Das Kurhotel auf Norderney - Stürmische Zeiten - Claudia Schirdewan - E-Book
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Das Kurhotel auf Norderney - Stürmische Zeiten E-Book

Claudia Schirdewan

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Beschreibung

Norderney, 1885: Jella und Elisa sind seit ihrer Kindheit enge Freundinnen, die auf der Insel Norderney aufgewachsen sind. Während Jella in der Arzt-Praxis ihres Vaters arbeitet und in einem Kinderheim aushilft, unterstützt Elisa ihre Mutter beim Betrieb der eigenen kleinen Pension, um das Familieneinkommen der Fischersleute ein wenig aufzubessern.

Doch ihre Freundschaft wird auf eine harte Probe gestellt, als Streitigkeiten über das Kinderheim, Diebstähle und ein mysteriöser Brand die Insel erschüttern. Denn Elisa hegt den Verdacht, dass Jellas Verlobter Carl in die Vorfälle verwickelt sein könnte. Die junge Fischerstochter setzt alles daran, die Wahrheit aufzudecken.

Währenddessen wachsen in ihr und dem jungen Kölner Baumeister Julius Berlund, der zur Kur auf Norderney ist, Träume von einem eigenen Hotel und einer gemeinsamen Zukunft. Die beiden Frauen stehen vor schweren Entscheidungen. Werden sie ihre Träume verwirklichen können?

Eine bewegende Geschichte über Freundschaft, Liebe und den Mut, für das einzustehen, woran man glaubt. Der Auftakt zu der großen »Das Kurhotel auf Norderney«-Saga.

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Widmung

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

Epilog

Nachwort

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin:

Impressum

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Über dieses Buch

Norderney, 1885: Jella und Elisa sind seit ihrer Kindheit enge Freundinnen, die auf der Insel Norderney aufgewachsen sind. Während Jella in der Arzt-Praxis ihres Vaters arbeitet und in einem Kinderheim aushilft, unterstützt Elisa ihre Mutter beim Betrieb der eigenen kleinen Pension, um das Familieneinkommen der Fischersleute ein wenig aufzubessern.

Doch ihre Freundschaft wird auf eine harte Probe gestellt, als Streitigkeiten über das Kinderheim, Diebstähle und ein mysteriöser Brand die Insel erschüttern. Denn Elisa hegt den Verdacht, dass Jellas Verlobter Carl in die Vorfälle verwickelt sein könnte. Die junge Fischerstochter setzt alles daran, die Wahrheit aufzudecken. Währenddessen wachsen in ihr und dem jungen Kölner Baumeister Julius Berlund, der zur Kur auf Norderney ist, Träume von einem eigenen Hotel und einer gemeinsamen Zukunft. Die beiden Frauen stehen vor schweren Entscheidungen. Werden sie ihre Träume verwirklichen können?

Claudia Schirdewan

Das Kurhotel auf Norderney – Stürmische Zeiten

Für meinen Vater, der so gern noch einmal an die Nordsee gereist wäre.

Prolog

Norderney, im Mai 1867

Mit der flachen Hand strich Wilma über das Leinen und beugte sich vor, bis ihre Nasenspitze den Bettbezug beinahe berührte. Der Kiel einer Daune wollte sich vorwitzig durch eine Naht bohren, und sie schüttelte die Decke noch einmal leicht auf.

Ihr Ehemann Gottfried lehnte am Türrahmen, die Pfeife im Mund und beide Hände in den Taschen seiner ausgeleierten Hose vergraben. Wilma eilte zum Fenster und öffnete es. Für einen Moment schloss sie die Augen und genoss die salzige Brise, die der Wind vom Meer über die Dünen bis in ihr Haus trieb.

»Muss das denn sein?«, fragte sie, als sie die Augen wieder aufschlug, und unterdrückte einen Hustenreiz. »Du weißt doch, dass mir übel wird, wenn ich den Tabakrauch rieche.«

»Jetzt ist die Pfeife an, dann wird sie auch geraucht.« Gottfried paffte weiter, während Wilma den Tonkrug, in den sie ein paar Wildblumen gestellt hatte, auf der schmalen Fensterbank zurechtrückte.

Sie zog die Stirn kraus, als ihr eine weitere Rauchwolke in die Nase stieg. Je mehr ihr Bauch wuchs, umso empfindlicher schien ihr Geruchssinn zu werden. Nur noch wenige Wochen, dann würde sie endlich ihr Kind in den Armen halten.

»Das werden die feinen Leute schon aushalten«, meinte Gottfried. »Wenn die bei uns Unterschlupf finden wollen, sollen sie sich gefälligst anpassen. Muss es eigentlich sein, dass sie unser bestes Leinen bekommen?«

»Natürlich. Und sie finden bei uns nicht einfach Unterschlupf, Gottfried, das sind zahlende Gäste! Wir können das Geld gebrauchen. Siehst du denn nicht, was mit der Insel passiert? Norderney blüht auf! Überall gibt es Hotels und Logierhäuser, es kommen immer mehr Menschen zu uns. Wir dürfen den Anschluss nicht verpassen! Willst du der Letzte sein, der an der Fischerei festhält? Vergiss nicht, dass wir bald ein Kind zu versorgen haben.«

Gottfried schnaubte und zog wieder an seiner Pfeife.

»Das lass mal meine Aufgabe sein, Wilma, ich bin der beste Fischer der Insel. Und das ist es, was wir sind. Fischer! Keine Hoteliers. Das Meer ist und bleibt hier. Warum sollte es uns auf einmal nicht mehr ernähren? Bislang habe ich immer genug zu essen auf den Tisch gebracht, oder etwa nicht?« Er strich sich eine blonde Locke aus der Stirn. »Willst du wirklich, dass unser Kind zwischen lauter Fremden aufwächst? Wer weiß, was für Pack du uns ins Haus holst mit deinen verrückten Ideen.«

»Es sind Gäste!« Wilma klang müde.

Sie hatten diese Diskussion in den letzten Wochen wieder und wieder geführt. Irgendwann hatte Gottfried nachgegeben, doch Wilma wusste, dass er sie nur gewähren ließ, damit sie auf die Nase fiel und selbst einsah, wie sehr sie sich verrannt hatte. Aber das würde nicht geschehen!

Sie spürte Tritte an ihren Rippen, als wollte das Ungeborene ebenfalls etwas dazu sagen, und ließ sich auf den Schemel fallen. Gottfried sah sie kopfschüttelnd an, als hätte sie den Verstand verloren.

»Dir ist nicht mehr zu helfen, Wilma. Du verrennst dich in denselben Blödsinn wie alle anderen. Wie Heuschrecken fallen diese Fremden über unsere Insel her. Ich sage dir, das nimmt noch ein schlimmes Ende. Behaupte später ja nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«

Er wandte sich ab, und sie hörte, wie er mit donnernden Schritten die Holztreppe hinunterlief.

Wilma blieb sitzen und wischte mit einer ärgerlichen Handbewegung die Tränen, die ihr in die Augen stiegen, fort. Seit vielen Wochen standen die beiden Kammern leer, um die Gottfried so ein Aufheben machte. In der einen hatte seine Mutter gewohnt, bis sie vor einigen Monaten gestorben war, die andere war seit jeher nur für Gerümpel genutzt worden. Warum führte Gottfried sich so auf? Es war längst gang und gäbe, dass die Insulaner freie Zimmer vermieteten. Mehr noch, Wilma freute sich auf die Menschen, die bei ihr Erholung suchen wollten. Die Gäste würden Leben ins Haus bringen, einen Hauch große Welt – und ihnen vielleicht sogar ein wenig Wohlstand bescheren.

Ein gedankenverlorenes Lächeln huschte über Wilmas weiche Gesichtszüge. Vielleicht könnte sie sich irgendwann ein Kleid aus feinem Stoff kaufen, verziert mit Spitzen und Schleifen, wie man es manchmal bei den Damen sah, die mit einem Sonnenschirmchen in der Hand vor dem Conversationshaus flanierten. Oder ein schickes Strampelhöschen für das Kleine!

Noch einmal streichelte Wilma ihren Bauch, über dem sich das einfache Baumwollkleid spannte. Dann stand sie auf, um das Fenster wieder zu schließen.

Sie würde sich nicht entmutigen lassen. Schon wegen ihres Kindes nicht! Sie würde nicht zulassen, dass der Aufschwung an der Familie Petersen vorbeiging. Sie würde die beste Pensionswirtin werden, die Norderney je gesehen hatte. Egal, ob sie dabei auf die Hilfe ihres Mannes zählen konnte oder nicht.

