Das Kreuz der Hugenotten - Claudius Crönert - E-Book

Das Kreuz der Hugenotten E-Book

Claudius Crönert

4,9

Beschreibung

Berlin um 1700. Die Stimmung zwischen eingewanderten französischen Calvinisten und einheimischen Lutheranern ist angespannt, denn beide Gruppen müssen sich eine Kirche teilen. Der Handschuhmacher Paul Deschamps und seine Landsleute planen daher ein eigenes Gotteshaus. Doch der Weg dahin ist weit. Und Paul hat noch einen anderen umwälzenden Plan: Gegen die Zunftordnung will er eigenes Leder gerben. Darüber bemerkt er nicht, dass seine Frau Claire und der Berliner Meister Lorenz Gefallen aneinander finden.

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Titel

Claudius Crönert

Das Kreuz der Hugenotten

Historischer Roman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2011 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2011

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/Korrektorat: Julia Franze / Katja Ernst

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung des Bildes »Gendarmenmarkt im Winter«

von Eduard Gärtner; Quelle:http://www.zeno.org/nid/20004023749

Druck: Appel & Klinger, Schneckenlohe

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-3700-7

Zitat

Heraus in eure Schatten, rege Wipfel

Des alten, heil'gen, dichtbelaubten Haines,

Wie in der Göttin stilles Heiligtum,

Tret ich noch jetzt mit schauderndem Gefühl,

Als wenn ich sie zum erstenmal beträte,

Und es gewöhnt sich nicht mein Geist hierher.

So manches Jahr bewahrt mich hier verborgen

Ein hoher Wille, dem ich mich ergebe;

Doch immer bin ich, wie im ersten, fremd.

Denn ach! mich trennt das Meer von den Geliebten,

Und an dem Ufer steh ich lange Tage,

Das Land der Griechen mit der Seele suchend;

Und gegen meine Seufzer bringt die Welle

Nur dumpfe Töne brausend mir herüber.

Goethe, Iphigenie auf Tauris

Doch immer bin ich, wie im ersten, fremd.

Für Cordelia

- Erstes Kapitel -

1

Unter dem Wintercape trug Claire Deschamps, wie es sich für den Kirchgang gehörte, den langen schwarzen Rock, eine Leinenbluse und ihre Wolljacke. Wie immer ging sie neben ihrem Mann an der Spitze der französischen Gemeinde, doch anders als sonst musste sie sich heute anstrengen, um Schritt zu halten. Sie atmete schnell. Seit ein paar Stunden schmerzte ihr Unterleib, wie er es in jedem Monat einmal tat, und sie fühlte sich schwach und zerschlagen. Als der fremde Arm vorschnellte und ihrer Gruppe den Eintritt in die Kirche verwehrte, war es für sie wie ein zweiter Weckruf an diesem Morgen: »Ihr wartet. Erst kommen unsere Leute, dann die Fremden.«

Es war ein Tag, den sie im Bett hätte verbringen mögen, mit einem Tee, einem Buch und einem warmen, in ein Tuch geschlagenen Ziegelstein aus dem Ofen. Aber so etwas erlaubte sie sich nicht. Sonntags ging man in die Kirche– es sei denn, man war wirklich krank, wie die Frau des Arztes Mathieu, die oft nicht mitkam. Doch mit ihr hätte Claire nicht tauschen mögen.

Der Arm, der den steinernen Türbogen versperrte, gehörte dem jungen Haeuser, der Jockel gerufen wurde, ein unaussprechlicher Name. Ein Handwerkerarm, breit, weiß, dazu voller Muttermale. Die blonden Härchen auf ihm standen in die Höhe, und der Hemdsärmel, der ihn bedecken sollte, war zu kurz.

Jockel Haeuser grinste.

Er hatte Publikum. Auf dem Platz rund um die Kirche wohnten einfache Leute, die kaum mehr besaßen, als sie auf dem Leib trugen. Immerhin hatten ihre Kinder im Winter Schuhe an, grobe Holzpantinen, über die ein Stück Leder genagelt war. Claire blickte in reglose Gesichter. Sie wollte an einen Scherz glauben– an den dummen Streich eines jungen Mannes, dessen Kraft mehr in die Arme als ins Hirn gegangen war und der gleich in ein Lachen ausbrechen würde. Wäre ihr selbst die Freundlichkeit an diesem Morgen nicht so verdammt schwergefallen, hätte sie sogar eine halbwegs belustigte Reaktion zeigen können. Schlechte Darbietungen hatte sie in ihrem Leben schon mehrfach erlebt. Am besten nahm man sie nicht zu ernst.

Haeuser bewegte sich nicht.

»Wollt Ihr Euren Arm nicht wieder herunternehmen?«, hörte sie Paul, ihren Mann.

»Sicher. Sobald unsere Leute einen Platz gefunden haben, und zwar alle. So lange wartet ihr.«

Es war sein Tonfall, der Claire davon überzeugte, dass der andere meinte, was er sagte. Das war kein Scherz, da stand wirklich ein Christenmensch, der anderen Christenmenschen den Eintritt in die Kirche verwehrte. Und das heute, wo sie sich so nach einem Stuhl sehnte.

Die Leute gafften. Ihre Jacken waren löchrig, die Mäntel ausgefranst und mit den Jahren dünn geworden. Claire war sich sicher, dass sie sich an dem Schauspiel erfreuten, auch wenn sie es nicht zeigten.

»Hört zu, Haeuser«, sagte Paul, »wir haben das gleiche Recht wie ihr. Deshalb zieht jetzt bitte Euren Arm zurück.«

Die Freundlichkeit schien Jockel nicht gehört zu haben. Seine Hand an der Türzarge wurde rot, die Finger umklammerten die grauen Steinquader, und auf seinem Unterarm traten kräftige Wölbungen hervor. Wie festgefroren lag das Grinsen auf seinem Gesicht.

Claire wurde langsam wütend.

Sie glaubte hören zu können, wie die einzelnen Sekunden verstrichen. Die Augen aller ihrer Landsleute waren auf ihren Mann gerichtet. Er war hochgewachsen und schlank. Seine große Nase wurde in der Kälte allmählich rot. Er stand dem Haeuser gegenüber, wirkte weiterhin höflich und wartete ab. Claire dagegen kam unwirklich vor, was sie auf diesem Platz erlebte. War das nur ein schlechter Traum?

Mit einem Klopfen auf den nackten Unterarm wurde Jockels Griff vom Türrahmen gelöst. Das war sein Bruder, Lorenz Haeuser, der sich die Hand des anderen auf die Schulter legte. Claire wusste, dass er, wie sein Bruder, ein Gerber war, aber mit ihm machte Paul Geschäfte und bestellte sein Leder dort. Für einen Moment empfand Claire Erleichterung. Lorenz würde diesen dummen Streich beenden und seinen jüngeren Bruder fortschicken, und sie würde sich endlich hinsetzen können.

Lorenz hatte kleine, hellwache Augen, einen aufmerksamen Blick und lockiges Haar, das ihm aus der Mütze fast bis auf die Schultern fiel. Alle, die vor der Kirche standen, Einheimische wie Franzosen, auch der Bruder, wandten ihm ihre Aufmerksamkeit zu und schienen sich zu fragen, was er machen würde.

Ein General, dachte Claire.

Er tat das Gegenteil von dem, was sie erhofft hatte. Er blieb einfach stehen. Ohne ein Wort gesprochen zu haben, bildeten nun beide Haeusers eine Sperre für Paul und sie und die anderen Réfugiés. Lorenz Haeuser vermied es, ihnen ins Gesicht zu sehen, sein Blick ging über sie hinweg auf den Kirchplatz. Er setzte, den Arm weiterhin auf dem seines Bruders, zwei Schritte nach vorn und ließ hinter seinem Rücken einen schmalen Durchgang entstehen. Auch jetzt brauchte es kein Wort, damit die Mitglieder ihrer eigenen Gemeinde diese Lücke nutzten und in die Kirche drängten, blonde Frauen mit schmuddeligen Leinenhauben, die ihre Kinder vor sich hertrieben, rotwangige Männer, manche mit verschämten, andere mit hämischen Blicken zu denen, die nicht hineinkonnten.

