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Geradlinig, ehrlich und vor allem eine, die sich nicht unterkriegen lässt – das ist Katy Karrenbauer, wie man sie kennt. In der Rolle der "Christine Walter" in der RTL-Erfolgsserie "Hinter Gittern – der Frauenknast" stand sie zehn Jahre lang vor der Kamera und war DAS Gesicht der Serie. In 39 Kurzgeschichten erlaubt Katy Karrenbauer tiefe Einblicke in ihr Seelenleben. Mit einer gehörigen Portion Augenzwinkern und teils schwarzem Humor schildert sie berührende Erlebnisse aus ihrer Vergangenheit. Hätten Sie zum Beispiel gedacht, dass die Powerfrau von schlimmsten Panikattacken fast in den Suizid getrieben worden wäre? Panik, die? Die ist doch so tough, die aus dem Knast! – sollte man zumindest meinen. Ein Buch, das sich etwas traut, von einer Frau, die sich selbst und dem Leben etwas zutraut.
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Seitenzahl: 524
Veröffentlichungsjahr: 2025
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.
Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.
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© 2025 novum publishing gmbh
Rathausgasse 73, A-7311 Neckenmarkt
ISBN Printausgabe: 978-3-7116-0773-7
ISBN e-book: 978-3-7116-0774-4
Lektorat: Dr. Angelika Moser
Umschlagfoto: Jan Kohlrusch PHOTOGRAPHY
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
Innenabbildungen: Katy Karrenbauer
www.novumverlag.com
Vor-Vorwort
Liebe Leserin, lieber Leser, liebe alle,
als mich Herr Bader von novum Verlag Mitte 2024 anschrieb und vorschlug, mein Buch „Das Leben ist kein Fischfurz“ neu aufzulegen, war ich zunächst kurz irritiert, denn es stammte ja aus dem Jahr 2009 und in der Zwischenzeit war und ist so viel passiert (und ich schaue ja eigentlich nicht so gern zurück, sondern viel lieber nach vorn), doch dann freute ich mich, auch über die Wertschätzung und stimmte zu. Wir einigten uns darauf, dass wir das Cover ändern und es eine gekürzte Fassung geben würde, ich vielleicht doch noch die eine oder andere Geschichte aus der nahen Vergangenheit beisteuern würde.
So begann ich also, mich mit meinem kleinen „Fischfurz“ zu beschäftigen, aus dem ich nach wie vor bei meinen Lesungen vortrage. Schnell stellte ich jedoch fest, dass die Geschichten, die ja mein Leben selbst erzählt hat, denn sie sind wahr und nicht erfunden, natürlich alle irgendwie zusammenhängen und ineinander greifen. Sollte ich einfach die tragischen Dinge weglassen? Aus meinem Leben und der Vergangenheit auslöschen. Jetzt könnte ich es ja, zumindest auf dem Papier. Ich entschied mich dagegen, denn ich bin so, wie ich bin, weil all das passiert ist. Genau so. Natürlich, ab und zu hätte ich etwas kürzen können, aber beim Lesen hatte ich so viel Spaß an fast jedem Wort, dass ich, immer wenn ich etwas schon gekürzt hatte, es dann doch wieder hineingeschrieben habe, weil ich einfach nicht drauf verzichten wollte. Nein, ich bin weder arrogant noch irre, aber das ist ja mein Buch und daher darf ich das so bestimmen. Jipiiieeh. Ich habe beim Lesen viel gelacht und auch das eine oder andere Tränchen verdrückt und nehme Sie, liebe Leserin und Leser, mit mir auf die Reise.
„Das Leben ist kein Fischfurz, Vol. 1“ ist exakt so geblieben, wie es vorher war. Und darauf bin ich stolz. Freuen Sie sich jetzt schon auf den zweiten Teil, der im nächsten Jahr erscheinen wird.
Und jetzt natürlich ganz viel Spaß beim Lesen.
Ihre
Katy Karrenbauer
Das Leben ist kein FISCHFURZ
… sagte „Pa“, der Held des berühmt-berüchtigten Pro 7 TV-Westerns „Spiel mir das Lied und du bist tot“, den ihm der zauberhafte Autor T. K., nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Krankenkasse, in den Mund gelegt hatte. Ich spielte „Ma“ und Pas Satz beschrieb mein gesamtes Leben, womit erklärt wäre, warum ich mir diesen Ausspruch als Titel „geliehen“ habe. Wenn er Ihnen nicht zusagt, hier noch einige weitere Titel, die mir im Laufe des Schreibens einfielen, von Freunden und Feinden angeraten wurden und die Sie, wenn Sie mögen, ersatzweise selbst einfügen können:
„Aus-Zeit“ … (Mein erster Arbeitstitel, aber doch sehr an „Hinter Gittern“ angelehnt und weniger an meinem Leben.)
„Ich Walter – du Jane!“ (Mein zweiter, den ich allerdings nach der Sendung von H. E. Balder und Hella verwarf.)
„In Freiheit“ (Bezog sich auf … na was wohl?)
„Fettnapf“ (Könnte auch irreführend sein.)
„Ich nehme ein A“ (Frei nach der Sesamstraße.)
„Ich kaufe ein A“ (Siehe oben.)
„Verrückt“ (Sowieso!)
„Verrucht“ (… aber eigentlich bin ich das nicht.)
„Ich wollte nie ein A… sein“ (Anarchist, Angsthase, A-loch?)
„A zu sein bedarf es wenig …“ (Wer ein A ist, ist ein König)
„Wer A war, muss auch D aushalten“ (Zum Thema, ich sei nur noch ein D-Promi.)
„AAAmen“ (Na ja!)
„Streicheleinheiten“ (Klang ein bisschen zu sehr wie „Feuchtgebiete“ von Charlotte Roche.)
„Mit der Harley durch Kalifornien“ (Schlug Herr M. C. vom ersten Verlag vor, dem ich die Geschichten zusandte, der mir aber unmissverständlich klarmachte, dass er mich nicht mehr als AAA-Promi sehe und mir somit keine Chance einräumte, mich zu verlegen.)
„Mein wildes Leben vor und ‚Hinter Gittern‘“ (Ebenfalls ein Vorschlag von Herrn M. C., wobei ich beim Lesen seiner Absage dachte, er solle dieses Buch doch gefälligst selbst schreiben!)
AAAber nicht mit mir!
Im Übrigen werden Sie auf den folgenden Seiten keine Abhandlung oder den Schnelldurchlauf meines Lebens zu lesen bekommen, wie es normalerweise üblich ist. Kein „Wie“, „Wann“ und „Warum“ ich bin und „Wo“ ich geboren wurde. Sie werden auch keine Biografie lesen, wenn Sie überhaupt weiterlesen, denn Biografien, so zumindest stellte ich fest, werden fast immer erst im hohen Alter von Menschen geschrieben.
Warum?
Vielleicht, da dann die meisten Menschen, über die man schreibt, schon lange unter der Erde liegen und sich nicht mehr gegen mögliche Vorwürfe, Angriffe oder gar die Wahrheit wehren können. Ausnahmen bestätigen hier natürlich die Regel, und so fand ich z. B. Herrn Bohlens Biografie äußerst unterhaltsam. Er plaudert schon zu Lebzeiten kleine, aber feine „Wahrheiten“ über seine vermeintlichen Protagonisten und natürlich über sich selbst aus und ich finde das höchst amüsant. Es spaltet ja eh kaum ein Mensch im deutschen Fernsehen die Gemüter so sehr wie Herr Bohlen. Ich denke, Missgunst und Neid sind hier keine Schlagworte und man sollte sich einfach vor seinem überaus hellen Geist, seinem Können und seiner Gradlinigkeit verbeugen. (Darf ich alles sagen, da ich Herrn Bohlen eh am Popo vorbeigehe und auch keine Gesangskarriere starten werde, weil ich ihn cool finde. Ich mache schließlich schon Musik, seit ich drei Jahre alt war. Dazu kommt, dass ich für „DSDS“ definitiv zu alt bin, auch wenn ich meinen Pass fälschen würde!)
Ich selbst fühle mich dennoch noch zu jung, um Sie, den Leser und die Leserin, mit meinem komplett „wilden“ Leben aus den Geburtsjahren zu belästigen oder zu behelligen. (Das Wort „belästigen“ fällt in diesem Zusammenhang, weil ich ja jetzt schon die Nörgler hören kann, die da rufen: „Und warum belästigt sie uns dann trotzdem mit ihren blöden Geschichten?“)
Die Menschen, die ich für erwähnenswert halte, tauchen in diesem Buch auf! Glauben Sie mir. So viel dazu!
Wussten Sie eigentlich, dass A- und D-Promis im Ungleichverhältnis stehen? Zumindest zur Körbchengröße?
Während scheinbar alle Welt D-Körbchen bei Frauen vorzieht, werden, ebenfalls „scheinbar“, denn ich kann eigentlich gar nicht so recht mitreden, in der aktuellen Fernsehwelt nur AAAs ernst genommen.
Kann man mal drüber nachdenken, muss man aber nicht.
Jedenfalls können Sie, dürfen und sollen Sie dieses Buch auch lesen, wenn Sie auf A-Körbchen stehen oder selbst dieser Dekolleté-Größe angehören. Hier sind wirklich keine Grenzen gesetzt!