1. Kapitel

Auf der Nordsee, im Frühsommer 1885

Julius Berlund schirmte seine Augen mit einer Hand gegen die Morgensonne ab. Er unterdrückte ein Gähnen. Die Gezeiten hatten eine frühe Abreise erfordert, und nun befand sich der Dampfer Roland, der ihn nach Norderney bringen sollte, bereits auf hoher See. Das Festland war nicht mehr zu sehen, und er meinte, dass sich am Horizont bereits ein Strich Land abzeichnete. Eine Welle schlug gegen den Bug, sodass Julius ins Wanken geriet. Mit beiden Händen umklammerte er daraufhin die Reling. Ein älterer Herr, der neben ihm stand, wandte sich lachend an den Zwanzigjährigen.

»Sie sind wohl keinen Seegang gewohnt, junger Mann? Hier, etwas Süßes hilft immer.«

Einladend hielt er ihm eine Papiertüte hin, die mit bunten Bonbons gefüllt war. Julius lehnte dankend ab, ehe er die Frage des Herrn beantwortete.

»Nein, mit Wellen habe ich wirklich kaum Erfahrung. Ich komme aus der Nähe von Köln, der Rhein ist meistens friedlich.«

»Reisen Sie zum ersten Mal nach Norderney?« Der Ältere steckte sich ein Bonbon in den Mund, schob seinen Sonnenhut, ein steifes Modell aus Stroh, in den Nacken und musterte Julius von oben bis unten, während er die Tüte wieder in einer Tasche seines Gehrocks verstaute. Unter dem prüfenden Blick des Fremden richtete Julius sich auf. Doch noch ehe er antworten konnte, winkte der andere ab.

»Zur Kur, oder? Sie sehen hager aus. Ich komme auch vom Festland und weiß, wie hart der Winter war.«

Julius lächelte, obwohl ihm die Feststellung des Mannes unangenehm war. Machte er noch immer einen derart mitgenommenen Eindruck?

»Ich hatte die Grippe«, erläuterte er und sah dabei aufs Meer hinaus. »Über Wochen war ich bettlägerig. Der Arzt war der Ansicht, die Luft hier oben könnte mir guttun.«

»Das wird sie sicherlich. Um Ihnen das zu sagen, muss ich kein Arzt sein.« Der alte Herr lachte dröhnend. »Ich komme jeden Sommer her, und ich will nicht eingebildet klingen, aber ich strotze vor Kraft.« Er zwinkerte Julius aufmunternd zu und tippte sich an die Hutkrempe. »Einen guten Aufenthalt wünsche ich.«

»Danke, Ihnen auch.«

Julius sah dem Mann nach, der einen freien Platz auf einer der Bänke ansteuerte, und ließ den Blick dann wieder über die Nordsee schweifen. Das Wasser war tiefblau und funkelte unter den noch blassen Strahlen der Morgensonne. Über dem Dampfer drehten ein paar Möwen kreischend ihre Runden und stemmten sich mit ausgebreiteten Flügeln gegen den Wind.

»Da! Mutter, schau! Die Insel!«, drang eine aufgeregte Kinderstimme an sein Ohr. Julius beugte sich ein Stück über die Reling. Tatsächlich, da vorne lag Norderney. Schon von Weitem konnte er den beinahe weißen Strand erahnen, hinter dem sich einige Häuser abzeichneten. Die Sonne schien direkt über der Insel zu stehen und die Neuankömmlinge willkommen zu heißen. Als Julius tief Luft holte, glaubte er, Salz auf der Zunge zu schmecken. Er schloss die Augen, spürte das Schaukeln des Dampfers auf den Wellen und die Wärme auf seiner Haut. Eigentlich hatte er nicht hierherkommen wollen. All die Arbeit, die während seiner Krankheit liegen geblieben war, musste endlich erledigt werden! Julius erinnerte sich daran, wie er Doktor Sander förmlich bekniet hatte, ihn nicht auf diese Reise zu schicken. Doch der besorgte, beinahe traurige Blick des Mediziners, der Julius seit seiner Kindheit kannte, hatte ihn zutiefst erschreckt, sogar mehr als dessen Worte.

»Julius, du hattest nicht nur eine Grippe. Du hattest eine Lungenentzündung. Wenn du atmest, rasselt es in deinem Brustkorb noch immer. Du bist zwanzig Jahre alt und hast noch viele kalte Winter vor dir. Die musst du überleben. Und das, mein Junge, schaffst du nur, wenn du wieder richtig gesundest.« Doktor Sander hatte den Kopf geschüttelt. »Ich weiß nicht, ob das auf der Insel gelingt. Aber es ist die einzige Idee, die ich noch habe.«

So hatte Julius mit der Hilfe seiner in Tränen aufgelösten Mutter den Koffer gepackt und sich auf den Weg gemacht. Die einzige Idee seines Arztes – er hatte keine Wahl gehabt.

Und nun lag sie vor ihm, Julius' letzte Chance auf ein gesundes Leben: die Insel Norderney.

*

Jella hatte Mühe, mit ihrem Vater Schritt zu halten. Er bog so schnell in die Georgstraße ab, dass die lederne Arzttasche an sein Knie schlug. Die Achtzehnjährige warf ihm einen besorgten Blick zu.

»Ist es so ernst, Vater?«

»Ich weiß es nicht, Jella.«

Doktor Reik Geert atmete auf, als ihr Ziel, die Kinderpflege- und Diakonissenanstalt, Marienheim genannt, in Sicht kam. Seit der Eröffnung des Hauses vor einigen Jahren betreute der Inselarzt die kleinen und großen Bewohner des Heimes, wenn dort Krankheiten auftraten, denen die Diakonissen nicht selbst beizukommen wussten.

Jella war es von Kindesbeinen an gewohnt, mit Patienten umzugehen. Ihre Mutter war bei der Geburt eines Geschwisterchens, auf das die ganze Familie sich so sehr gefreut hatte, gestorben. Jella war gerade einmal fünf Jahre alt gewesen, als aus ihr eine Halbwaise wurde, und wenn ihre Großeltern keine Zeit gehabt hatten, auf sie achtzugeben, hatte Reik sie kurzerhand mit in die Praxis genommen, die in einem Anbau des Hauses untergebracht war. Obwohl ihr Vater nur ein paar Schritte entfernt gewesen war, war Jella als Mädchen nicht gern allein in dem Haus geblieben. Es war zu groß, die vielen Zimmer, die für eine kinderreiche Familie gedacht waren, hatten ihr Angst gemacht, so verlassen und leer, wie sie waren. Selbst heute noch überkam Jella oft ein mulmiges Gefühl, wenn sie die Flure entlangeilte, aber Reik hatte nie in ein kleineres Haus umziehen wollen.

Seit einigen Jahren schon ließ ihr Vater sie in der Praxis vielerlei Handgriffe selbst verrichten. Im Wechseln von Verbänden war Jella beinahe geschickter als er selbst, und insbesondere Kinder, die oft verängstigt waren, wenn sie Reiks Instrumente sahen, wusste sie zu beruhigen.

Wenn er ins Marienheim ging, überließ Reik es inzwischen zumeist seiner Tochter, die Praxis zu hüten, damit wartende Patienten nicht allein waren. Ein paar Mal hatte Jella jedoch schon die Gelegenheit gehabt, ihn zu begleiten.

Nun eilte Doktor Geert auf die hohe Eingangstür zu, die einen Spaltbreit offen stand.

»Das Mädchen, das nach mir geschickt hat, sagt, dass die Schwester vor Fieber regelrecht glüht. Wenn die Körpertemperatur zu schnell steigt, wird es tückisch, mein Kind.«

Von dem Korridor, den sie betraten, gingen mehrere schlichte Holztüren ab. Wie bei ihren vorherigen Besuchen kam Jella der Flur bedrückend dunkel vor. Könnte man nicht irgendwo noch ein oder zwei Fenster einbauen? Bevor sie diesen Gedanken jedoch weiterverfolgen konnte, öffnete sich eine der Türen und Schwester Margret, die Leiterin des Marienheims, auf sie zueilte. Jella kannte die Diakonisse, die sie auf Mitte vierzig schätzte, nur vom Sehen. Erst vor wenigen Wochen war Margret von ihrem Mutterhaus, dem Henriettenstift in Hannover, auf die Insel geschickt worden, nachdem ihre Vorgängerin sich auf das Altenteil, in den sogenannten Feierabend, zurückgezogen hatte. Sie trug die übliche Tracht aus einem schwarzen Kleid mit weißem Kragen und einer ebenfalls weißen, unter dem Kinn gebundenen Haube, unter der ein paar graumelierte Haare hervorlugten. Als sie Reik erblickte, stand ihr die Erleichterung ins Gesicht geschrieben.