Seit dem Morgen, seitdem sie zum ersten Mal aus dem Fenster gesehen hatte, schneite es, leicht zwar, aber ununterbrochen. Vor der Kirche war die dünne Schneeschicht von den vielen Füßen plattgetreten und mit der sandigen Erde des Platzes vermischt worden, die Felder weiter hinten hingegen, wo in der warmen Jahreszeit Kohl angebaut wurde, waren weiß. Die Leute hatten Schneeflocken auf Mützen und Jacken, sie atmeten kleine Wölkchen aus und trugen gegen die Kälte Stiefel aus brüchigem Leder. Die Kirchturmspitze, zumindest der obere Teil, war in dem nebligen Grau nicht zu erkennen.

In der Heimat lag um diese Zeit– Mitte März– bereits ein Versprechen in aller Natur, die Bäume trugen Knospen, frühe Primeln trauten sich hervor. Die Sonne hatte den Frost verbannt. Den Menschen gab sie zusammen mit der ersten Wärme Lebensfreude und eine gewisse Großzügigkeit. Es war kein Wunder, dass dieses sandige Land hier bestenfalls der Rand der Zivilisation war. Die Hälfte des Jahres Winter– das machte die Leute stumpf.

Doch hier lebten sie nun, sie selbst, Paul, ihre Tochter Isabel, der Schwiegervater und viele, viele andere. So hatte Gott für sie entschieden, und sie mussten das Beste daraus machen. Dazu gehörte, dass sie von denen, die hier geboren waren, akzeptiert wurden– schließlich waren sie Glaubensverwandte. Ihr eigener Beitrag war: sich friedlich und möglichst unauffällig verhalten, keinen Streit suchen, keinen Neid wecken. Denn es war, wie die Älteren erzählten, der Neid mehr als alles andere gewesen, der ihnen den Hass der Katholiken zu Hause eingebracht hatte.

Claire wich die Kraft aus den Beinen und in ihrem Kopf drehte sich ein schwarz-weißer Kreis. Sie brauchte endlich einen Platz, auf dem sie die Füße von sich strecken konnte. Sie tastete nach Pauls Arm und hakte sich ein.

»Madame«, hörte sie den älteren Haeuser, der sie jetzt aus seinen kleinen Augen ansah, »wenn es Euch nicht gut geht, lasse ich Euch hinein. Euch– und Eure Tochter.«

Seine Stimme war ein Bass, rund um die Nase hatte er Sommersprossen. Groß war er nicht, doch er wirkte kräftig, und es war weiterhin eindeutig, dass er allein entschied, wie es hier weiterging.

In Claires Schwäche mischte sich erneut Ärger und gab ihr ein wenig Schwung. Sie musste sich bremsen, um dem Gerber nicht ein paar unfreundliche Worte zuzurufen. Während sie fester nach Pauls Arm griff, richtete sie sich auf. »Ohne meinen Mann nicht.«

»Wie Ihr wollt.«

Aus der Gruppe der Landsleute schnappte sie das Wort ›Gendarmen‹ auf. Sie konnte die Stimme– eine Frauenstimme– nicht zuordnen, aber klar war, bewaffnete Soldaten würden die Spannung hier nur noch verschärfen. Außerdem entschieden sie natürlich nicht zugunsten der Franzosen und gegen die eigenen Landsleute.

Mit ihrer Hand spürte Claire, wie sich Pauls Muskeln zusammenzogen, trotzdem sorgte sie sich nicht. Es war für sie unvorstellbar, dass er sich mit dem Gerbermeister im Dreck wälzen würde. Da entspannte er sich schon wieder. Er trug seinen langen, eleganten Mantel, die besten Handschuhe, die er besaß, von ihm selbst hergestellt mit einem Leder, das noch aus der Heimat stammte. Er hielt sich kerzengerade. Wie immer war er ein Herr.

Es war Sonntag, noch dazu der Sonntag Lätare, der der Freude gewidmet war, und sie standen vor einer Kirche– da galt es Frieden zu wahren. Claire schalt sich für ihren Zorn. Paul war so viel geduldiger. Zwar war es richtig, dass sie sich den Weg nicht versperren lassen durften, nur weil sie dunkles Haar hatten und in Frankreich geboren waren. Doch was immer sie taten, sie hatten demütig zu bleiben.

»Ihr macht Geschäfte mit mir«, wandte sich Paul an den älteren Haeuser. Seine Stimme klang unverändert höflich.

»Ich gerbe auch weiterhin für Euch, Franzose. Aber die Jerusalemkirche war immer unsere und wird es bleiben. Wir lassen Euch hinein. Soll uns niemand nachsagen, wir seien schuld an eurer Gottlosigkeit. Wir gewähren Euch Einlass; allerdings erst, wenn unsere Leute einen Platz gefunden haben. Ab jetzt müsst Ihr stehen.«

Gottlos? Der schlimmste aller Vorwürfe. In der Heimat hatten sie ihn hundert- und tausendfach zu hören bekommen, da war es der Schlachtruf der Katholiken gewesen: ›Wider die Gottlosen‹. Tief in sich fühlte Claire, wie sie auf diesen Angriff zu reagieren hatte– mit Geduld und Verständnis. Doch was sie tatsächlich empfand, war simple Wut.

Paul hingegen zeigte immer noch keine Reaktion. Claire sah er nicht an. Obwohl ihr Bauch dagegen rebellierte, bemühte sie sich weiter um eine aufrechte Haltung.

»Nicht dass Ihr es seid«, sagte Haeuser, »nur falls Ihr es werdet.«

Sein Gesicht wirkte weicher auf Claire als seine Worte. Sie wandte sich ab. Ein wenig freundlich dreinzuschauen, machte nicht wett, was der Gerber hier veranstaltete.

»Wir werden nicht gottlos, genauso wenig wie Ihr, Haeuser. Wir möchten jetzt einfach in die Kirche.«

»Die Antwort ist nein. Wenn Ihr einen Rat wollt, Franzose…«

Paul schüttelte den Kopf. Sein Tonfall blieb weiter tadellos. »Von Euch brauche ich keinen Rat.«

»… baut Euch eure eigene Kirche. Eine Franzosenkirche. Dann sind wir Euch los und Ihr uns genauso.«

Jetzt machte sich ein Lächeln auf Claires Gesicht breit. Zum zweiten Mal war sie versucht, dem Gerber etwas zu erwidern. Haeuser sprach vom Bauen, aber wie sah es in seiner Stadt aus? Fünfzig Jahre war der große Religionskrieg inzwischen vorbei, und noch immer waren hier viele zerstörte Gebäude und Wohnhäuser nicht wieder errichtet. Überall konnte man eingestürzte Dächer sehen und verkohlte Hauswände, und in den Ruinen lebten Alte, Invalide oder Waisenkinder. In jedem Winter erfroren Menschen, und morgens lagen Leichen am Wegesrand, die Glieder steif und die Gesichter aschfarben.

Sie säumten die Wege, denn Straßen, wie in Paris, gab es fast gar nicht. In Berlin war einfach die sandige Erde plattgestampft von all den Pferden, Rädern und Menschen, die jeden Tag darüberliefen, und hier, auf dem Platz vor der Jerusalemkirche, war es nicht anders. Dass man Steine nahm und Wege pflasterte– wie es die alten Römer zu ihrer Zeit über Abertausende von Meilen schon getan hatten– das schien man hier nicht zu wissen. Und trotzdem sprach der Gerber vom Bauen.

Mit einem Mal fürchtete Claire, sich erbrechen zu müssen. Sie kämpfte dagegen an und begann trotz der Kälte zu schwitzen. In ihrem Kopf drehte sich der Kreis schneller, und am liebsten hätte sie sich auf den gefrorenen Boden fallen lassen. Vielleicht würden die Gerber dann Platz machen. Sie klammerte sich an Pauls Arm. Ihr Blick traf den von Lorenz Haeuser, sie sah direkt in sein Gesicht, auf dem der Anflug eines Lächelns– einer Bitte um Milde– lag.

Gleichzeitig starrte er zurück.