Allerdings sollten Sie auch noch wissen: Hier, also am Ende des Buches, können Sie weder ein Auto noch eine Million gewinnen. Sie nehmen auch an keinem Preisausschreiben teil und wahrscheinlich werden Sie auch nicht der 999.999. Leser dieses Buches sein.
Machen Sie sich nichts draus!
Sollte ich Sie dennoch zu Tode langweilen, verschenken Sie das Buch einfach an jemanden, den Sie nicht leiden können.
So wird ein „Schuh“ draus, wenn auch nicht der Schuh des Manitu, glauben Sie mir.
Ich mache das auch nicht anders.
Und schnell noch das Wichtigste, nicht am Ende, sondern zu Beginn.
Danke!!!
An Sie, dass Sie sich für mich, meine Geschichten und Gedanken interessieren und dieses Buch lesen! (Oder auch nicht!)
An meine Familie, die die Schmach mit mir teilen muss und schon sehr nervös ist.
An meine Freunde, „im Himmel wie auf Erden!“ (Ich weiß, es heißt „so“, aber es passt grad nicht.)
Mein ganz besonderer Dank gilt allerdings dem novum Verlag, dass er dieses Buch möglich gemacht hat, dass er an mich glaubt und sich traut, mit mir auf diese sehr spezielle Reise zu gehen.
Und wenn Sie sich die Frage stellen:
WAHRHEIT ODER LÜGE, dann bitte ich Sie, entscheiden Sie selbst.
Das Leben ist kein Wunschkonzert und auch kein Fischfurz! Ich habe mir die Geschichten nicht ausgedacht, dennoch ein bisschen aufgefrischt, aber sie sind mir passiert, wie eben das Leben passiert.
Einfach so!
Schnell noch eine wichtige Kurzinformation zum Thema:
Titel, Thesen, Temperamente!
Die Zehn Gebote
(nach Martin Luther)
Das erste Gebot
Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.
Das zweite Gebot
Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen.
Das dritte Gebot
Du sollst den Feiertag heiligen.
Das vierte Gebot
Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.
Das fünfte Gebot
Du sollst nicht töten.
Das sechste Gebot
Du sollst nicht ehebrechen.
Das siebte Gebot
Du sollst nicht stehlen.
Das achte Gebot
Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.
Das neunte Gebot
Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus.
Das zehnte Gebot
Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was sein ist.
Und ich verspreche, ich werde mich hier, in diesem meinem Buch, an diese Zehn Gebote halten!
Beginn
Jetzt geht’s los!
Viel Spaß beim Lesen!!!
Herzlichst,
Ihre
„Tschüss!“
„Tschüss!“
„Bekomme ich keinen Kuss?“
„Nein.“
„Na dann wünsche ich dir ganz viel Spaß in Kiel!“
„Na ja, so viel Spaß, wie man eben auf einer Beerdigung haben kann.“
Ich machte auf dem Absatz kehrt und ging die fünf Stockwerke hinunter, ohne mich umzusehen. Ich wusste, er steht noch da und sieht mir nach, aber komischerweise hatte ich überhaupt kein Gefühl für ihn, für diesen Menschen. Nicht das geringste.
Ich empfand weder Mitleid noch Liebe, ich empfand einfach, schrecklicherweise, überhaupt nichts. Ich war nur unendlich traurig, dass ich mit einem Mann zusammenlebte, der absolut gar nichts verstand, der ignorant und gefühllos war.
Wer um Gottes willen war dieser Typ, mit dem ich zweieinhalb Jahre meines Lebens verbracht hatte?
Mit gesenktem Kopf stieg ich in den grünen Golf, den ich nie hatte leiden können, ließ den Motor an und fuhr Richtung Autobahn. Der kleine, alte Kassettenrekorder fasste die ebenso alte Kassette und jammerte mir ein „Time to say goodbye“ entgegen.
Time to say good bye!
Warum ich dieses Lied gleich dreimal hintereinander aufgenommen hatte, wusste ich nicht mehr so genau. Aber spätestens nach dem dritten Mal und auftretendem Ekel spulte ich tatsächlich die Kassette wieder zurück und Andrea Bocelli begann von vorn.
Als ob ich mir Mut antrinken wollte, endlich zu sagen, was ich empfand, hörte ich wieder und wieder dieses Lied, bis ich auf einem Parkplatz den Wagen zum Stehen brachte, mittlerweile mit tränenüberströmtem Gesicht. So sehr schämte ich mich für die Worte des Mannes, den ich einst geliebt hatte.
„Viel Spaß in Kiel“, dröhnte es in meinem Kopf.
Viel Spaß!
Er wusste, meine alte Schauspiellehrerin war gestorben.
Er wusste, wie schwer mir der Abschied von ihr fallen würde.
Er wusste doch, dass sie ein ganz wichtiger Bestandteil meines Lebens gewesen war, sie, die mich auf die Bretter, die die Welt bedeuten, geschubst hatte und die mich kurz vor Weihnachten sozusagen frühzeitig mit meinem Erbe beschenkt hatte. Mit zwei Figuren aus Holz, von denen sie unbedingt wollte, dass ich sie habe.
„Du liebst doch Holz, ich weiß das genau“, hatte sie gesagt, als sie sich mühsam, auf meinen Arm gestützt, in ihr Arbeitszimmer geschleppt hatte.
„Bitte Uta, jetzt fang bloß nicht an, mir mein Erbe aufzuzwingen. Ich will nichts haben. Und außerdem wirst du mindestens hundert. Also lass das bitte.“
Sie hatte die beiden Figuren auf den Wohnzimmertisch gestellt.
„Missgunst und Neid“, hatte sie zahnlos genuschelt.
„Missgunst und Neid. Hüte dich davor, Katy. Beides wird dir immer wieder begegnen. Sei stark und lass dich nicht mitreißen, auch wenn es manchmal einfacher erscheint. Lass dich von diesen beiden nie zerfressen, nie in die Irre führen!“ Ihre Worte drangen so tief in mich ein, wie mich vielleicht nie zuvor Worte berührt hatten. Tränen schossen mir in die Augen, aber ich wusste, sie hasste es, wenn man einfach so „heulte ohne Nutzen“. Es sei denn, man stand auf der Bühne als Penthesilea, die von Ares, dem Gott des Krieges, den Streitwagen forderte, um Achill, den Geliebten, der sie verletzt hatte und der sie nun zum Kampf forderte, zu töten, auszulöschen. Aber sonst? Sonst hatte es gefälligst keine Tränen zu geben. Tränen bedeuteten Schwäche, und die zeigte man nicht. Nicht als Schauspielerin. Nie!
Missgunst und Neid
Missgunst und Neid sahen zwar aus wie zwei Geistliche, aber ihre Gesichter hatten dennoch etwas Bedrohliches. Das Holz war leicht und würde mein Gepäck nicht beschweren. Und während wir den Sauerbraten meiner Mutter an diesem ersten Weihnachtstag aßen und mir fast jeder Bissen im Halse stecken blieb, lächelte mir die alte Dame zufrieden zu. Dann zeigte sie auf das Bild über ihrem Sofa.
„Ich möchte, dass du es bekommst, wenn ich mal nicht mehr bin.“
Das Bild war eigentlich ehemals ein Bühnenbild für ein Theaterstück gewesen, das sie in hohem Alter noch inszeniert hatte, gemalt als großes Transparent. Aber der Bühnenmaler hatte dieses Bild nochmals in „klein“ für sie kopiert, damit es in ihr Wohnzimmer passte, über das alte Sofa, nahe dem Esstisch. Es zeigte einen Tiger, der grade dabei war, einen Wasserbüffel zu reißen. Des Tigers gewaltige Zähne steckten im Hals des Büffels, aber das Komische daran war, dass der Büffel zu lächeln schien.
„Er lächelt, siehst du?“
„Ja, stimmt“, sagte ich nachdenklich.
„Er lächelt, weil er den Lauf des Lebens kennt und anerkennt.“
Ich war anderer Meinung, denn ich hatte in keiner Dokumentation, die ich je gesehen hatte, ein Tier wahrgenommen, das gerissen wurde und das im Todeskampf „gelächelt“ hatte. Ich wollte widersprechen, wollte auf den Maler verweisen, der hier ein Opfer als williges, dem Tode zustimmendes Objekt darstellte. Ich wollte darauf hinweisen, dass das Stück, das sie inszeniert hatte und das dieses Bild eben als Bühnenbild benutzte, vielleicht diese Aussage hatte, dass ich aber grundsätzlich nicht der Meinung sei, dass „Opfer“ sich freiwillig in ihr Schicksal fügen und fast dankbar wirkten, als hätte sich ihr Los erfüllt, nämlich das des Opferdaseins. Aber, als ich ansetzen wollte, ihr meine Theorie zu erklären, hob sie den Kopf und warf ihre mittlerweile komplett ergraute, lange Mähne in den Nacken, als wollte sie sich zum Kampfe gegen mich rüsten, und ich schwieg. Ich schaute sie an und schwieg. Und zum allerersten Mal, seit ich den „Theaterdragoner“, wie ich sie oft ohne ihr Wissen zu nennen pflegte, kannte, zum allerersten Mal liebte ich diesen Menschen von ganzem Herzen, tief und aufrichtig.