»Herr Doktor, welch ein Glück. Danke, dass Sie so schnell gekommen sind.«

Sie wandte sich an Jella.

»Sie müssen die Tochter unseres geschätzten Arztes sein.«

»Richtig. Ich bin Jella Geert. Freut mich, Sie endlich kennenzulernen.«

Sie streckte Margret die Hand entgegen. Der Händedruck der Diakonisse war fest und warm.

»Jella ist mir eine große Hilfe in der Praxis«, erläuterte Reik Geert die Anwesenheit des Mädchens. »Und auch bei Visiten.«

»Dann freue ich mich, dass Sie hier sind.« Margret lächelte freundlich.

»Wo ist denn unsere Patientin?«, kam Reik auf den Grund ihrer Anwesenheit zurück.

»Folgen Sie mir bitte.«

Margret öffnete eine Tür und führte die beiden durch das Treppenhaus in den ersten Stock. Jella sah sich um, doch Margret schien nichts verändert zu haben, seit sie hier das Ruder übernommen hatte. An den Wänden hingen die Jella schon bekannten Gemälde, die Blumen oder Strandszenen zeigten, und es roch, als hätte jemand erst kürzlich die Treppenstufen gebohnert.

»Wir haben Schwester Maria ins Isolierzimmer gebracht«, erklärte Margret. »Nicht auszudenken, wenn sich bei uns etwas ausbreitet. Das Haus ist doch voller geschwächter Kinder.«

Sie zog die Schultern hoch, als fröstelte es sie.

Am Ende des Flurs klopfte die Diakonisse an eine dunkle Holztür und drückte die Klinke herunter, ohne auf eine Antwort zu warten. Im Gegensatz zum Eingangsbereich war dieses Zimmer hell und freundlich eingerichtet. Zur Georgstraße hin gab es ein großes Fenster, das so weit geöffnet war, dass etwas frische Luft hereingelangte. Der Vorhang war zur Seite geschoben worden, und die Sonnenstrahlen ließen den hellen Holzboden geradezu leuchten. Über dem Bett, das an die Wand geschoben worden war, hing ein Kruzifix. Maria, die Patientin, hatte sich leicht aufgerichtet. Jemand musste kürzlich ihre Kissen aufgeschüttelt haben. Auf dem Nachttischchen lag eine Bibel, daneben stand ein Becher, aus dem es nach Kräutertee duftete.

Reik ließ sich auf dem einzigen Stuhl im Zimmer, der neben das Bett gerückt worden war, nieder und legte eine Hand auf Marias Arm. Die Wangen der Diakonisse waren blass und eingefallen, ihre Augen glänzten fiebrig. Jella bemerkte, dass der Atem der Patientin schnell ging und rasselnd klang. Sie tauschte einen Blick mit ihrem Vater. Das sah tatsächlich ernst aus! Reik öffnete seine Tasche und griff nach seinem Stethoskop und dem Fieberthermometer.

»Möchtest du, dass ich draußen warte, Maria?«

Margret war neben die Kranke getreten und strich ihr die schweißnassen Haare aus der Stirn. Maria schüttelte stumm den Kopf und ließ sich tiefer in die Kissen sinken, als würde allein die Anwesenheit des Arztes sie schon ermüden.

Als Reik mit den Untersuchungen fertig war und seine Instrumente wieder verstaute, trat auch Jella, die am Fenster gewartet hatte, ans Krankenbett.

»Möchten Sie einen Schluck Wasser? Das wird Ihnen guttun.« Sie half Maria, sich aufzusetzen, und stützte ihren Rücken, während sie der Diakonisse den Becher an die trockenen Lippen hielt. Ihr Vater zog inzwischen ein Röhrchen mit einem Pulver aus seiner Tasche und stellte es neben die Bibel.

»Schwester Maria, ich glaube, Sie haben sich eine sehr starke Erkältung eingefangen. Das ist erst einmal nicht schlimm, aber die Krankheit droht, auf die Lunge zu gehen, das zeigen der Husten und das Fieber. Sie merken ja selbst, wie die Atmung rasselt und Sie um Luft ringen. Deshalb nehmen Sie bitte dreimal am Tag eine Prise von diesem Pulver ein. Sie lösen es einfach in Wasser auf. Es ist nicht schmackhaft, aber wirksam. Das Fieber lässt sich mit Wadenwickeln senken. Ich möchte, dass Sie Bettruhe halten, bis Sie sich deutlich besser fühlen. Und wenn sich etwas verschlimmert, was ich nicht hoffen will, schicken Sie unverzüglich nach mir. Auch nachts. Keine falsche Bescheidenheit, bitte.«

»Danke, Herr Doktor.« Maria nickte und schloss die Augen.

Der Arzt lächelte nachsichtig. »Ich lasse Sie jetzt wieder in Ruhe. Schlafen Sie viel, das gibt Ihnen Kraft.«

Mit einer Kopfbewegung bedeutete er Jella und Margret, ihm aus dem Raum zu folgen.

»Es ist also nicht allzu ernst?« Margret war die Erleichterung anzumerken, als sie Reik und Jella durch das Treppenhaus nach unten begleitete.

»Nein, das denke ich nicht. Aber das darf es auch nicht werden, und ihr hohes Fieber ist auf jeden Fall ein Warnzeichen. Deshalb ist es sehr wichtig, dass die Patientin ihre Medizin nimmt und sich ausruht.«

»Soll sie im Isolierzimmer bleiben?«

Reik rieb sich übers Kinn, das er entgegen der Mode glattrasiert hatte.

»Wenn das geht, würde ich es empfehlen. Es ist wohl keine gefährliche Seuche, aber wir dürfen nicht vergessen, dass die Kinder sich hier erholen und zu Kräften kommen sollen. Es ist besser, wir halten so viele Ansteckungsmöglichkeiten wie nur möglich fern von ihnen.«

»Da haben Sie recht.«

In diesem Moment sausten zwei Mädchen, die sich an den Händen hielten, um die Ecke und hätten Jella beinahe umgerannt. Die Arzttochter lachte hell auf.

»Na, ihr habt es aber eilig.«

Beide Mädchen trugen geflochtene Zöpfe und dünne Baumwollkleidchen. Ihre Füße waren barfuß und hinterließen Sand auf dem Boden.

»Wart ihr beiden Wirbelwinde etwa schon am Strand?«, fragte Jella.

»Natürlich.« Das größere Kind nickte stolz.

»Und jetzt gehen wir wieder hin, und zwar ins Wasser«, rief das andere Mädchen. »Bis zu den Knien!«

»Seid vorsichtig«, rief Margret ihnen nach, doch die Kinder waren schon aus der Tür. Die Diakonisse schüttelte lachend den Kopf. »Was für Wildfänge! Können Sie sich vorstellen, dass diese beiden vor zwei Wochen noch blass und abgemagert waren?«

»Sie sehen prächtig erholt aus. Die Seeluft tut den Kleinen gut.« Reik nickte Margret zu. »Sie leisten hier eine wichtige Arbeit.«

»Danke, Herr Doktor. Jella, es hat mich gefreut. Vielleicht sehen wir uns einmal wieder?«

»Gewiss, Schwester Margret. Ich würde mich freuen.«

Jella meinte es aufrichtig. Die Heimleiterin machte einen freundlichen Eindruck, und die Kinder, die ihr anvertraut waren, wirkten fröhlich und gut behütet. Sie hätte nichts dagegen, Vater demnächst wieder ins Marienheim zu begleiten.

Noch ahnte Jella nicht, wie bald das Schicksal sie an diesen Ort zurückführen sollte.

*

Elisa Petersen stellte den Korb, in dem sie ihre Einkäufe verstaut hatte, neben sich ab und setzte sich auf die Wiese. Sie achtete nicht darauf, dass das vom Morgentau noch feuchte Gras ihren Rock beschmutzte, sondern schüttelte ihre Hände, die von der Schlepperei schmerzten. Sie saß unweit der Victoriahalle, doch zu dieser frühen Stunde war das Lokal noch geschlossen, sodass sie ganz ungestört das Treiben am Badestrand für Damen beobachten konnte. Obwohl die meisten Gäste sich noch in den Hotels und Logierhäusern ihr Frühstück schmecken ließen und der Strand sich erst später füllen würde, zeigte eine rote Fahne bereits an, dass Männer diesen Abschnitt nicht mehr betreten durften, wenn sie kein Bußgeld riskieren wollten. Einige Badekarren waren schon ins Wasser gezogen worden, und Elisa beneidete die Frauen ein wenig, die vormittags Zeit hatten, in der Nordsee zu baden. Eine Handvoll Kinder spielte im Sand Fangen. Ihr fröhliches Kreischen ließ Elisa schmunzeln.

