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Das umfangreiche und dabei kurzweilige und lehrreiche Werk zu Leben und Wirken Jesu Christi. In vollständiger Überarbeitung, mit ausführlichem interaktiven Inhaltsverzeichnis, 140 kommentierenden Fußnoten und einem Vorwort des Übersetzers. Erleben Sie in mehreren Kapiteln das Leben des einflussreichsten Menschen auf Erden, des Sohn Gottes, von seiner Geburt, seinen ersten Reden, seinen Wundern bis zu seinem Tod am Kreuz und seiner Auferstehung. Alle Passagen sind mit ausführlichen Quellenangaben zum Nachlesen im Neuen Testament versehen. Überzeugen Sie sich, lesen Sie ein Probekapitel. Null Papier Verlag
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Seitenzahl: 465
Ernest Renan
Das Leben Jesu
Vollständige Ausgabe
Ernest Renan
Das Leben Jesu
Vollständige Ausgabe
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 6. Auflage, ISBN 978-3-954180-97-4
www.null-papier.de/jesu
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Inhaltsverzeichnis
Ernest Renan
Einleitung
Erstes Kapitel – Die Stellung Jesu in der Weltgeschichte.
Zweites Kapitel – Kindheit und Jugend Jesu. Seine ersten Eindrücke.
Drittes Kapitel – Erziehung Jesu.
Viertes Kapitel – Die Gedankenordnung, innerhalb der sich Jesus entwickelt.
Fünftes Kapitel – Die ersten Aphorismen Jesu. – Seine Ideen von einem Gottvater und von einer reinen Religion. – Seine ersten Jünger.
Sechstes Kapitel – Johannes der Täufer. – Jesu Reise zu Johannes und sein Aufenthalt in der Wüste von Judäa. – Er nimmt von Johannes die Taufe an.
Siebentes Kapitel – Entwicklung der Gedanken Jesu über das Reich Gottes
Achtes Kapitel – Jesus zu Kapernaum.
Neuntes Kapitel – Die Jünger Jesu
Zehntes Kapitel – Predigten am See.
Elftes Kapitel – Das Reich Gottes als Herrschaft der Armen hingestellt.
Zwölftes Kapitel – Botschaft des gefangenen Johannes an Jesu. Johannes Tod. Beziehungen seiner Schule zu der des Jesu.
Dreizehntes Kapitel – Die ersten Versuche in Jerusalem.
Vierzehntes Kapitel – Jesu Beziehungen zu den Heiden und zu den Samaritern.
Fünfzehntes Kapitel – Beginn der Legende Jesu. – Die Vorstellung, die er selbst von seiner übernatürlichen Rolle hat.
Sechzehntes Kapitel – Wunder.
Siebzehntes Kapitel – Die definitive Form der Gedanken Jesu über das Gottesreich.
Achtzehntes Kapitel – Die Institutionen Jesu.
Neunzehntes Kapitel – Wachsender Fortschritt der Begeisterung und der Exaltation.
Zwanzigstes Kapitel – Opposition gegen Jesu.
Einundzwanzigstes Kapitel – Die letzte Reise Jesu nach Jerusalem.
Zweiundzwanzigstes Kapitel – Anschläge der Feinde Jesu.
Dreiundzwanzigstes Kapitel – Letzte Woche Jesu.
Vierundzwanzigstes Kapitel – Verhaftung und Prozess Jesu.
Fünfundzwanzigstes Kapitel – Der Tod Jesu.
Sechsundzwanzigstes Kapitel – Jesus im Grabe.
Siebenundzwanzigstes Kapitel – Schicksal der Feinde Jesu.
Achtundzwanzigstes Kapitel – Wesentlicher Charakter des Werkes Jesu.
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Ernest Renan wurde am 27. Februar 1823 in Tréguier, Departement Côte du Nord, Frankreich, geboren. Mit der Absicht dem Priesterstand sich zu weihen, trat er 1844 in das Seminar zu Paris, doch verließ er es bald um sich nunmehr dem Studium der orientalischen Sprachen zu widmen. Im Jahre 1856 wurde er Mitglied der Akademie. Vier Jahre später übernahm er die Leitung der wissenschaftlichen Expedition zur Durchforschung des alten Phöniziens. Von hier aus hatte er – wie er in der Einleitung seines Werkes auch erwähnte – Gelegenheit, die Stätten kennen zu lernen, wo Jesus geboren wurde und heranreifte; und im Morgenland entwarf er auch sein Werk: »Vie de Jésu«, das bestimmt war, den ersten Band zu seiner umfangreichen »Geschichte der Anfänge des Christentums« zu bilden. Heimgekehrt, wurde er (1862) Professor für die hebräische Sprache an dem Pariser Colége de France und vollendete dabei das erwähnte Buch. Dieses erschien ein Jahr später und erregte ein gewaltiges Aufsehen, aber dabei auch den Hass der Klerikalen. Diesen zuliebe wurde er im Juli 1863 seines Amtes enthoben. Die ihm von der Regierung an Stelle dessen angebotene Bibliothekarstelle lehnte er ab. Erst 1871, nach dem Sturz des französischen Kaiserreichs, nahm er seine Vorlesungen wieder auf.
Es war dem Verfasser gegönnt sein Werk ganz zu vollenden und es folgten dem »Leben Jesu«: »Die Apostel«, »Der heilige Paulus«, »Der Antichrist«, »Die Evangelisten und die Zweite christliche Generation«, »Die christliche Kirche« und als Schluss »Mark Aurel und das Ende der antiken Welt«. Ja es war ihm sogar gegönnt, ein nicht minder bedeutsames Werk in seiner »Geschichte des Volkes Israel« zu schaffen. Überdies schrieb er noch zahlreiche wissenschaftliche Werke und auch einige philosophische Dramen.
