Das Land des Lachens - Jonathan Carroll - E-Book

Das Land des Lachens E-Book

Jonathan Carroll

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Beschreibung

Als Sohn des ebenso erfolgreichen wie egozentrischen Schauspielers Stephen Abbey hatte Thomas eine schwierige Kindheit. Sein einziger Trost war das Buch »Das Land des Lachens« des früh verstorbenen Autors Marshall France, das er stets bei sich trug wie andere Kinder ihre Kuscheltiere. Inzwischen arbeitet Thomas als Englischlehrer in einer kleinen Stadt in Connecticut. Sein Job langweilt ihn, er hat nur wenige Freunde und sein Liebesleben existiert quasi nicht – nur Marshall France und seine Bücher bringen ein wenig Licht ins graue Einerlei. Eines Tages beschließt Thomas, eine Biografie über seinen Lieblingsautor zu schreiben und fährt nach Galen, Missouri, wo France ein zurückgezogenes Leben führte. Dort begegnet er nicht nur der exzentrischen Saxony, sondern auch einer Dorfgemeinschaft, die ein magisches Geheimnis zu hüten scheint. Ein Geheimnis, das mit Marshall France´ Büchern zu tun hat ...

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Seitenzahl: 432

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DASBUCH

»Mein Traum war es, eine Biografie von Marshall France zu schreiben, dem wunderbaren und sehr mysteriösen Autor der schönsten Kinderbücher der Welt. Bücher wie Das Land des Lachens und Der Sternenteich, die mir im Laufe meines dreißigjährigen Lebens immer wieder geholfen hatten, nicht den Verstand zu verlieren …«

Nach vier Jahren als Englischlehrer an einer Privatschule in Neuengland erfüllt sich Thomas Abbey diesen Traum und macht sich gemeinsam mit seiner Freundin Saxony – eine ebenso glühende Marshall-France-Verehrerin wie er selbst – auf den Weg in die kleine Stadt Galen in Missouri, wo France bis zu seinem frühen Tod ein zurückgezogenes Leben geführt hat.

In Galen angekommen, werden Thomas und Saxony von den Bewohnern ausgesprochen herzlich aufgenommen. Vor allem Anna, die schöne Tochter von Marshall France, scheint Gefallen an Thomas zu finden, und so erlaubt sie ihm nicht nur die Biografie ihres Vaters zu schreiben, sondern gewährt ihm auch Zugang zu dessen persönlichsten Aufzeichnungen. Thomas wird immer tiefer in die Welt und die Geschichten Marshall Frances hineingezogen, sodass er lange nicht bemerkt, dass es in Galen nicht mit rechten Dingen zugeht. Und als er dem Geheimnis schließlich auf die Spur kommt, ist es bereits zu spät …

Fantasievoll, mitreißend und von geradezu zauberhafter Schönheit – Das Land des Lachens ist ein absolutes Muss für jeden, der Bücher liebt.

DERAUTOR

Jonathan Carroll wurde 1949 in New York als Sohn eines Drehbuchautors und einer Schauspielerin geboren. Er studierte an der Rutgers University in New Jersey und schloss sein Studium mit Auszeichnung ab. Kurz darauf zog er nach Wien, wo er viele Jahre an der American International School unterrichtete und wo er bis heute lebt. Mit seinem ersten Roman Das Land des Lachens gewann er so prominente Fans wie Stephen King und Michael Ende. Zahlreiche weitere Romane und Erzählungen folgten, für die Carroll unter anderem mit dem British Fantasy Award und dem Bram Stoker Award ausgezeichnet wurde. Jonathan Carroll zählt heute zu den wichtigsten Fantastik-Autoren der Gegenwart.

Jonathan Carroll

Das Land des

LACHENS

Roman

Mit einem Nachwort

von Denis Scheck

AUS DEM AMERIKANISCHEN

VON RUDOLF HERMSTEIN

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Titel der Originalausgabe: LANDOFLAUGHS

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Überarbeitete Neuausgabe 10/2021

Redaktion: Alexander Martin

Copyright © 1980 by Jonathan Carroll

Copyright © 2021 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat GbR, München

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-26219-8V001

www.heyne.de

Für June, das beste aller Neuen Gesichter,

und für Beverly – die Herzkönigin.

»Sei ruhig und ordentlich in deinem Leben,

damit du wild und originell in deiner Arbeit sein kannst.«

Gustave Flaubert

Erster Teil

1

»Sagen Sie mal, Thomas, ich kann mir zwar denken, dass Sie das schon tausendmal gefragt worden sind, aber wie war es denn wirklich, Stephen Abbeys …«

»… Sohn zu sein?« Ah, die immer gleiche Frage! Erst neulich hatte ich zu meiner Mutter gesagt, ich hätte manchmal das Gefühl, mein Name wäre nicht »Thomas Abbey«, sondern »Der Sohn von Stephen Abbey«. Diesmal seufzte ich und schob die Reste meines Käsekuchens auf dem Teller herum. »Das ist sehr schwer zu beschreiben. Ich erinnere mich nur, dass er immer sehr herzlich, sehr liebevoll war. Aber vielleicht war er auch nur immer high.«

Sie bekam plötzlich leuchtende Augen. Ich konnte förmlich hören, wie sich die kleinen Rädchen in ihrem Kopf in Bewegung setzten, klickerdiklick. Also war er doch süchtig! Sein eigener Sprössling musste es schließlich wissen. Sie versuchte, ihre Genugtuung zu überspielen, indem sie sich verständnisvoll gab und mir für alle Fälle ein Schlupfloch offen ließ.

»Ich habe zwar schon viel über ihn gelesen – wer hat das nicht? Aber man weiß ja nie, ob an diesen Berichten etwas Wahres dran ist.«

Ich hatte keine Lust, weiter darüber zu reden. »Das meiste, was über ihn gesagt wird, kommt vermutlich der Wahrheit ziemlich nahe. Die Geschichten, die ich gehört oder gelesen habe, stimmen jedenfalls.« Die Kellnerin kam wie gerufen, ich verlangte die Rechnung, sah sie mir genau an, zahlte umständlich – bloß weg von diesem Thema!

Als wir hinaustraten, war es immer noch Dezember, und die kalte Luft roch chemisch, wie eine Raffinerie oder eine Chemiestunde in der zehnten Klasse, wenn man schon tief in die Mysterien des Gestanks eingedrungen ist. Ich sah sie an und lächelte. Sie war hübsch – kurzes rotes Haar, eine gute Figur, grüne Augen, die immer wie in angenehmer Überraschung geweitet waren. Zum ersten Mal an diesem Abend war ich froh, dass sie bei mir war.

Von dem Restaurant bis zur Schule waren es etwa zwei Meilen, aber sie hatte darauf bestanden, dass wir alles zu Fuß gingen. Der Hinweg würde uns Appetit machen, und auf dem Rückweg würden wir das Essen abarbeiten. Auf meine Frage, ob sie auch ihr eigenes Holz hacke, hatte sie keine Miene verzogen. Ich bin es gewohnt, dass andere keinen Sinn für meinen Humor haben.

Als wir wieder bei der Schule ankamen, waren wir die besten Kumpel. Sie hatte keine Fragen mehr über meinen alten Herrn gestellt und beinahe den ganzen Weg lang eine lustige Geschichte über ihren schwulen Onkel in Florida erzählt.