»Sieh mal einer an! Da sitzt das Fräulein Petersen und genießt die Sonne, als hätte sie keine Arbeit!«

Die junge Frau fuhr zusammen und drehte sich nach der Stimme um.

»Hast du mich erschreckt, Ferdinand!«

Ihre Augen funkelten, und sie versetzte ihrem Bruder einen Knuff in die Seite, als er sich neben sie auf die Wiese fallenließ. Mit seinen kastanienbraunen Haaren und den blauen Augen kam ihr Bruder ganz nach der Mutter, während Elisa die blonden Locken und grasgrünen Augen des Vaters geerbt hatte. Mit ihren achtzehn Jahren war sie zwölf Monate älter als Ferdinand, aber er meinte trotzdem oft, er müsste auf Elisa aufpassen.

»Entschuldige bitte!« Er klang nicht allzu bedauernd. »Ich habe dich gesucht, Schwesterherz.«

Ferdinand stützte sich auf den Händen ab, legte den Kopf nach hinten und kniff die Augen zusammen, da die Sonne ihm ins Gesicht schien. Er gähnte laut, und Elisa schnalzte mit der Zunge.

»Ich war schon früh mit Vater raus zum Fischen«, erklärte er, »und hätte mich gern noch einmal kurz aufs Ohr gelegt, aber der neue Gast kommt bald an. Ludwig nimmt unser Schild mit, der Herr kann bei ihm auf der Kutsche mitfahren.«

»Wir sollten eine eigene haben«, entgegnete Elisa, auch wenn sie es zu schätzen wusste, dass Ludwig Leving, der am Ortsrand ein Logierhaus betrieb, bereitwillig ihre Gäste kutschierte. Das ging aber natürlich nur, wenn er noch Platz auf seinem Einspänner hatte. »Den meisten Besuchern ist es nicht zuzumuten, den ganzen Weg bis zu uns zu laufen, auch nicht, wenn wir den Handkarren für ihr Gepäck nehmen.«

Ferdinand schnaubte.

»Ja, aber das erklärst du bitte Vater. Und dann sagst du mir, wo du den Schatz heben willst, mit dem du Pferd und Einspänner bezahlst. Weißt du etwa von einem Piratenversteck?«

Elisa ging nicht auf seinen Spott ein.

»Was machst du eigentlich hier?«

»Ach ja.« Ferdinand erhob sich und klopfte ein paar Grashalme von seiner Hose. »Mutter hat vergessen, dass sie Zucker braucht. Du sollst schnell welchen kaufen, sie will den neuen Gast mit Gebäck empfangen.«

»Na gut, ich hole welchen.« Elisa stand ebenfalls auf. »Nimmst du den Korb, wenn ich noch einmal zu Fissens zurückgehe? Er ist schwer.«

»Einverstanden.« Ferdinand nickte und zog den Korb zu sich herüber. Er hob ihn leicht an und verzog mit einem gespielten Stöhnen das Gesicht. »Hast du da Steine drin?«

Elisa lachte. »Natürlich! Und einen winzigen Elefanten!«

Ferdinand wurde wieder ernst. »Beeil dich besser. Mutter ist richtig kribbelig wegen des Zuckers.«

»Wann kommt der Gast denn?«

»Der Dampfer legt am Nachmittag an.«

»Ach, dann ist es ja gut. Bis dahin werden wir wohl seine Kammer vorbereiten und einen Kuchen in den Ofen schieben können.«

Elisa griff in den Korb, der nun am Arm ihres Bruders hing, und nahm die Geldbörse heraus. Sie steckte sie in ihre Rocktasche, rief Ferdinand einen Abschiedsgruß zu und bog bald darauf in die Schulstraße ab, in der sich der Krämerladen der Familie Fissen befand. Zwei Stufen führten zu dem Gebäude aus rotem Backstein hinauf. An beiden Seiten der Treppe gab es schmale, verschnörkelte Geländer aus Eisen, damit auch die älteren Kunden sicheren Schrittes das Geschäft betreten konnten.

Als Elisa die erst kürzlich gestrichene Tür, die in einem satten Dunkelgrün erstrahlte, öffnete, verkündete eine Glocke das Eintreffen der Kundin. Obwohl sie gerade erst hier gewesen war, sah Elisa sich um. Sie mochte Fissens Laden. Selbst wenn die Kunden Schlange standen, strahlte der Verkaufsraum Ruhe aus. Auf jeder Seite der Tür gab es ein großes Fenster, sodass viel Licht in den Raum fiel, in dem sich hinter einer Theke aus Holz, die stets frisch poliert war, allerlei Regale, Säcke und Kisten befanden, aus denen die Insulaner ihre Vorräte auffüllten. Auf der Theke standen neben der einfachen Schatulle, die den Fissens als Kasse diente, auch ein paar große Schraubgläser mit bunten Bonbons und zuckerbestreuten Plätzchen, die nicht nur den Kindern das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen.

Elisa strich sich bei diesem Anblick über die Hüften. Sie war nicht besonders groß, und ihre Mutter gab ihr immer wieder zu verstehen, dass ein paar Pfund weniger auf den Rippen Elisas Chancen bei den Männern sicher nicht verschlechtern würden. Nun, antwortete sie dann stets, ohne auf den empörten Blick der Mutter zu achten, wenn ein Kerl mich nur ohne Hüften mag, dann sollte er besser einen Besenstiel heiraten.

Sie musste an Jakob denken, den Sohn des Schuhmachers. Dem gefielen ihre Rundungen allemal. Sie kannte Jakob, solange sie denken konnte, aber seit einigen Monaten versuchte er, sich bei ihr beliebt zu machen. Er lud sie zum Tanzen ein, wenn es ein Fest gab, und überraschte sie manchmal mit Leckereien, die er bei Fissens oder beim Bäcker für sie kaufte. Aber Elisa konnte sich nicht vorstellen, dass aus ihnen ein Paar würde. Jakob war eben Jakob. Der Junge mit der laufenden Nase und den aufgeschlagenen Knien, der beim Hüpfkästchenspiel sein Stöckchen immer daneben geworfen hatte. Ein etwas ungeschickter, aber netter Bursche. Wenn Elisa jemals heiraten würde, dann jemanden, der ihre Augen zum Leuchten bringen würde wie die ihrer Freundin Jella, wenn sie Carl ansah. Das stand für Elisa fest: Wahre Liebe ließ die Augen glitzern!

»Na, Elisa? So gute Laune, obwohl du vermutlich etwas vergessen hast?«

Jan Fissen, der Besitzer des Ladens, trat hinter dem Vorhang hervor, der den Verkaufsbereich von der Wohnung der Familie trennte. Er wischte sich die Hände an der gestreiften Leinenschürze ab, die er über seinem in die Jahre gekommenen Hemd und der dunklen Stoffhose trug.

»Ich räume gerade das Lager auf«, erklärte er. »Heute kommt neue Ware, da brauche ich Platz.«

Elisa nickte.

»Das kennen wir. Mutter bringt immer die Speisekammer in Ordnung, bevor neue Gäste eintreffen. Heute hat sie trotzdem vergessen, dass wir Zucker brauchen. Füllen Sie mir eine kleine Tüte ab, bitte?«

»Selbstverständlich, die Dame.« Herr Fissen zwinkerte ihr verschmitzt zu und zog eine braune Papiertüte aus einem Fach unter der Theke. Dann öffnete er einen der Säcke und begann, mit einer kleinen Schaufel den Zucker abzumessen, als jemand aus dem Wohnbereich der Familie zu ihnen trat.

»Elisa, hast du Jella gesehen?«, fragte der junge Mann statt einer Begrüßung.

»Einen schönen guten Morgen, Carl«, gab Elisa mit hochgezogenen Brauen zurück und schmunzelte, als dieser sich verlegen über den schwarzen Schnurrbart fuhr.

Der zwanzig Jahre alte Krämersohn, der den Laden eines Tages übernehmen sollte, war groß und schlank. Selbst im gedämpften Licht des Thekenbereichs glänzten seine rabenschwarzen Haare, als hätte die Sonne jede einzelne Strähne geküsst. Elisa gehörte zu den wenigen Mädchen auf Norderney, die sich nicht die Augen ausgeweint hatten, als Carls Eltern vor ein paar Wochen seine Verlobung mit Jella Geert bekannt gegeben hatten. Zum einen gönnte Elisa ihrer besten Freundin alles Glück der Welt, zum anderen war sie selbst der Schwärmerei für den Kaufmannssohn nie verfallen.