Ich glaubte, ein kleines Lächeln in ihrem Gesicht zu erkennen, und die alte Dame rührte mich so sehr, dass ich schnell den Tisch abräumte und mich in die Küche tummelte, um „eben schnell“ den Abwasch zu erledigen, aber eigentlich nur, weil sie meine Tränen nicht sehen sollte, die ich nun nicht mehr zurückhalten konnte.
„Völlig unwichtig“, grunzte sie mir aus dem Wohnzimmer entgegen und meinte damit den Abwasch, aber ich ließ mich nicht davon abbringen und fuhr mir sogar noch schnell mit den nassen Abwaschhänden durchs Gesicht, damit mich nichts, keine Spur von Tränen, entlarvte.
„Ich möchte, dass du bei mir im Theater spielst!“, rief sie mir zu. „Deinen Soloabend! Ich möchte ihn sehen. Und deinen musikalischen Abend auch. Machst du das? Machst du mir die Freude?“
„Ja!“, rief ich aus der Küche.
„Und noch etwas“, fügte sie hinzu. „Du wirst niemals Synchronsprecherin, hörst du? Versprich mir das. Niemals!“ Mit diesen Worten begrüßte sie mich, als ich wieder ins Wohnzimmer zurückkam.
„Du weißt ja, ich war jahrelang die Stimme von Anna Magnani. Aber durch meine Synchronarbeit wurde ich eine immer schlechtere Bühnenschauspielerin. Ich habe dadurch mehr und mehr meine Identität verloren. Mach das nicht, Katy. Niemals synchron! Man ist nicht mehr man selbst. Man opfert sich zugunsten eines Filmcharakters und man verliert sich selbst so verdammt schnell. Man verliert sich selbst. Verstehst du?“
Der Wasserbüffel grinste mich an und ich hielt die Holz-Missgunst- und Neid-Figuren im Arm. Konnte es sein, dass sie wusste, dass sie zu Ende ging? Oder warum packte sie gleich mehrere Themen gleichzeitig auf den Weihnachtstisch, Themen, über die wir noch nie gesprochen hatten? Wusste sie, dass ein baldiger Abschied bevorstand?
Spürt man das?
Vom Parkplatz aus rief ich Peter an.
„Überleg dir, während ich weg bin, was du mit mir möchtest, und ich überlege in der Zeit, in der ich mich in Kiel befinde, was ich mit dir möchte, o. k.?“
„Ja, o. k.!“
„Ich melde mich nicht, bis ich zurück bin, o. k.?“
„Ja, o. k.!“
Ich legte auf und wusste: Time to say good bye!
Als Schauspielerin schlecht gebucht, hatte ich zu diesem Zeitpunkt den Job als Casterin für Komparsen und Kleindarsteller für die Serie „Der Fahnder“ bei einer Kölner Produktionsfirma übernommen, nachdem ich bei einer gewissen „Agentur“ grade arbeitslos geworden war.
Team S.
Meine Freundin Kerstin und ich hatten grade die gemeinsamen Dreharbeiten beendet. Bei uns beiden lief es arbeitstechnisch nicht allzu gut und so hielten wir uns zwischendurch immer wieder mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Als Schauspielerin war man am Theater schon sehr begrenzt, was die Rollenauswahl anging, vor allem, wenn man so aussah wie ich und zudem noch 85 Kilo wog, was ich damals tat, und bei den Sendern war es eben auch nicht besonders leicht, ein Bein in die Tür zu bekommen. So war es mir über viele Jahre vergönnt, neben meinem erlernten Beruf der Schauspielerin immer wieder nebenbei das, was andere hübscherweise als „mein Hobby“ bezeichneten, mit anderer Arbeit zu finanzieren. An den kleineren Theatern verdiente man damals zwischen 30 und 50 Mark am Abend und davon Miete, Fahrkosten und Essen zu bestreiten fiel nicht immer leicht. Ich hatte kein Problem damit, nebenbei meine Hände zu gebrauchen und mir meinen Unterhalt zu verdienen. Im Gegenteil. Eigentlich machte es mir Spaß, auf eigenen Beinen zu stehen, wenn nur manchmal die Not nicht so groß und die Jobs nicht so rar gewesen wären, dass man auf dumme Gedanken kam.
Kerstin und ich saßen fröhlich beieinander und wälzten wieder einmal spaßeshalber den Kölner Express und die dort annoncierten Jobangebote, als uns eine Anzeige ins Auge stach.
Wir beide hatten diese schon oft unabhängig voneinander gelesen, uns aber noch nie darüber ausgetauscht, weil es uns eigentlich zu peinlich war. „Nette Telefonstimmen gesucht“ stand da, und wir vermuteten, dass es sich wohl nicht um die Akquise für Zeitungsinserate handeln würde.
„Warum rufen wir da eigentlich nicht mal an?“, fragte ich und Kerstin erwiderte, dass sie auch schon oft darüber nachgedacht hatte, es aber eigentlich lächerlich finde und sich das überhaupt nicht vorstellen könne. Wir kicherten, weil wir uns so bescheuert vorkamen, verwarfen aber schnell das Thema und wendeten uns an diesem Tage anderen Frauenproblemchen zu. Als sie gegangen war, sinnierte ich noch ein wenig über diese Idee nach.
„Warum eigentlich nicht?“, dachte ich noch so bei mir und hielt auch schon den Hörer des Telefons in der Hand.
„Halloooo?“, eine freundliche, sehr hohe, weibliche Stimme am anderen Ende meldete sich.
„Hallo! Mein Name ist Katy Karrenbauer und ich melde mich auf Ihre Annonce im Kölner Express.“
„Ah“, piepste die Stimme zurück, „wissen Sie denn, um was es sich handelt?“
„Nein, eigentlich nicht. Ich vermute allerdings …“, so ein Quatsch, das Inserat hatte unter der Rubrik Römerbad, Swingerklub und Ähnlichem gestanden und ich ging natürlich davon aus, dass es sich hier um Telefonsex handeln müsse, „also eigentlich vermute ich, es könnte sich vielleicht … äh … um Telefonsex handeln!?“
Die Stimme am anderen Ende rutschte mindestens drei Oktaven in den Keller und die Frau brummte zurück: „Ja, dann wissen Sie ja, worum es geht. Wann möchten Sie sich vorstellen? Wir suchen Frauen für Köln und unsere neue Geschäftsstelle in Bonn.“
„Äh … also Bonn kommt eigentlich für mich nicht infrage, ich würde lieber in Köln arbeiten. Ich könnte morgen Nachmittag vorbeikommen.“
„Gut. 16.00 Uhr?“
„Ja, gerne.“
Sie gab mir eine Bonner Adresse und wir beendeten das Gespräch. Nachdem ich kurz durchgeatmet hatte, rief ich Kerstin an.
„Ich hab’s getan.“
„Was?“
„Ich hab da angerufen. Handelt sich tatsächlich um Telefonsex.
Morgen habe ich einen Termin.“
„Echt?“
„Ja. Sag mal, willst du dir nicht auch einen geben lassen und wir fahren da zusammen hin?“
Sie überlegte. Dann sagte sie zu meiner Erleichterung: „O. k. Mach ich. Hab eh nichts Besseres vor.“ Sie ließ sich also ebenfalls einen Termin bei der Firma S. geben und am nächsten Tag tuckerten wir lachend nach Bonn. Wir malten uns aus, wie wir am Telefon sitzen würden, immerhin hatten auch wir schon den einen oder anderen Film gesehen, in dem Frauen strickend und Salzstangen knabbernd in den Hörer stöhnten, während sie so taten, als hätten sie Sex, oder sich gar dabei die Fingernägel lackierten, und wir überlegten uns auch schon geeignete Namen, die wir in den Hörer hauchen würden. Allein für diese Dreiviertelstunde der kichernden Bauchdeckenmassage hatte sich unsere Fahrt schon gelohnt, das war uns beiden klar. In Bonn angekommen suchten wir einen Parkplatz um die Ecke der angegebenen Adresse, da wir nicht direkt vor dem Haus gesehen werden wollten. Schließlich weiß man ja nie, wer einem so alles an einem Sonntag in Bonn begegnet, und so schlüpften wir wie zwei Einbrecher in den Hauseingang, der geöffnet war. Breit grinsend fuhren wir in den vierten Stock und klingelten. Eine sehr nette, junge, adrette, vor allem aber hochschwangere Blondine mit kessem Kurzhaarschnitt öffnete uns die Tür und bat uns hinein.
„Die Büros sind noch nicht ganz fertig“, sagte sie, während sie uns zwei Klappstühle in einen leeren Raum stellte und uns jeweils einen Zettel in die Hand drückte.
„Hausordnung“ stand darauf.
Sie verließ den Raum, weil sie noch etwas zu erledigen habe, wie sie uns wissen ließ, und erheitert machten wir uns mit den wesentlichen Punkten vertraut, die man bei dieser Art von „Gewerbe“ einhalten musste.