Wir gingen zur Founder’s Hall hinüber, einem Glanzstück nazistischer Architektur, und ich merkte, dass wir auf dem in den Boden eingelassenen Schulwappen stehen geblieben waren. Ihr Arm straffte sich in meinem, und ich dachte, entweder jetzt oder nie. »Haben Sie Lust, sich meine Maskensammlung anzusehen?«

Sie lachte glucksend, es hörte sich an wie durch ein Abflussrohr laufendes Wasser. Dann wackelte sie mit dem Finger, als wollte sie sagen: Aber Sie sind mir vielleicht ein Schlimmer! »Sie meinen, Ihre Markensammlung?«

Ich hatte gehofft, sie würde halbwegs menschlich sein, aber diese dumme Betty-Boop-Nummer ernüchterte mich schlagartig. Warum konnte nicht wenigstens eine von ihnen einfach nur wunderbar sein? Nicht zickig, nicht vorlaut, nicht albern …

»Nein, ich habe wirklich diese Masken …«

Sie drückte meinen Oberarm und schnürte mir dabei beinahe das Blut ab. »War nur Spaß, Thomas. Ich würde sie mir sehr gern ansehen.«

Wie in allen geizigen Privatschulen Neuenglands spotteten die Wohnungen der Lehrer jeder Beschreibung, vor allem die der ledigen Lehrer. Meine hatte einen winzigen Flur, ein Arbeitszimmer, dessen Wände ihren gelben Anstrich längst vergessen hatten, ein Schlafzimmer und eine Küche, die so alt und fragil war, dass ich nie darin kochte, weil ich alles, was kaputtging, selbst bezahlen musste.

Zumindest hatte ich mir einen Eimer erstklassiger Farbe geleistet, damit wenigstens die Wand, an der meine Sammlung hing, etwas hermachte.

Von draußen kam man zuerst in den Flur, sodass mir noch ein wenig Zeit blieb. Ich war nervös, aber auch gespannt, wie sie reagieren würde. Sie schmiegte sich leise gurrend an mich, doch dann gingen wir um die Ecke in mein Wohnschlafzimmer.

»Oh mein Gott! Was … Wo haben Sie die denn …« Ihre Stimme löste sich in Rauchwölkchen auf, während sie näher heranging, um sich die Masken genauer anzusehen. »Igitt, wo haben Sie denn den her?«

»Aus Österreich. Ist er nicht fantastisch?« Rudi der Bauer war braun und ockergelb und wunderschön geschnitzt, in einer beinahe nachlässigen Manier, die sein grobes, versoffenes, fettes Ferkelgesicht erst so richtig zur Geltung brachte. Außerdem glänzte er, denn ich hatte am Vormittag ein neues Leinöl ausprobiert, das noch nicht getrocknet war.

»Aber er ist … er ist ja fast wie lebendig. Er glänzt!«

Meine Hoffnungen stiegen und stiegen. War sie ergriffen? Wenn ja, würde ich ihr verzeihen. Es kam nur selten vor, dass jemand von meinen Masken ergriffen war, und diese wenigen konnten mit guten Noten von mir rechnen.

Es störte mich nicht, dass sie die eine oder andere Maske im Vorbeigehen berührte. Ja, es gefiel mir sogar, welche sie sich dafür aussuchte: den Wasserbüffel, den Pierrot, den Krampus.

»Die ersten habe ich gekauft, als ich noch aufs College ging. Als mein Vater starb, hat er mir etwas Geld hinterlassen, und davon bin ich nach Europa gefahren.« Ich ging zur Marquesa und berührte sanft ihr pfirsichrosa Kinn. »Die hier, die Marquesa, habe ich in einem kleinen Laden in einer Seitenstraße in Madrid entdeckt. Sie war die erste.«

Meine Marquesa mit ihren Schildpattkämmen und den zu weißen und zu großen Zähnen, die mich jetzt schon seit acht Jahren anlächelten. Die Marquesa.

»Und was ist das hier für eine?«

»Das ist eine Totenmaske von John Keats.«

»Eine Totenmaske?«

»Ja. Wenn berühmte Leute sterben, nimmt man manchmal einen Abdruck von ihrem Gesicht, bevor man sie beerdigt. Davon werden dann Kopien gegossen …« Ich brach mitten im Satz ab, weil sie mich ansah, als wäre ich Charles Manson.

»Aber die sind so unheimlich! Wie können Sie hier nur schlafen? Machen die Ihnen denn keine Angst?«

»Auch nicht mehr als Sie, meine Liebe.«

Das genügte. Fünf Minuten später war sie weg, und ich rieb eine weitere Maske mit dem Leinöl ein.

2

Immer, wenn mein Vater einen Film abgedreht hatte, sagte er, er würde nie wieder in einem mitspielen. Aber das war völliger Quatsch, wie das meiste, was er sagte. Denn kaum hatte er sich für ein paar Wochen erholt und sein Agent für ihn einen neuen lukrativen Vertrag ausgehandelt, stand er wieder unter den Scheinwerfern, um zum dreiundvierzigsten Mal ein triumphales Comeback zu feiern.

Nach vier Jahren als Lehrer war ich nun ebenfalls an diesem Punkt angelangt. Zeugnisse, Fakultätstreffen, Basketballtraining mit Neuntklässlern – das alles hing mir zum Hals raus. Meine Erbschaft hätte es mir erlaubt, zu tun, was ich wollte, aber um ehrlich zu sein, hatte ich gar keine Vorstellung davon, was ich stattdessen tun sollte. Korrektur: Ich hatte eine sehr genaue Vorstellung, doch das war ein Hirngespinst. Ich war kein Schriftsteller, ich verstand nichts vom Recherchieren und hatte noch nicht einmal alles gelesen, was er geschrieben hatte – dabei war es gar nicht so viel.

Mein Traum war es, eine Biografie von Marshall France zu schreiben, dem wunderbaren und sehr mysteriösen Autor der schönsten Kinderbücher der Welt. Bücher wie Das Land des Lachens und Der Sternenteich, die mir im Laufe meines dreißigjährigen Lebens immer wieder geholfen hatten, nicht den Verstand zu verlieren.

Das war das einzige Mal, dass mir mein Vater wirklich etwas Gutes getan hat. Zu meinem neunten Geburtstag – ein schicksalhafter Tag! – schenkte er mir ein rotes Kinderauto mit echtem Motor, das ich vom ersten Moment an hasste, einen Baseball mit der Aufschrift »Vom größten Fan deines Vaters, Mickey Mantle« und, ganz sicher nur als Anhängsel, die Shaver-Lambert-Ausgabe von Das Land des Lachens mit den Van-Walt-Illustrationen. Ich habe sie immer noch.

Ich setzte mich in das Auto, um meinen Vater nicht zu enttäuschen, und las das Buch in einem Rutsch durch. Und las es wieder und wieder. Als ich es nach einem Jahr immer noch nicht aus der Hand legen wollte, drohte mir meine Mutter damit, Dr. Kintner anzurufen, meinen sündhaft teuren Analytiker, und ihm zu sagen, ich verhielte mich nicht »kooperativ«. Wie es damals so meine Art war, ignorierte ich sie einfach und blätterte die Seite um.

»Das Land des Lachens war von Augen hell, die sahn das Licht, das keiner sah.«

Ich dachte, dass jeder Mensch auf der Welt diese Worte kennen musste. Ich sang sie mir unaufhörlich vor, mit jener leisen, intimen Stimme, mit der Kinder Selbstgespräche führen, wenn sie allein und glücklich sind.

Da ich nie rosa Häschen oder Plüschhunde brauchte, um nächtliche Spukgestalten oder kinderfressende Ungeheuer abzuwehren, erlaubte mir meine Mutter schließlich, das Buch mit mir herumzutragen. Wahrscheinlich war sie gekränkt, weil ich sie nie bat, mir daraus vorzulesen. Aber inzwischen war ich so stolz darauf, Das Land des Lachens zu besitzen, dass ich es noch nicht einmal mit der Stimme eines anderen Menschen teilen wollte.

Heimlich schrieb ich France einen Brief, der einzige Fanbrief, den ich je geschrieben habe. Und ich war überglücklich, als er mir antwortete.

Lieber Thomas,

Die Augen, die im Land des Lachens leuchten,

Sehn Dich und blinzeln Dir zum Dank.

Dein Freund

Marshall France

Ich ließ Frances Brief rahmen, als ich auf die Prep School kam, und auch jetzt sah ich ihn mir noch an, wenn ich ein wenig Seelenruhe brauchte. Seine Handschrift war eine krakelige Kursive, deren g tief unter die Zeile reichte und bei der die Buchstaben innerhalb der Wörter oft nicht zusammenhingen. Der Brief war in Galen, Missouri, abgestempelt, wo France die meiste Zeit seines Lebens verbracht hatte.