David Haek
Eine Geschichte der »Anfänge des Christentums« müsste die ganze dunkle, sozusagen unterirdische Periode umfassen, die sich von den ersten Regungen dieser Religion bis auf den Zeitpunkt erstreckt, wo ihre Existenz eine öffentliche, bekannte, jedermann klare Tatsache wurde. Eine derartige Geschichte würde aus vier Teilen bestehen. Der erste, den ich hiermit veröffentliche, erörtert die Tatsache, die dem neuen Kultus als Ausgangspunkt gedient hat: er beschäftigt sich nur mit der hehren Person des Stifters. Der zweite Teil würde sich mit den Aposteln und ihren unmittelbaren Schülern beschäftigen, oder besser gesagt, mit den Umwälzungen, die der religiöse Gedanke in den ersten zwei Generationen ausgesetzt war. Ich würde ihn etwa mit dem Jahre 100 abschließen, mit dem Zeitpunkt, wo die letzten Genossen Jesu gestorben waren und wo sämtliche Schriften des Neuen Testaments so ziemlich ihre jetzige Gestalt schon erhalten hatten. Der dritte Teil würde das Christentum unter den Antoniern darstellen, zeigen, wie es sich langsam entwickelte und einen beinahe steten Kampf gegen Rom führte, das damals den Gipfel administrativer Vollkommenheit erreicht hatte, von Philosophen regiert wurde und das in der neuen Sekte eine geheime, theokratische Verbindung sah, welche die bestehende Ordnung hartnäckig verleugne, sie beständig untergrabe. Dieser Teil würde die Zeit des ganzen 2. Jahrhunderts umfassen. Der vierte Teil endlich würde den bedeutenden Fortschritt schildern, welchen das Christentum mit dem Beginn der syrischen Kaiserherrschaft gemacht hat. Es würde sich da zeigen, wie der Wissensbau der Antoniden zusammenstürzte, der Verfall antiker Zivilisation unabwendlich eintrat; wie das Christentum durch diesen Verfall gewann, Syrien, das ganze Abendland eroberte und Jesus in Gesellschaft der Götter und göttlich verehrter Weisen Asiens in Besitz einer Gesellschaft gelangte, der die Philosophie und der rein bürgerliche Staat nicht mehr genügen konnte. Zu dieser Zeit veränderten sich auch gewaltig die religiösen Anschauungen der an den Ufern des Mittelmeeres ansässigen Völker. Der orientalische Kultus kam überall zur Macht; das Christentum wurde zu einer großen Kirche, vergaß völlig die Träumereien vom tausendjährigen Reich, zerriss die letzten Fäden, die es noch an das Judentum knüpften und ging völlig in die Welt des Griechentums und Römertums über. Die Kämpfe und die Gelehrtenarbeit des 3. Jahrhunderts, die bereits deutlich hervortreten, würden in diesem Teile nur im Allgemeinen geschildert werden. Noch kürzer würde ich darstellen die Verfolgungen zum Beginn des 4. Jahrhunderts, die letzten Versuche Roms zu den alten Grundsätzen zurückzukehren, wonach der religiösen Verbindung jeder Zulassung im Reiche verwehrt worden wäre. Endlich würde ich den politischen Umschwung nur andeuten, der eintrat, als unter Konstantin die Rollen wechselten und aus freiem inneren Antrieb ein dem Staate unterworfenen Kultus entstehen ließ, welcher jetzt seinerseits als Verfolger auftrat.
Ob ich lange genug leben und Kraft genug besitzen werde diesen großen Plan auszuführen, weiß ich nicht. Ich werde befriedigt sein, wenn es mir, nachdem ich »Das Leben Jesu« vollendet haben werde, gegönnt wäre zu sagen, wie ich die Geschichte der Apostel auffasse, den Zustand christlichen Bewusstseins in den nächsten Wochen nach Jesu Tod, die Bildung des Legendenkreises von der Auferstehung, die ersten Handlungen der Kirche von Jerusalem, das Leben Pauli, die Krisis zurzeit Neros, das Erscheinen der Apokalypse, die Zerstörung Jerusalems, die Gründung der jüdischen Christengemeinde zu Batanea, die Herstellung der Evangelien, der Ursprung der großen von Johannes ausgegangenen Schulen Kleinasiens. Es ist eine seltene Erscheinung in der Geschichte, dass wir besser wissen was in der christlichen Welt vom Jahre 50–75 geschehen ist, als das vom Jahre 100 bis 150.
Der Plan, den ich im vorliegenden Werke anwendete, ließ es nicht zu, dass ich über strittige Textstellen lange kritische Abhandlungen gebe. Die beigefügten Anmerkungen jedoch ermöglichen dem Leser alle hier folgenden Behauptungen nach den Quellen zu prüfen. Ich habe mich hierbei genau auf Zitate aus erster Hand beschränkt, dass heißt die Originalstellen angeführt, auf die sich jede Behauptung oder Vermutung stützt.1 Wohl weiß ich es, dass für Leute, die mit solchem Studium weniger vertraut sind, eine ganz andere Entwickelung nötig ist; allein ich bin nicht gewöhnt noch einmal zu machen, was bereits gemacht, gut gemacht ist. Wer da auf die Sache näher eingehen will, dem empfehle ich vor allem: Strauß, »Leben Jesu«.
Wer dieses treffliche Werk vornimmt, der wird so manche Aufklärung von Stellen darin finden, die ich nur oberflächlich berühren konnte. Besonders die Textkritik der Evangelien ist von Strauß in einer Weise vollbracht worden, die nur wenig zu wünschen übrig ließ.
Was die Zeugnisse aus dem Altertum betrifft, so habe ich, meiner Meinung nach, keine einzige Quelle außer acht gelassen. Es sind uns fünf große Schriftensammlungen überliefert worden – von der Fülle einzelner zerstreuter Daten abgesehen – die sich mit Jesus und seiner Zeit beschäftigen. Es sind dies: 1) die Evangelien und überhaupt die Schriften des Neuen Testamentes, 2) die sogenannten Apokryphen des Alten Testamentes, 3) die Werke Philos, 4) die Werke Josephus, 5) der Talmud.
Von unschätzbarem Werte sind die Schriften Philos, denn sie zeigen uns, welche Anschauungen zurzeit Jesu im Geiste jener lebendig waren, die sich mit den großen religiösen Fragen beschäftigten. Zwar lebte Philo in einer anderen Provinz als Jesus, aber so wie dieser war auch er frei von allen Kleinlichkeiten, die damals in Jerusalem herrschten. Er kann als älterer Genosse Jesu gelten. Zweiundsechzig Jahre zählte er, als der Prophet von Nazareth auf der Höhe seines Wirkens stand, und er überlebte ihn etwa um zehn Jahre. Schade doch, dass ihn der Zufall nicht nach Galiläa führte! Wie vieles würden wir dann von ihm erfahren haben!