Während des Gesprächs darf nicht gegessen werden. Chips und andere Esswaren sind verboten.Während des Gesprächs darf nicht getrunken werden. Bitte öffnet keine Flaschen oder Dosen während des Gesprächs.Das Fenster darf nicht geöffnet werden.Es darf bei der Arbeit nicht geraucht werden.Sechs der Telefone sind eingehende Gespräche, aber nur auf eurem „Schlafzimmertelefon“ könnt ihr den Kunden bedienen.Nach 20 Minuten müsst ihr das Gespräch beenden.Ihr müsst den Kunden vorher überprüfen, das heißt, ihr ruft ihn unter der von ihm angegebenen Nummer zunächst zurück.Vorlieben eurer Kunden findet ihr in eurer Datenbank. Bitte tragt auch selbst nach dem Gespräch ein, wie lange der Kunde bis zum Abspritzen brauchte und was er bevorzugt. Oral, anal etc.Sex mit Tieren ist verboten, Pädophile werden nicht bedient.Wenn der Kunde einen Dreier wünscht, drückt die rote Taste. Eine Kollegin wird sich dann zuschalten und ihr bedient den Kunden zusammen, nach seinen Wünschen.Unterhöschen werden postlagernd versendet.Wenn ihr an einem Termin nicht könnt, sagt bitte früh genug Bescheid oder sucht selbst einen Ersatz für eure Schicht.Treffen und Verabredungen mit den Kunden sind verboten.Hinterlasst euren Arbeitsplatz sauber und euren Computer anständig.Da wir Anzeigen in einschlägigen Heften geschaltet haben, legt euch diese an den Arbeitsplatz. Manchmal fragt der Kunde nach einem gewissen Mädchen oder hat ein Foto gesehen, das ihm gefällt. Sorgt dafür, dass der Kunde denkt, er spreche mit diesem Mädchen, oder verweist auf eine andere Kollegin, die diese Attribute in ihrer Vita vorweist.Und so weiter!
Ich habe sicher inzwischen einige Punkte vergessen, aber ich darf sagen, wir waren perplex. Doch kaum hatten wir, einigermaßen irritiert, die besagte Hausordnung gelesen, kam Blondie auch schon zurück und brachte uns in einen kühl wirkenden Büroraum mit einem Schreibtisch plus Computer, sieben Telefonen, zwei Wasserkaraffen und einer dicklichen und etwas hässlichen, nicht mehr ganz jungen Frau, die uns kurz begrüßte und uns, als just das Telefon klingelte, andeutete, leise zu sein. So hockten wir auf zwei weiteren Klappstühlen vor ihr, die Hausordnung auf dem Schoß, und harrten gespannt der Dinge, die da kommen sollten.
„Halloooo …“, säuselte sie in den Hörer. „Naaaaaaa? Willst du ein geiles Gespräch mit mir führen?“ Uns wurde warm.
Leicht errötet blickten Kerstin und ich uns an, dann zum geschlossenen Fenster hinaus, weiter auf den Schreibtisch und wieder zurück zur Hausordnung. Hier saßen wir also vor einer, die sich gut auskannte und diesen Job keineswegs erst seit gestern machte, so viel stand fest.
Später erfuhren wir, dass sie die „Queen des Telefonsex“ war, was so viel heißt wie, bei ihr kamen die Männer meist schon nach sieben Minuten, also in der Zeit eines frisch gezapften Pils. Und genau so lange dauerte es. Sieben Minuten. Unfassbar!
Die Lady gab alles, stöhnte und schwieg in die Muschel, goss Wasser von einer Karaffe in die andere mit den Worten: „Jaaa … so magst du das, mein Schatz“, was dem Gegenüber suggerieren sollte, dass sie dem Herrn am anderen Ende des Telefons ins Gesicht urinierte, während sie, was eigentlich verboten war, in den Computer tippte und uns aufmunternd zuzwinkerte, irgendwie nach Lob heischend. Inzwischen waren wir bis zum Haaransatz komplett errötet, klammerten uns an der Hausordnung fest und ich glaube, mir tropfte vor Schreck sogar ein klein wenig Schweiß von der Stirn. Schräg über dem Computer nahm ich eine Kamera wahr, die die Überwachungskamera der Chefin darstellte. Nachdem die Dame vor uns den Hörer aufgelegt hatte, holte uns Blondie nach dieser äußerst eindrucksvollen „Vorstellung“ lächelnd ab. Sie hatte Kerstin und mich die ganze Zeit über eben selbige Kamera beobachtet und fragte nun, ob es uns gefallen habe und ob wir uns diese Arbeit vorstellen könnten, was wir beide mit einem viel zu schnellen Kopfnicken bejahten, brachte uns zur Tür, ließ uns wissen, dass sie uns anriefe, wenn eine „Stelle“ in Köln frei werden würde, und schob uns sanft mit ihrem Babybauch durch die Tür.
„Weg! Nichts wie weg hier!“, wisperte ich meiner Freundin zu und ich glaube, so schnell bin ich noch nie vier Stockwerke hinuntergesaust. Wir warteten nicht mal auf den Aufzug, sondern nahmen gleich die ganze Treppe im vollen Galopp, wie man so schön zu sagen pflegt. Unten angekommen und nachdem wir uns in alle Richtungen versichert hatten, dass uns niemand aus dem Hausflur hatte kommen sehen, rannten wir um die Ecke, sprangen zitternd ins Auto, zündeten uns auf den Schreck hin erst mal ein paar Zigaretten nacheinander an und fuhren eilig nach Köln zurück. Nie! Nie! Niemals, da waren wir uns einig, würden wir in so einem Büro sitzen und Männern vorgaukeln, wir schliefen grade mit ihnen. Niemals. Keine Chance. Dieser Job war einfach nichts für uns.
In Köln angekommen tranken wir noch einen Kaffee und hakten diesen kleinen Bonn-Trip als eindrucksvollen Sonntagnachmittagsausflug ab.
„Riiiiinnnng!“ Das Telefon klingelte, kaum dass ich zur Haustür reingekommen war. Es war Frau S., die dringend, schon heute Abend, einen Ersatz für Köln brauchte. Eine „Kollegin“ sei krank geworden und es wäre doch ganz gut, wenn ich schon jetzt, so frisch eingewiesen, meinen ersten Versuch starten würde. Ich überlegte nicht lange, sondern sagte, zu meinem eigenen Erstaunen, sofort zu. Mein damaliger Freund fand das: „Superklasse, dass du das machst.“ Er wusste ja nicht, dass man spätestens nach dem zweiten Tag keine Lust mehr auf Sex haben würde und man sich als Frau vorkommt, als betrüge man den eigenen Freund mit anderen Männern. Auch ich wusste das zu diesem Zeitpunkt nicht und so fuhr ich abends gegen 22 h zu meiner ersten Schicht. Die Hausordnung vor der Nase, ein Heftchen zur Wichsvorlage für Männer neben dem Schreibtisch, mit einer drallen Blondine mit XXXXXL Brüsten auf dem Cover, die Fenster geschlossen und kameraüberwacht saß ich nun also vor dem Computer und las die Bedienungsinstruktionen.
Ich war noch nicht auf „Sendung“, sozusagen, also noch nicht freigeschaltet, und übte schnell, dazu muss ich sagen, ich hatte bis dato mit Computern wenig am Hut, F4 ist Adressbuch, F5 sind Vorlieben der Kunden, F10 zurück ins Menü etc., da klingelte mit einem Mal mein Schlafzimmertelefon, ganz rechts von mir. Ich starrte es ungläubig an, nahm einen tiefen Zug Restluft des Raumes und hob dann langsam den Hörer ab. Es war meine Chefin, die mich nur schnell fragen wollte, ob ich nun endlich bereit sei, anzufangen. Ich bejahte mit zittriger Stimme, drückte auf die kleine rote Taste vor mir, die jetzt in sattes Grün überging, und schon klingelten mindestens vier Telefone gleichzeitig. Ich hatte mir den Namen „Debbie“ ausgesucht, wohl, weil ich ihn mir selbst gut merken konnte und ihn irgendwie sexy fand, und natürlich hatte ich mir meine Optik zurechtgelegt. Da fast alle anderen Ladys blond mit üppiger Oberweite waren, wollte ich etwas Spezielles anbieten. Ich war also der grünäugige, indianische Typ mit gebräunter Haut, langbeinig und drahtig, teilrasiert. All das entsprach ungefähr dem, wie ich gerne ausgesehen hätte, hätte ich mich selbst erschaffen können. Aber das konnte ich ja nun.
„Debbie“ kam gut an, und wenn ich auch anfänglich noch etwas schüchtern in den Hörer hauchte, hatte ich schnell das Prinzip durchschaut und mich auf die jeweiligen Wünsche der Kunden eingestellt. F5 half mir dabei, sofort zu erkennen, ob ich einen Stammkunden „bediente“, und so manches Mal hatte ich Glück, denn sieben Minuten bis zum Abspritzen bedeutete, acht Kunden in der Stunde abzufertigen, was wiederum 160 Mark die Stunde brachte. Auf diese Summe kam ich aber leider nie, denn ich hatte ein großes Manko.
Waren mir anfangs die „Übung am Kunden und meine eigene Flexibilität“ wichtig gewesen, so entstand bei mir schon nach ganz kurzer Zeit ein Interesse an der Psyche meiner Kunden, dieser Einsamen, die, manchmal nur mit weißen Söckchen bekleidet, auf harten Stühlen in irgendeinem Hotel auf meinen Rückruf warteten, sich wünschten, ich wäre eine Schreibwarenverkäuferin, die sie verführte, und denen ich mit Montblancs bewaffnet, das ist schließlich der Jaguar unter den Schreibgeräten, meine Aufwartung machte, zumindest in ihrer Fantasie.