Ich wusste noch mehr solcher Details über ihn. Ich konnte einfach nicht widerstehen, ein bisschen Amateurdetektiv zu spielen. France starb mit vierundvierzig an einem Herzanfall, war verheiratet und hatte eine Tochter namens Anna. Er hasste Publicity, und nach dem Erfolg seines Buches Die Trauer des grünen Hundes verschwand er mehr oder weniger von der Bildfläche. Eine Zeitschrift brachte einmal einen Artikel über ihn – mit einem Foto von seinem Haus in Galen. Das Haus war eines jener herrlichen alten viktorianischen Monster, die an eine durchschnittliche Kleinstadtstraße mitten im mittleren Amerika gestellt worden waren. Immer wenn ich solche Häuser sah, musste ich an den Film meines Vaters denken, in dem dieser Typ aus dem Krieg heimkommt, nur um an Krebs zu sterben. Da sich die Handlung überwiegend im Wohnzimmer und auf der vorderen Veranda abspielte, nannte mein Vater den Film Krebshaus. Er spielte ein Vermögen ein und brachte meinem Vater eine weitere Oscarnominierung.

Im Februar, dem Monat, in dem Selbstmord für mich immer einen gewissen Reiz hat, nahm ich in einer meiner Klassen Poe durch – und das gab den Anstoß zu meinem Entschluss, für den kommenden Herbst zumindest eine Beurlaubung zu beantragen, bevor ich endgültig durchdrehte. Ein durchschnittlicher Schwachkopf namens Davis Bell sollte ein Referat über DerFall des Hauses Ascher halten. Er stellte sich vor die Klasse und sagte Folgendes: »Edgar Allan Poe war Alkoholiker und heiratete seine jüngere Cousine.« Das hatte ich ihnen vor ein paar Tagen erzählt, in der Hoffnung, ihre Neugier zu wecken. Aber hören wir weiter: »… seine jüngere Cousine. In diesem Haus, äh, ich meine, in dieser Story geht es um einen sehr interessanten Fall …«

»Einen Kriminalfall?«, hakte ich nach, auf die Gefahr hin, seinen Klassenkameraden, die die Geschichte ebenfalls nicht gelesen hatten, die Handlung zu verraten.

»Jaaa, einen Kriminalfall.«

Es war Zeit, die Zelte abzubrechen.

Grantham überbrachte mir die Neuigkeit, dass mein Gesuch angenommen worden war. Wie immer legte er mir, nach Kaffee und Fürzen riechend, den Arm um die Schultern. Dann fragte er mich, während er mich zur Tür schob, was ich denn mit meinem »kleinen Urlaub« anzufangen gedächte.

»Ich denke daran, ein Buch zu schreiben.« Ich sah ihn nicht an, weil ich befürchtete, er würde das gleiche Gesicht machen, das ich machen würde, wenn einer wie ich mir gerade gesagt hätte, er wolle ein Buch schreiben.

»Das ist ja großartig, Tom! Eine Biografie Ihres alten Herrn?« Er legte den Finger auf den Mund und sah sich theatralisch um, als ob die Wände Ohren hätten. »Sie können ganz unbesorgt sein. Ich sage niemandem ein Sterbenswörtchen, das verspreche ich. So was ist heutzutage absolut in, wissen Sie. Weltstars ganz privat und so. Aber vergessen Sie nicht, ich will ein signiertes Exemplar, wenn es herauskommt.«

Es war wirklich Zeit, die Zelte abzubrechen.

Der Rest des Wintertrimesters verging schnell, und die Osterferien kamen fast zu früh. Während der freien Tage war ich mehrmals drauf und dran, alles wieder abzublasen, denn der Gedanke, mich mit einem Projekt, bei dem ich noch nicht einmal wusste, wie ich es anfangen, geschweige denn vollenden sollte, ins Ungewisse zu stürzen, war alles andere als ermutigend. Aber mein Nachfolger war schon eingestellt, ich hatte mir einen kleinen Kombi für die Fahrt nach Galen gekauft, und die Schüler zerrten weiß Gott nicht an meinen Rockschößen, um mich zurückzuhalten. Also dachte ich mir: Egal, wie es ausgeht, es wird mir auf alle Fälle guttun, von Davis Bell, Furz Grantham und der ganzen Bande wegzukommen.

Doch dann geschahen einige merkwürdige Dinge.

Eines Nachmittags stöberte ich in einem Antiquariat, als ich auf dem Ladentisch die Alexa-Ausgabe von Frances Pfirsichschatten mit den Originalillustrationen von Van Walt liegen sah. Aus irgendeinem Grund war das Buch seit Jahren vergriffen – und ich hatte es noch nicht gelesen.

Ich stolperte hinüber, wischte mir die Hände an den Hosen ab und nahm das Buch ehrfürchtig vom Tisch. Dann merkte ich, dass mich ein Gnom, der aussah, als hätte man ihn in Talkum gewendet, von der Ladenecke aus beobachtete.

»Ist das nicht ein herrliches Exemplar? Jemand ist neulich aus heiterem Himmel hier aufgetaucht und hat es mir auf den Tisch geknallt.« Er hatte einen Südstaatenakzent und wirkte auf mich wie jemand, der mit seiner toten Mutter in einer heruntergekommenen Villa lebt und unter einem Moskitonetz schläft.

»Es ist fantastisch. Was kostet es denn?«

»Oh, tut mir leid, aber es ist schon verkauft. Eine echte Rarität. Wissen Sie, warum es nicht mehr zu haben ist? Weil Marshall France es nicht mochte und irgendwann keine Neuauflage mehr zuließ. War schon ein komischer Kauz, dieser France.«

»Könnten Sie mir sagen, wer es gekauft hat?«

»Nein, hab sie vorher noch nie gesehen. Aber Sie haben Glück, sie wollte es heute abholen, so gegen, warten Sie mal …« Er sah auf seine Armbanduhr, eine goldene Cartier. »Ja, jetzt, so gegen elf, hat sie gesagt.«

Sie. Ich musste dieses Buch haben, und sie würde es mir verkaufen, ganz egal, was es mich kosten würde. Ich fragte ihn, ob ich es mir so lange ansehen dürfe, und er sagte, er wüsste nicht, was dagegenspreche.

Wie immer bei Marshall France war ich sofort gefesselt und vergaß alles um mich herum. Die Worte! »Die Teller hassten das Silberbesteck, das seinerseits die Gläser hasste. Sie verhöhnten einander mit grausamen Liedern. Pling. Klirr. Plong. Solche Gemeinheiten dreimal täglich.« Wie völlig neu alle diese Figuren waren, aber hatte man sie erst einmal kennengelernt, fragte man sich, wie man jemals ohne sie auskommen konnte. Wie die letzten Teile eines Puzzles, die genau in die Mitte passen.

Ich las zu Ende und blätterte dann schnell zu den Passagen zurück, die mir besonders gut gefallen hatten. Das waren ziemlich viele. Als ich also hörte, wie die Glocke über der Ladentür klingelte und jemand hereinkam, zwang ich mich, nicht darauf zu achten. Wenn sie es war, konnte die Sache so ausgehen, dass sie es mir nicht verkaufte, und dann würde ich das Buch vielleicht nie wiedersehen. Deshalb wollte ich vor dem großen Showdown noch so viel wie möglich davon verschlingen.

Ein paar Jahre lang habe ich Füllfederhalter gesammelt. Einmal, als ich auf einem Flohmarkt in Frankreich herumstöberte, sah ich vor mir einen Mann, der einen Füller von einem Verkaufstisch nahm und ihn beäugte. An dem weißen sechszackigen Stern auf der Kappe erkannte ich sofort, dass es ein Montblanc war. Ein alter Montblanc. Ich blieb wie angewurzelt stehen und stimmte einen lautlosen Beschwörungsgesang an: leg ihn wieder hin, kauf ihn nicht! Aber es nützte nichts – der Typ interessierte sich immer mehr für den Füller. Also wünschte ich, der Schlag solle ihn treffen, sodass ich ihm den Füller aus der erschlaffenden Hand ziehen und selbst kaufen könnte. Der Mann kehrte mir immer noch den Rücken zu, aber mein Fluch war offenbar so mächtig, dass er etwas gespürt hatte, denn plötzlich legte er den Montblanc wieder hin, warf mir einen unbehaglichen Blick über die Schulter zu und machte, dass er wegkam.