»Mein Angebot für Euch gilt weiter, Madame. Für Euch und Eure Tochter.«

Claire strich Isabel übers Haar, ihm gab sie keine Antwort. Sie glaubte, in Haeuser hineinsehen zu können. Er stand mitten vor dem Kirchenportal und schämte sich, konnte aber nicht fort, da er mit der Sperre nun einmal begonnen hatte. Vielleicht hätte er am liebsten alles ungeschehen gemacht. Auf ihr Verständnis brauchte er nicht zu hoffen. Sie gehörte zu den Réfugiés, denen er den Weg verstellte.

Sie drehte sich zu den anderen um. Den Anfang der Flüchtlingsgruppe bildeten ihre Freunde und ihr Schwiegervater Bertrand, der wie immer ein versteinertes Gesicht hatte. Neben ihm stand Mathieu, der Arzt, dessen Haar schon weiß war. Der Bäcker Armand, mit gerötetem Gesicht, hielt den Arm seiner Frau Catherine, die genauso rundlich war wie er selbst. Der lange Simonet dagegen, der früher Wein angebaut hatte und jetzt auf dem sandigen Boden Maulbeerbäume zur Seidengewinnung zog, wirkte blass. Pignot war da, der Altgeselle ihres Mannes. Seine Frau, Julie, hielt ihre Hände unter den Bauch, der sich deutlich abzeichnete. Keiner von ihnen sagte einen Ton, alle schienen darauf zu warten, was Paul tat.

Er setzte einen Schritt nach vorn, wodurch Claire ihren Halt verlor. Sie fasste Isabels Hand. Das Portal war rund, weit mehr als mannshoch. Paul stand so dicht vor dem jungen Haeuser, dass er wohl dessen Morgenatem riechen konnte. Die Zähne saßen dem Gerber schief im Mund.

»Nehmt nun Eure Hand weg«, sagte Paul. Eine Spur von Erregung war ihm anzuhören.

»Versuch doch, sie wegzuschlagen, Franzose.« Jockels Blick wirkte ausdruckslos und die Stirn hohl, als arbeite dahinter überhaupt kein Verstand. In seiner ganzen Grobheit hatte dieser Kerl etwas Selbstgefälliges. Warum beendete der ältere Bruder dieses unwürdige Schauspiel nicht endlich?

Paul drehte sich zur Seite, und für einen Moment glaubte Claire, er würde nun doch seinen Körper einsetzen, einerlei, ob es der Sonntag Lätare war oder nicht. Er wollte, schien es, die Haeusers glauben lassen, er wende sich ab, um sich dann mit der linken Schulter– und mit Wucht– den Weg freizuschlagen. Wenn die Freunde nachdrängten, würden die beiden Gerber ihre Stellung nicht halten können. Sie selbst, mit ihren weichen Beinen, war nicht in der Lage, vorwärtszuschreiten. Ihr Griff um Isabels Hand wurde fester.

Mathieu schien die gleiche Ahnung zu haben wie sie, er machte seinen Arm lang und legte Paul die Hand auf die Schulter. Paul nickte ihm zu, und Claire erkannte, dass sie sich getäuscht hatte. In seinem Gesicht war keine Angriffslust.

Die kleine Isabel drängelte sich nach vorn, zu Paul. Die Hand des Mädchens griff nach dem Zeigefinger ihres Vaters.

»Papa.«

Sie betonte das zweite A, wofür Claire ihr einen Kuss hätte geben können. Die Aussprache ihres Töchterchens war eine Wohltat nach diesem derben deutschen Dialekt. Isabel trug ihren silbernen Reif im Haar und hatte die dunklen Augen weit geöffnet. Die Augen ihrer Mutter, wie Bekannte immer wieder erklärten. Als seien sie von einem himmlischen Zeichner kopiert worden, hatte der Schwiegervater einmal gesagt.

»Papa, mir ist kalt.«

»Wir gehen gleich hinein.« Er strich ihr über den Kopf.

Claire fragte sich, ob sie Paul bitten durfte, sie nach Hause zu bringen. Die anderen würden dann allein bleiben und überhaupt sähe es wie Feigheit aus, wie ein schwächliches Zurückweichen. Aber sie konnte nicht länger stehen.

Sie sah sich bereits auf die Knie sinken, als Lorenz Haeuser seinen Bruder mit einer kurzen, heftigen Bewegung zur Seite zog. Der Weg war frei. Allerdings hatten die Haeusers nicht etwa eingelenkt; ihr Manöver war schlicht beendet. Die Brüder gingen nun selbst in die Kirche. Claire hörte ein Lachen des jüngeren Gerbers, und darin lag Freude über den Sieg und vielleicht auch Erleichterung.

2

In der Kirche brannten ein paar Kerzen in ihren Wandträgern. Auf den Jacken und Mänteln der Gläubigen taute der Schnee, und die feuchte Wolle verband sich mit dem Holz der Bänke zu einem beißenden Geruch. Claire wandte sich ab.

Sie standen in mehreren Reihen im Seitenschiff. Vor ihnen, in der Mitte, waren alle Plätze von den Deutschen besetzt, die ausnahmslos nach vorn starrten, wo neben dem Altar ein hohes hölzernes Kreuz hing. Kaum jemand sprach. Es war eng, Arm und Schulter des Schwiegervaters drückten gegen Claire. Seine Miene war reglos. Sie hätte gern gewusst, was in ihm vorging und was er vor der Kirche empfunden hatte, als die Haeusers ihnen den Weg versperrt hatten.

Sie strich sich vorsichtig über den Bauch. Eine Stunde würde der Gottesdienst dauern, eine endlose Zeit. Sie legte die andere Hand auf Isabels Schultern, um sich ein wenig abzustützen.

Ihre Tochter trat von einem Bein auf das andere, dabei machte sie den Hals lang. Der Bäcker Armand mit seiner Frau stand direkt vor ihr, und sie konnte nichts sehen. Jetzt hielt Isabel sich die Nase zu. Sie versuchte es zu verbergen, wie eine zufällige Berührung sollte es aussehen, doch sie hatte mit Absicht zwei ihrer kleinen Finger in die Nasenlöcher geschoben. Claire lachte.

Ihre kreisenden Handbewegungen konnten den Unterleib nicht beruhigen, und die Enge machte alles nur noch schlimmer. Sie versuchte sich abzulenken und wanderte mit den Augen durch die Kirche. Der Raum war– natürlich– lutherisch eingerichtet, der Pastor stand erhöht über der Gemeinde an einem Steintisch, er sprach zu ihnen, nicht mit ihnen wie bei den Reformierten. Neben ihm, auf dem Altar, lag aufgeschlagen das Buch, das von zwei kreuzverzierten Kerzen eingerahmt wurde. Etwas weiter links gab es auf halber Höhe an einem Stützpfeiler sogar eine Kanzel mit einem Baldachin. Zur Predigt stieg der Pfarrer die Treppe hinauf und stand dann noch höher über der Gemeinde, zu der er vom richtigen und gottgefälligen Leben sprach.

Claire zog es hinaus, weg aus dieser Kirche, an die frische Luft und dann nach Hause. Sie sprach sich aufmunternde Worte zu– nur nicht nachgeben, der Bauch würde sich schon wieder beruhigen.

Vor ihr wurde ein Stuhl in die Höhe gehoben. Der ältere der Haeuser-Brüder hatte ihn an einem Fuß gepackt, als wiege er nicht mehr als ein Stock. Er hielt ihn in Pauls Richtung, doch dabei sah er zu ihr und nickte kaum merklich. Ohne seine Mütze hatte er ein volleres, zugänglicheres Gesicht. Claire wandte sich ab.

Paul fragte sie stumm, ob er das Angebot für sie annehmen solle. Sie gab keine Antwort. Was war das für eine seltsame Aufmerksamkeit dieses fremden Mannes? Er hielt den Stuhl weiterhin in die Höhe, über die Köpfe der Sitzenden und der Stehenden hinweg, die ganze Geste dauerte schon lange, und andere Leute hatten sich zu ihnen umgedreht. Warum starrte er sie so an?

Paul wartete nicht mehr auf Claires Antwort, er griff zu. Er brauchte beide Hände, um den Stuhl zu sich herüber zu heben. Der Schwiegervater bemühte sich, etwas Raum zu schaffen, sodass sie das klobige Möbel auf den Fußboden stellen konnten.