Nicht selten fragte ich, nachdem die Herren „fertig“ waren und ich sie bedient hatte, was sie denn nun machen würden, wie der Tag oder die Nacht weitergehe, ob sie Kinder haben und warum sie überhaupt einsam sind. Damit war ich natürlich komplett geschäftsschädigend. Aber, ich bin nun mal Schauspielerin und der einzige Grund, warum ich mich in der Perfektion des Telefonsexes übte, war, dass ich all das, was ich erlebte, in meinen Beruf einzuflechten gedachte. Schließlich spielt eine Schauspielerin wie ich öfter mal eine Prostituierte und so betrachtete ich diesen Nebenverdienst als Weiterentwicklung und Weiterbildung meines Berufes.
Ich habe in der Zeit beim S-Team wirklich nur äußerst nette Frauen kennengelernt, aber keine von ihnen sah in Wirklichkeit so aus wie in den Annoncenheftchen. Eine sehr kräftige Volkswirtin, die ihre Kunden mit „Popoklatschen mit einer Gerte“, das Ganze auf einem Plastikstuhl ausgeführt, verwöhnte, und man muss sagen, sie hatte reichlich Kunden, sogar bei angesagten Radiosendern der Stadt, wobei man das ja nie so genau weiß, weil man ja auch nur auf die Informationen angewiesen ist, die einem der Anrufer gibt, erwiderte mir einmal auf meine Frage, warum sie Telefonsex mache, mit folgender, plausibler Antwort, während sie sich Chips und Cola gleichzeitig in den Mund stopfte: „Weißt du, Katy. Da draußen guckt mich keiner mit dem Arsch an. Die meisten Männer finden mich viel zu dick und ich habe schon seit Ewigkeiten keinen Freund mehr. Aber hier, da habe ich Macht. Da kann ich mit den Männern umspringen, wie es mir gefällt. Sie lieben meine Stimme, machen mir Komplimente und stehen total auf mich. Außerdem kann ich mir seitdem einiges leisten, was ich vorher nicht konnte, und ich finanziere damit sogar mein Studium. Und stell dir vor, neulich hat wieder mein Stammkunde vom Radiosender angerufen. Der findet meine Stimme so klasse, dass er mich unbedingt treffen will, weil er mir gern eine eigene Sendung im Radio geben möchte.“
Ich glaube zwar nicht, dass sie ihn jemals getroffen hat, denn ich denke, dass sie Angst davor hatte, sich diesem Menschen, wenn es überhaupt als seriöses Angebot gemeint war, in ihrer vollen Lebensgröße zu zeigen. Aber das, was sie gesagt hatte, ging mir dennoch lange nicht aus dem Kopf. Die Macht über Männer, die sie beschrieb.
Ging es mir eigentlich auch so?
Ich kann nur für mich sagen und das ist ja sicherlich bei jeder Frau, die Telefonsex macht, anders, dass ich einen Teil des Respekts vor Männern verloren hatte. Und obwohl ich meine „Telefonate“ als Arbeit verstand, die meine Fantasie zu Höchstformen auflaufen ließ, zumindest in den Gesprächen, die ich führte, hatte ich absolut keine Lust mehr auf Sex. Mein einziger Gedanke war nur noch, dass ich hoffentlich nie jemanden an die Strippe bekam, der meine Stimme erkannte und mir plötzlich ein irritiertes „Katy? Bist du das?“ ins Ohr blöken würde.
Ich erwartete grade den Rückruf eines meiner Komparsen-Schützlinge, als mich eine Nummer aus Kiel anbimmelte, wie ich auf dem Display erkannte. Ich nahm den Hörer ab und hörte zunächst – nichts. Nur schweres Atmen. Ich schwieg, wie mein Anrufer. Kein Hallo. Gar nichts. Dann, nach langem Schweigen, sagte die Stimme:
„Es ist so weit! Sie ist fort.“
„Nein“, mir erstarb fast jeder Ton im Hals.
„Doch“, war die Antwort.
Schweigen.
„Wann?“
„Vor drei Tagen. Morgen ist Beerdigung. Kommst du?“
„Ja.“
„Schön. Sie hätte sich gefreut.“
„Wo?“
„Wir treffen uns vorher in ihrer Stammkneipe.“
„Ich werde da sein.“
Von unserem Wohn- und Schlafzimmerbereich her hörte ich lautes Lachen. Peter sah scheinbar einen sehr lustigen Film.
Langsam stieg ich schweren Schrittes die steile Treppe hinab, die vom Büro aus nach unten führte. Peter bemerkte sofort, dass es mir scheinbar nicht gut ging, dass etwas passiert sein musste.
„Schatz? Ist irgendwas?“
„Uta ist gestorben“, flüsterte ich fast.
„Oh Schatz, das tut mir leid“, sagte er und öffnete, auf dem Bett liegend, seine Arme, in die ich mich weinend fallen ließ.
„Morgen ist die Beerdigung.“
„Fährst du?“
„Ja.“
„Gut!“
Ich entwand mich seiner Umarmung und ging traurig ins Badezimmer. Während ich das Wasser einlaufen ließ, hörte ich, wie Peter den Ton des Fernsehers wieder anstellte. Und als ich schon in der Badewanne saß, da lachte Peter noch lauter als zuvor über die Witze im TV.
Laut und schallend.
Ich weinte … still … vor mich hin.
Das Erbe
Die Familie, enge Freunde von Uta, einige wenige ehemalige Kommilitonen und ich saßen an einem langen Tisch bei Kaffee und Kuchen. Uta hatte immer einen Hehl aus ihrem Alter gemacht und wir konnten uns einfach das Lachen nicht verkneifen, da keiner von uns wusste, wie alt sie nun eigentlich geworden war. Ich behauptete steif und fest, sie sei 89 geworden, einer ihrer Söhne meinte allerdings, sie sei 85. Aber wirklich genau wusste es niemand.
Wie es so üblich ist, spricht man bei so einem Treffen oder später beim „Leichenschmaus“ natürlich über den Menschen, der grade gegangen ist. Und so erzählte eine enge Freundin von Uta, mit der sie das kleine Theater in der Hansastraße 48, einem eher alternativen Theater, geführt hatte, in dieser zusammengewürfelten Runde noch einmal die Geschichte meiner Auftritte in der Hansastraße. Uta hatte mich ja vor einiger Zeit gebeten, meinen Soloabend „24 Stunden aus dem Leben einer Frau“ von Stefan Zweig in ihrem Theater zu spielen. Ich hatte zugesagt und so stand ich an drei Abenden vor wirklich wenigen Zuschauern auf der kleinen Bühne. Es war eine vertraute Zusammenkunft von Gesichtern, die ich kannte. Die Einzige allerdings, die sich an diesem Abend nicht blicken ließ, war Uta. „Sie sei krank“, ließ sie mir ausrichten und löste damit eine riesige Enttäuschung bei mir aus. Ich wollte ihr doch so gern zeigen, was aus mir, ihrem Zögling, geworden war, denn sie hatte mich nach der Schauspielausbildung noch nie auf einer Bühne gesehen und es waren immerhin schon etliche Jahre vergangen, seit sie mich ausgebildet hatte. Ihre Freundin erklärte mir, dass sie glaube, dass Uta mich nicht auf der Bühne sehen wolle oder besser gesagt nicht sehen könne.
„Aber warum hat sie mich dann gebeten, bei ihr aufzutreten?“
„Weil sie dich liebt und immer große Stücke auf dich gehalten hat“, war die Antwort. „Aber ich glaube, sie schafft es nicht, deine Kraft auf der Bühne zu sehen. Kraft, die sie selbst nicht mehr hat. Du warst ihr ja immer sehr ähnlich und sie hat in dir auch immer sich selbst gesehen. Aber …“, fügte sie tröstend hinzu, „zu deinem musikalischen Abend wird sie sicher kommen! Das verspreche ich dir.“ Die Enttäuschung blieb.
Einige Monate später war es dann so weit. „Vorhang auf“ hieß mein Programm und damit war eine Reise durch bekannte Filmmusiken gemeint. Uta hatte mich vorher sogar noch in Köln angerufen und mich gefragt, ob sie sich etwas wünschen dürfe.
„Kommt drauf an, was es ist!“, hatte ich erwidert.
„Ich wünsche mir, dass du, wenn du bei mir auftrittst, ein Chanson für mich singst. Ich würde ein ganz bestimmtes Lied so gern von dir und aus deinem Mund hören.“
„Ja gut. Wenn ich es kenne!“, brummte ich.
„Ich möchte so gern ‚Für mich soll’s rote Rosen regnen‘ von Hilde Knef von dir hören.“
Das war leicht, denn ich hatte dieses Lied eh als Zugabe im Programm, und so versprach ich, ihr diesen Wunsch zu erfüllen, wenn sie mir im Gegenzug verspreche, diesmal auch wirklich zu kommen.