Das Erste, was ich sah, als ich von dem France-Buch aufblickte, war ein hübscher Hintern in einem Jeansrock. Das musste sie sein. Leg es wieder hin, kauf es nicht! Ich versuchte, mit meinem Blick durch den Jeansstoff und die Haut darunter bis zu ihrer Seele zu gelangen, wo immer die sitzen mochte. pack dich, lady! verflucht sollst du sein, wenn du nicht gehst und das buch hier hier hier lässt!

»Der Gentleman dort drüben sieht es sich gerade an. Ich dachte mir, Sie würden nichts dagegen haben.«

Plötzlich hatte ich die abenteuerliche, romantische Hoffnung, sie würde wunderschön sein und lächeln. Sie hatte den weltbesten Geschmack in Sachen Bücher, also musste sie einfach schön sein und lächeln. Aber nichts von beidem war der Fall. Das Lächeln war unterentwickelt, eine Mischung aus leichter Verwirrung und beginnendem Ärger, und das Gesicht war hübsch bis durchschnittlich. Ein gesundes, sauberes Gesicht, das auf einer Farm oder sonst irgendwo draußen auf dem Land aufgewachsen, aber nie viel in der Sonne gewesen war. Glattes braunes Haar, nur die Spitzen drehten sich knapp über den Schultern leicht nach oben, als hätten sie Angst vor der Berührung. Einige verstreute, ganz, ganz helle Sommersprossen, eine gerade Nase, weit auseinanderstehende Augen. Eher durchschnittlich als hübsch, je länger man sie ansah, aber das Wort »gesund« ging mir nicht mehr aus dem Kopf.

»Sie hätten mich vorher fragen sollen.«

Ich wusste nicht, ob sie damit mich oder den Ladenbesitzer meinte. Aber dann kam sie auf mich zugeschossen und riss mir das Buch aus der Hand – wie meine Mutter, wenn sie mich mit einem Schundmagazin erwischt hatte. Sie strich zweimal über den hellgrünen Einband, und dann erst sah sie mich richtig an. Sie hatte schmale, rostfarbene Augenbrauen, die sich an den Enden leicht nach oben wölbten, sodass sie, auch wenn sie die Stirn runzelte, nicht allzu wütend aussah.

Der Ladenbesitzer kam angeschwänzelt, nahm ihr mit einem »Darf ich?« schwungvoll meinen Schatz aus der Hand und trat hinter den Ladentisch, wo er sich anschickte, das Buch in beiges Papier einzuwickeln. »Ich bin jetzt seit zwölf Jahren hier an diesem Eck. Manchmal habe ich schon mehrere Frances gleichzeitig dagehabt, aber für gewöhnlich herrscht bei ihm Dürre, absolute Wüstendürre. Klar, die Erstausgabe von DasLand des Lachens ist relativ leicht zu kriegen, weil er damals so angesagt war, aber Die Trauer des grünen Hundes in der ersten oder irgendeiner anderen Ausgabe findet man so schwer wie Drachenzähne. Ach, übrigens, ich glaube, ich habe hinten noch ein Land des Lachens, falls einer von Ihnen Interesse hat.« Er sah uns blinzelnd an, aber ich hatte schon die Erstausgabe, für die ich in New York ein Vermögen bezahlt hatte, und meine Gegnerin kramte nach irgendwas in ihrer Handtasche, also fand er sich achselzuckend damit ab, dass hier kein Geschäft zu machen war, und widmete sich wieder dem Einpacken. »Das macht dann fünfunddreißig Dollar, Miss Gardner.«

Fünfunddreißig! Ich hätte dafür … »Äh, Miss Gardner? Wären Sie bereit, mir das Buch für hundert Dollar zu überlassen? Ich meine, ich kann Ihnen das Geld auf der Stelle geben, in bar.«

Der Ladenbesitzer stand hinter ihr, als er meinen Preis hörte. Seine Lippen zuckten wie eine Schlange mit Bauchweh.

»Hundert Dollar? Sie würden hundert Dollar dafür hinlegen?«

Es war der einzige France, den ich noch nicht hatte, geschweige denn in der Erstausgabe, aber irgendwie gab mir ihr Tonfall das Gefühl, unanständig reich zu sein. Doch das verging gleich wieder – wenn es um Marshall France ging, war ich jederzeit bereit, auch einen solchen Makel auf mir sitzen zu lassen. Solange ich nur das Buch bekam. »Ja. Verkaufen Sie’s mir?«

»Ich will mich ja nicht einmischen, Miss Gardner, aber hundert Dollar sind ein exorbitanter Preis, sogar für diesen France.«

Wenn sie jetzt in Versuchung kam und ihr das Buch genauso viel bedeutete wie mir, dann musste das für sie sehr schmerzhaft sein. Irgendwie tat sie mir fast leid. Schließlich sah sie mich an, als hätte ich ihr einen unsittlichen Antrag gemacht, und in diesem Moment wusste ich, dass sie zu meinem Angebot Ja sagen und sich selbst eine Enttäuschung bereiten würde.

»In der Stadt ist ein Laden, wo man Farbkopien machen kann. Ich möchte es mir erst kopieren, und dann … dann verkaufe ich es Ihnen. Sie können es sich morgen Abend abholen. Meine Adresse ist 189 Broadway, erster Stock. Am besten, Sie kommen … hm … Kommen Sie um acht.«

Sie zahlte und verließ den Laden, ohne zu einem von uns noch ein weiteres Wort zu sagen. Als sie weg war, sah der Ladenbesitzer auf einen Zettel, der in dem Buch gesteckt hatte, und sagte, ihr Name sei Saxony Gardner und sie hätte ihn gebeten, neben den Marshall-France-Raritäten auch nach alten Büchern über Marionetten Ausschau zu halten.

Sie wohnte in einer dieser Gegenden der Stadt, in denen man schnell die Autofenster hochkurbelt, wenn man hineinfährt. Ihre Wohnung war in einem Haus, das früher einmal ziemlich schick gewesen sein musste – jede Menge Pfefferkuchen und eine große, gemütliche Veranda, die sich um die gesamte Vorderfront wickelte. Jetzt beschränkte sich die Aussicht allerdings auf das verrußte Skelett eines Corvair, der bis auf den Rückspiegel komplett ausgeschlachtet worden war. Ein alter Schwarzer in einem grauen Sweatshirt mit Kapuze saß in einem Schaukelstuhl auf der Veranda, und da es schon dunkel war, sah ich nicht gleich, dass er eine schwarze Katze auf dem Schoß hatte.

»Howdy doody, Kumpel.«

»Hi. Wohnt hier Saxony Gardner?«

Statt zu antworten, hob er die Katze an sein Gesicht und machte »Miezmiezmiez« oder so ähnlich. Ich mache mir nicht viel aus Tieren.

»Äh, entschuldigen Sie, können Sie mir sagen, ob …«

»Ja. Hier bin ich.« Die Fliegengittertür öffnete sich, und da stand sie. Sie ging zu dem Alten und tippte ihm mit dem Daumen auf den Scheitel. »Zeit, ins Bett zu gehen, Onkel Leonard.«

Er lächelte und reichte ihr die Katze. Als er ins Haus ging, sah sie ihm nach. Dann bot sie mir mit einer vagen Handbewegung seinen Stuhl an.

