Herrschaft des Hauses Hraustr zu festigen.«
»Ihr habt eine Schwester. Und die hat einen Sohn«, stellte Sabran fest. »Mit dem Tugendtum hinter Euch, wird Euer Haus unangreifbar sein.« Sie hob das Kinn. »Ich weiß, dass Ihr erst die Schneedeuter überzeugen müsst, den Heiligen anzunehmen. Ich weiß, dass Euch die Sechs Tugenden fremd sind – aber Euer Reich weint, Schlachtenmut. So wie das meine. Heiratet mich, damit die Wunden heilen können.«
Es dauerte, bis er sich bewegte. Er griff nach ihrer Taille. Ihr Herz schlug langsam und hart, als er ihre kleine Klinge aus der Scheide zog.
Er hätte sie hier auf der Stelle erdolchen können, und Inys wäre sein gewesen.
»Ich werde mich mit den Schneedeutern beraten«, sagte er. »Wählen wir deinen Weg, werde ich es mit deiner Klinge und meinem Blut geloben.«
Dann ging er zurück zum Schloss, mit ihrem Messer in der Hand. Als Sabran ihm nachsah, wusste sie, dass sie gewonnen hatte.
*
Am ersten Tag des Hochsommers tauchte die Issýn, die Hohepriesterin der Schneedeuter von Hróth, aus ihrer Höhle auf, um eine Vision zu verkünden. Sie hatte von einem Bündnis geträumt, das die ganze Welt beherrschte, und einem Schwert aus glänzendem Silber, das von einem längst verstorbenen Ritter der Inysh dem neuen König von Hróth überreicht wurde.
In der neuen Hauptstadt Elding erklärte König Bardholt, dass Hróth, wie einst Cleolind von Lasia, den alten Sitten abschwören und dem immerwährenden Licht von Ascalon, dem Wahren Schwert, folgen würde.
In Inys erhielt Sabran Berethnet einen Brief, unterzeichnet mit dem Blut eines Königs, der nur ein Wort enthielt: Ja.
In den Wochen nach der Bekanntgabe ihrer Verlobung gab Heryon Vattenvarg ebenfalls eine Erklärung ab, in der er dem König von Hróth seine Loyalität gelobte. Der ernannte ihn zum Reichsverweser von Mentendon. Heryon trat zum Tugendtum über, ebenso wie seine Untertanen. Innerhalb eines Jahres heiratete der König von Hróth die Prinzessin von Inys, und in den Reichen des Tugendtums herrschten Ausgelassenheit und Frohsinn.
Inys, Hróth, Yscalin und Mentendon – die unverbrüchliche Phalanx des Tugendtums.
Königin Marian erklärte schon bald ihren Thronverzicht. Da sie des Lebens am Hof mehr als überdrüssig war, zog sie sich mit ihrem Gemahl an die Küste zurück. An dem Tag, an dem Sabran die Sechste vor ihren Untertanen gekrönt wurde, stand ihr König aus dem Norden an ihrer Seite und grinste breit über das ganze Gesicht.
Es kam jedoch nicht sofort ein Thronfolger. Bardholt verbrachte die meisten Sommer in Inys, um der Mitternachtssonne zu entkommen, während Sabran im Frühling über das Meer segelte, aber die Pflicht drängte sich immer wieder zwischen sie. Ihre Reiche waren noch zu fragil, als dass sie sie in den dunkleren, härteren Monaten hätten allein lassen können.
Auf ihrer Insel regierte Sabran allein. Doch es wurde Zeit für einen Erben, und sie wollte so viel wie möglich mit ihrem Hofstaat allein sein und mit ihrem Gemahl, dessen Leidenschaft für sie niemals nachließ.
In einem Jahr, nur ein paar Monate nachdem Bardholt Inys verlassen hatte, stellte Liuma afa Dáura fest, dass sie die Königin nicht mehr in ihr Kleid schnüren konnte.
Als im nächsten Jahr der Waldmeister blühte, gebar Sabran eine Tochter, die so laut schrie, dass sie die Hohe Tafel hätte zum Einsturz bringen können. Die Diener öffneten zum ersten Mal seit einem Monat die Fensterläden. Während Florell ihrer Herrin den Schweiß von der Stirn wischte und Liuma das Baby stillte, hatte Sabran das Gefühl, als nähme sie den ersten leichten Atemzug ihres Lebens. Sie hatte es vollbracht, alles.
Sie hatte die Welt neu erschaffen.
Als er die Nachricht hörte, verließ König Bardholt Elding und ging mit einer Handvoll Gefolgsleuten an Bord eines Schiffes, getarnt als einfacher Seefahrer. Fünf Tage später erreichte er die Burg Ascalon, und die Furcht packte ihn stärker als jemals während des Krieges. Sie verblasste erst, als er Sabran erblickte, die ihn lebendig und gesund erwartete. Er nahm sie in seine Arme und dankte dem Heiligen.