Und diesmal kam sie wirklich! Ja, sie war da. Saß in der ersten Reihe, was nicht ungewöhnlich war, denn an diesem Abend gab es sage und schreibe ganze neun Zuschauer. Darum hatte ich alle gebeten, näher an die Bühne zu rücken, und nun saßen wirklich absolut alle in der ersten Reihe. Den Abend wegen der wenigen Zuschauer abzusagen, wäre mir natürlich im Leben nicht eingefallen, kannte doch auch ich die alte Theaterregel: „Ein Zuschauer mehr im Publikum als Schauspieler auf der Bühne und der Abend findet statt.“ Kann und konnte sich natürlich kaum ein Theater leisten, aber in jungen Jahren stand ich sehr wohl das eine oder andere Mal auf der Bühne und spielte für drei Menschen.
Im Nachhinein glaube ich, ich war selten so gut auf der Bühne wie an diesem Abend, und als sich mein Programm zum Ende neigte, kam endlich mein heiß ersehnter und sehr persönlicher Höhepunkt. Ich stellte mich direkt vor Uta, bat Noel Stevens, meinen langjährigen, treuen und dazu wundervollen Pianisten, der mich auch an diesem Abend begleitete, zu spielen und sang: Für dich soll’s rote Rosen regnen. Alle „mich“ hatte ich mit „dich“ ersetzt und Uta hatte große Mühe, ihre Gefühle zu verbergen. Es dauerte nicht lange, da weinte der alte „Dragoner“.
Ja, Uta weinte. Weinte vor Freude und Glück.
Ich habe diese Regung nie vorher und niemals nachher wieder bei ihr gesehen. Nur dieses eine, dieses einzige, für mich unvergessliche Mal. Und ich war dankbar, dass sie mich dadurch so viel Liebe spüren ließ. Ich hatte ihren Traum erfüllt, das wusste ich. Sie war so unendlich stolz.
Stolz auf den Schützling, der ihr so ähnlich war, der ihr so viel bedeutete und den sie es nie hatte wissen lassen.
Nach diesem Abend, den wir noch bei einem Wein in der Kantine verbrachten und an dem sie mich wie eine Tochter an ihren großen, schweren Busen drückte, habe ich sie nicht mehr gesehen. Nie mehr.
Und nun saß ich hier bei Kaffee und Kuchen, in einer Studentenkneipe, in der Straße, in der sie gelebt hatte, und konnte von meinem Platz aus das Fenster sehen, aus dem sie mir beim letzten Mal, als ich sie besucht hatte, an diesem ersten Weihnachtstag, den Schlüssel hinuntergeworfen hatte, weil sie zu schwach gewesen war, die Tür zu öffnen.
„Möchte einer von euch etwas haben, das Uta besaß?“, fragte einer ihrer Söhne plötzlich in die Runde. „Alle Bücher gehen an das Theater. Ich denke, so hätte sie es gewollt. Aber möchte jemand von euch noch eine Art Erinnerung?“ Alle schwiegen. Gudrun, eine ehemalige Mitstudentin, starrte mich an. Ich blickte auf den Teller, der vor mir stand. Mit dem Kopf ruderte sie in meine Richtung, ich fühlte es genau, aber ich hob den Blick nicht.
„Katy hätte gerne etwas“, blökte sie plötzlich laut über den Tisch.
Ich warf ihr einen vernichtenden Blick zu und schon trat sie mir gleichzeitig unterm Tisch gegen das Schienbein.
„Du wolltest doch so gern das Bild. Nun sag doch schon!“
„Was für ein Bild?“, fragte Utas Sohn neugierig.
Blöde Ziege! Ich hätte natürlich niemals von selbst darum gebeten, aber nun kam ich aus der Nummer nicht mehr raus. „Hm“ stammelte ich, „also, als Uta und ich uns das letzte Mal bei ihr zu Hause trafen, da wollte sie gern, dass ich das Bild mit dem Tiger und dem Wasserbüffel bekomme. Aber wenn sie das nicht testamentarisch verfügt hat, dann wollte sie ja vielleicht doch nicht, dass ich es bekomme.“ Meine Stimme schwächelte.
„Du kennst doch meine Mutter!“, erwiderte er lächelnd, als ob sie noch am Leben sei. „Da gibt es kein Testament. Uta konnte Testamente nie leiden. Natürlich bekommst du das Bild.“ Ich lächelte schüchtern und blickte auf meinen Teller. Aber ich war Gudrun unendlich dankbar für ihren Einwurf und den Tritt unter dem Tisch, obwohl ich damit scheinbar die Einzige war, die hier außer dem von Uta viel geliebten Theater etwas als Andenken an sie bekam, und ich hatte ja auch schon die Holzfiguren, aber ich wusste auch, dass eh niemand, der hier saß, mit dem Bild irgendetwas verband, außer mir. Und so nahm ich dieses Erbe dankend an, schaute noch mal auf die kleine Todesanzeige, die vor mir lag, und lächelte über die Worte, die dort standen: „Den Abgang macht dir keiner nach.“
Der Weg des Künstlers
„Schickst du mir den Hund bitte runter?“, rief ich Peter zu, der mit dem Telefon in der Hand auf der Terrasse stand. Es war früher Abend und ich hatte geklingelt, damit Peter wusste, dass ich wieder aus Kiel und somit von den Trauerfeierlichkeiten zurück war. Da wir im fünften Stock wohnten und das natürlich ohne Fahrstuhl, war unser Ritual, dass Lino, unser damaliger Hund, sich allein auf den Weg die Treppen herunter zu seinem Abendspaziergang machte, die Leine in seiner Schnauze.
„Mach ich!“
„Treffen wir uns gleich im Litho?“, rief ich.
„Ja, ich beende nur eben das Gespräch. Ist wichtig!“
„O. k.!“
Lino und ich machten eine Runde durch den Park und warteten in unserer Stammkneipe bei einem Caffè Latte auf Peter. Während der langen Autofahrt von Kiel nach Hause hatte ich mir überlegt, dass wir vielleicht so etwas wie eine Beziehung auf Probe anstreben sollten. Mehr Freiraum, weniger Fragen. Vor allem aber den Mut wiederzufinden, absolut alles anzusprechen, was uns störte, nicht nur an dem anderen, sondern vor allem im gemeinsamen Umgang. Nicht verletzend, sondern konstruktiv. Vielleicht war ja alles nur ein großes Missverständnis gewesen und vielleicht hatte ich ja auch wirklich extrem überempfindlich auf Peters scheinbares Desinteresse an meinen Gefühlen reagiert.
Utas Tod hatte mich wieder mal daran erinnert, wie kurz das Leben war, aber vor allem, wie schnell es vorbei sein konnte. Außerdem hatte ich mir irgendwann geschworen, niemals in einer Beziehung im Streit auseinanderzugehen. Es gab zu viele wahre Geschichten, in denen Menschen, die sich liebten, einander morgens den Rücken zugewandt hatten, zornig und nicht wissend, dass sie einander nie mehr wiedersehen würden. Doch nach dem Tod gab es keine Möglichkeit mehr, sich bei dem anderen zu entschuldigen, sich auszusprechen oder Dinge zu klären.
Der, der blieb, musste vielleicht sein Leben lang mit der traurigen Gewissheit leben, dass der andere nicht wusste, wie sehr er eigentlich geliebt wurde. Auch der Satz: „Der Tod ist nur schlimm für die Hinterbliebenen“ tröstete da kaum und ich wollte es in meinem Leben nie so weit kommen lassen.
Peter trottete in unsere Lieblingskneipe, gab mir ein flüchtiges Küsschen auf den Mund und bestellte sich ein Bier. Ich freute mich, ihn, der mir so vertraut war, zu sehen, und wollte grade anfangen, von meiner Reise zu erzählen, als er mit einem: „Hör mal, du möchtest jetzt bitte eben Mira anrufen“, das Gespräch eröffnete. Mira war eine langjährige Freundin, die seit einiger Zeit für eine Kölner Filmfirma arbeitete und mir zu meinem Job als Casterin für Komparsen und Kleindarsteller in der Firma verholfen hatte. Außerdem hatte sie es möglich gemacht, dass Peter für eine Rolle in der Serie, für die sie selbst tätig war, vorgeschlagen wurde, die er tatsächlich nach seinem gelungenen Casting auch bekam.
„Mira?“, fragte ich. „Hm. Was will sie denn?“
„Na ja“, begann er zögerlich, „sie behauptet, ich hätte am letzten Drehtag unserer Staffel etwas mit der Maskenbildnerin gehabt, aber das stimmt nicht. Totaler Quatsch. Na ja, wird sie dir dann schon selbst sagen.“ Lässig lehnte er sich im Stuhl zurück und steckte sich eine Zigarette an.
Aha???