»Alle sagen Onkel zu ihm. Er ist ein netter Mann. Er und seine Frau wohnen im Erdgeschoss, und ich bin im ersten Stock.« Sie hatte da etwas unter dem Arm, das sie nach einer Weile hervorzog und mir beinahe trotzig hinhielt. »Hier ist das Buch. Ich hätte es Ihnen nie verkauft, wenn ich nicht das Geld brauchen würde. Ihnen ist das wahrscheinlich egal, aber ich wollte es Ihnen trotzdem sagen. Ich habe einen Hass auf Sie, aber gleichzeitig bin ich Ihnen auch dankbar.« Sie lächelte, hörte aber gleich wieder auf und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Das war ein seltsamer Zug an ihr, an den ich mich erst nur schwer gewöhnen konnte: Sie tat fast nie zwei Dinge gleichzeitig. Wenn sie einen anlächelte, hielt sie die Hände still. Wenn sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht streichen wollte, unterbrach sie so lange ihr Lächeln.

Als ich das Buch entgegennahm, bemerkte ich, dass es wieder sorgfältig eingewickelt worden war – in ein Stück Papier, bei dem es sich offenbar um die Kopie eines alten handgeschriebenen Notenblatts handelte. Das war eine hübsche Idee, aber es wäre mir nichts lieber gewesen, als es sofort herunterzureißen und mich wieder in das Buch zu vertiefen. Das wäre natürlich sehr unhöflich gewesen, also malte ich mir zumindest schon mal aus, wie ich es mir damit zu Hause gemütlich machen würde. Ein paar Bohnen im Moulinex mahlen, eine Kanne frischen Kaffee kochen, und dann in den großen Sessel am Fenster mit der guten Leselampe …

»Ich weiß, es geht mich nichts an, aber warum um alles in der Welt geben Sie hundert Dollar für dieses Buch aus?«

Wie erklärt man jemandem eine Obsession? »Warum wollten Sie denn fünfunddreißig dafür ausgeben? Nach allem, was Sie bisher gesagt haben, können Sie sich nicht mal das leisten.«

Sie stieß sich von dem Pfosten ab, an dem sie gelehnt hatte, und schob kampfeslustig das Kinn nach vorne. »Woher wollen Sie wissen, was ich mir leisten kann und was nicht? Ich muss es Ihnen nicht verkaufen, vergessen Sie das nicht. Noch habe ich Ihr Geld nicht genommen.«

Ich erhob mich aus Leonards müdem Schaukelstuhl und zog den neuen Hundertdollarschein heraus, den ich immer in einem Geheimfach meiner Brieftasche mit mir herumtrage. Ich brauchte sie nicht, und sie brauchte mich nicht; außerdem wurde es kalt, und ich wollte die Gegend lieber verlassen, bevor die Buschtrommeln und die Stammestänze auf der Haube des Corvair einsetzten. »Ich, äh, muss jetzt wirklich gehen. Hier ist das Geld, und es tut mir sehr leid, falls ich unhöflich zu Ihnen war.«

»Das waren Sie. Haben Sie Lust auf eine Tasse Tee?«

Ich hielt ihr beharrlich den nagelneuen Schein hin, aber sie nahm ihn nicht. Also zuckte ich mit den Achseln und sagte Ja zu dem Tee, und sie führte mich ins Haus Ascher.

Eine gelbe Drei-Watt-Insektenlampe glomm auf dem Flur vor einer Tür, die vermutlich die von Leonard war. Ich hatte erwartet, dass es im Haus wie am Meer bei Ebbe riechen würde, doch das war nicht der Fall. Es roch süß und exotisch; irgendwo mussten Raucherstäbchen sein. Gleich hinter dem Insektenlicht war eine Treppe, so steil, dass ich schon dachte, sie würde auf den El Capitan führen, aber dann kam ich doch noch gerade rechtzeitig oben an, um sie durch eine Tür gehen zu sehen, wobei sie etwas über die Schulter zu mir sagte, was ich nicht verstand.

Wahrscheinlich hatte sie gesagt, ich solle den Kopf einziehen, denn kaum trat ich durch die Tür, verfing ich mich in einem tausendfädigen Spinnennetz und bekam fast einen Herzanfall. Es stellte sich heraus, dass es Marionettenfäden waren, besser gesagt die Fäden einer der vielen Marionetten, die überall im Zimmer herumhingen, in unterschiedlichen, makabren Posen, die mich an alle möglichen Träume erinnerten.

»Nennen Sie sie bitte nicht Puppen. Es sind alles Marionetten. Was für Tee möchten Sie, Apfelschalen oder Kamille?«

Der angenehme Geruch kam aus ihrer Wohnung, und es waren tatsächlich Räucherstäbchen – sie steckten glimmend in einer kleinen irdenen Schüssel mit feinem weißem Sand, die auf einem Couchtisch stand. Außerdem lagen da ein paar merkwürdige, unterschiedlich gefärbte Steine und etwas, das wie der Kopf einer Marionette aussah. Ich hielt es gerade in der Hand und untersuchte es, als sie wieder hereinkam, mit dem Tee und selbst gebackenem Bananenbrot.

»Verstehen Sie was von Marionetten? Die da ist eine Kopie des bösen Geistes Natt aus dem burmesischen Marionettentheater.«

»Verdienen Sie damit Ihr Geld?« Ich machte eine ausladende Geste mit den Armen und hätte Natt dabei beinahe auf das Bananenbrot fallen lassen.

»Ja. Das heißt, ich hab’s getan, bis ich krank wurde. Nehmen Sie Honig oder Zucker in den Tee?« Nach ihrem Tonfall bei dem Wort »krank« zu urteilen, wollte sie nicht nach der Art ihrer Krankheit gefragt werden. Oder ging es ihr jetzt wieder besser?

Nachdem ich die vermutlich widerlichste Tasse warmer Flüssigkeit ausgetrunken hatte, die ich je zu mir genommen habe – Apfelschalen oder Kamille? –, führte sie mich im Zimmer herum. Sie sprach so selbstverständlich von Ivo Puhonny und Tony Sarg, Wajang-Figuren und Bunraku, als hätten wir alle schon miteinander die Kühe gehütet. Aber ich mochte die Begeisterung in ihrer Stimme und die faszinierende Ähnlichkeit zwischen einigen der Marionettengesichter und meinen Masken.

Als wir uns wieder setzten – sie war mir jetzt hundertmal sympathischer als vorher –, sagte sie, sie wolle mir etwas zeigen, was mir bestimmt gefallen würde. Sie ging in das Nebenzimmer und kam mit einer gerahmten Fotografie zurück. Ich hatte bis zu diesem Moment nur ein einziges Foto von France gesehen und erkannte ihn daher nicht – bis ich das Autogramm in der linken unteren Ecke bemerkte.

»Meine Güte, wo haben Sie das denn her?«

Sie nahm es mir wieder weg und betrachtete es in Ruhe. Dann sagte sie langsam und leise: »Als ich klein war, hab ich mal mit ein paar anderen Kindern an einem brennenden Blätterhaufen gespielt. Ich bin gestolpert und hineingefallen, und die Verbrennungen an meinen Beinen waren so schlimm, dass ich ein Jahr im Krankenhaus bleiben musste. Meine Mutter hat mir seine Bücher gebracht, und ich hab sie gelesen, bis die Deckel abgegangen sind. Die Bücher von Marshall France. Und Bücher über Puppen und Marionetten.«

Ich fragte mich zum ersten Mal, ob France womöglich nur so angeknackste Menschen wie uns ansprach. Puppennärrische kleine Mädchen in Krankenhäusern. Und Jungen, die seit ihrem fünften Lebensjahr zum Psychiater gingen und im Schatten ihrer berühmten Väter standen.

»Aber wo haben Sie das Bild her? Ich kenne nur ein einziges Foto von ihm, und da war er noch jung, ohne diesen Bart.«

»Sie meinen das aus dem Time Magazine?« Sie blickte wieder auf das Foto. »Ich hab Sie doch vorhin gefragt, warum Sie so viel Geld für Pfirsichschatten ausgeben wollen. Wissen Sie, wie viel ich für dieses Foto bezahlt habe? Fünfzig Dollar. Ich muss ja reden, was?« Sie sah mich an und schluckte so hart, dass man es in ihrer Kehle kratzen hörte. »Bedeuten Ihnen diese Bücher genauso viel wie mir? Ich meine … mir wird fast schlecht, wenn ich daran denke, dass Sie das jetzt mitnehmen. Ich habe jahrelang nach einem Exemplar gesucht.« Sie fasste sich an die Stirn und ließ dann die Fingerspitzen an der Seite ihres blassen Gesichts herabgleiten. »Vielleicht ist es besser, Sie nehmen es jetzt und gehen.«

Ich sprang von der Couch auf und legte die hundert Dollar auf den Tisch. Bevor ich ging, schrieb ich ihr noch meinen Namen und meine Adresse auf einen Zettel, gab ihn ihr und sagte scherzhaft, dass sie das Buch jederzeit besuchen kommen könne. Eine folgenschwere Entscheidung.