»Wo ist sie?«, fragte er sie heiser.
Sabran lächelte über seine Aufregung und küsste ihn auf die Wange. Liuma brachte das Kind.
»Glorian«, erklärte Sabran. »Ihr Name ist Glorian.«
Bardholt bestaunte ihr Kind, während sich Sabran für den Festtag ankleiden ließ. Als sie auf den königlichen Balkon von Schloss Ascalon trat, ihren Gemahl neben sich und ihre schwarzhaarige Tochter in den Armen, grüßten sie jubelnd hunderttausend Menschen.
Glorian.
Eine Prinzessin für den Westen. Eine Verlorene im Osten. Und im Süden wurde ein drittes Mädchen geboren, zwischen den beiden anderen.
Diesem Mädchen war jedoch nicht bestimmt, eine Krone zu tragen. Ihre Geburt heilte keine Wunden eines Königinnenreichs oder gewährte ihr durch Geburtsrecht einen Thron. Diese Geburt fand tief im Talkessel von Lasia statt, außer Sichtweite der Augen der Welt. Denn dieses Mädchen war, wie ihr Geburtsort, ein Geheimnis.
Ihre vielen Schwestern warteten, während sie gebar, einige ermunterten sie, und der Raum war von ihren Flammen erleuchtet. Zwischen ihnen hechelte Esbar du Apaya uq-Nāra in den letzten Wehen.
Am Tag zuvor hatte sie das erste Stechen gespürt, als sie im Fluss badete. Zwei Wochen zu früh. Jetzt war es fast Sonnenaufgang, sie lag zusammengekauert auf den Geburtssteinen und wünschte Imsurin einen quälenden Tod, weil er ihr dies angetan hatte. Obwohl sie diejenige gewesen war, die den Mann eingeladen hatte, ihr beizuwohnen.
»Du hast es fast geschafft, Esbar«, sagte Denag, die auf dem Boden stand. »Komm, Schwester … nur noch einmal.«
Esbar griff nach den beiden Frauen, die sie flankierten. Zu ihrer Rechten betete ihre Geburtsmutter, leise und beruhigend. Auf der anderen Seite hatte Tunuva Melim beide Arme um ihre Schultern geschlungen.
»Nur Mut, Geliebte«, flüsterte Tunuva. »Wir sind bei dir.«
Esbar drückte ihr einen zittrigen Kuss auf die Schläfe. Sie hatte die gleichen Worte vor mehr als einem Jahr geflüstert, als Tunuva in den Wehen lag.
Als sich ihre Blicke trafen, lächelte Tunuva ihr zu, auch wenn ihre Lippen bebten. Esbar wollte antworten – doch eine weitere Wehe riss ihr die Worte von den Lippen. Lass es jetzt kommen!, flehte sie durch den Nebel des Schmerzes. Lass es vorüber sein.
Esbar nahm ihren letzten Mut zusammen, richtete den Blick auf die Statue von Gedali und wünschte sich, so stark zu sein wie die Gottheit.
Sie hockte sich auf die Ziegel, als wollte sie sich auf die ganze Welt setzen. Ihr Schrei machte ihre Kehle wund, ihr Inneres brodelte. In einem glitschigen Schwall rutschte das Kind heraus, direkt in die wartenden Arme von Denag. Esbar erschlaffte, als hätte sie ihre Knochen mit herausgepresst.
Denag drehte das Kind um und säuberte die winzige Nase. Stille, ein tiefer, gemeinsamer Atemzug, ein stummes Gebet, und dann hallte ein schwaches Wimmern durch die Kammer.
»Die Mutter ist uns gnädig!«, verkündete die Priorin unter Jubelrufen. »Esbar hat ihr eine Kriegerin geschenkt!«
Apaya atmete laut aus, als hätte sie die Luft schon seit Stunden angehalten. »Gut gemacht, Esbar.«
Esbar vermochte vor Erleichterung nur zu lachen. Tunuva hielt sie fest, damit sie nicht von den Ziegeln stürzte. »Du hast es geschafft«, sagte sie und lachte mit ihr. »Ez, du hast es geschafft. Der Mutter sei Dank.«
Zitternd legte Esbar ihre Stirn an die ihrer Geliebten. Schweiß tropfte von ihren beiden Gesichtern.
Leises Geplapper erfüllte die Kammer. Esbar legte sich auf das Wochenbett, und Denag legte ihr das Neugeborene auf die Brust. Es war von Käseschmiere überzogen und so weich wie ein Blütenblatt. Es zappelte und riss seine verkrusteten Augen auf.