»Jella wollte eigentlich längst hier sein«, kam Carl auf seine Frage zurück. »Wir wollten einen Spaziergang machen. Heute Nachmittag, wenn die neue Ware kommt, habe ich keine Zeit mehr.«

Seine Augen glitten zu der Pendeluhr, die an der Wand hing.

»Das Meer wird sie schon nicht verschluckt haben.« Jan Fissen gab Elisa die Zuckertüte und nahm die Münzen entgegen, die sie ihm reichte. »Sie wird ihrem Vater helfen müssen.«

»Das stimmt wahrscheinlich«, pflichtete Elisa dem Krämer bei, während sie das Wechselgeld in die Rocktasche steckte. »Es sind so viele Gäste auf der Insel, da hat Reik reichlich zu tun, und Jella geht ihm gern zur Hand. Ich glaube, ihr Vater hält große Stücke auf sie ...«

Als sie bemerkte, dass die Männer kurz einen Blick tauschten, verstummte sie.

»Hoffentlich holt sie sich dabei nicht eines Tages etwas weg.« Carl lehnte sich mit dem Rücken an eines der Regale. Auf den Holzbrettern wartete frisches Gemüse auf Käufer. »Wer weiß, was diese sogenannten Gäste uns alles einschleppen. Von denen laufen hier ja mehr rum, als wir Einwohner haben.«

Er biss sich auf die Unterlippe, und Elisa sah, dass seine Wangenknochen hervortraten. Trotz seiner harschen Worte wirkte er eher besorgt als wütend. Elisa wusste, dass er sich Gedanken um Jella machte, und doch konnte sie es sich nicht verkneifen, ihm spitz zu antworten.

»Nun, diese sogenannten Gäste sind Menschen wie du und ich, die einfach krank geworden sind und sich erholen wollen. Hast du etwa noch nie das Bett gehütet, Carl? Und manche Gäste waren noch nicht einmal krank, sondern möchten einfach die Insel genießen. Uns allen geht es dank ihnen besser. Glaubst du, euer Geschäft würde so viel abwerfen, wenn nur wir von der Insel bei euch kaufen würden? Glaubst du, ihr hättet dann das schöne verschnörkelte Geländer vor eurem Eingang? Oder dass du Jella einen Ring zur Verlobung hättest kaufen können?«

»Du musst es ja wissen.« Carl winkte ab und griff nach seinem Hut, den er wie immer an einen Haken an der Wand gehängt hatte.

»Ich geh besser mal zur Praxis, nach Jella sehen.«

»Aber beeil dich, Junge«, rief Jan ihm nach. »Denk an das Schiff mit den Waren.«

»Das vergesse ich nicht. Bis später, Vater. Auf Wiedersehen, Elisa.«

»Auf Wiedersehen.« Elisa sah ihm nach, und ihr Tonfall wurde versöhnlicher. »Mach dir keine Sorgen um Jella, Carl. Sie kann selbst auf sich achtgeben.«

Carl warf ihr über die Schulter einen Blick zu, und Elisa glaubte, etwas Verlorenes darin zu erkennen. Für einen Moment hielt sie die Luft an.

»Dein Wort in Gottes Ohr, Elisa.«

Das Glöckchen über der Tür erklang, und Carl verschwand nach draußen auf die Schulstraße.

»Nichts für ungut.« Jan lächelte, sah jedoch verlegen aus. »Er sorgt sich wirklich um Jella. Immerhin ist sie seine Braut.«

»Ja, das ist sie.« Elisa zuckte mit den Schultern. »Aber sie ist auch Reiks Tochter. Es liegt ihr im Blut zu helfen.« Sie wandte sich um. »Ich muss los, Mutter wartet auf den Zucker.«

»Grüß sie recht schön, Elisa.«

Auch, als die Tür bereits hinter ihr ins Schloss gefallen war, meinte die junge Frau noch, den misstrauischen Blick des Krämers in ihrem Rücken zu spüren.

*

Als Elisa aus seinem Blickfeld verschwunden war, griff Jan nach dem Notizbuch, in dem er sich Aufzeichnungen zum Bestand und den notwendigen Nachbestellungen machte, und ging zum Süßwarenregal hinüber.

»Lakritze«, grummelte er. »Dass jemand das Zeug essen kann! Butterplätzchen ...« Er schob sich den Bleistift hinters Ohr, als ihm etwas auffiel. »Moment mal. Anna? Hast du schon das ganze Konfekt verkauft? Wir müssten laut meiner Liste von gestern Abend noch zwei Schachteln haben, aber das Regal ist leer.«

Seine Frau schlenderte aus dem Wohnbereich herüber.

»Nein. Carl vielleicht?«

»Nein, er hat seit gestern Vormittag gar nicht im Laden gestanden.« Jan fuhr sich mit der Hand über den Nacken. »Seltsam. Meine Aufzeichnungen stimmen. Da bin ich sicher.«

»Du meinst ... glaubst du, die Schachteln wurden gestohlen?«

»Ich weiß es nicht. Herrje, ich hoffe nicht. Ich kontrolliere besser sofort, ob noch mehr fehlt. Dir ist wirklich nichts aufgefallen?«

»Nein.« Anna zuckte die Schultern. »Aber wundern tut es einen nicht. Bei dem Betrieb auf der Insel. Nur der Herrgott allein weiß, wie viele schwarze Schafe sich hier herumtreiben!«

Jan verzog den Mund. Seuchen und Diebstähle? Wenn nur eines von beidem sich bewahrheitete, hingen dunkle Wolken über der Insel!

2. Kapitel

Am Hafen herrschte reges Treiben. Händler, die sehnsüchtig auf ihre Lieferungen warteten, eilten umher. Burschen, die darauf hofften, sich mit dem Tragen von Gepäck oder Kisten ein paar Pfennige zu verdienen, krakeelten mit den Möwen um die Wette. Kutschen warteten auf Fahrgäste, und an Bord brach ein Durcheinander aus, als alle Passagiere gleichzeitig versuchten, ihr Gepäck zu schultern. Nach der langen Fahrt über die Nordsee konnten die Leute es kaum erwarten, wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren.

Amüsiert bemerkte Julius, dass einige von ihnen die Brücke hinuntertaumelten, als hätten sie die letzten Stunden im Wirtshaus verbracht. Er selbst zog den gefütterten Mantel aus grauem Tuch, der eigentlich zu warm für die Jahreszeit war, fester um sich. Der Wind blies ihm ins Gesicht, und Julius fröstelte. Bevor er sich den auch scherzhaft als Butterblume bezeichneten steifen Hut auf seine braunen Haare drückte, reckte er den Kopf noch einmal und schloss die Augen. Da traf ihn eine Böe. Er schmeckte das Salz, das der Wind mit sich trug und das sich in winzigen Kristallen auf seine Haut legte. Und auch ein fremder Geruch stieg ihm in die Nase. Die Luft roch nach einer Mischung aus Fisch, feuchtem Sand und etwas, das er nicht kannte. Belebend, aufregend. Das, so entschied er, musste der Duft von Norderney sein, die Essenz der Insel.

»Nicht einschlafen!«, sagte eine Stimme drängelnd hinter ihm, und eine ältere Dame schob ihn mit ihrem Gehstock ein Stück weiter, wobei sie Julius einen missbilligenden Blick zuwarf. »Sie halten ja alle auf, junger Mann.«

»Verzeihung.« Errötend packte Julius seinen Koffer, dessen braunes Leder schon etwas abgewetzt war, nickte der Dame noch einmal entschuldigend zu und reihte sich dann in die Schlange an der Gangway ein. Er hatte Glück und entdeckte, kaum dass er das erste Mal Inselboden unter den Füßen hatte, ein Schild, auf das jemand in etwas ungelenken Buchstaben seinen Namen geschrieben hatte. So schnell der schwere Koffer es ihm erlaubte, ging er auf den Mann zu, der das Schild hielt und neben einer Kutsche stand.

»Guten Tag. Ich bin Julius Berlund.« Er tippte mit dem Zeigefinger an seinen Hut und nickte in Richtung des Schildes, das der Mann nun sinken ließ.

»Ludwig Leving«, gab dieser zurück. »Vom Logierhaus Leving. Herzlich willkommen auf Norderney.«

Julius stutzte. Der Name Leving sagte ihm nichts. Lag eine Verwechslung vor? Der Mann jedoch griff nach dem Koffer und verstaute ihn neben Gepäckstücken, die offenbar einer Familie gehörten, die bereits in der offenen Kutsche Platz genommen hatte.