Ich muss gestehen, ich war leicht verwirrt. Da saß er und eröffnete mir, dass Mira mich um einen Rückruf bat, weil er am letzten Abend der Staffel etwas (tja, was eigentlich genau?) mit der Maskenbildnerin „gehabt hatte“? Ich erinnerte mich noch genau an den Abend. Ich hatte Peter zur Abschiedsparty in die Räumlichkeiten der Produktion gefahren. Es war ein sehr netter Abend, wenn mich auch die neben dem Buffet liegenden Präservative irritierten, die sozusagen zum Essen gereicht wurden. Aber ich hielt dies für einen Produktionsgag, hieß doch diese „Jede Menge Leben“. Das passte. Zumindest in meiner Vorstellung. Peter hatte mir im Laufe des Abends eröffnet, dass er es „heute mal so richtig krachen lassen wolle“. Er hatte bis zu diesem Abend wirklich irrsinnig viel gedreht und viel Zeit mit diesen Menschen verbracht, darum fand ich es natürlich völlig in Ordnung, dass mein Freund seinen letzten Abend mit seinen Kollegen und Kolleginnen allein feiern wollte. Da ich selbst zwar einige Leute kannte, mit denen ich auch schon gearbeitet hatte, aber dennoch nicht zur Produktion gehörte, beschloss ich, gegen Mitternacht nach Hause zu fahren. Blöderweise hatte ich von jeher ein Problem. Ich konnte einfach nicht einschlafen, wenn der andere nicht zu Hause war. Ein wirklich unsinniges Problem für eine Schauspielerin, sollte man denken, da man ja öfter mal durch eine Produktion bedingt in einem Hotel oder einer Pension schläft. Wenn ich selbst unterwegs war, um irgendwo zu drehen oder Theater zu spielen, fiel mir das ja auch gar nicht schwer. Das Problem tauchte immer nur dann auf, wenn ich zu Hause war. Und so schlug ich mir im Halbschlaf die Nacht um die Ohren, bis ich gegen fünf wieder aufrecht im Bett saß. Peter blieb nie lange auf Partys, er trank kaum Alkohol und war oft auch zu geizig, Geld für ein Taxi auszugeben. Nach kurzer Überlegung rief ich also in der Produktion an, um ihm anzubieten, dass ich ihn abholen würde, falls er das wolle. Der Pförtner, ein freundlicher Mann, den ich ebenfalls von früher kannte, nahm den Hörer ab:
„Karrenbauer!“
„Hallo Frau Karrenbauer“, erwiderte er freundlich.
„Hallo! Sie haben aber einen langen Abend“, sagte ich. „Ist das Fest noch in vollem Gange, Sie Ärmster?“
„Nein“, antwortete er knapp.
„Aha? Sind denn alle schon weg?“
„Ja, alle schon weg!“
„Aha. Auch Herr xxx?“, fragte ich verunsichert und meinte damit Peter.
„Ja, der auch“, antwortete er geschwind, auch wenn ich glaubte, ein kurzes Zögern in seiner Stimme gehört zu haben, was mich innerlich aufhorchen ließ. Sonst hätte ich sicher nicht weiter nachgehakt.
„Wissen Sie zufällig, wo sie hingefahren sind? Und wer noch mit dabei war?“
„Nein, aber ich glaube, die sind alle in die Stadt. Mit dem Taxi. Schon vor Stunden.“
„Vor Stunden schon?“
Aha? Das war irgendwie seltsam. Auch wenn Peter gesagt hatte, dass er es krachen lassen wollte, war er überhaupt nicht der Typ, der nach einer Feier noch in irgendeiner Kneipe einkehrte. Ich? Jederzeit! Aber bei ihm war das eher ungewöhnlich.
„Sind Sie ganz sicher?“, fragte ich ein letztes Mal.
„Ganz sicher, Frau Karrenbauer. Niemand mehr da. Tut mir leid, Ihnen nicht weiterhelfen zu können. Gute Nacht.“
„Danke und guten Morgen“, sagte ich noch, legte langsam und nachdenklich den Hörer auf und machte mir mit einem Mal große Sorgen. Lag er vielleicht irgendwo total betrunken herum und hatte kein Geld, um nach Hause zu fahren? Er würde doch anrufen, wenn er woanders übernachten würde und nicht nach Hause käme. War ihm irgendetwas Schreckliches passiert? Natürlich war ich inzwischen hellwach. Sollte ich mich einfach ins Auto setzen und die Strecke abfahren? Oder vielleicht noch in der einen oder anderen Bar nachsehen, ob er dort vielleicht sei? Ich verwarf diesen Gedanken, so schnell wie er mir gekommen war, denn ich finde nichts schrecklicher, als bei meinem Freund das Gefühl zu erwecken, ich würde ihm hinterher spionieren. Das hatte ich nie gemacht und ich wollte es auch nicht so weit kommen lassen, dass er oder jemand, mit dem er vielleicht jetzt noch unterwegs war, denken könnte, ich traue und vertraue ihm nicht.
So kochte ich mir einen Kaffee, entschied, noch zu warten, anstatt irgendwelche unsinnigen Aktionen zu starten, kramte mein Tagebuch heraus und begann, meine „Morgenseiten“ zu schreiben. Seit einigen Monaten, genau gesagt seit etwa zweieinhalb Monaten, arbeitete ich mich durch das Buch „Der Weg des Künstlers“ und war mir, meinem Leben und meinen eigenen Geheimnissen, Wünschen und Träumen auf der Spur. Nicht jedermanns Sache, war es doch eine Art Seminar, das man über zwölf Wochen praktizieren sollte und das mit wöchentlichen Aufgaben versehen war, aber ich stieß durch dieses Buch mehr und mehr auf Gründe, warum mich bestimmte Ängste plagten, und erfuhr sehr viel über meine Gedanken und mein Unterbewusstsein, denn ich hielt mich eng an die Aufgabenstellung und schrieb wirklich jeden Tag und eigentlich immer direkt nach dem Erwachen.
An diesem Morgen schrieb ich also grade über Peter, Gedanken zum Verlust eines Menschen durch Tod oder „nur“ Trennung, als ich mit einem Mal den Schlüssel im Schloss der Wohnungstür wahrnahm. Auch Lino wurde unruhig, aber er erkannte Peters Schritt, bellte also nicht und mir fiel ein Stein vom Herzen. Peter schlich sich in die Wohnung und als er mich mit meinem Kaffee auf dem Bett sitzen sah, schoss er mir ein: „Ich will jetzt nicht reden. Ich bin müde!“ entgegen – und dabei hatte ich doch nur gelächelt und noch gar nichts gesagt. Ich schaute ihm zu, wie er seine Kleidung, ein wenig wankend, abstreifte, wie er sich aufs Bett neben mich warf und mir schnell den Rücken zudrehte, während er mir kurz ein „Nacht“ zunuschelte und scheinbar sofort einschlief.
„Verletzt“ war das letzte Wort, das ich grade in mein Tagebuch geschrieben hatte. Verletzt. Ich saß lange da, schaute aus dem Fenster in den längst erwachten Morgen und fühlte in mich hinein. Nein. Ich war nicht verletzt darüber, dass er spät gekommen war. Immerhin waren wir erwachsen und ich hatte kein Problem damit, ihn gewähren und ihm seinen Freiraum zu lassen, vor allem, weil er ihn viel seltener als ich selbst für mich in Anspruch nahm. Aber ich spürte mit einem Mal, dass es mich verletzte, dass er nicht das geringste Wort für mich hatte, keine noch so winzige Erklärung, und weil ich instinktiv etwas fühlte, das mich verletzte, von dem ich nicht wusste, was es war, weil ich es von ihm nicht kannte. Am nächsten Tag war ja auch schon der Anruf gekommen, der mich nach Kiel hatte eilen lassen, und so hatten wir eigentlich nichts geklärt, denn Peter war weiterhin nicht bereit, über den Abend zu sprechen, und ich war sauer und strafte ihn, blöderweise, mit Ignoranz und Liebesentzug.
All das fiel mir ein, während ich jetzt zum Münzfernsprecher ging und Miras Nummer wählte. Mira brachte mich, nach kurzer Begrüßung, auf den Stand der Dinge.
Der Pförtner hatte mich in der Nacht also angelogen, um Peter zu schützen, denn Peter war tatsächlich noch in der Produktion gewesen, als ich anrief. Er tummelte sich mit der Maskenbildnerin im Maskenraum und eigentlich war die „Nummer“, die die beiden scheinbar geschoben hatten, nur aufgeflogen, weil einige Kollegen ihre Klamotten in der Maske abgelegt hatten und diese holten, als sie das Fest verließen.
Unter diesen Menschen war unter anderem der Pförtner gewesen, vor allem aber zwei Frauen, die mich kannten, und eine gute Freundin und die Mädels waren nun alle stinksauer auf Peter, unterstellten sie ihm doch schon lange, dass er mich, wie sie es nannten, nur als „billige Eintrittskarte“ in die Welt des Fernsehens benutzte.
Aber ich wollte davon natürlich nichts wissen.
Alles in allem hatten die Mädels einen, wie ich finde, relativ fairen Plan geschmiedet. Sie hatten Peter ein paar Tage nach dieser Party-Nacht angerufen und ihm ein Ultimatum gestellt. So hatte er 48 Stunden Zeit, mir selbst die Wahrheit zu sagen. Falls er dies nicht täte, würden sie mich in Kenntnis setzen. Nun war das Ultimatum eben abgelaufen. Tja, dumm gelaufen.
Ich bedankte mich bei Mira für „die Wahrheit“, atmete einmal tief durch, während ich den Hörer in die Gabel fallen ließ, ging zurück an den Tisch und setzte mich. Ich schaute Peter an. Schaute nur. Als ob ich in seine Gedanken eindringen und darin lesen wollte. Ich erinnere mich, dass ich fast sanftmütig lächelte, weil ich wusste, dass einem „so etwas“ ja immer passieren konnte, vor allem aber, weil es mir schon so oft passiert war. Also als „Gehörnte“. Immer und immer wieder.