»Hallo, du Starke.« Esbar strich ihr über die Stirn. »Du hattest es eilig, die Welt zu sehen, nicht wahr?«
Die Nachwehen würden bald beginnen. Doch jetzt gab es Gebete, Lächeln und Glückwünsche und mehr Liebe, als ihr Herz fassen konnte. Esbar legte das Kind an die Brust. Alles, was sie jetzt wollte, war, in Ruhe das Gefühl auszukosten, wieder nur ein Leben in sich zu haben.
Apaya brachte eine Schüssel mit abgekochtem Wasser und einen kalten Umschlag. »Kümmere dich um Tunuva«, bat Esbar sie leise, während sich ihre Schwestern um sie herum drängten. »Versprich es mir, Apaya.«
»Solange es nötig ist.« Apaya zog ein Messer aus der Scheide. »Ruh dich aus, Esbar. Und komm wieder zu Kräften.«
Esbar war nur zu gerne bereit, diesem Wunsch nachzukommen. Ihre Geburtsmutter durchtrennte die Nabelschnur, und damit verließ das Kind endgültig den Mutterleib und kam in die Welt.
*
Als die Nachgeburt schließlich ebenfalls gekommen war, brachte Apaya sie in das Sonnenzimmer, mit dem Kind an ihrem Busen. So blieben sie, bis Imsurin kam.
»Habe ich dir nicht gesagt, wir wären eine gute Paarung?«, erinnerte ihn Esbar. »Bist du bereit, eine Zeit lang auf ausreichend Schlaf zu verzichten?«
»Mehr als bereit.« Er beugte sich vor und küsste sie züchtig auf die Stirn. »Du hast die Mutter für uns beide geehrt, Esbar. Ich kann dich niemals dafür entschädigen, dass du ihr dieses Geschenk gemacht hast.«
»Oh, ich bin sicher, mir fällt schon noch etwas ein. Fürs Erste pass gut auf sie auf und versorge sie, während ich schlafe.«
Und wie sie schlief. Sobald Imsurin ihre Geburtstochter in seine Arme genommen hatte, versank Esbar in einen seligen Schlummer. Apaya war da, um sie zu pflegen.
Es war fast Mittag, als die Priorin kam, begleitet von Tunuva und Denag. Als sie eintraten, erwachte Esbar, gebadet von einem Strahl warmen Sonnenlichts. Apaya half ihr, sich mit dem Kind aufzusetzen.
»Geliebte Tochter.« Die Priorin legte Esbar die Hand auf den Scheitel. »Heute hast du der Mutter ein Opfer dargebracht. Du hast ihr eine Kriegerin gegeben, um sie vor dem Namenlosen zu schützen. Als Nachkomme von Siyāti du Verda uq-Nāra kannst du sie mit zwei Namen segnen, nach Art der nördlichen Ersyr. Einen für sie selbst und einen, der sie führen mag.«
Das Kind stieß mit seiner Nase an ihre Brust und verlangte nach Milch. Esbar drückte ihr einen Kuss auf den Kopf.
»Priorin«, sagte sie, »ich nenne dieses Kind Siyu du Tunuva uq-Nāra und vertraue sie jetzt und für immer der Mutter an.«
Tunuva wurde plötzlich ganz ruhig. Die Priorin nickte feierlich.
»Siyu du Tunuva uq-Nāra«, sagte sie und salbte den kleinen Kopf mit dem Harz des Baumes. »Die Priorei heißt dich willkommen, kleine Schwester.«
UZ 509
Diese Welt existiert
wie ein Tautropfen auf Blumen.
- IZUMI SHIKIBU
OSTEN
Zuerst das Aufwachen in der Dunkelheit. Es hatte Jahre gedauert, bis sie ihr eigener Hahn geworden war und rechtzeitig aufwachte, aber jetzt war sie ein Instrument der Götter. Mehr als die Veränderung des Lichts war es ihr Wille, der sie weckte.
Zweitens das Eintauchen in den Eispool. Gestärkt kehrte sie in ihr Zimmer zurück und legte sechs Schichten Kleidung an, jede davon gegen die Kälte gemacht. Sie band ihr Haar zurück und glättete jede einzelne Strähne mit Wachs an ihren Schädel, damit der Wind sie ihr nicht in die Augen peitschte und sie blendete. So etwas konnte auf dem Berg tödlich sein.
Beim ersten Mal hatte sie sich im Wasser erkältet – stundenlang hatte sie fröstelnd mit laufender Nase und roten Wangen in ihrem Zimmer gelegen. Damals war sie noch ein Kind gewesen, zu empfindlich für die Strapazen des Dienstes am Gott.