Weniger Aufrichtigkeit zeigt in seinem Stile Josephus, der hauptsächlich für die Heiden schrieb. Seine kurzen Bemerkungen über Jesus, Johannes den Täufer, Judas den Galoniter sind trocken und matt. Man merkte, dass er Ereignisse, die gänzlich den Stempel jüdischen Charakters und Geistes tragen, in einer Weise darzustellen suchte, die dem Verständnis der Griechen und Römer nahe lagen. Die Stelle über Jesus (Ant. XVIII, III, 3) halte ich für authentisch. Sie entspricht den Anschauungen Josephus, so und nicht anders konnte er von Jesus sprechen. Allein es lässt sich erkennen, dass diese Stelle von einer christlichen Hand verbessert wurde; es wurden einige Worte zugefügt, ohne die sie beinahe Gotteslästerung gewesen wäre, vielleicht wurden auch einige Ausdrücke geändert oder ganz beseitigt. Man muss in Betracht ziehen, dass Josephus zur litterarischen Bedeutung durch die Christen kam, die seine Werke als wichtige Urkunden für ihre heilige Geschichte gelten ließen. Wahrscheinlich wurde von diesen Schriften im 2. Jahrhundert eine nach christlichen Anschauungen verbesserte Ausgabe veranstaltet. Besonders die hellen Schlaglichter, die Josephus auf seine Zeit wirft, sind es, die seinen Schriften eine besondere Wichtigkeit für unseren Gegenstand verleihen. Sie sind es, die Herodes, Herodias, Antipas, Philippus, Hanna, Kaiphas, Pilatus fast sichtbar und greifbar uns vorstellen.
Die Apokryphen des Alten Testaments, besonders der hebräische Teil der sybillinischen Verse, das Buch Henoch, auch das Buch Daniel, das gleichfalls wirklich apokryph ist, sind von besonderer Bedeutung für die Geschichte der Entwickelung der messianischen Lehre und für das Verständnis, wie Jesus das Reich Gottes aufgefasst hat. Besonders das in der Umgebung Jesu vielgelesene Buch Henoch gibt uns Aufklärung über den Ausdruck »Menschensohn« und den hiermit verbundenen Anschauungen. Das Alter dieser Werke ist heute nicht mehr zweifelhaft, dank den Arbeiten von Alexandre, Ewald, Dillmann, Reuß. Sie stimmen völlig überein, dass die wichtigsten dieser Schriften im zweiten und ersten Jahrhundert vor Christum entstanden sind. Die Entstehungszeit des »Buch Daniel« lässt sich noch bestimmter angeben. Der Charakter der beiden Sprachen, in denen es verfasst ist, der Gebrauch griechischer Wörter, die deutliche, genaue Angabe von Geschehnissen, die bis in die Zeit des Antiochus Epiphanes reichen, die falsche Darstellung des alten Babylons, ferner der ganze Ton des Werkes, der mit nichts an die Schriften aus der Zeit der Gefangenschaft erinnert, vielmehr durch eine Fülle von Analogien der Glaubensrichtung, eher den Bräuchen und der Anschauungsweise der Seleucidenzeit entspricht, die apokalyptische Art der Visionen, die Stelle die dieses Werk im hebräischen Kanon außerhalb der Reihe der Propheten einnimmt, endlich das Fehlen des Namens Daniels in der Lobrede des Predigers Salomonis, 49. Kapitel, wo seine Stellung gewissermaßen angedeutet war und noch viel andere wiederholt dargelegte Beweise, lassen keinen Zweifel zu, dass das Buch Daniel die Frucht jener großen Aufregung war, die bei den Juden durch die von Antiochus ausgehende Verfolgung entstand. Es gehört nicht zu der alten Prophetenlitteratur, es gehört vielmehr an die Spitze der apokalyptischen, als erstes einer Art, zu der die späteren Dichtungen: das Buch Henoch, die Offenbarung Johannes, die Himmelfahrt Jesaias, das vierte Buch Esra, zu zählen sind.
Für die Geschichte der Anfänge des Christentums ist bisher der Talmud nicht genug beachtet worden. Ich bin der Ansicht Geigers, dass das rechte Verständnis der Verhältnisse unter denen Jesus auftrat in dieser seltsamen Kompilation gesucht werden muss, wo so viele wertvolle Mitteilungen mit bedeutungsloser Scholastik vermischt sind. Die christliche und die jüdische Theologie sind eigentlich in zwei parallelen Bahnen gewandelt, es kann daher die Geschichte der einen ohne die der anderen nicht recht verstanden werden. Überdies gibt der Talmud zu sehr vielen materiellen Einzelheiten die Erklärung. Schon die umfassenden lateinischen Sammlungen von Lightfood, Schoettgen, Buxdorf, Otho boten nach dieser Richtung hin eine Fülle belehrender Mitteilungen. Ich habe es mir zur Pflicht gemacht, alle von mir gegebenen Zitate nach dem Original zu prüfen. Die Mithilfe eines gelehrten, in der Talmudlitteratur sehr erfahrenen Judens, des Herrn Neubauer, gestattete mir hierbei noch weiter zu gehen und den dunkelsten Punkten meiner Untersuchung einige neue Aufklärungen zu geben. Eine genaue Unterscheidung der einzelnen Zeitabschnitte ist hier sehr wichtig, da die Abfassung des Talmuds die Zeit vom Jahre 200 bis etwa 500 umfasst. Wir haben die Sache soweit aufzuklären gesucht, als dies bei dem jetzigen Stand dieser Studien möglich ist. Bei jenen, die gewohnt sind, einem Schriftstück nur hinsichtlich der Zeit in der es verfasst wurde einen Wert zuzusprechen, werden so neue Daten wohl einige Bedenken erregen, doch sind diese hier keineswegs am Platze. Von der hasmoneischen Zeit bis zum zweiten Jahrhundert erfolgte bei den Juden die Überlieferung zumeist nur mündlich; doch darf man dergleichen nicht mit dem Maßstabe einer Zeit, in der viel geschrieben wird, messen. Die Veden, die alten arabischen Dichtungen sind durch Jahrhunderte mündlich fortgepflanzt worden und dennoch erscheinen sie in abgerundeter, zarter Form. Im Talmud jedoch hat die Form gar keinen Wert. Ich bemerke dazu, dass schon vor der Mischna Judas des Heiligen, die alle anderen in den Hintergrund drängte, Versuche der Herstellung stattfanden, deren Anfänge vielleicht weiter zurückweichen als man gewöhnlich annimmt. Der Stil des Talmuds ist der von Notizen. Diejenigen, die ihn zusammenstellten, haben vermutlich nichts mehr getan, als die große Menge Schriften, die sich in verschiedenen Schulen durch Generationen angehäuft hatten, unter bestimmten Titeln zu ordnen.