3

Etwa eine Woche danach blieb ich an einem Abend länger auf, um noch etwas für den Unterricht zu lesen. Ausnahmsweise fühlte ich mich in meinem Mauseloch von Apartment einmal wohl, weil draußen einer dieser Winterstürme tobte, bei denen sich harter, bösartiger Regen mit nassem Schnee abwechselt. Aber seit ich in Kalifornien gelebt habe, wo ein sonniger Tag so wie der andere sonnige Tag ist, mag ich das wetterwendische Connecticut.

Gegen zehn klingelte es. Ich stand auf und dachte, dass wahrscheinlich irgendein Idiot im Gemeinschaftsbad ein Becken aus der Wand gerissen oder seinen Zimmergenossen aus dem Fenster gestoßen hatte. Im Wohnheim eines Internats zu leben, ist vermutlich der dritte oder vierte Kreis der Hölle. Mit einem halbherzigen Anpfiff auf den Lippen öffnete ich die Tür.

Sie trug einen schwarzen Regenponcho mit Kapuze, der ihr bis an die Knie reichte. Sie erinnerte mich an einen Priester der Inquisition, nur dass ihre Robe aus Gummi war.

»Ich komme auf Besuch. Es macht Ihnen doch nichts aus, oder? Ich hab ein paar Sachen mitgebracht, die ich Ihnen zeigen möchte.«

»Ja, sehr schön, kommen Sie rein. Ich habe mich schon gefragt, warum Pfirsichschatten den ganzen Tag so aufgeregt war.«

Sie zog sich gerade die Kapuze vom Kopf, als ich das sagte. Sie hielt inne und lächelte zu mir auf, und ich merkte zum ersten Mal, wie klein sie war. Vor dem schwarzen, glänzenden Regenumhang leuchtete ihr Gesicht nassweiß. Ein seltsames rosiges Weiß, aber hübsch und irgendwie babyhaft. Ich hängte den triefenden Umhang an den Haken und machte eine Handbewegung Richtung Wohnzimmer. In diesem Moment fielen mir ihre Marionetten ein – und dass sie meine Masken noch nicht gesehen hatte. Ich dachte an die letzte Frau, die da gewesen war, um sie sich anzusehen.

Saxony machte einige Schritte in den Raum hinein und blieb dann stehen. Ich war hinter ihr, sodass ich ihren Gesichtsausdruck erst nicht sehen konnte. Ich wünschte, ich hätte ihn gesehen. Nach zwei, drei Sekunden ging sie auf die Masken zu. Ich stand in der Tür und fragte mich, was sie sagen würde. Welche würde sie berühren oder von der Wand nehmen wollen?

Keine. Sie betrachtete sie lange, und einmal hob sie die Hand, als wollte sie den roten mexikanischen Teufel mit der blauen Schlange berühren, die sich an seiner Nase hinunter in den Mund windet. Doch dann besann sie sich und ließ die Hand wieder sinken.

Den Rücken mir immer noch zugewandt sagte sie: »Ich weiß, wer Sie sind.«

Ich grinste ihren unteren Rücken an. »Sie wissen, wer ich bin? Sie meinen, Sie wissen, wer mein Vater war? Das ist kein großes Geheimnis. Sie brauchen nur abends die Late Show einzuschalten.«

Sie drehte sich zu mir um und steckte die Hände in die kleinen aufgenähten Taschen desselben blauen Jeansrocks, den sie in dem Antiquariat getragen hatte. »Ihr Vater? Nein, ich meine Sie. Ich weiß, wer Sie sind. Ich hab bei der Schule angerufen und mich nach Ihnen erkundigt. Ich hab denen gesagt, ich wär bei einer Zeitung und würde einen Artikel über Ihre Familie schreiben. Dann hab ich noch in einem alten Who’s Who und ein paar anderen Büchern gelesen, was über Sie und Ihre Familie drinstand.« Mit zwei Fingern fischte sie einen Zettel aus der Hosentasche und faltete ihn auseinander. »Sie sind dreißig und hatten einen Bruder, Max, und eine Schwester, Nicolle, beide älter als Sie. Ihre Geschwister kamen bei dem gleichen Flugzeugabsturz ums Leben wie Ihr Vater. Ihre Mutter lebt in Litchfield, Connecticut.«

Ich war sprachlos, über die Fakten ebenso wie über die Unverfrorenheit, mir das alles seelenruhig zu erzählen.

»Die Schulsekretärin hat mir gesagt, dass Sie auf dem Marshall and Franklin College waren und 1971 Ihren Abschluss gemacht haben. Seit vier Jahren sind Sie hier Lehrer, und ein Schüler aus Ihrem Literaturkurs hat mir gesagt, dass Sie als Lehrer ›so ganz in Ordnung‹ sind.« Sie faltete den Zettel zusammen und steckte ihn wieder ein.

»Und wozu diese ganzen Nachforschungen? Liegt etwas gegen mich vor?«

Sie ließ die Hand in der Tasche. »Ich weiß immer gern, mit wem ich es zu tun habe.«

»Okay. Und was weiter?«

»Nichts weiter. Als Sie diesen Haufen Geld für ein Buch von Marshall France ausgegeben haben, wollte ich mehr über Sie wissen, das ist alles.«

»Ich bin es eigentlich nicht gewöhnt, dass man Dossiers über mich zusammenstellt.«

»Warum hängen Sie Ihren Job an den Nagel?«

»Das tue ich nicht. Ich habe mich nur beurlauben lassen, Miss Hoover. Und überhaupt, wieso interessiert Sie das denn?«

»Schauen Sie mal, was ich Ihnen mitgebracht habe.« Sie griff hinter sich und zog etwas unter ihrem grauen Pullover hervor. Ihre Stimme klang ziemlich aufgeregt, als sie es mir reichte. »Ich wusste, dass es existiert, aber ich hätte nie gedacht, dass es mir gelingen würde, ein Exemplar aufzutreiben. Ich glaube, es sind nur ungefähr tausend Stück davon gedruckt worden. Ich hab’s im Gotham in New York gefunden. Ich hab jahrelang danach gesucht.«

Es war ein kleines, schmales Buch, auf wunderschön rauem Papier gedruckt. Am Umschlagbild (wie immer ein Van Walt) erkannte ich, dass es von France war, aber ich hatte keine Ahnung, worum es sich handelte. Es hatte den Titel Nacht fährt in Anna, und was mich als Erstes überraschte, war, dass es im Gegensatz zu all seinen anderen Büchern keine Illustrationen enthielt – bis auf das Umschlagbild, eine schlichte Schwarz-Weiß-Zeichnung von einem kleinen Mädchen in einem Farmer-Overall, das bei Sonnenuntergang auf eine Bahnstation zugeht.

»Davon habe ich noch nie gehört. Was … Wann hat er das denn geschrieben?«

»Das kennen Sie nicht? Wirklich nicht? Sie haben noch nicht …« Sie zog es mir sanft aus meinen gierigen Händen und betastete es dann mit den Fingerspitzen, als würde sie Blindenschrift lesen. »Das ist der Roman, an dem er gearbeitet hat, als er gestorben ist. Ist das nicht unglaublich? Ein Roman von Marshall France! Angeblich hat er ihn sogar vollendet, aber seine Tochter Anna sitzt auf dem Manuskript. Das hier …« Ihre Stimme klang empört, und sie stieß mehrmals vorwurfsvoll mit dem Zeigefinger auf das Buch. »… ist der einzige Teil, der je an die Öffentlichkeit gelangte. Es ist kein Kinderbuch. Man glaubt kaum, dass es von ihm ist, es ist so ganz anders als seine anderen Sachen. So unheimlich und traurig.«

Ich nahm ihr das Buch wieder aus der Hand und schlug es behutsam auf.