»Das ist schon richtig so«, beschwichtigte er, als er offenbar Julius' fragenden Blick bemerkte. »Sie wollen doch zur Pension Petersen, oder? Wilma und ihre Familie sind beinahe Nachbarn von mir. Ich habe gesagt, ich bringe Sie mit. Also hinauf mit Ihnen, machen Sie es sich gemütlich. Heute ist das Wetter uns hold, bei Sturm und Regen macht die Kutschfahrt über die Insel nur halb so viel Spaß.«

Er selbst stieg auf den Kutschbock, griff nach den Zügeln und schnalzte mit der Zunge, damit der Rappe, den er eingespannt hatte, sich in Bewegung setzte.

Julius schaffte es gerade noch, sich auf die Holzbank fallen zu lassen, die mit einer groben Wolldecke nachlässig gepolstert war, als das Gefährt schon losruckelte. Er hielt sich mit einer Hand an dem seitlich angebrachten Griff fest, während er die übrigen Fahrgäste musterte. Ein junges Ehepaar mit Kind. Die Frau sah müde aus, und ihre Haut hatte einen beinahe grünlichen Schimmer. Ihr dünnen Lippen waren fest zusammengepresst. Sicher war ihr auf der langen Überfahrt übel geworden, dachte Julius mitleidig. Sie hielt ein Kleinkind auf dem Schoß; der Junge quengelte und drückte sein Köpfchen an die Schulter der Mutter, als wollte er auf keinen Fall etwas von dem sehen, was um ihn herum geschah. Allein der Mann wirkte ausgeruht. Er griff nach der Norderneyer Badezeitung, die Ludwig Leving wohl auf den Sitz gelegt hatte, und blätterte mäßig interessiert durch die Seiten.

Julius war froh, dass Leving ihm kein Gespräch aufzwang. Nach der langen Reise stand ihm der Sinn nicht nach Geplauder. Vielmehr sehnte er sich danach, endlich sein Ziel zu erreichen und sich hoffentlich bald auf einem bequemen Bett ausruhen zu können.

»Das hier wird das Preußische Palais«, rief der Insulaner vom Kutschbock über die Schulter. »Davon haben Sie vielleicht schon gehört?«

Julius' Blick glitt über die Baustelle an der Moltkestraße, die sich zu seiner Rechten erstreckte. Davon hatte er in der Tat schon gehört! Eines von vielen beachtlichen Bauvorhaben auf Norderney. Wenn man sich allein vorstellte, wie aufwändig es sein musste, all das Material über die Nordsee zu schaffen! Mehrere Männer schleppten Eimer und Werkzeuge, während andere einen schweren Stein auf den nächsten setzten. Irgendwo schlug ein Hammer in schnellem Rhythmus auf Holz, und Arbeiter schrien einander Befehle zu. Julius beugte sich vor, um besser sehen zu können. Wenn er es richtig erkannte, war eine Art Veranda geplant, die an dem ganzen Bau langführen würde. Das wäre ein Projekt, nach dem sein Vater und er sich zu Hause in Köln die Finger lecken würden.

Nicht zum ersten Mal auf seiner Reise dachte er mit Wehmut an das Büro, dass sein Vater Gustav und er im Wohnhaus der Familie betrieben. Baumeister waren sie, und im Moment gab es viel zu viele Aufgaben, bei denen Vater die Unterstützung seines Sohnes mit Sicherheit hätte gebrauchen können. Hoffentlich übernahm er sich nicht, während Julius fort war! Mit etwas Glück winkte ihnen sogar der Auftrag zur Erweiterung eines Schulhauses. Zumindest hatte der Direktor der baufälligen Volksschule seinem Vater nach einem Bier zu viel neulich zu verstehen gegeben, dass der Plan der Berlunds überzeugt hatte. Julius hoffte, dass er beizeiten zurück wäre – erholt und wieder bei Kräften.

Sie bogen in die Kaiserstraße ab, und Julius konnte einen Blick auf die Bremer Häuser werfen, einen weiteren Prunkbau.

»Über zweihundert Zimmer gibt es dort.« Ludwig Leving schüttelte den Kopf und zog die Schultern hoch, als ließe der Anblick der Häuserreihe ihn frösteln.

»Ich weiß gar nicht so recht, was ich davon halten soll. Wir leben gut von den Gästen, aber irgendwo gibt es auch eine Grenze, meinen Sie nicht? Der reinste Größenwahn ...«

»Das ist die neue Zeit«, ergriff der Familienvater erstmals das Wort und rieb sich über den Bart. »Niemand kann davor weglaufen. Sie können doch froh sein, dass die Insel so gut dasteht.«

Leving zuckte mit den Schultern. Eine Weile setzten sie ihren Weg schweigend fort, bis der Kutscher schließlich ganz am Ende der Friedrichstraße den Wagen zum Stehen brachte. Bei seinem Logierhaus handelte es sich um ein offenbar nicht mehr genutztes Fischerhaus, an das man ein paar Kammern angebaut hatte. Alles wirkte einfach, aber sauber, und jemand hatte sich die Mühe gemacht, ein paar Blumen vor die Fenster zu stellen. Auf der gründlich geharkten Sandfläche vor dem Haus standen ein grob gezimmerter Holztisch und ein paar Bänke, die zum Verweilen einluden. Ein Krug und mehrere Becher standen bereit, damit die Neuankömmlinge sich erfrischen konnten. Julius bemühte sich, nicht hinzusehen, obwohl seine Kehle trocken war. Leving war so freundlich gewesen, ihn mitzunehmen, da sollte er sich nicht noch genötigt fühlen, Julius ein Getränk anzubieten.

Leving sprang vom Kutschbock, reichte dem jungen Baumeister seinen Koffer und deutete geradeaus. »Nur noch ein paar Meter an den Dünen entlang, dann sehen Sie die Pension Petersen schon.«

»Vielen Dank, dass ich mitfahren durfte.« Julius schüttelte Leving die Hand und nickte den anderen Fahrgästen zu. »Einen schönen Aufenthalt.«

Er hob seinen Koffer und marschierte los, ohne sich anmerken zu lassen, wie schwer es ihm fiel, ihn den Sandweg entlangzutragen. Als er nach einigen Minuten vor dem Haus stand, das ein mit geschwungenen Buchstaben bemaltes Holzschild als die Pension Petersen auswies, liefen ihm Schweißperlen über die Stirn. Er blieb stehen, ließ den Koffer fallen und setzte sich kurzerhand darauf, da ein Hustenanfall ihn übermannte.

*

»Hör dir das an«, murmelte Gottfried, und sein Blick glitt zum geöffneten Fenster. »Was für ein Geröchel! Das klingt ja fürchterlich.«

Er runzelte die Stirn. Elisa entging nicht, dass seine Finger zitterten, als er die Teetasse abstellte. Ein paar Tropfen schwappten über den Rand und durchtränkten die Butterplätzchen, die Wilma ihm vor ein paar Minuten hingestellt hatte.

»Herrje, Papa! Er wird dich schon nicht anstecken.« Elisa flüsterte fast, damit der Neuankömmling sie nicht hörte. »Der Arme sollte uns wohl eher leidtun!«

»Mal sehen, was du sagst, wenn wir alle das Bett hüten«, brummte Gottfried. »Und wer darf es bezahlen, wenn der Arzt dann mit seinen ganzen teuren Pülverchen zu uns kommt? Ich. Der dämliche Fischer!«

Er stand auf, ließ seine halbvolle Tasse stehen und knallte die Tür hinter sich zu. Wilma erhob sich, um sein Geschirr abzuräumen. Für einen Moment jedoch stand sie einfach nur da und starrte auf die goldgelbe Flüssigkeit in Gottfrieds Tasse, als wüsste sie gar nicht, was sie da vor sich hatte.

»Ich gehe ihn begrüßen.« Elisa schluckte den Kloß herunter, den sie auf einmal im Hals spürte, und legte ihrer Mutter eine Hand auf die Schulter. »Setz dich hin und trink Vaters Tee aus. Ihn wegzuschütten wäre zu schade. Ich zeige dem Gast seine Kammer und kümmere mich um alles, ja?«

Wilma nickte und ließ zu, dass Elisa sie mit sanftem Nachdruck zurück zu ihrem Stuhl schob.

Als die Mutter sich mit hängenden Schultern setzte, strich Elisa ihr Kleid noch einmal glatt und eilte dann nach draußen. Der arme Kerl, der dort wartete, traute sich offenbar gar nicht zu klopfen.