Claire atmete durch. Sie setzte sich nicht, sondern folgte dem Gerber mit den Augen. Er stieg über die Beine und Füße seiner Platznachbarn, störte sich nicht daran, wenn er sie anstieß– schien das gar nicht zu bemerken –, und drängte weiter vorwärts. Er erreichte den Gang und schritt zu einem Pfeiler, an den er sich lehnte, beide Hände in den Hosentaschen.

Paul legte ihr die Hand auf die Schulter und drückte sie sanft nach unten. Der Stuhl, den der Gerber ihr gereicht hatte, war wacklig, er konnte nur auf drei Beinen stehen und das Flechtwerk war eingerissen. Doch andere gab es hier nicht. Claire setzte sich.

Das Holz der Kirchenbänke knackte. Der Ofen, den der Gemeindediener zu spät angeheizt hatte, begann zu arbeiten. Die aufkommende Wärme vermischte sich mit der Feuchtigkeit und der Enge. Claire hielt sich die Nase zu, wie Isabel es getan hatte. Sie war froh um ihren Platz, und ihr Bauch dankte ihr die Entspannung. Sie schloss die Augen.

Am Altar begann der lutherische Pfarrer seine Predigt. Es gab auch einen reformierten Pastor, einen Schullehrer und Laienprediger, der sich mit dem Lutheraner abwechselte, nur war der seit vielen Wochen krank. Der Pfarrer sprach von Hoffart. Sie verstand dieses Wort nicht, Hoffart, schon gar nicht hätte sie es aussprechen können, sie begriff nur, dass es sich um etwas Schlechtes handelte. Hoffart, rief die laute Pfarrerstimme, sei es, sich für von Gott auserwählt zu halten. Gott liebe alle seine Kinder gleichermaßen, er unterscheide nicht und habe nicht die einen mehr lieb und die anderen weniger. Es sei zwar wahr, dass Gott sein Volk aus Ägypten geführt habe, wie die Bibel berichte. Allerdings sei deshalb nicht jedes Volk, das seine Heimat verlasse, von Gott geleitet. Das zu meinen, sei hoffärtig.

Sie wusste nun, dass es um die Franzosen ging, um ihre Leute, um sie selbst. Als anmaßend sollten sie dargestellt werden– und das war es wahrscheinlich, was Hoffart bedeutete: Anmaßung.

Paul stand neben ihr. Die Handschuhe hatte er ausgezogen und sorgfältig übereinandergelegt. Er hielt sich gerade, der lange Gehrock mit dem schwarzen Samtkragen betonte seine schlanke Figur. Die Kniehose saß, die Strümpfe waren neu. Von allen Männern in der Kirche war er sicher der bestangezogene. Ihr Mann; und dennoch rätselte Claire, was in ihm vorging.

Klarer als alle anderen, die sie kannte, verfolgte er ein übergeordnetes Ziel. Er wollte hier in Berlin nicht nur leben, sondern dazugehören. Trotzdem musste er die Demütigung empfunden haben, die ihre ganze Gruppe vor der Tür erlitten hatte. Wo steckte er sie hin? Empfand er denn gar keine Wut?

Er von sich aus würde nicht über diesen Morgen reden. Solcherlei Dinge waren kein Gesprächsthema zwischen ihnen, es sei denn, sie verlangte es und drang in ihn. Stand er so weit über diesen Menschen, den Wegversperrern und Beleidigern, dass die ihn gar nicht treffen konnten? Nicht diesen Sonntag, nicht nächsten und auch nicht in einem Monat?

Sie hatte dem Pfarrer nicht mehr zugehört, und jetzt schwieg die harte Stimme. Keine Hoffart mehr– was für ein scheußliches Wort, sie würde es nie sprechen können. Für Worte, die mit dem Buchstaben H begannen, war ihre Kehle einfach nicht gemacht.

Der Pfarrer forderte die Gemeinde auf, zu singen, und das war nun das Allerschlimmste, dieses Gebrumme, diese Lieder. Sie wusste schon, welches das letzte sein würde– ›Eine feste Burg ist unser Gott‹, das änderte sich nie. Der Pfarrer stimmte immer nur lutherische Lieder an, als wenn er ein besonderes Vergnügen daran empfand, dass sein Kollege krank war. Claire hatte Sehnsucht nach einem reformierten Lied. Es musste ja nicht auf Französisch sein.

Sie hörte Isabels klare Stimme. Das Mädchen sang deutsch wie eine Deutsche. Paul hingegen bewegte die Lippen nicht, genauso wenig wie viele andere Réfugiés. Von ihrem Sitzplatz aus berührte sie vorsichtig seine Hand. Sie legte ihre Finger in seine, spürte aber keine noch so leichte Erwiderung. Paul mochte derlei Dinge in der Öffentlichkeit nicht. Claire zog ihre Hand zurück.

Außer feuchter Wolle um sich herum und der weißen, mit Gold abgesetzten Kirchendecke sah sie nichts. Sie hörte ein unruhiges Schaben und wusste, was das bedeutete– die Berliner gingen nun nach vorn und empfingen ihr Abendmahl. Claire zeigte es nie, doch in ihren Augen hatte die Bedeutung, die die Lutheraner dem Abendmahl beimaßen, etwas Naives. Sie glaubten tatsächlich, das Brot sei der Leib Christi– nicht etwa ein Symbol dafür, nein, der tatsächliche Leib. Und der rote Wein, den sie tranken, sei sein Blut.

Sie schienen sich nie zu fragen, wie aus dem Fleisch des toten Körpers Brot geworden sein konnte und wieso dieses Brot niemals aufgegessen war, seit Jahrhunderten nicht. Diese Leute hatten etwas Kindliches, in ihrem Wunderglauben genauso wie in ihrer Art, ihre Kirche zu schmücken. Die Holzskulpturen in den Nischen, die Heilige darstellen sollten, waren fast so bunt wie bei den Katholiken zu Hause. Kindlich, nein kindisch war auch die Art der Haeusers, ihnen den Weg zu versperren. Unerzogen waren diese Menschen, und inmitten von denen mussten sie leben.

Sie schloss die Augen. Die abgestandene Luft stieg ihr in die Nase. Sie stellte sich vor, im Bett zu liegen, die Decke bis ans Kinn gezogen, zu schlafen, bis sie wieder bei Kräften war. Dass sich die Kirche leerte, konnte sie hören, das brauchte sie nicht zu sehen. Wer sein Abendmahl empfangen hatte, schlurfte hinaus. Sie, die sie im Seitenschiff waren, mussten warten.

Als Paul sie aufforderte, mit ihm nach draußen zu gehen, blieb sie sitzen. Innen vor der Tür drängten sich noch die Leute, und sie mochte dort nicht stehen. Minutenlang wartete er bei ihr, bevor sie sich erhob.

Vor der Kirche atmete sie die klare Luft ein. Es schneite nicht mehr, aber ihr schien es, als habe der Schnee nur eine Pause eingelegt. Der Vorplatz war weiß, und auf den Hausdächern war eine dünne Schneeschicht liegen geblieben. Von der Sonne war nichts zu sehen.

Sie legte die Hände ineinander und dachte an den Herrn. Es sei keine Missachtung, versicherte sie ihm, wenn sie beim Gottesdienst nicht mitsinge, sie liebe ihn mehr als alles und sei mit ihrem ganzen Wesen seine Tochter. Sie richtete einen kurzen Blick hinauf zu dem grauen Himmel. Dann suchte und fand sie Isabels Hand.

Wie immer standen die Berliner und die Flüchtlinge in getrennten Gruppen vor der Kirche. Paul war bereits unterwegs zu ihren Freunden. Claire folgte ihm.

Sonntags nach dem Gottesdienst traf sich der Vorstand der französischen Gemeinde. Claire wünschte sich, dass die Sitzung heute ausfiele, sie wollte mit Paul nach Hause gehen, sich ein wenig ausstrecken, eine Tasse Tee trinken und ihm erzählen, was sie über die Kindlichkeit der Brandenburger dachte. Vor allem wollte sie erfahren, wie tief die Demütigung ihn getroffen hatte.