Noch habe ich von den Schriften zu sprechen, die bei einer Darstellung des Leben Jesu den ersten Rang einnehmen, weil sie als Lebensbeschreibung des Gründers des Christentums erscheinen. Eine vollständige Erörterung über die Abfassung der Evangelien böte an und für sich schon ein Werk. Dank der tüchtigen Arbeiten, die seit dreißig Jahren auf diesem Gebiete geleistet wurden, ist ein Problem, das früher für unlöslich schien, in einer Weise gelöst worden, die den Bedürfnissen der Geschichte völlig zu genügen vermag, obgleich sie noch manchen Zweifel zulässt. In meinem nächsten Werke werde ich Gelegenheit haben, auf diesen Gegenstand zurückzukommen, denn die Herstellung der Evangelien ist eine der wichtigsten Ereignisse, das in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts für die Zukunft des Christentums geschehen ist. Hier sei nur ein einziger Umstand berührt, der für meine Darstellung unbedingt nötig ist. Was sich auf die Schilderung der apostolischen Zeit bezieht, lasse ich unberührt; ich werde nur untersuchen inwiefern die Daten der Evangelien in einer rationell dargestellten Geschichte verwendet werden können.
Zweifellos ist es, dass die Evangelien teilweise Legende sind, denn sie sind voll der Wunder und des Übernatürlichen. Aber es gibt Legenden und Legenden. Keiner bezweifelt die Richtigkeit der Hauptzüge in der Schilderung des Lebens des heiligen Franz von Assisi, trotzdem wir dabei auf eine Menge des Übernatürlichen stoßen. Anderseits wieder wird niemand die Darstellung des Lebens Apollonius von Tyana für wahr gelten lassen, weil sie lange Zeit nach dem Helden verfasst wurde und sich nur als Roman darbietet. Wann, von wem und unter welchen Umständen sind die Evangelien verfasst worden? Das ist die Hauptfrage von der die Meinung über die Glaubwürdigkeit abhängt.
Bekanntlich trägt jedes Evangelium den Namen einer Person, die in der Apostelgeschichte oder in der Evangeliengeschichte bekannt ist. Diese vier Personen werden eigentlich nicht als die Verfasser bezeichnet. Die Bezeichnungen »nach Matthäus«, »nach Markus«, »nach Lukas«, »nach Johannes« besagen keineswegs, wie früher geglaubt wurde, dass diese Mitteilungen vom Anfang bis zum Ende von den Benannten niedergeschrieben wurden. Sie deuten nur an, dass es die Überlieferungen sind, die von jedem dieser Apostel abstammen und auf deren Autorität sich stützen. Klar ist, dass wenn diese Bezeichnungen genau sind, die Evangelien vom hohen Werte sind, mag ein Teil davon auch Legende sein. Denn sie führen uns zu dem halben Jahrhundert zurück, das dem Leben Jesu folgte, in zwei Fällen sogar zu den Augenzeugen seines Wirkens.
Was vor allem Lukas betrifft, so ist kein Zweifel möglich. Das Evangelium Lukas ist eine regelrechte, aus älteren Schriften aufgebaute Arbeit (Luk. I, 1–4). Es ist das Werk eines Mannes, der wählt, sichtet, verbindet. Sein Verfasser und der der Apostelgeschichte ist sicherlich ein und dieselbe Person (Apostelg. I, 1) Der Verfasser dieses Werkes ist ein Genosse Pauli, was auf Lukas völlig passt. Dieser Folgerung, ich weiß es wohl, kann so mancher Einwand entgegengesetzt werden, jedoch scheint eines zweifellos: dass der Verfasser des dritten Evangeliums und der Apostelgeschichte ein Mann aus der dritten Apostelgeneration war. Und dieser Umstand genügt für unsern Zweck. Die Zeit dieses Evangeliums lässt sich überdies ziemlich genau bestimmen durch Schlüsse aus dem Werke selbst. Kapitel XXI, das von dem anderen Teil des Buches nicht getrennt werden kann, ist sicherlich kurze Zeit nach der Belagerung von Jerusalem geschrieben worden (Vers 9, 20, 24, 28, 32, XXII 36). Hier ist also fester Boden. Es ist ein Werk, das ganz von einer Hand herrührt und eine vollständige Einheit ausweist.