Zögernden Schrittes ging sie auf ihn zu. Der Gast hatte ihr den Rücken zugewandt und saß tief vornübergebeugt auf seinem Koffer. Sie hörte ihn rasselnd husten. Offenbar versuchte er, seine Lunge durch tiefes Einatmen zu beruhigen, aber seine schmalen Schultern bebten, als ihn erneut ein Anfall übermannte und seine Bemühungen zunichtemachte. Elisa wartete ab. Womöglich würde er nicht wollen, dass ihn jemand so sah? Endlich schien er den Hustenreiz zu bezwingen und richtete sich mühsam auf.

Elisa war es gewohnt, dass Gäste matt und blass anreisten. Viele der Älteren waren zudem nicht mehr gut zu Fuß und stützten sich schnaufend auf ihren Gehstock, wenn sie die Pension erreichten. Doch dieser junge Mann wirkte so blass und ermattet, als gehöre er eher in ein Krankenbett denn in eine Pension. Was, wenn Vater recht hatte? Wenn es ihm schlechter ging, würden sie Doktor Geert holen müssen. Vorausgesetzt, sie bemerkten es rechtzeitig! Es war sicher gut, wenn Elisa ein Auge auf ihn hatte. Vielleicht, sagte sie sich, war seine Erschöpfung aber auch nur der langen Reise geschuldet.

Als er sie entdeckte und Elisa ein trotz allem lebhaftes, beinahe schalkhaftes Funkeln in seinen braunen Augen bemerkte, war sie erleichtert. Es würde schon gutgehen!

»Herzlich willkommen, Herr Berlund!«, rief sie und winkte ihm zu. »Ich bin Elisa Petersen, meinen Eltern gehört die Pension. Hatten Sie eine gute Reise?«

»Ja, vielen Dank.« Er stand auf und klopfte sich etwas Sand, den die Brise von der See zu ihnen herüberwehte, von der Hose. Der Stoff schlackerte regelrecht um seine Beine. Wenn man davon ausging, dass das Kleidungsstück einmal gepasst hatte, musste Julius Berlund viel Gewicht verloren haben.

Nun ja, immerhin würde Mutter ihn gleich mit Gebäck begrüßen und sicher auch dafür sorgen, dass auf seiner Milch immer etwas guter Rahm schwamm, dachte Elisa. Beherzt griff sie nach dem Koffer, obwohl der Gast Anstalten machte, ihr in den Arm zu fallen.

»Nicht doch«, bat er, und seine Wangen liefen rot an. »Ich trage ihn selbst.«

»Das gehört zu unserer Gästebetreuung«, behauptete Elisa. »Bitte. Wenn ich Sie den Koffer tragen lasse, schimpft meine Mutter.«

Elisa biss sich auf die Unterlippe. Herrje, was redete sie denn da? Meine Mutter schimpft ... sie musste dem Gast ja vorkommen wie ein kleines Mädchen.

Julius wollte etwas sagen, als Ferdinand aus der Haustür trat.

»Da hat meine Schwester recht. Das machen wir gern für unsere Gäste. Aber erst einmal guten Tag, Herr Berlund.«

Er lupfte seine Kappe und nahm dann selbst den Koffer in die Hand, als wiege er nichts. »Ich bin Ferdinand Petersen.«

»Freut mich sehr.«

»Gleichfalls! Ich bringe das Gepäck in Ihre Kammer, dann können Sie sich gleich in Ruhe einrichten.«

»Vielen Dank.«

Julius Berlund wollte in seiner Tasche nach ein paar Münzen suchen, doch Ferdinand hatte sich bereits abgewandt und lief auf das Haus zu.

Elisa ging langsam neben dem Neuankömmling her und versuchte zu ergründen, was er von seiner Unterkunft hielt. Er war offensichtlich bemüht, sich seine Neugier nicht anmerken zu lassen, aber Elisa sah, dass er den Blick von links nach rechts schweifen ließ. Seine Nasenflügel weiteten sich leicht, als ob er versuchte, seine Umgebung mit allen Sinnen aufzunehmen. Fiel ihm auf, dass die Vorhänge hinter den blitzblank geputzten Butzenscheiben frisch gewaschen waren? Bemerkte er die Wildblumen, die sie erst heute Morgen gepflückt und hinter jedes Fenster gestellt hatte? Roch er diesen Hauch von geschmolzener Butter und warmer Milch, der aus der Küche ins Freie drang und wegen der salzigen Meeresluft nur ganz leicht zu ihnen herüberströmte? Doch als er stehen blieb, war es etwas ganz anderes, das ihn bewegte.

»An der linken Hauswand sind ja gar keine Fenster.«

Elisa war überrascht, nickte aber. »Mein Vater ist Fischer und bewahrt dort seine Ausrüstung auf. Das Haus wird noch nicht lange als Pension genutzt. Ich glaube, das war seinerzeit einfach eine Frage des Geldes, ehrlich gesagt.«

»Und die freie Fläche daneben ...« Julius fuhr sich über das Kinn und wirkte auf einmal viel wacher, als er sich Elisa zuwandte. »Da haben Sie ja noch Möglichkeiten für einen Anbau.«

Elisa seufzte schwer, doch ehe sie etwas erwidern konnte, stürmte Wilma, die sich wieder gefasst und sogar eine frisch gestärkte Schürze umgelegt hatte, aus der Tür und streckte dem Gast die Hände entgegen. Elisa verabschiedete sich mit einem Lächeln, denn sie wusste, dass ihre Mutter jeden neuen Besucher ausfragte, bis sie ganz genau wusste, wer ihr ins Haus geschneit war und wie sie ihn am besten verwöhnen könnte. Sie behauptete stets, dass die Leute gesprächiger seien, wenn sie bei Tee und Gebäck nur ihr allein gegenübersaßen. Normalerweise nahm Elisa das mit einem Achselzucken hin, doch heute wäre sie zu gern dabei gewesen. Das, was Julius aus seiner Erschöpfung gerissen hatte, war auch das, was Elisa umtrieb. Sie schmunzelte in sich hinein.

Womöglich war heute jemand angereist, der hier einiges auf den Kopf stellen würde?

*

Jella kostete einen Schluck von der Brause, die Carl für sie in der Giftbude, der kleinen Restauration am Herrenbadestrand, erstanden hatte. Der mit Wasser und Zucker gemischte Zitronensaft prickelte auf ihrer Zunge. Sie gönnte sich noch einen Schluck, stellte ihr Glas vorsichtig im Gras ab und lehnte sich zurück, bis sie den Kopf an der Schulter ihres Verlobten ablegen konnte. Hier in den Dünen sah sie niemand, und die junge Frau schloss genüsslich die Augen, als seine Lippen über ihre Wange fuhren.

»Wir bekommen nächste Woche eine Lieferung Stoffe«, flüsterte er in Jellas Ohr. »Meine Mutter hat dafür gesorgt, dass weiße Seide dabei ist. Die wird hier niemand kaufen, die ist nur für dich bestimmt.«

Ein wohliger Schauer lief Jella über den Rücken. Carl hatte sich also wirklich darum gekümmert! Vor wenigen Wochen hatte Jella ihm verraten, dass sie von einem Hochzeitskleid aus weißer Seide träumte. Ihre Tante hatte vom Festland Schnittmuster geschickt, und Elisas Mutter, die mit Nadel und Faden geschickt umzugehen wusste, hatte Jella versprochen, ihr beim Nähen des Kleides zu helfen. Weiße Seide würde sie tragen, wie eine Adelige!

Teuer und überkandidelt würde ihr Vater das nennen, und Jella war klar, dass er im Grunde genommen recht hatte. Deshalb hatte sie längst entschieden, ein Geheimnis aus ihrem Kleid zu machen und es ihm erst zu zeigen, wenn sie darin in der Inselkirche, die vor wenigen Jahren neu errichtet worden war, vor den Traualtar trat. Jella war gewiss nicht eitel, aber dieser eine Tag war doch etwas ganz Besonderes, und sie wusste, dass Reik vor Stolz das Herz übergehen würde, wenn er sein Mädchen als Braut sah. Aus Jella Geert, Tochter des Inselarztes, würde Jella Fissen. Eine erwachsene Frau, die Gattin des Inselkrämers. Ihr war bewusst, dass an Carls Seite viel Arbeit auf sie wartete, aber bestimmt würde sie dennoch die Zeit finden, ihrem Vater weiterhin zur Hand zu gehen.

»Wir sollten den Tag bald festlegen«, meinte Carl und strich Jella eine kastanienbraune Strähne, die sich aus ihrer einfachen Hochsteckfrisur gelöst hatte, aus der Stirn.