Sie erreichte ihn, als er schon bei den anderen war, bei Mathieu und Armand und Simonet und bei ihrem Schwiegervater. Nur Pignot, der nicht zum Vorstand gehörte, war dabei, sich zusammen mit einer Gruppe von Landsleuten zu entfernen. Er stützte seine schwangere Frau, und Claire wünschte sich, mit Paul genauso davongehen zu können.

Sie schob ihre Hand in seinen Arm und machte ein leidendes Gesicht. In Wahrheit hatte sich ihr Bauch beruhigt, das Sitzen hatte ihr gutgetan. Dennoch gab sie Paul das Gefühl, er müsse sie halten.

Die Männer waren schweigsam. Es stand die Frage zwischen ihnen, in wessen Haus der Gemeindevorstand zusammenkommen sollte. Armand, der Bäcker, bot sich an, aber keiner der anderen ging darauf ein. Claire fühlte sich von ihrem Schwiegervater gemustert. Sie fürchtete, er durchschaue sie, deshalb ließ sie den Kopf ein wenig mehr hängen als nötig. Der Schwiegervater erklärte, ohne den Blick von ihr zu lassen, er würde gern nach Hause gehen und sich ein wenig sammeln. Deshalb plädiere er dafür, die Zusammenkunft auf den Nachmittag zu verschieben.

Über Claires Mund flog ein Lächeln. Sie warf einen zweiten kurzen Blick hinauf zum Himmel und bedankte sich. Die anderen Männer murmelten Einverständnis. Sie verabredeten, sich später bei Armand zu treffen. An Pauls Arm ging Claire nach Hause. Die meisten Deutschen waren schon verschwunden. Von den Gerber-Brüdern war nichts mehr zu sehen.

3

Der Wind warf die Schneeflocken, die vom Himmel fielen, hin und her. Paul hatte den Mantelkragen aufgestellt. Seine Finger steckten in Handschuhen, die mit Lammfell gefüttert waren. Die Augen tränten ein wenig. Um sie vor der Kälte und dem Schnee zu schützen, blinzelte er nur noch. Deshalb dauerte es ein wenig, bis er sich sicher war, dass der Mann mit dem gesenkten Kopf am Ende der Straße sein Vater war. Paul wusste, dass es für ihn ein Tag der Trauer war, es jährte sich der Tod seines älteren Sohnes. Der Vater kämpfte ebenfalls gegen den Wind und vielleicht auch gegen die Erinnerungen.

Armand bewohnte ein Haus, das seinem sehr ähnlich war, gelb getüncht, zweistöckig, ein Neubau, wie es sie überall im Viertel gab. Die Häuser der Zugezogenen. Man hörte viel Französisch auf den Straßen. Hinter seinem Haus hatte sich Armand die Backstube gebaut, in der er jeden Morgen arbeitete. Im ersten Stock lagen die Kammern der Gesellen. Armands Brot war das Beste, das man hier kaufen konnte, helles Brot in Stangenform.

Kurz vor der Haustür hatte Paul seinen Vater eingeholt. Mit einem leichten Druck legte er ihm die Hand auf die Schulter. Der Vater sah ihn an. Er hatte Schneeflocken auf den Augenbrauen. In seinem Gesicht konnte Paul nichts erkennen, keine Freude, keinerlei Gemeinsamkeit. Es war wie immer reglos.

Sie kamen als Letzte in die Stube. Mathieu, Simonet und Armand saßen um einen ovalen Tisch, der mit einer gestickten Decke verziert war. Eine Porzellanschale war mit Patisserie gefüllt, es roch nach Café, und für jeden der Gäste war eine Tasse gedeckt. In der Mitte des Tisches stand eine silberne Kanne.

»Liebe Freunde, nehmt Platz, dann können wir anfangen.« Armand hatte eine Perücke aufgezogen, sein Gesicht war gepudert. Er wies das Zimmermädchen an, Café einzuschenken, bediente sich selbst mit Gebäck und sagte, während er noch kaute: »Greift zu. Ganz frisch.«

Armand nahm sich einen zweiten Keks. Er trug einen Rüschenkragen ohne Knöpfe um seinen dicken Hals, Paul kannte es nicht anders von ihm. Armand biss in seinen kleinen Kuchen, hielt sich, was übrig geblieben war, vor die Augen und nickte, bevor er sich die zweite Hälfte in den Mund schob.

»Wo wollen wir nächsten Sonntag zu Gott beten, lieber Armand?« Das war Simonet mit seiner spitzen Stimme.

Armands Mund war noch nicht wieder leer. »Na, in der Kirche. Was glaubst du denn?«

»Wenn sie uns hineinlassen.«

Das Lächeln verschwand aus Armands Gesicht. »Ach, das meinst du. Daran hatte ich im Moment gar nicht gedacht.«

»Das solltest du aber.«

»Ich bin mit Simonet einer Meinung«, sagte Mathieu. »Wir müssen darauf vorbereitet sein, dass sie uns nächsten Sonntag wieder den Weg versperren werden. Wie wollen wir reagieren?«

»Eine weitere Prüfung«, sagte sein Vater Bertrand. Paul hörte sein Bemühen um eine feste Stimme. »Eine Prüfung, die Gott uns auferlegt. Wir wollen sie mit Würde tragen.«

Wie mochte der Vater die Zeit seit dem Kirchgang verbracht haben? Er wohnte bei Landsleuten, bei alten Freunden, in einer kleinen Wohnung unter dem Dach. Bei seinem Sohn zu leben, hatte er mehrfach abgelehnt. Das Licht von Armands Öllampe fiel so, dass Bertrand im Halbschatten saß. Er wirkte erschöpft. Vielleicht war er auch einfach nur traurig.

Paul nahm sich vor, ihn auf dem Heimweg zu begleiten.

»Und Sonntag für Sonntag vor der Kirche stehen und warten, bis dieser Hohlkopf von einem Gerber so gnädig ist und uns reinlässt?«, fragte Simonet. »Oder bis die Deutschen alle drinnen Platz genommen haben?«

»Wenn das Gottes Wille ist, ja«, erwiderte Bertrand.

Armand hatte einen weiteren Biskuit verspeist. Er beeilte sich, den Mund zu leeren und wischte sich mit dem Handrücken den Zucker von den Lippen. »Ich habe eine andere Idee.«

»Nämlich?«, fragte Mathieu.

»Wir verhalten uns klug und gehen aller Konfrontation aus dem Weg.«

»Ach. Und wie?«, fragte Simonet.

»Ganz einfach: Wir treffen uns in unseren Häusern zum Gottesdienst. Einen Sonntag bei mir, dann bei Paul, dann vielleicht bei dir, Mathieu, oder bei Simonet. So halten wir es ein paar Wochen, dann kehren wir zurück. Bis dahin haben sie die ganze Sache vergessen.«

»Gottesdienst ohne Pfarrer und in privaten Wohnungen?«, fragte Mathieu. »Müssen wir uns schon wieder verstecken?«

»Einen Pfarrer haben wir doch.«

»Ja, einen schwer kranken.«

Seit dem Morgen wusste Paul, dass heute der Tag war, seinen Vorschlag vorzutragen. Während des Gottesdienstes, als der Pfarrer gegen die Franzosen gepredigt und die Lutheraner ihre Lieder angestimmt hatten, hatte er sich dazu entschieden. Es machte keinen Sinn, länger zu warten. Er trank einen Schluck Café– die Bitterkeit des Getränks wurde größer, wenn es abkühlte– und hörte auf das leise Klirren, als er die Tasse auf die Untertasse zurückstellte. »Ich habe auch eine Idee.«

Die anderen sahen ihn an, alle gleichzeitig. Selbst Armand schien nicht mehr auf Mathieus Einwand reagieren zu wollen.

Paul ließ ein paar Sekunden verstreichen.

»Wir bauen unsere eigene Kirche. Eine französische und reformierte Kirche, hier in Berlin.«

Sein Vater verzog den Mund. Mathieu schmunzelte.

Paul war klar, dass für keinen von ihnen der Gedanke neu war. Die Jerusalemkirche war seit Langem zu eng, und sie hatten bei verschiedenen Anlässen über ein eigenes Gotteshaus gesprochen. ›Man müsste… es wäre richtig… irgendwann einmal…‹

Doch jetzt mussten sie sich mit einem offiziellen Vorschlag auseinandersetzen.