Die Evangelien des Matthäus und des Markus weisen nicht dieselbe persönliche Prägung auf. Sie sind sozusagen unpersönliche Arbeiten, wo die Verfasser ganz verschwinden. Der Name an der Spitze solcher Werke will nicht viel bedeuten. Aber nicht nur bei Lukas, auch bei den Evangelien des Matthäus und des Markus lässt sich der Zeitpunkt bestimmen. Es ist nämlich zweifellos, dass das dritte Evangelium später als die beiden ersten verfasst wurden und die Zeichen einer viel besseren Redaktion aufweisen. Auch haben wir da ein wichtiges Zeugnis aus der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts. Es rührt von Papias her, dem Bischof von Hierapolis, einem würdigen Manne, der sein lebelang bemüht war, alles zu sammeln, was er über die Person Jesu erfahren konnte. Nachdem er bemerkt hat, dass er betreffs dieser Sache die mündlichen Überlieferungen der Bücher vorziehe, erwähnte er zwei Schriften, die sich mit den Worten und Taten Christi beschäftigen: 1) eine Schrift von Markus, Dolmetscher des Apostel Petri, die kurz geschrieben ist, unvollständig und nicht chronologisch geordnet und Reden und Erzählungen enthält (λεχθέντα ἤ πρακθέντα), die nach den Mitteilungen aus den Erinnerungen des Apostels Petri verzeichnet wurden; 2) eine hebräisch geschriebene Sammlung von Sprüchen (λόγια) von Matthäus, die jeder, wie er es vermochte, übersetzt hat. Diese beiden Beschreibungen entsprechen ziemlich genau den zwei Büchern, die jetzt als Matthäusevangelium und als Markusevangelium gelten. Ersteres kennzeichnet sich durch seine langen Reden, das zweite ist anekdotenartig, in den Einzelheiten genauer als das erste, kurz bis zur Trockenheit, arm an Reden und schlecht redigiert. Freilich lässt sich nicht behaupten, dass diese zwei Bücher in ihrer heutigen Gestalt genau dieselben sind, die Papias vorlagen. Denn das Werk Matthäus bestand nach Papias nur aus Reden in hebräischer Sprache, von welchen mehrere unterschiedliche Übersetzungen im Verkehr waren, ferner waren ihm die Schriften des Markus und des Matthäus zwei grundverschiedene Werke, ohne irgendwelchen Zusammenhang und, wie es scheint, jedes auch in einer anderen Sprache verfasst. Die uns vorliegenden Texte dieser zwei Evangelien enthalten jedoch Parallelstellen, die so lang und so gleichlautend sind, dass man annehmen muss, entweder hatte der letzte Redakteur des ersteren Werkes das zweite benutzt, oder umgekehrt, der letzte Redakteur des zweiten Werkes das erste, oder schließlich, beide haben dasselbe Original benutzt. Wahrscheinlich ist, dass wir weder bei dem einen noch bei dem anderen die ursprüngliche Fassung besitzen, dass unsere beiden Evangelien Bearbeitungen sind, wobei die Lücken des einen Textes durch den Text des anderen Werkes ergänzt wurden. Jeder wollte ein vollständiges Werk haben. Wer in seinem Buche nur die Reden hatte, wollte auch die Erzählungen besitzen und umgekehrt. Derart hat das Matthäusevangelium allmählich alles Anekdotenhafte des Markusevangeliums aufgenommen; und so geschah es auch, dass dieses wieder vieles enthält, was von den Logia des Matthäus abstammt. Überdies benutzte jeder auch reichlich die Evangelientradition, die in seiner Umgebung sich fortpflanzte. Diese Tradition wurde in den Evangelien nicht völlig aufgenommen; die Apostelgeschichte und die Kirchenväter zitieren manches Wort Jesu, das authentisch zu sein scheint, jedoch in keinem der uns überlieferten Evangelien zu finden ist.
Für unseren Gegenstand ist es nicht nötig diese genaue Zergliederung fortzusetzen, zu versuchen festzustellen, welches die ursprünglichen Logia des Matthäus und welches die ursprünglichen Erzählungen des Markus sind. Sicherlich stellen die Logia die langen Reden Jesu dar, die einen beträchtlichen Teil des ersten Evangeliums bilden. Vom übrigen gesondert stellen sie in der Tat auch ziemlich ein selbstständiges Ganzes dar. Was aber die Erzählungen des ersten und zweiten Evangeliums betrifft, so dürften beide ein und dieselbe Schrift benutzt haben, deren Text bald hier, bald dort zu finden ist und wovon das zweite Evangelium in seiner heutigen Gestalt eine nur wenig veränderte Darstellung gibt. Mit anderen Worten gesagt: Bei den Synoptikern2 gründet sich das Darstellungssystem des Lebens Jesu auf zwei Urschriften und zwar: 1) auf die vom Apostel Matthäus gesammelten Reden Jesu, 2) auf die Sammlung Anekdoten und persönlicher Nachrichten, die Markus nach den Erinnerungen Petri verzeichnet. Es lässt sich sagen, dass wir diese zwei Schriften noch in dem ersten und zweiten Evangelium besitzen, wo sie sich mit Mitteilungen aus anderen Quellen vermischt vorfinden. Nicht ohne Grund werden sie daher »Evangelium nach Matthäus« und »Evangelium nach Markus« benannt.
Allenfalls gilt zweifellos, dass schon in früher Zeit die Reden Jesu in aramäischer Sprache niedergeschrieben wurden, und auch seine merkwürdigen Taten verzeichnet wurden. Abgerundete, dogmatisch festgestellte Texte waren es freilich nicht. Außer den uns überlieferten Evangelien gab es noch viele andere, die angeblich die Überlieferung der Augenzeugen vermeldeten. Diesen Schriften wurde jedoch nur ein geringer Wert zugemessen und Leute, die sie aufbewahrten, wie z. B. Papias, erklärten, dass sie den mündlichen Überlieferungen den Vorzug gäben. Vom Wahn des nahen Weltuntergangs befangen, war man wenig darauf bedacht Bücher für die Zukunft zu schreiben. Als Hauptsache galt im Herzen ein lebendiges Bild dessen zu erhalten, den man bald im Himmel wiederzusehen hoffte. Daher die geringe Autorität der Evangelientexte während der ersten anderthalb Jahrhunderte. Man scheute sich nicht im Geringsten Zusätze zu machen, Textkombinationen vorzunehmen, sie gegenseitig zu ergänzen. Der Arme, der nur ein Buch besaß, wollte, dass es alles enthalte, was sein Herz berührte. Man borgte sich gegenseitig diese Büchlein und jeder verzeichnete auf dem Rand seines Exemplars Worte, Gleichnisse, die er anderwärts fand und die ihn rührten. So ist aus einer dunkeln, ganz volkstümlichen Bearbeitung das Schönste der Welt entstanden. Keines der Texte hatte einen absoluten Wert. Justinus, der sich oft auf die »Denkwürdigkeiten der Apostel« – wie er es nennt – beruft, bezog sich dabei auf Evangelien, die von den unsrigen ziemlich verschieden waren; eine wörtliche Anführung unterließ er. Die Zitate aus den Evangelien in den pseudo-clementinischen Schriften abionitischer Herkunft zeigen den gleichen Charakter. Der Geist war alles, der Buchstabe nichts. Erst in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts, als die Tradition verblasste, erhielten die mit den Namen der Aposteln versehenen Schriften entschiedene Autorität und Gesetzeskraft.