Die Männermenschen, mit denen ich zusammen war, waren eigentlich immer fremdgegangen, wie es so schön oder unschön heißt. Somit war ich die Dauerbetrogene und an diesem Abend lächelte ich wohl, weil ich mir selbst wieder die Schuld an allem gab und er mir nur wie ein Opfer vorkam. Ein Opfer, das sich in meine Geschichte einreihte, eine Geschichte, die mich seit Ewigkeiten verfolgte. Was konnte denn der arme Kerl schon dafür, dass mir das ständig passierte?
„Und?“, fragte Peter nach einer Ewigkeit und ich bin sicher, er erwartete, dass ich losbrüllen, vom Tisch aufspringen würde, irgendwas von „fremdgehen, anscheißen und verlassen“ schreien würde, weinen würde oder vielleicht das Lokal verlassen? Aber von alledem war ich weit entfernt.
„Und was?“, fragte ich nur, fast gelassen.
„Hat Mira dir erzählt, was man mir da unterstellt?“
Wie bescheuert sich das anhörte. Was man ihm „da unterstellte“? Der Pförtner hatte ihn gesehen, wie Mira mir versicherte, zwei gute Bekannte und eine Freundin von mir hatten ihn „dabei“ gesehen und er redete von „unterstellen“?
„Ja, hat sie“, antwortete ich knapp.
Er wurde nervös und ich merkte, dass er mich überhaupt nicht mehr einschätzen konnte.
„Und? Glaubst du der, was die sagt?“ Manche Männer, in die Enge getrieben, neigen dazu, Freundinnen der eigenen Freundin nicht mehr als „sie“, sondern als „die“ zu bezeichnen, und erhoffen sich damit scheinbar, deren Glaubwürdigkeit zu untergraben.
„Ja, ich glaube, was sie sagt!“, antwortete ich nach kurzem Überlegen, ohne mich seinem Blick zu entziehen. Irgendein undefinierbarer Laut flutschte durch seine Zähne, während er verächtlich den Kopf zur Seite schwingen ließ, um mir dann blitzschnell, wie ein Stier vor dem Kampf, den Kopf zuzudrehen und mich mit einem stechenden Blick zu fixieren.
Doch auch diesem Blick hielt ich stand. Das machte ihn aggressiv und ich bemerkte, dass ich dieser Wucht seiner Augen noch nie zuvor begegnet war. Und plötzlich ging sein Atem immer schneller. Er, der doch immer fein säuberlich alles klug im Griff hatte, vor allem große Emotionen. Er … wurde aufbrausend. Er, der sonst sogar den Tisch verließ, wenn ich mal eine Geschichte wagte, zu laut und erhitzt zu erzählen, weil ich mich vielleicht grade emotional in irgendein Thema zu sehr hineingesteigert hatte und mich dieses grade fürchterlich in Rage brachte. Er, der mir immer wieder in Restaurants zuzischte, ich solle leise reden, wenn mal die Pferde mit mir durchgingen. Ausgerechnet er wurde jetzt laut. Sehr laut sogar. Meine eigene Ruhe schien ihn aus der Reserve zu locken und zum Kochen zu bringen.
„Warum glaubst du ‚denen‘? Da war nichts! Ich schwöre. Warum glaubst du denn Mira und diesen Weibern und nicht mir?! Du kennst mich seit über zweieinhalb Jahren. Das würde ich doch nie tun?“, fauchte er mich an.
„Peter“, begann ich langsam, „vier Leute haben dir beim Ficken zugesehen, um es mal ganz klar auszudrücken. Vier! Nicht einer, nicht zwei, nein vier. Aber selbst das tut nichts zur Sache. Fakt ist doch nur eines: Erstens haben wir uns, als wir uns kennenlernten, geschworen, dass wir die Ersten sein werden, die etwas ‚erfahren‘, wenn es etwas zu ‚erfahren‘ gibt!“
Natürlich war mir klar, dass das in der Realität niemals funktionieren konnte. Frei nach dem Motto: „Hör mal, also wenn du mich schon betrügst, dann möchte ich das aber gerne vorher wissen.“ Ja, ich weiß, völlig bescheuert, hatte aber tatsächlich einmal in meinem Leben geklappt. Da hatte mich mein ehemaliger Freund doch tatsächlich aus Griechenland und „bevor“ er mit der Frau, mit der er den Abend verbracht hatte, schlief, angerufen und mich davon in Kenntnis gesetzt, dass er es jetzt „tue“. Großes Kino! Fand ich jedenfalls damals.
Nein, toll war das keineswegs, ganz im Gegenteil. Es war der reinste Horror. Vor allem, weil ich mir natürlich ab diesem Moment den Beischlaf meines Freundes mit der Fremden in den blühendsten Farben ausmalte, wütend war, verletzt bis ins hinterste Eckchen meines Herzens und zutiefst gedemütigt. Grauenhaft. Dennoch hatte ich damals innerlich meinen Hut vor ihm gezogen, weil er sich an sein Versprechen gehalten und echte Courage gezeigt hatte. Wer tut das heutzutage schon noch? Schön bescheuert, würde man heute sagen. Finde ich auch. Aber, aus der Sicht der frei denkenden Schauspielerin und Hobbypsychologin betrachtet, war doch diese Verabredung eh nur entstanden, um einen Konflikt im anderen zu säen. Man stelle sich vor, man liege selbst grade mit jemandem auf der Pritsche, auf sommerlichem Rasen, stehe in einem Aufzug oder sonst wo, innig verschlungen und schon kurz vorm „Eindringen“, und hört sich mit einem Mal sagen: „Du, äh, sorry, ich muss grade noch mal zu Hause anrufen und meinen Freund davon in Kenntnis setzen, dass wir beide jetzt miteinander schlafen“, weil man es dem anderen fest versprochen hatte??? Macht man doch nicht. Also ich hätte ja schon aus Furcht allein vor diesem Telefonat nie was mit einem anderen Mann angefangen. Und selbst wenn? Wie hätte wohl derjenige reagiert, der grade mal in die Warteschleife gehängt wurde, damit ich meinem Freund noch schnell vorher sagen konnte, dass ich es jetzt mit einem anderen tue???
Wer bekäme da noch einen hoch? Na?
Die Grundidee war also gar nicht so schlecht. Eigentlich fühlte es sich an wie ein kluger Schachzug, nur bei der Ausführung haperte es entsetzlich. (Mein Ex hat diese Frau übrigens im späteren Verlauf geheiratet und hat mit ihr zwei wundervolle Kinder in die Welt gesetzt, mit denen ich heute, so wie mit ihren Eltern, eng befreundet bin.)
„Und zweitens“, setzte ich nach, „gibt es für Mira überhaupt keinen Grund, mich mit einer solchen Geschichte zu verletzen, wenn sie nicht stimmt. Ich habe Mira nie etwas getan, also warum sollte sie so einen Mist erzählen, dir ein Ultimatum setzen und mich dann anrufen? Macht keinen Sinn. Jedenfalls nicht für mich. Und darum glaube ich ihr.“ Seine blauen Augen hatten sich in tiefes Schwarz verfärbt. „So, und jetzt geh mir bitte aus den Augen!“, beendete ich das Gespräch.
Peng. Das saß.
Der Grund für die extreme Härte? Ich wollte, dass er abhaut. Was sonst? Dass er meine Tränen nicht sieht, und die stiegen verdammt schnell in mir auf.
„Soll ich den Hund mitnehmen?“, fragte er.
„Nein!“
Und so schmiss er wütend ein paar Mark auf den Tisch und ging, während ein Wasserfall aus meinen Augen spritzte und mir der Kellner, der uns beobachtet hatte, wortlos ein Glas Wein vor die triefende Nase stellte. Hätte es keiner mitbekommen, was in dieser Nacht geschehen war, also hätte niemand Peter dabei auch noch auf den nackten Hintern geguckt, vielleicht hätte ich ihm sogar einfach mal eben schnell, sozusagen „wie immer“, verziehen und vielleicht hätte ich mich wohl noch mit ihm „darüber ausgetauscht“.
Wie gesagt, ich war ja mittlerweile „Meisterin im Betrogenwerden“, auch wenn mir diese, meine Meisterschaft, nicht im Geringsten gefiel und ich auch keinesfalls stolz darauf war. Aber, und das erschwerte jegliche Position, hier gab es Mitwisser und diese Mitwisser erwarteten, dass ich mich zu ihrer Frauensolidarität bekannte.
Nach dem zweiten Wein rief ich Corinna an, eine enge Freundin, und bat für mich und Lino um Aufnahme auf ihrer Couch. Und so heulte ich der Ärmsten die ganze Nacht die Ohren voll, bis ich schließlich völlig entkräftet einschlief. Am nächsten Tag, Peter hatte schon zigmal auf Corinnas Anrufbeantworter gesprochen, alles zugegeben und mich wissen lassen, wie unendlich leid es ihm täte, dass er mich liebe und dass er sich eine Chance mit mir wünsche, gab es ein „Abend-Meeting“ mit den