»Es ist nur das erste Kapitel, aber dafür ist es ganz schön lang, fast vierzig Seiten.«

»Würden Sie, äh, ich meine, hätten Sie was dagegen, wenn ich es mir eine Minute allein ansehe?«

Sie lächelte und schüttelte den Kopf. Als ich wieder von dem Buch aufsah, kam sie mit einem Tablett ins Zimmer – beladen mit Tassen, meiner Messing-Teekanne und den ganzen English Muffins, die eigentlich für die nächsten zwei Tage als Frühstück vorgesehen waren.

Sie stellte das Tablett auf den Boden. »Können Sie die entbehren? Ich sterbe vor Hunger, ich hab den ganzen Tag noch nichts gegessen. Ich hab sie da drin gesehen …«

Ich klappte das Buch zu, lehnte mich im Sessel zurück und sah zu, wie sie meine Muffins verdrückte. Unwillkürlich musste ich lächeln. Und dann – ich wusste selbst nicht, wieso und warum – platzte ich auf einmal mit meinem Plan von der France-Biografie heraus.

Ich wusste, wenn ich überhaupt mit jemandem darüber reden würde, bevor ich mit dem Buch begann, konnte es nur sie sein, aber danach war es mir peinlich, weil ich mich von meiner Begeisterung hatte fortreißen lassen. Ich stand auf, ging zur Maskenwand hinüber und tat so, als wollte ich die Marquesa zurechtrücken.

Sie sagte nichts, sagte immer noch nichts, und schließlich drehte ich mich um und sah sie an. Aber sie wich meinem Blick aus, und zum ersten Mal, seit wir uns begegnet waren, sagte sie etwas, ohne mich anzusehen. »Könnte ich Ihnen nicht dabei helfen? Ich könnte für Sie recherchieren. Ich hab so was schon gemacht, für einen Professor an meinem College, aber das hier wär viel interessanter, weil ich mich mit seinem Leben befassen würde. Marshall France. Ich würde nicht viel dafür verlangen, wirklich nicht. Den Mindestlohn – wo liegt der jetzt, bei zwei Dollar die Stunde?«

Oje. Ein richtig nettes Mädchen, wie meine Mutter immer sagte, wenn sie mir eine ihrer »Entdeckungen« vorstellte, aber ich brauchte niemanden, wollte niemanden, der mir half, auch wenn es jemand war, der viel mehr über France wusste als ich. Wenn ich mich wirklich in dieses Abenteuer stürzte, wollte ich nicht auch noch auf jemand anderen Rücksicht nehmen müssen, schon gar nicht auf eine Frau, die sich womöglich als rechthaberisch oder egoistisch oder, das wäre das Schlimmste, als launisch entpuppte. Klar, sie hatte ihre guten Seiten, aber es ging einfach nicht. Und so wand ich mich und druckste herum, und sie hatte zum Glück keine allzu lange Leitung.

»Mit anderen Worten, Sie sagen Nein.«

»Ich … Wie soll ich sagen … Ja, Sie haben recht.«

Sie sah auf den Boden und verschränkte die Arme. »Verstehe.« Sie blieb eine Minute lang so stehen, dann gab sie sich einen Ruck, griff nach dem Buch und ging zur Tür.

»Moment, deswegen brauchen Sie nicht gleich zu gehen.« In meinem Kopf machte sich die schreckliche Vorstellung breit, dass sie sich das Buch wieder unter den Pullover schieben würde. Der Gedanke an diesen wollenen Wulst brach mir das Herz.

Sie hob die Arme, um sich den noch nassen Regenponcho überzustreifen, und für einen Moment sah sie aus wie Bela Lugosi aus Gummi. Sie nahm die Arme auch nicht herunter, als sie noch etwas sagte. »Ich glaube, Sie machen einen großen Fehler, wenn es Ihnen mit dem Buch ernst ist. Ich glaube wirklich, ich könnte Ihnen helfen.«

»Ich wüsste nicht, wie … äh, ich …«

»Ich meine, ich könnte mich wirklich nützlich machen. Ich begreife überhaupt nicht … Ach, hat ja doch keinen Zweck!« Sie öffnete die Tür und zog sie ganz leise hinter sich zu.

Zwei Tage später kam ich vom Unterricht zurück und fand einen Zettel unter meiner Wohnungstür. Es stand etwas mit dickem Leuchtstift darauf; die Schrift kannte ich nicht.

ich mache ES trotzdem. es hat nichts mit ihnen zu tun. rufen sie mich an, wenn sie heimkommen – ich habe neuen stoff. saxony gardner.

Nicht auszudenken, wenn einer meiner superklugen Schüler den Zettel gesehen, »Stoff« als »Rauschgift« gelesen und Gerüchte über Mr. Abbeys heimliche Drogenorgien in die Welt gesetzt hätte. Ich hatte Saxonys Telefonnummer nicht und auch keine Lust, sie herauszusuchen. Aber am Abend rief sie mich an. Während des ganzen Gesprächs wirkte sie verärgert.

»Ich weiß schon, Sie wollen mich nicht dabeihaben, Thomas, aber Sie hätten mich trotzdem anrufen sollen. Immerhin habe ich mich in der Bibliothek ganz schön für Sie abgeschuftet.«

»Tatsächlich? Also da bin ich Ihnen wirklich dankbar. Ehrlich!«

»Dann holen Sie sich mal Papier und Stift. Es ist nämlich eine ganze Menge.«

»Ich habe schon was zum Schreiben. Schießen Sie los.« Welche Gründe sie für ihr Verhalten auch haben mochte, ich dachte nicht daran, auf Gratisinformationen zu verzichten.

»Okay. Erstens hieß er eigentlich nicht France, sondern Frank. Er wurde 1922 als Martin Emil Frank in Rattenberg in Österreich geboren. Rattenberg ist eine kleine Stadt ungefähr vierzig Meilen von Innsbruck entfernt, in den Bergen. Sein Vater hieß mit Vornamen David, seine Mutter Hannah, mit h.«

»Moment bitte … Ja, weiter.«

»Er hatte einen älteren Bruder, Isaac, der 1944 in Dachau umgekommen ist.«

»Sie waren Juden?«

»Das steht einwandfrei fest. France kam 1938 nach Amerika und zog dann irgendwann nach Galen, Missouri.«

»Warum nach Galen? Haben Sie darüber etwas gefunden?«

»Nein, aber ich suche weiter. Mir gefällt das. Es macht Spaß, in der Bibliothek zu arbeiten und etwas über jemanden herauszufinden, den man liebt.«

Nachdem sie aufgelegt hatte, hielt ich den Hörer lange in der Hand und kratzte mich schließlich damit am Kopf. Ich wusste nicht, ob ich es gut finden sollte, dass sie wieder anrufen würde, sobald sie Neues zu berichten hatte.

Ein paar Tage darauf teilte sie mir mit, dass France nach Galen ging, weil sein Onkel Otto dort eine kleine Druckerei hatte. Bevor er aber gen Westen zog, lebte unser Mann anderthalb Jahre in New York, und aus irgendeinem Grund kam sie nicht dahinter, was er dort gemacht hat. Sie drehte deswegen fast durch, ihre Anrufe wurden immer ärgerlicher.

»Ich krieg es einfach nicht raus. Ich werd noch wahnsinnig!«

»Nur die Ruhe, Sax. Bei Ihrer Gründlichkeit finden Sie die Information ganz bestimmt.«

»Tun Sie nicht so herablassend, Thomas. Sie hören sich an wie Ihr Vater in dem Film, den ich gestern Abend gesehen habe. Der herzensgute alte Farmer James Vandenberg.«

Ich kniff die Augen zusammen und umgriff den Telefonhörer fester. »Hören Sie, Saxony, ich habe wirklich keine Lust, mich von Ihnen beleidigen zu lassen.«

»Das wollte ich nicht … Tut mir leid.« Sie legte auf. Ich rief sofort zurück, aber sie nahm nicht ab. Ich fragte mich, ob sie wohl aus einer Telefonzelle irgendwo in der Stadt angerufen hatte, und plötzlich tat sie mir so leid, dass ich in einen Blumenladen ging und ihr einen japanischen Bonsai kaufte. Ich vergewisserte mich, dass sie nicht zu Hause war, bevor ich ihn ihr vor die Wohnungstür stellte.