Wer würde nicht den Wert von Schriften erkennen, die solchermaßen aus der wehmütigen Erinnerung, aus den schlichten Erzählungen der beiden ersten christlichen Generationen entstanden sind, Generationen, die noch ganz den starken Eindruck fühlten, den der hehre Stifter auf sie gemacht hat? Fügen wir noch dazu, dass die erwähnten Evangelien aus jenem Teil der christlichen Gemeinde hervorgegangen sein mochte, der Jesu am nächsten verwandt war. Die letzte Bearbeitung – wenigstens was den Text betrifft, der den Namen Matthäus trägt – dürfte in einem der Länder nordöstlich von Palästina entstanden sein, in Golonitis, Hauran, Batanea, wohin zurzeit des Römerkrieges viele Christen flüchteten, wo noch im zweiten Jahrhundert Verwandte Jesu lebten, wo die ursprüngliche galiläische Richtung sich länger als anderwärts erhielt.
Wir haben bisher nur von den drei sogenannten synoptischen Evangelien gesprochen. Wir haben daher noch das vierte in Betracht zu ziehen, das den Namen Johannes führt. Hier ist der Zweifel viel begründeter, die Lösung viel schwieriger. Papias, ein Anhänger der Schule des Johannes, der, wenn er nicht, wie Irinäus behauptet, Johannes Schüler war, wenigstens doch mit dessen Schülern verkehrt hatte – so mit Aristion und mit dem, der Johannes Presbyter genannt wird – Papias also, der die mündlichen Äußerungen der erwähnten zwei Schüler eifrigst gesammelt hatte, erwähnt kein Wort von einer Lebensbeschreibung Jesu, die Johannes verfasst hätte. Wäre in seinem Werke eine derartige Äußerung vorhanden gewesen, so wäre sie auch sicherlich von Eusebius erwähnt worden, der alles aufgenommen hat, was für die Litteraturgeschichte der Apostelzeit von Wichtigkeit ist. Nicht minder belangreich sind die inneren Schwierigkeiten, die sich beim Lesen des vierten Evangeliums darbieten. Wie kommt es, dass neben genauen Mitteilungen, die den Augenzeugen bekunden, Reden stehen, die völlig verschieden sind von jenen, die Matthäus anführt? Wie kommt es, dass neben einem allgemeinen Plan zu einer Lebensbeschreibung Jesu, ein Plan, der besser und genauer zu sein dünkt, als der der Synoptiker, jene sonderbaren Stellen stehen, die des Verfassers eigentümliches dogmatisches Interesse erkennen lassen, die Gedanken bekunden, welche Jesu ganz fremd sind, Andeutungen geben, welche misstrauisch machen gegen den guten Glauben des Verfassers? Wie kommt es endlich, dass neben den reinsten, gerechtesten, dem Evangelium völlig entsprechenden Ansichten, jene Flecken zu finden sind, die man gerne als Einschiebungen eines hitzigen Schreibers betrachtet? Ist das Johannes, des Zebedäus Sohn, des Jakobus Bruder – welcher im vierten Evangelium auch nicht einmal erwähnt wird – der in griechischer Sprache diese metaphysischen Aufsätze schreiben mochte, für die weder die Synoptiker noch der Talmud ein Gleiches bieten? Dies alles ist bedenklich, sodass ich nicht die Meinung wagen möchte, das vierte Evangelium sei durchaus von der Hand eines ehemaligen galiläischen Fischers geschrieben worden. Doch dass dieses Evangelium im Wesentlichen gegen Ende des ersten Jahrhunderts aus der großen Schule in Kleinasien, die sich auf Johannes Lehre stützte, hervorgegangen ist; dass es eine Darstellung des Lebens Jesu gibt, die große Beachtung verdient, stellenweise sogar den Vorrang – das ist sowohl durch verschiedene Zeugnisse, wie auch durch Prüfung der Schrift selbst in einer Art erwiesen worden, die nichts zu wünschen übrig lässt.
Vor allem bezweifelt keiner, dass um das Jahr 150 das vierte Evangelium bereits vorhanden war und Johannes zugesprochen wurde. In den Schriften des heiligen Justinus, Athenagoras, Tatian, Theophilus von Antiochien, Irenäus bekunden manche Stellen aufs Deutlichste, dass dieses Evangelium schon damals in allen Streitfragen eine Rolle spielte und dem Dogmenbau als Eckstein diente. Irenäus spricht sehr bestimmt. Und er ging ja aus der Schule Johannes hervor und zwischen ihm und dem Apostel war nur Polykarp. Nicht weniger bestimmend ist der Umstand, dass dieses Evangelium im Gnosticismus, besonders im System Valentins, im Montanismus und im Streit der Quartodezimaner eine Hauptrolle spielte. Die Schule Johannes ist die, deren Verlauf am besten während des zweiten Jahrhunderts sich bemerkbar machte. Diese Schule lässt sich jedoch nicht erklären, wenn man nicht das vierte Evangelium ihr voranstellt. Bemerkt sei hierbei, dass die erste der Johannes zugeschriebenen Episteln sicherlich denselben Verfasser hat wie das vierte Evangelium. Und diese Episteln werden eben von Polykarp, Papias, Irenäus dem Johannes zugesprochen.
Besonders aber vermag das Lesen dieser Schrift selbst einen Eindruck auszuüben. Der Verfasser spricht stets als Augenzeuge, er will für den Apostel Johannes gelten. Rührt also diese Schrift nicht von dem Apostel her, so muss man einen Betrug annehmen, den der Verfasser ausübte. Mag auch die Ansicht jener Tage über das litterarisch Zulässige sehr verschieden von unserer heutigen gewesen sein, so gibt es doch in der apostolischen Welt kein Beispiel von einer Fälschung dieser Art. Ferner will der Verfasser nicht nur für den Apostel Johannes gelten, sondern man vermag auch deutlich zu ersehen, dass er im Interesse dieses Apostels die Feder führt.