Der Erste, der sich zu Wort meldete, war Mathieu: »Das war die Empfehlung des Gerbers, und du hast gesagt– heute Morgen noch –, du bräuchtest von ihm keine Ratschläge.«

»Nein«, erwiderte Paul, »um diesen Gerber geht es in keiner Weise. Der Mann ist mir völlig egal. Ich denke schon länger über einen Neubau nach und wir wissen alle, ich bin nicht der Einzige. Die Jerusalemkirche ist die Kirche einer anderen Religion. Seht allein die bemalten Fenster an und diese Heiligenskulpturen– das ist fast wie in Notre Dame. Und es widerspricht Gottes Gebot.« Er zögerte, sie zu belehren. Doch er setzte sich darüber hinweg: »Du sollst dir kein Bildnis machen.«

Bertrand lachte, aber es lag keine Heiterkeit darin. »Eine eigene Kirche.« Er hatte einen überlegenen Tonfall, so sprach ein Alter zu einem naiven Jüngling. »Hast du eine Vorstellung davon, was das kostet, mein Sohn? Der Bauplatz. Die Steine, das Holz, die Handwerker?«

»Ich bin ein Kaufmann wie du, Vater, und ich weiß, dass eine Kirche mehr kostet, als wir bezahlen können.«

Armand winkte ab. »Brauchen wir gar nicht drüber nachzudenken.«

»Das finde ich doch. Die sinnvolle Reihenfolge ist: Wir entscheiden, was wir wollen. Im zweiten Schritt überlegen wir, wie wir die Mittel dazu aufbringen.«

Paul nahm sich, obwohl er sich aus Süßem nicht viel machte, eine der kleinen Patisserien von Armand und biss hinein. Während er die zuckrigen Mehlkrümel schmeckte, sah er zu, wie sich die anderen Übrigen Luft machten. Mathieu und Armand redeten gleichzeitig und hörten einander nicht zu. Simonet schob beide Hände in seine Hosentaschen, zog sie wieder hervor und zeigte allen, dass sie leer waren. Auch diese Vorführung wurde nicht weiter beachtet. Man könne, hörte Paul schließlich Mathieu, mit diesem Anliegen sicher nicht zum Kurfürsten gehen, denn der würde denken, die Neubürger seien unverschämt. Und außer ihm gab es niemanden, der so viel Geld besitze.

Die anderen stimmten zu.

»Außerdem reizen wir die deutsche Bevölkerung«, ergänzte Bertrand. »Und das ist dumm. Mehr als dumm, es ist gefährlich.«

»Wer wen reizt– ich fürchte, darüber habe ich eine andere Meinung«, entgegnete Paul. Er sprach höflich und rücksichtsvoll zu seinem Vater und sagte dann zu Mathieu: »Warum sollten wir mit einer solchen Bitte nicht zum Kurfürsten gehen? Er hat uns schließlich Religionsfreiheit zugesichert.«

»Das hat er eingehalten«, antwortete Bertrand anstelle des Arztes. »Wir haben Religionsfreiheit. Wir dürfen beten, wie wir wollen, niemand hindert uns daran, kein Nachbar, kein Soldat. Bloß: Eine eigene Kirche hat er uns nicht versprochen.«

»Ohne eigene Kirche können wir nicht nach unserer Art beten.«

Sein Vater verzog den Mund. »Der Kurfürst hat uns Zuflucht geboten. Er hat sich genau so verhalten wie die Schweizer Städte, wie die Niederlande oder England. Zuflucht, Schutz– das hat unser Leben gerettet. Dafür wollen wir dankbar sein.«

Vielleicht war es doch der falsche Abend für dieses Thema– der Trauertag seines Vaters. Aber was konnte er dafür, dass sich die Berliner für ihre Demütigung ausgerechnet diesen Morgen ausgesucht hatten. »Wir sind dankbar«, sagte er und gab sich Mühe, seine Worte weiter freundlich klingen zu lassen. »Ich bin es. Doch wir haben auch etwas mit uns gebracht, das wir diesem Land Brandenburg gegeben haben. Unser Wissen und Können.«

»Zweifellos. Und trotzdem: Religionsfreiheit heißt nicht, dass fremde Staaten uns Kirchen bauen.«

Die anderen hörten zu. Armand kaute Biskuits, Simonet starrte vor sich hin. Mathieu schien auf einen günstigen Moment zu warten, um sich einmischen zu können.

Paul verlangte von sich, die Debatte zu beenden. »Fremde Staaten?«, fragte er.

»Ja, sicher. Ein fremder Staat.« Sein Vater hatte tiefe Falten auf der Stirn, die Haare waren grau, die Augenbrauen ebenfalls und die Mundwinkel zeigten nach unten. Paul wusste, der Vater verdiente seine Unterstützung, heute, an Alexandres Todestag, noch mehr als sonst. In diesem Augenblick sah er aber auch, scharf wie nie, wie falsch die Haltung des Alten war. »Brandenburg ist für uns kein fremder Staat.«

Plötzlich hatte er begriffen, warum der Vater so sehr litt– weil er nicht akzeptierte und Gottes Prüfung in Wahrheit nicht annahm. Er lebte hier, sein Herz hingegen schlug weiterhin in Frankreich. Es war nie in Deutschland angekommen.

»Dieses Land ist jetzt unsere Heimat, und das ist der Grund, warum ich vorschlage, in Berlin eine Kirche zu bauen. Wir leben hier– und hier werden wir in Zukunft leben.«

Bertrand schüttelte den Kopf. »Wir werden nicht ewig bleiben.«

Paul musste nun zu Ende bringen, was er angefangen hatte. Sein Vorsatz, Rücksicht zu nehmen, war verblasst, nur in seinem Tonfall, dem er weiterhin alle Schärfe nahm, blieb ein Rest davon. »Vater, wir können nicht zurück. Wir sind vertrieben worden.«

»Das weiß ich, ich war dabei, vielleicht erinnerst du dich. Aber ich weiß auch, selbst ein Vierzehnter Ludwig lebt nicht ewig. Und sei der Tag auch noch so lang, sogar die Sonne muss irgendwann untergehen…«

»… und der Nacht weichen. Möchtest du wieder neben denen wohnen, die dich angespuckt haben? Die unsere Freunde erstochen und erschlagen haben, nur weil sie an die Lehre Calvins glaubten. Die unsere Kirche in Charenton niedergebrannt haben. Die unseren Glaubensbrüdern die Kinder wegnehmen und in Heime sperren wollten, damit sie dort im katholischen Glauben erzogen werden. Und die… die… deinen Sohn…«

»Hör auf«, schrie Bertrand und hielt sich die Ohren zu.

Pauls Wangen waren heiß. Er wandte sich ab.

Die anderen blickten zu den Wänden, an denen dunkle Porträts von Armands Ahnen hingen, oder sie starrten auf ihre Schuhe. Mathieu war der Erste, der zum Vater genauso wie zum Sohn wieder Blickkontakt aufnahm. Er hatte beide Hände vor seine Brust gehoben.

Doch noch ehe er etwas sagen konnte, erklärte Bertrand mit zitternder Stimme und auf Französisch: »Ich bin Franzose.«

»Ein Franzose, der den Heimatboden nie wieder betreten wird«, entgegnete Paul auf Deutsch.

4

Lorenz Haeuser kam am Ende eines freudlosen Tages nach Hause. Er war sich nicht sicher, was ihm fehlte, er wusste nur, dass irgendetwas nicht stimmte. Ausgiebig klopfte er seine Schuhe mit Spitzen, Längsseiten und Hacken gegen die Steinstufe vor seinem Haus, damit Schnee und Lehm abfielen. Als er sich dabei umdrehte, schien ihm das Licht ins Gesicht, das die Öllampen und Kaminfeuer in der Nachbarschaft erzeugten. Die Leute saßen beieinander und erzählten.

Nur er war allein.

Er hätte es nicht zu sein brauchen. Sonntagabends trafen sich die Gerber in der Wirtschaft, saßen an immer dem gleichen langen Tisch, quatschten durcheinander und tranken das Bier krügeweise. Er war nicht gegangen, er hatte keine Lust. Seine Schuld.