Dann dachte ich mir, es wäre an der Zeit, selbst mal was zu unternehmen, anstatt die ganze Sucherei ihr zu überlassen, und als in der Schule Ende April ein verlängertes Wochenende anstand, beschloss ich, nach New York zu fahren, um mit Frances Verleger über die Biografie zu sprechen. Ich sagte ihr nichts davon, bis zum Abend vor meiner Abreise, und auch da war sie es, die mich anrief, glühend vor Begeisterung.

»Thomas! Ich hab’s. Ich weiß jetzt, was er in den anderthalb Jahren in New York gemacht hat.«

»Großartig! Was denn?«

»Halten Sie sich fest! Er hat bei einem italienischen Leichenbestatter namens Lucente gearbeitet. Er war sein Gehilfe oder so etwas. Was er da genau gemacht hat, stand allerdings nicht drin.«

»Sehr schön. Aber erinnern Sie sich an die Stelle in DasLand des Lachens, wo der Mondnarr und die Öldame sterben? Um das zu schreiben, musste er etwas über den Tod wissen.«

4

Es ist immer dasselbe, wenn ich nach New York komme. Da gibt es diesen blöden Witz über einen Mann, der eine wunderschöne Frau heiratet und es nicht erwarten kann, sie in der Hochzeitsnacht in die Arme zu nehmen. Aber als es dann so weit ist, zieht sie sich die blonde Perücke vom kahlen Kopf, schnallt ihr Holzbein ab, nimmt das Gebiss heraus, dem sie ihr unwiderstehliches Lächeln verdankt, dreht sich keusch zu ihm um und lispelt: »Ich bin jetzt bereit, Liebling.« Genauso geht es mir mit New York. Immer wenn ich mich der Stadt nähere – mit dem Flugzeug, der Bahn oder dem Auto –, kann ich es kaum erwarten anzukommen. The Big Apple! Theater! Museen! Buchläden! Die schönsten Frauen der Welt! Es ist alles da und hat die ganze Zeit nur auf mich gewartet. Ich springe aus dem Zug, und da ist die Grand Central Station – oder die Port Authority oder der Kennedy Airport –, das Herz der Weltstadt. Und mein Herz tanzt eine Conga. Dieses Pulsieren! Die Frauen! Ich liebe es! Alles! Aber damit geht es schon los, denn »alles« – dazu gehören auch der Penner, der in eine Ecke torkelt, um dort zu kotzen, und der vierzehnjährige Puertoricaner auf durchsichtigen Raumschiff-Absätzen, der mir auflauert und mich um einen Dollar anhaut. Und so weiter und so fort. Ich brauche das nicht weiter auszumalen. In gewisser Weise bin ich also ein hoffnungsloser Fall, denn wenn ich in die Stadt komme, meine ich jedes Mal, Frank Sinatra würde gleich im Matrosenanzug an mir vorbeitanzen und »New York, New York« singen. Einmal tanzte tatsächlich ein Mann, der Sinatra ähnlich sah, an der Grand Central an mir vorbei. Er tanzte an mir vorbei, blieb stehen und pinkelte dann an die Wand.

Inzwischen laufen meine Besuche in New York immer nach dem gleichen Schema ab. Ich steige in Hochstimmung aus dem Zug, und bis die erste schreckliche Sache passiert, genieße ich jede Minute. Wenn schließlich das Schreckliche eintritt, mache ich meiner ganzen Wut und Enttäuschung Luft – und dann erledige ich das, wofür ich in die Stadt gekommen bin.

Diesmal war es ein Taxifahrer. Ich winkte ihn vor dem Bahnhof heran und nannte ihm die Adresse des Verlags in der Fifth Avenue.

»Parade auf der Fifth heute.«

»Ja, und?« Auf seiner Lizenz stand, dass er Franklin Tuto hieß. Ich fragte mich, wie man das wohl aussprach.

Seine Augen im Rückspiegel musterten mich argwöhnisch. »Na, ich muss die Park runterfahren.«

»Ach so, geht in Ordnung. Entschuldigen Sie, aber sprechen Sie Ihren Nachnamen Tuto oder Totu aus?«

Damit zog ich mir schon wieder einen misstrauischen Blick zu. Offenbar war das eine verfängliche Frage.

»Geht’n Sie das an?«

»Nichts. Hat mich nur interessiert.« Blöd wie ich bin, hielt ich es für eine gute Idee, einen Witz zu machen. »Ich dachte, Sie wären vielleicht mit den ägyptischen Tuts verwandt.«

»Red’n Sie kein Stuss, Mann. Kontrollieren woll’n Sie mich, geben Sie’s zu.« Er griff nach dem Schirm seiner karierten Golfmütze, drehte ihn nach vorne und zog ihn sich tief in die Stirn.

»Nein, nein. Ich habe nur Ihren Namen auf der Lizenz gelesen und …«

»Wieder einer von diesen Inspektoren! Der Teufel soll euch holen! Ich hab mir die verdammte Verlängerung doch schon besorgt, was wollt ihr noch von mir, mein Blut?« Er fuhr rechts ran und gab mir zu verstehen, dass ich in seinem Scheiß-Taxi nichts verloren habe und ihm verdammt noch mal ruhig die Lizenz entziehen könne, aber von »uns Typen« habe er endgültig die Schnauze voll. Also stiegen »wir« aus, winkten Franklin Tuto nach, der mit quietschenden Reifen davonfuhr, und hielten seufzend nach einem anderen Taxi Ausschau.

Mein neuer Chauffeur hörte auf den Namen Kodel Sweet. Ich bin Weltmeister im Lesen von Taxifahrernamen; aus dem Fenster zu schauen langweilt mich. Er trug einen dieser flippigen schwarzen Samthüte, die aussehen, als wären sie vom Himmel gefallen und einfach auf dem Kopf liegen geblieben. Er sagte, ob es mir nun passte oder nicht, während der ganzen Fahrt kein Wort außer »Alles klar«, als ich zum zweiten Mal die Verlagsadresse nannte. Doch als ich ausstieg, wünschte er mir immerhin einen »Schönen Tag noch«, und es schien, als würde er es ehrlich meinen.

Das Gebäude war einer dieser Schöne-Neue-Welt-Glaskästen, die wie hochkant gestellte Swimmingpools aussehen, aus denen das Wasser trotzdem nicht ausläuft. Für diese Art Architektur habe ich nur etwas übrig, wenn die Millionen Fenster an einem strahlenden Frühlings- oder Herbsttag das Licht in alle Richtungen reflektieren.

Ich war ziemlich überrascht, dass gleich mehrere Stockwerke des Gebäudes von diesem einen Verlag in Beschlag genommen wurden. Ganze Etagen voller Menschen, die an Büchern arbeiteten. Das gefiel mir. Mir gefiel auch, dass mir Kodel Sweet einen schönen Tag gewünscht hatte. Außerdem roch es im Aufzug schön sexy nach dem Parfüm einer Frau … New York ist schon in Ordnung.

Während ich hinauffuhr, spürte ich ein komisches Kitzeln in meinem Bauch bei dem Gedanken, dass ich in ein paar Minuten mit jemandem reden würde, der Marshall France persönlich gekannt hatte. Mein Leben lang haben mich Leute mit Fragen zu meinem Vater belagert, und mir war das immer auf die Nerven gegangen, aber jetzt hatte ich selbst tausend Fragen, die ich zu France stellen wollte. Als mir gerade noch ein Dutzend mehr einfielen, öffneten sich die Lifttüren, und ich machte mich auf die Suche nach David Louis’ Büro.