Auf jeder Seite verrät sich sein Streben dessen Autorität zu befestigen, zu beweisen, dass er der Liebling Jesu war und auch an allen besonderen Vorfällen teilgenommen habe. Die im ganzen und großen genommenen brüderlichen Beziehungen des Verfassers zu Petrus (ob auch eine gewisse Eifersüchtelei vorhanden war), sein Hass gegen Judas, ein Hass, der vielleicht früher vorhanden war als dessen Verrat, scheinen an manchen Stellen durchzuschimmern. Man möchte annehmen, dass Johannes in seinem Alter, als er die verschiedenen im Verkehr sich befindlichen evangelischen Erzählungen las, mancherlei Unrichtigkeiten hier bemerkte und auch empfindlich geworden war, dass ihm in den Darstellungen des Lebens Jesu keine gebührende, bedeutendere Stelle eingeräumt wurde. So dürfte er denn vieles verzeichnet haben, das er besser als die anderen kannte, in der Absicht darzulegen, dass er oft, wo man nur Petrus erwähnte, mit diesem und auch vor diesem eine Rolle spielte (1. Joh. XVIII, 15 und Matth. XXVI, 58 – Joh. XX, 2-6 und Mark. XVI, 7, auch Joh. XIII, 24, 25). Schon zu Lebzeiten Jesu äußerten sich derartige kleine Eifersüchteleien zwischen den Söhnen des Zebedäus und den anderen Jüngern. Nach seines Bruders Jakobus Tod war Johannes der einzige Erbe vertrauter Erinnerungen, in deren Besitz diese beiden Aposteln nach der Aussage aller waren. Daher sein steter Hinweis auf den Umstand, dass er der letzte noch lebende Augenzeuge sei, seine Vorliebe besonders zu erwähnen, was er allein nur wissen konnte. Daher auch die vielen kleinen Einzelheiten, die wie Anmerkungen eines Erklärers sich darstellen, so: »Es war sechs Uhr«, »es war Nacht«, »dieser Mann hieß Malchus«, »sie hatten ein Feuer angezündet, denn es war kalt«, »dieser Rock war ohne Naht«. Daher schließlich die nachlässige Redaktion, die unregelmäßige Darstellung, dies Fragmentarische der ersten Kapitel – lauter Unbegreiflichkeiten, wenn man annehmen will, dieses Evangelium sei nur eine theologische Thesis ohne historischen Wert, die jedoch sehr verständlich sind, wenn man in ihnen, mit der Überlieferung übereinstimmend, die Erinnerungen eines Greises liest, die bald von einer wunderbaren Frische sind, bald wieder seltsame Veränderungen aufweisen. Ein Hauptunterschied muss jedoch im Evangelium Johannes gemacht werden. Denn einerseits weist es einen Plan zur Darstellung des Lebens Jesu auf, der von dem der Synoptiker bedeutend abweicht; anderseits wieder lässt er Jesu Reden führen, die im Ton, Stil und Geist grundverschieden von den von den Synoptikern mitgeteilten Logia sind. Hier ist der Unterschied so groß, dass man zu wählen genötigt ist. Sprach Jesus, wie Matthäus berichtete, so konnte er nicht sprechen, wie Johannes mitteilte. Doch zwischen diesen beiden Autoritäten hat noch kein Kritiker geschwankt, wird auch nie einer schwanken. Im Gegensatz zu den schlichten, unbefangenen, sachlichen Worten der Synoptiker, gibt das Evangelium Johannes stets die Voreingenommenheit des Apologisten, die Hintergedanken des Sektierers zu erkennen, die Absicht einer These und beweisen, Gegner zu bekehren. (S. Joh. IX und X. Besonders ist der eigentümliche Eindruck zu beachten, den Stellen wie XIX, 35, XX, 31, XXI, 20–23, 24, 25 machen, wenn man an das Fehlen jeder Reflexion denkt, das die Synoptiker kennzeichnet.) Jesu hat sein göttliches Werk nicht durch prunkende, schwerfällige, schlecht verfasste und im moralischen Sinne wenig sagende Phrasen gegründet. Auch wenn Papias uns nicht berichtet hätte, dass Matthäus die Aussprüche Jesu in der Ursprache verzeichnete, so würden doch das Natürliche, die ewige Wahrheit, der unvergleichliche Zauber der synoptischen Reden, ihre durchdringende hebräische Färbung, ihre Gleichartigkeit mit den Aussprüchen jüdischer Gelehrter jener Zeit, ihre vollkommene Harmonie mit der Beschaffenheit Galiläas – kurz, alle diese Kennzeichen würden, verglichen mit der dunkeln Gnosis, der geschraubten Metaphysik der Worte Johannes, deutlich genug sprechen. Damit soll nicht gesagt sein, dass die Reden des Johannisevangelium nicht auch bewundernswerte Lichtstrahlen aufweisen, Züge, wie sie wirklich Jesu zu eigen waren. Allein ihr mystischer Ton entspricht nicht der Eigenart der Beredsamkeit Jesu, wie diese nach der Darstellung der Synoptiker erscheint. Sie sind von einem neuen Geist erfüllt. Die Gnosis hatte schon begonnen, die galiläische Ära des Reiches Gottes war dahin, die Hoffnung auf eine nahe Wiederkehr Christi schwand nach und nach, man betrat das Gebiet trockener Metaphysik, das Dunkel abstrakten Dogmas. Das ist nicht der Geist Jesu. Und wenn der Sohn des Zebedäus wirklich diese Blätter verfasst hätte, so hätte er dabei sicherlich des Sees Genezareth vergessen und der köstlichen Gespräche, die er an dessen Ufern vernommen.
Was ferner beweist, dass die Reden im vierten Evangelium nicht historische Urschriften sind, sondern Aufsätze, die gewisse, vom Verfasser hochgehaltene Lehren mit der Autorität Jesu decken sollten, ist ihre vollständige Übereinstimmung mit den damaligen geistigen Verhältnissen Kleinasiens. Dieses war zu jener Zeit der Schauplatz einer eigenartigen Bewegung synkretischer Philosophie. Alle Keime des Gnosticismus waren schon vorhanden. Johannes mochte an dieser fremden Quelle getrunken haben. Es mag sein, dass nach den Ereignissen des Jahres 68 (Zeit der Apokalypse) und des Jahres 70 (Zerstörung Jerusalems) der greise Apostel, mit dem Feuergeiste zurückgekehrt war vom Glauben an die baldige Erscheinung des Menschensohnes in den Wolken, und den Ansichten sich zugewendet hatte, die er ringsum verbreitet sah und wovon sich manche mit gewissen Lehren des Christentums sich recht gut vereint hatten. Diese neuen Ansichten Jesu zuschreibend, folgte er nur einem sehr natürlichen Gange. Unsere Erinnerung verändert sich mit allem übrigen; die Vorstellung von einer Person, die wir gekannt haben, formt sich um mit uns selbst. Jesus wurde von Johannes als die Verkörperung der Wahrheit betrachtet, er mochte ihm daher Worte zuschreiben, die er selbst im Laufe der Zeit als Wahrheit erkannt hatte.