Sie nickte. »Zu Beginn des nächsten Frühjahrs vielleicht? Sonst hat Elisa zu wenig Zeit, sie wird doch meine Trauzeugin.«

Als Carl nicht antwortete, drehte sie den Kopf, sodass sie ihm in die Augen sehen konnte. Ein Sonnenstrahl schien sich in dem hellen Blau zu verfangen und ließ seine Pupillen glitzern.

»Das ist doch in Ordnung, oder? Dass Elisa meine Trauzeugin wird, meine ich? Und ihre Mutter hätte dann über den Winter hoffentlich Zeit, mir beim Nähen zu helfen. Dann ist die Pension ja sicher nicht mehr ausgebucht.«

»Bei zwei Zimmern wird sich die Arbeit wohl in Grenzen halten, oder? Eine Winterhochzeit kommt für dich wirklich nicht infrage?« Carl hielt ihren Blick fest. »Nächstes Frühjahr ... das ist noch so lange hin. Wie soll ich das aushalten?«

Jella neigte den Kopf zur Seite. »Aber im Winter, Carl? Ich weiß nicht. Alles ist dann so dunkel und trist.«

»Vielleicht liegt Schnee. Du würdest wie ein Engel in der Kirche erscheinen.«

Jella lachte.

»Ein vor Kälte mit den Zähnen klappernder Engel in einem viel zu dünnen Seidenkleid, umrundet von Leuten mit Husten und triefenden Nasen? Ach, Carl.« Sie schlang die Arme um seinen Hals und verlieh ihrer Stimme diesen ganz bestimmten Hauch eines Zitterns, von dem sie wusste, dass er ihn liebte. »Ich weiß, dass du nicht warten möchtest. Das möchte ich auch nicht. Aber es ist unser großer Tag, der wichtigste im ganzen Leben! Bitte, lass uns im Frühjahr heiraten. Ich möchte, dass die Blumen blühen. Ich möchte, dass der Wind nur leicht vom Meer her weht und dass die Gäste mir draußen winken. Sie sollen vor der Kirche auf uns anstoßen, statt in Stiefeln und mit gerafften Röcken ins Trockene zu hasten!«

»Es kann auch im Frühjahr stürmen. Oder in Strömen regnen!«

Trotz seiner Worte wusste Jella, dass sein Widerstand bröckelte.

»Carl, ich ...«

Eine helle Stimme unterbrach sie.

»Hallo! Warst du nicht heute bei uns im Heim?«

Jella richtete sich auf und klopfte etwas Sand von ihrem Rock. Vor ihr stand eines der blonden Zopfmädchen, die sie am Morgen getroffen hatte. Hinter ihr versteckte sich ein kleiner, vielleicht fünfjähriger Junge mit braunen, etwas zu lange nicht geschnittenen Locken. Er hatte die Schultern hochgezogen und sah angestrengt auf seine Füße.

»Ja, mit meinem Vater. Ich erinnere mich an dich. Du wolltest ganz dringend mit deiner Freundin ans Wasser, richtig?«

»Genau. Aber Hella war es dann doch zu kalt. Ich heiße übrigens Luise.«

»Hallo, Luise. Ich bin Jella. Und wer ist der junge Mann, der sich hinter dir versteckt?« Die Arzttochter lächelte dem Jungen zu. Dieser bohrte weiter seinen nackten Zeh in den Sand und tat, als hörte er Jella gar nicht. Seine Ohren wurden jedoch rot, und in seiner Verlegenheit tat der Kleine Jella leid, sodass sie sich lieber an die kecke Luise hielt.

»Ist das dein Bruder?«

»Nee.« Luise lachte. »Das ist Matthias.«

»Meine Mutter sagt, ich soll nicht mit Fremden sprechen.« Matthias' Stimme klang rau, und er blickte über seine Schulter, als überlegte er, ob er nicht besser wegrennen sollte.

Carl stand auf und kniete sich vor den Jungen. Dann griff er in seine Hosentasche und zog eine kleine metallene Dose hervor.

»Sieh mal.« Er öffnete den Deckel, und Matthias' Augen wurden groß, als er die rosafarbenen Himbeerbonbons entdeckte, die in diesem Schatzkästchen lagen. »Magst du Süßigkeiten?«

»Die mag wohl jedes Kind.« Luise klang eifersüchtig, doch Carl beachtete sie nicht, schloss den Deckel und drückte Matthias die ganze Dose in die Hand. Ungläubig schlossen sich die Finger des Kindes um den Schatz.

»Danke.« Er drückte die Dose an seine Brust, als hätte er Angst, dass Carl sie ihm wieder wegnehmen könnte.

»Ihr könnt ja teilen«, schlug der Krämer vor. »Auch mit den anderen Kindern. Die warten bestimmt schon auf euch. Einverstanden?«

»Ja.« Matthias nickte. »Auch mit Evi!«

Carl fragte nicht nach, wer das war.

»So ist es richtig. Dann lauft!«

»Bis bald«, rief Jella den Kindern hinterher, als sie zurück in Richtung Wasser rannten. Lachend versetzte sie Carl einen Knuff. »Du bist mir einer, verschenkst einfach die Lieblingsbonbons deiner Verlobten!«

»Du kannst Nachschub bekommen, wann immer du willst, meine kleine Naschkatze.« Er zog Jella an sich und gab ihr einen Kuss auf die Nasenspitze.

»Das war sehr lieb von dir.« Jella wurde ernst. »Der Kleine war so schüchtern.«

»Die Kinder haben es nicht leicht.«

»Das Marienheim macht einen sehr guten Eindruck«, entgegnete Jella und dachte an ihren Besuch am Vormittag.

»Das streite ich gar nicht ab.« Carl griff nach einer Muschel, die neben ihm im Sand lag, und drehte sie nachdenklich zwischen den Fingern. »Aber sie verbringen letztlich nur ein paar Wochen auf der Insel, Jella. Hier gibt es gutes Essen und gesunde Luft, und ja, vielleicht blühen sie wirklich auf. Aber nur, um dann in ihr normales Leben zurückzukehren. Und viele der Kinder kommen aus beklagenswert armen Verhältnissen, machen wir uns nichts vor. Sie fahren zurück in irgendeine Stadt, in der es dreckig ist und in der Fabriken die Luft verpesten. Wo abends viel zu wenig auf dem Tisch steht. Ich weiß nicht, ob man ihnen einen Gefallen tut, wenn man ihnen zeigt, wie anders es hier ist. Sie dürfen an einem anderen Leben schnuppern. Doch weckt das nicht Begehrlichkeiten, die dann nicht erfüllt werden? Was macht das mit einem, wenn man etwas Gutes gezeigt bekommt, das einem aber gleich wieder weggenommen wird?«

Carl machte üblicherweise nicht so viele Worte, und Jella hatte ihm nachdenklich zugehört. So hatte sie die Aufenthalte der Kinder noch nie betrachtet. Sie griff nach ihrer Limonade und nahm einen Schluck, um Zeit zu haben, über ihre Antwort nachzudenken.

»Entschuldige, Jella.« Carl ließ die Muschel fallen und zog seine Verlobte wieder an sich. »Ich wollte dir nicht die Stimmung verderben.«

Jella zuckte mit den Schultern und drehte ihr nun leeres Glas in den Händen. »Vielleicht hast du nicht unrecht, Carl. Ich denke aber, auch wenn die Wochen auf Norderney nur eine kleine Auszeit sind, geben sie den Kindern Kraft. Und die brauchen sie so dringend! Wer weiß, vielleicht tut es ihnen auch gut zu sehen, was es jenseits ihres ärmlichen Alltags noch so gibt. Vielleicht spornt es einige an.«

Carl hob die Brauen.

»Es wäre schön, wenn es so wäre. Aber so oder so, das ist ja nur die eine Seite, Jella. Niemand spricht darüber, was dieses ganze Reisen mit unserer Insel macht. Ob es nun Kinder sind oder Erwachsene. Ich weiß nicht, ob ich es gut finde, wenn man gar nicht mehr weiß, wer sich alles im Ort aufhält. Auch, wenn mir klar ist, dass unser Laden vermutlich nicht zuletzt wegen der vielen Auswärtigen so gut läuft.«

Jella stellte ihr Glas ab und ließ etwas Sand durch die Finger rieseln. Carl war so freundlich zu dem kleinen Matthias gewesen, dass seine Überlegungen gar nicht zu seinen Worten passen wollten.

»Norderney wandelt sich, Carl«, sagte sie schließlich, den Blick aufs Meer gerichtet. Am Horizont waren mehrere Schiffe zu erkennen, womöglich mit neuen Gästen an Bord. Lauter Menschen, die das Schicksal auf die Insel geführt hatte. Wie viele von ihnen mochten hier auf Hilfe hoffen?