Im Haus empfing ihn feuchte Kälte. Er warf Stroh und Holzstückchen in den Ofen, zündete beides an und ließ die Lüftungsklappe offen stehen. Sein Wohnraum kam ihm heute besonders kahl vor. Die beiden Stühle standen akkurat an dem kleinen Tisch, die Türen des Vorratsschrankes waren geschlossen. Die dünnen Holzfasern vor dem Ofen, die beim Anheizen heruntergefallen waren, waren das einzig Unordentliche im Zimmer.

Lorenz überlegte, die Tür zur oberen Kammer zu öffnen. Die Bettdecke würde klamm sein. Er schüttelte den Kopf. Das war seine Wintermethode: Wenn es wirklich kalt war– vor vier Wochen noch– heizte er den Ofen richtig ein und ließ die warme Luft auch nach oben ziehen. Jetzt war das nicht mehr nötig. Es wurde Frühling. Die paar Schneeflocken, die noch fielen, waren bereits Rückzugsgefechte des Winters.

Lorenz steckte seine Lampe an, stellte die Schuhe auf ein Brett am Eingang und hängte die Mütze an ihren Haken. Als die erste Ladung runtergebrannt war, fütterte er den Ofen mit dickeren Scheiten. Er schloss die obere Klappe– die Luft musste noch zirkulieren, deshalb ließ er die untere geöffnet– und fühlte mit den Händen, wie die Steine die Wärme aufnahmen und nach außen abgaben. Das verbrennende Holz knackte.

Er war ein Handwerker, kein Mensch, der sich damit beschäftigte, sich viele Fragen über den Zustand seiner Seele zu stellen. Mit seiner breiten und mittlerweile warmen Hand fuhr er sich in die Hose und fühlte sein Gemächt. Augenblicklich gab es eine Reaktion. Vielleicht war es das, was ihm fehlte. Ein Mann brauchte da unten von Zeit zu Zeit Erleichterung.

Der Ofen zog nach Kräften. Lorenz schloss die Lüftungsklappe und drehte die Schraube fest. Das Beste würde sein, er ginge ins Bett und morgen früh ausgeruht in die Werkstatt. Er hätte gar nicht mehr anzuheizen brauchen. Einerlei– Holz kostete nicht viel, er schlug es selbst und ließ es den Lehrjungen kleinmachen.

Er pinkelte in den Nachttopf, den er gleich zum Fenster hinaus entleerte. Oben, in der Schlafkammer, in der es außer seinem Bett nur ein paar Wandhaken gab, entkleidete er sich. Als die Kälte ihn allzu sehr anging, blies er sich mit Atem auf, nahm seinen Willen zusammen und blieb stehen, bis ihm wieder warm wurde. Dann legte er sich hin.

Der Schlaf kam schnell. Jemand hämmerte an seine Tür. Lorenz arbeitete das Klopfen in seinen Traum ein. Doch es hämmerte erneut. »Meister Haeuser«, hörte er, »mach auf.« Und noch einmal und lauter: »Haeuser!«

Das war kein Traum. Er vermutete jemanden aus der Gerberbruderschaft, der ihn ins Wirtshaus holen wollte. Barfuß und im Nachthemd stieg er die Treppe hinunter. Er war in der Laune, dem anderen die Meinung zu sagen. Ein zweites Mal würde ihn heute Nacht keiner stören, das war mal sicher.

Draußen war es so dunkel, dass Lorenz kein Gesicht erkennen konnte, zumal der Besucher kein Licht bei sich hatte. Er hörte nur eine atemlose Stimme: »Meister Haeuser, ich bin’s, der Julius, der alte Grenadier, der in der Hütte gleich neben dem Zunfthaus wohnt. Du kennst mich.«

»Was willst du? Es ist dunkel.«

»Ich weiß, aber du musst mitkommen.«

Langsam erkannten seine Augen ein paar Umrisse. Julius trug seinen Soldatenrock, eine alte, abgewetzte Jacke. Er musste eilig aufgebrochen sein, denn er hatte sie nicht einmal zugeknöpft. Da er einarmig war, drohte ihm die Jacke von der Schulter zu rutschen.

»In die Wirtschaft? Bestell denen…«

»Nicht zum Steinkrug. Ins Zunfthaus.«

»Warum denn das? Es ist Sonntag.«

Julius drängte. »Ich weiß. Trotzdem. Dein Bruder, der Jockel…«

»Was ist mit dem?«

»Er ist die Treppe runtergefallen.«

Kein Grund, ihn aus dem Schlaf zu reißen. »Da kann ich doch nichts dafür.«

»Er ist wohl schwer verletzt.«

Jockel hatte davon gesprochen, im Zunfthaus Werkzeug zu holen, bevor er zum Steinkrug ginge. Offenbar hatte der dumme Junge die Reihenfolge geändert.

»Ein paar auf den Hintern hat er verdient, der Narr… Gut, ich komme. Warte, dass ich mich anziehe. Ist jemand bei ihm, der ihn versorgt?«

»Der Blisko ist da.«

»Der Pferdearzt?«

Julius wandte sich ab. »Ein gebrochenes Genick sieht bei einem Tier nicht viel anders aus als bei einem Menschen«, sagte er in Richtung Straße.

Als Lorenz mit dem Einarmigen durch die Nacht marschierte, sprach er kein Wort. Er fragte nicht einmal, ob Jockel wirklich tot war. Von den fünf Geschwistern Haeuser, die miteinander aufgewachsen waren, war er nun der letzte. Oh, es gab viele Haeusers in Berlin, manchen fernen Verwandten, außerdem mehr Neffen und Nichten, als er aufzählen konnte, und bestimmt würde aus dem einen oder anderen ein brauchbarer Gerber werden. In seiner Generation allerdings, von den Kindern seiner Eltern, war er nun der einzige.

Jockel lag im Zunfthaus am Fuß der Treppe auf dem Rücken, blass, die Augen weit aufgerissen. Er hatte eine Wunde am Kopf. Das Blut war getrocknet. Es hatte seine blonden Haare verklebt, die ihm in Strähnen in die Stirn fielen. Um ihn herum lag Gerber-Werkzeug, zwei Falzeisen und ein Schlichtmond. Lorenz war versucht, es aufzuheben, bremste sich jedoch.

Blisko, der Tierarzt aus der Friedrichstadt, stand zusammen mit ein paar anderen, die wahrscheinlich wegen des Lärms herbeigekommen waren, neben ihm. Blisko war ein kräftiger Kerl, einen ganzen Kopf größer als die Gaffer aus der Nachbarschaft, mit breiten Armen und Händen, der ein falsch liegendes Kalb aus einer Kuh ziehen konnte oder ein störrisches Fohlen aus einer Stute. Dass er einem Menschen zu helfen wusste, bezweifelte Lorenz.

Er kniete sich neben Jockel, schloss ihm die Augenlider und griff nach seiner Hand, die schon kalt war. Der Junge roch. Nicht nur nach dem, was ein Gerber nie ganz los wurde, nach der Lohe. Auch nicht allein nach Schweiß. Er hatte getrunken.

Lorenz stellte sich auf. »Blisko?«

»Er lag auf dem Bauch, ich hab ihn umgedreht. Er muss von oben heruntergefallen sein.« Mit Schwung warf Blisko seinen Kopf in den Nacken. »Und dann bricht das Genick.«

»Er war tot, als du kamst?«

»Mausetot.«

Sie standen im großen Saal des Zunfthauses. An der Wand, weit oben, hingen die holzgeschnitzten Wappen aller Berliner Zünfte, und das der Gerberzunft, das stolzeste von allen, hatte seinen Platz in der Mitte. Im Saal fanden Versammlungen statt, und manchmal wurden die Tische beiseitegeräumt und eine Kapelle spielte und es wurde getanzt. Heute Abend verlor sich das Grüppchen in dem großen ungeheizten Raum, ihre Worte hallten durch die kalte Luft. Der Fußboden war aus grobem Stein. Härter als der Kopf des Jungen.