Jetzt konnte Dumai es ertragen, ebenso wie sie die Höhe des Tempels ertrug. Die Bergkrankheit hatte sie nie berührt, denn sie war in diesen hohen Hallen geboren worden, die höher lagen, als die meisten Vögel schlüpften. Kanifa hatte einmal gescherzt, dass sie atemlos umkippen und das Bewusstsein verlieren würde, wenn sie jemals in die Stadt hinabstiege, so wie die Bergsteiger, wenn sie sich in diese Höhe wagten.
Erdkrankheit, hatte ihre Mutter ihm zugestimmt. Bleib am besten hier oben, mein Drache, wo du hingehörst.
Drittens das Aufschreiben der Träume, an die sie sich erinnerte. Viertens eine Mahlzeit, die ihr Kraft spendete. Fünftens auf der Veranda in ihre Stiefel steigen und von dort sich in den noch im nächtlichen Dunkel liegenden Innenhof begeben, wo ihre Mutter wartete. Sie führte die Prozession an.
Als Nächstes kam das Anzünden der Holzstapel. Sie bestanden aus dem weichen Holz von Baumstämmen, die auf dem Meeresgrund gelegen hatten. Ihr Rauch war so sauber wie Nebel und roch wie die Welt nach einem Gewitter.
In der Dämmerung ging sie dann, hellwach, über die Brücke, die die Kluft zwischen dem mittleren und dritten Gipfel überspannte. Dann kam der lange Aufstieg die Hänge hinauf, während sie in der alten Sprache sangen.
Weiter ging es, zum Schrein, der auf dem Gipfel thronte, und dann, beim ersten Glühen der Morgendämmerung, folgte das Ritual selbst. Sie läuteten vor Kwiriki die Glocken, tanzten um seine eiserne Statue herum – sie riefen die Götter an zurückzukehren, so wie die Schneewandelnde Jungfrau es einst getan hatte. Tanz und Gesang und Lobpreisungen. Im Chor erhobene Stimmen, aus deren Kehlen und über deren Zungen ein goldenes Willkommenslied schallte.
So begann ihr Tag.
*
Schnee glitzerte unter einem klaren Himmel. Dumai von Ipyeda spähte mit zusammengekniffenen Augen in das blendende Licht, während sie sich auf den Weg zur heißen Quelle machte, und trank dabei gierig aus ihrer Flasche. Die anderen Gottsänger folgten weit hinter ihr.
Sie reinigte sich, bevor sie in das dampfende Becken glitt. Mit geschlossenen Augen ließ sie sich bis zur Kehle hineinsinken und genoss die Wärme und die Ruhe.
Selbst für sie war der Aufstieg hart. Die meisten Besucher erreichten den Gipfel des Berges Ipyeda nicht einmal und bezahlten teuer allein für das Privileg des Versuchs. Manchmal wurden sie hirnkrank oder blind und mussten ihr Scheitern eingestehen; manchmal versagten ihre Herzen. Nur wenige konnten die dünne Luft lange atmen.
Dumai konnte es. Seit dem Abend ihrer Geburt hatte sie nichts anderes als diese Luft geatmet.
»Mai.«
Sie warf einen Blick über die Schulter. Ihr engster Freund war aufgetaucht. Er hatte ihre Kleidung aus der Schutzhütte dabei.
»Kan«, erwiderte sie. Heute war er gar nicht mit Klettern dran. »Begleitest du mich?«
»Nein. Es kam eine Nachricht aus dem Dorf«, antwortete Kanifa. »Wir bekommen bei Einbruch der Nacht Gäste.«
Das war in der Tat eine bemerkenswerte Nachricht. Im Frühherbst gab es eine günstige Gelegenheit für Kletterer, den Berg zu besteigen, aber so spät im Jahr, wenn der Schnee hoch im unteren Pass lag und der Wind stark genug blies, um zu töten, erwartete der Hohe Tempel von Kwiriki keine Gäste. »Wie viele?«
»Eine Kletterin und vier Begleiter.« Kanifa legte Dumais Kleidung neben das Becken. »Sie stammt aus dem Clan Kuposa.«
Das war ein Name, der jegliche Erschöpfung vertrieb. Der Name des einflussreichsten Clans in Seiiki. Dumai stieg aus dem Wasser.
»Denk daran, keine Sonderbehandlung«, sagte sie, während sie sich mit einem Tuch abtrocknete. »Auf diesem Berg haben die Kuposa den gleichen Rang wie alle anderen.«
»Ein guter Gedanke«, gab er sanft zurück, »für eine andere Welt. Sie haben die Macht, den Tempel zu schließen.«
»Und warum sollten sie sie nutzen?«
»Wir sollten ihnen jedenfalls keinen Grund dafür geben.«
»Du wirst allmählich genauso nervös, wenn es um den Kaiserhof geht, wie meine Mutter.« Dumai nahm ihr erstes Kleidungsstück. »In Ordnung. Bereiten wir uns vor.«