Lorenz sah die steile Treppe hinauf. Oben hatte jede Zunft ein eigenes Zimmer, in dem Werkzeug oder Vorräte und anderes Material gelagert wurden. Von den Gerbern lag die Amtslade dort, mit den Unterschriften aller Zunftbrüder. Es gab Werkzeug, das allen gehörte, dazu zählte der große Schleifstein, den Jockel benutzt hatte.

Die Treppe hatte einen Handlauf. »Wie kann man da runterfallen?«

»Viel braucht es nicht«, erwiderte Blisko, »Werkzeug in jeder Hand, zu viel Bier im Kopf, ein Fehltritt, vielleicht weil einer schnell wieder in den Steinkrug will, das reicht.«

Lorenz nickte.

Die Männer standen um den Toten herum, keiner sprach, man sah zu Boden oder rieb sich die kalten Hände aneinander. Offenbar mochte niemand der Erste sein, der sich davonmachte. Vielleicht hatte es auch keiner besonders eilig. Julius bot sich schließlich an, eine Holzkarre zu besorgen, um den Leichnam wegzuschaffen. Lorenz würde ihm ein paar Pfennige zustecken müssen.

Blisko, Julius und die anderen verschwanden. Lorenz setzte sich auf eine der Treppenstufen, er wollte warten und dem Einarmigen mit der Leiche helfen. Vor ein paar Stunden noch hatte er mit Jockel gesprochen, jetzt war der Junge schon fort, stand vielleicht gerade vor seinem himmlischen Richter und verteidigte sich.

Er war ein folgsamer Sohn gewesen und hatte die Frau genommen, die der Vater für ihn ausgewählt hatte, eine Witwe, bestimmt zehn Jahre älter als er. Ihr erster Mann war Meister gewesen und hatte eine Gerberei hinterlassen, das war es, was für den Vater gezählt hatte. So hatte der Alte erreicht, dass beide Söhne Gerbermeister werden konnten. Ob die Karla nun schön war oder hässlich, freundlich oder giftig– der Vater hatte sie sich wahrscheinlich nicht einmal angesehen. Trotzdem hatte Jockel gehorcht, und Lorenz wünschte ihm, dass ihm sein Gehorsam oben im Himmel angerechnet wurde.

Ganz übel schien es der Junge mit seiner Karla am Ende nicht getroffen zu haben. Sie war zwar nicht einfach, hatte ihm aber immerhin zwei Kinder geboren. Erst heute beim Essen, zu dem Lorenz eingeladen war, hatte Jockel sich vor den beiden Kleinen mit seinen Taten gebrüstet und den staunenden Kerlchen erzählt, wie er den Franzosen den Weg versperrt hatte.

Der Handschuhmacher habe sich vor ihm aufgebaut und ihm gedroht, doch er habe nur gesagt: »Versuch’s doch, Franzose.«

Lorenz hatte sich im Gespräch zurückgehalten.

»Auf Dauer kannst du gegen die nichts machen«, entgegnete Karla.

»Aber sicher. Das war erst der Anfang. Demnächst lassen wir sie überhaupt nicht mehr in unsere Kirche, dieses Franzosenpack. Stimmmt’s, Lorenz?«

Die Jungs strahlten. Der Ältere schlug sogar seine kleine Faust in die flache Hand.

Lorenz antwortete nicht. Es schmeckte leidlich, was Karla gekocht hatte, Bohnen mit Speck, dazu Hafergrütze. Er ließ sich einen Nachschlag geben, während er beschloss, sich nicht wieder an einer Wegsperre für die Flüchtlinge zu beteiligen. Er wollte sich nicht noch einmal so schämen müssen wie am Morgen vor der Kirche.

»Dass die Franzosen in die Kirche gehen, kannst du bestimmt nicht verhindern«, sagte Karla.

»Und ob.«

Sie widersprach: »Die Franzosen sind die Lieblinge des Kurfürsten. Was willst du da machen?«

Jockel schlug mit der Faust auf den Tisch, dass ihm Grütze vom Teller schwappte und seine Jungs erschraken. »Dann soll der Kurfürst sie in seine Kirche lassen. Er ist reformiert, die Franzosen sind reformiert– das passt doch.«

Jähzornig war er, räumte Lorenz ein. Er hoffte für den kleinen Bruder, dass ihm diese Schwäche vor dem himmlischen Gericht nicht allzu nachteilig ausgelegt wurde. Zumal sie, Karla, genau wusste, wie sie seinen Jähzorn anstacheln konnte. Da reichte ein höhnisches Lachen: »Die Kirche beim Schloss ist allein für die kurfürstliche Familie.«

Jockel fuhr mit dem Finger durch die Grütze auf dem Tisch und leckte ihn ab. »Soll mir recht sein. Dann müssen die Franzosen eben wieder verschwinden. Die haben ihr eigenes Land. Und von uns hat sie keiner hergebeten.«

Sie steckte nicht auf. »Wohl, der Kurfürst. Ich sag doch: Da kannst du nichts machen.«

»Ach Weib, du wirst schon sehen.«

Es war ihr Haus– das Haus ihres ersten Mannes, der es selbst gebaut hatte, mit großen Räumen und großen Fenstern. Die Möbel hatte er gezimmert, den Eichentisch, an dem sie saßen, die schweren Stühle, die Küche. Ob Karla seinen Bruder gelegentlich spüren ließ, dass sie– sie allein– die eingetragene Besitzerin war?

Jockel nutzte jede Gelegenheit, von zu Hause zu verschwinden. Wer wollte ihm das verdenken? Selbst beim himmlischen Gericht würde man dafür Verständnis haben. Er ließ nie einen Sonntagabend im Steinkrug aus und langte kräftiger zu als alle anderen. Mehr als einmal hatte er Mühe gehabt, auf dem Heimweg seine Schritte noch halbwegs gleichmäßig zu setzen.

Nach dem Essen, schon an der Tür, legte Jockel dem großen Bruder die Hände an die Schultern. »Wir sehen uns nachher.«

»Ich weiß noch nicht, ob ich komme.«

In Wahrheit hatte sich Lorenz bereits entschieden. Er war nicht ganz ehrlich. Ihn grauste bei der Vorstellung, mit den Zunftbrüdern beim Bier in einen allgemeinen Heldengesang über den Franzosenstreich einzustimmen. Er war in keiner Weise stolz auf das, was er getan hatte.

»Natürlich kommst du.«

»Wir werden sehen.«

Jockel schlug ihm auf die Schulter. »Pass nur auf. Ich muss ins Zunfthaus, mein geschliffenes Werkzeug einsammeln, danach gehe ich in die Wirtschaft, und wenn du nicht da bist, bevor ich das erste Bier ausgetrunken habe, hole ich dich.«

Lorenz schlug mit gleicher Härte auf Jockels Schulter. »Jeder, wie er will, Bruder.«

Das waren die letzten Sätze, die sie miteinander gewechselt hatten. Jetzt musste er Karla beibringen, dass sie zum zweiten Mal Witwe geworden war. Kein schöner Gang, aber wenn er ihn hinausschob, wurde er nur noch hässlicher. Julius kam, und Lorenz half ihm, den Leichnam auf seine quietschende Schubkarre zu legen. An ihrem linken Griff hatte der Einarmige eine Schlaufe, die er sich um die Schulter band.

Als Lorenz sich auf den Weg zu seiner Schwägerin machte, war es stockfinster, und er hatte seine Laterne zu Hause gelassen.

5

Die wichtigste Straße durch ihr Viertel– die Friedrichstadt– war die Friedrichstraße. Sie teilte sich in einen alten und einen neuen Teil und führte den ganzen Weg hinunter zur Akzisemauer und auf der anderen Seite bis an die Spree. Paul hatte gelegentlich die Nase gerümpft– und tat das gerade wieder– über die Brandenburger Art, Ortsnamen zu vergeben. Neben Friedrichstadt und Friedrichstraße gab es noch das Viertel Friedrichswerder, eine Friedrich-Brücke, ein Friedrichs-Hospital. Weil der Vater des jetzigen Kurfürsten Friedrich Wilhelm geheißen hatte, hatte Berlin eine Wilhelmstraße und einen Wilhelmsmarkt. Sie mussten nur immer bei diesen beiden Namen– Friedrich und Wilhelm– für ihre Regenten bleiben, dann konnte sich jeder aufs Neue geschmeichelt fühlen.

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