Wenn es nötig ist alles anzuführen, so sei noch bemerkt, dass wahrscheinlich Johannes selbst an diesen Änderungen wenig Anteil hatte, dass sie vielmehr in seiner Umgebung erfolgten. Oft könnte man glauben, Johannes Jünger hatten seine wertvollen Anmerkungen in einem vom ursprünglichen evangelischen Geist recht unterschiedlichem Sinne verwendet. Tatsächlich sind auch manche Stellen des vierten Evangeliums erst nachträglich beigefügt worden. So z. B. das ganze 21. Kapitel – die Verse XX, 30, 31 bildeten sicherlich den alten Schluss – wo der Verfasser die Absicht zu haben schien, dem Apostel Petrus nach seinem Tode eine Huldigung darzubringen und den Einwendungen zu entgegnen, die der Tod des Johannes hervorbringen würde, oder vielleicht schon hervorgebracht hatte. (Vers 21–23.) Andere Stellen wieder (VI, 2,22; VII, 22) deuten auf Auslassungen oder Verbesserungen hin.
Es ist unmöglich nach so langer Zeit alle diese Probleme zu lösen; sicherlich würden uns viele Überraschungen zu teil, wäre es uns gegönnt in die Geheimnisse der mysteriösen Schule von Ephesus einzudringen, die mehr als einmal auf dunkeln Pfaden gewandelt zu sein scheint. Doch ein Hauptversuch wäre folgendes: Wer da unternehmen wollte das Leben Jesu zu schildern, und hierbei ohne eine gefestete Ansicht über den Wert der Evangelien zu haben, nur von seinem Gefühle sich leiten ließe, der würde in so manchen Fällen die Erzählung Johannes der der Synoptiker vorziehen. Besonders die letzten Monate des Lebens Jesu lernt man nur aus dem Johannesevangelium kennen. So manche Geschehnisse in der Leidenszeit, die bei den Synoptikern unverständlich sind – z. B. die Voraussagung des Verrates Judas – werden erst durch die Darstellung des vierten Evangeliums wahrscheinlich und möglich. Dagegen möchte ich behaupten, dass schwerlich einer das Leben Jesu vernünftig darstellen könnte, wenn er nur die Reden in Betracht zieht, die Johannes Jesu in den Mund legt. Diese Art stets nur von sich zu predigen und nur sich zu zeigen, dieses beständige Argumentieren, diese gekünstelte Inszenierung, diese langen Erörterungen nach jeder Wundertat, diese hölzernen und ungeschickten Reden, deren Ton zuweilen auch falsch und ungleichartig klingt (II, 25; III, 32, 33; und die langen Erörterungen III, V, VIII, XIII u. s. w.) würden vor einem geschmackvollen Menschen neben den herrlichen Sprüchen der Synoptiker nicht zur Geltung kommen können. Das sind zweifellos Erdichtungen, die uns das Wort Jesu derart wiedergibt, wie die Dialoge des Plato die Gespräche des Sokrates. Sie gleichen sozusagen die freien Variationen eines Musikers über ein gegebenes Thema. Dieses ist wohl ursprünglich, doch in der Ausführung hat die Fantasie des darstellenden Künstlers freien Spielraum. Man merkt das Gekünstelte, das Gezierte, die Rhetorik dieser Schrift (s. XVII).
Noch sei bemerkt, dass die gewöhnliche Redeweise Jesu hier nicht zu finden ist. Der Ausdruck »Reich Gottes«, der dem Meister so geläufig war, kommt hier nur ein einziges Mal (III, 3, 5) vor. Hingegen weist der Stil der Reden, die das vierte Evangelium Jesu zumutet, eine auffallende Ähnlichkeit auf mit den Episteln Johannes. Man erkennt, der Verfasser habe bei der Niederschrift seiner Reden nicht seiner Erinnerung gefolgt, sondern dem recht eintönigen eigenen Gedankengang. Eine neue mystische Sprache kommt hier zur Geltung, eine Sprache, die den Synoptikern ganz unbekannt war (»Welt«, »Wahrheit«, »Leben«, »Licht«, »Finsternis« u.s.w.). Hätte Jesus wirklich je in dieser Weise gesprochen, die sozusagen nichts jüdisches, nichts talmudisches an sich hatte, so würden doch nicht alle seine Zuhörer davon geschwiegen haben.
Übrigens bietet die Litteraturgeschichte ein Beispiel, das der erwähnten historischen Erscheinung sehr ähnlich ist und auch zu dessen Erklärung dienen kann. Sokrates, der gleich Jesus nicht selbst schrieb, ist uns durch zwei seiner Schüler, Xenophon und Plato bekannt. Die klare, sachliche Darstellungsweise des ersteren erinnert an die Synoptiker, während der andere durch seine kräftige Individualität dem Verfasser des vierten Evangeliums ähnelt. Was erklärt uns nun besser die Lehre Sokrates: Die »Dialoge« des Plato, oder die »Gespräche« des Xenophon? Hier ist kein Zweifel möglich und jeder gab noch den »Gesprächen« den Vorzug. Lehrt uns aber Plato nichts über Sokrates? Wäre es gut getan, wenn man eine Lebensschilderung des Sokrates schreiben würde, ohne dabei die Dialoge zu beachten? Wer könnte das behaupten! Der Vergleich ist übrigens nicht ganz ausreichend, denn der Unterschied spricht für den Verfasser des vierten Evangeliums. Gerade er ist der bessere Biograf. Es ist wie wenn Plato, obgleich er dem Meister erdichtete Worte in den Mund legt, Wichtiges von dessen Leben wüsste, was Xenophon unbekannt blieb.
Die Frage, wer das vierte Evangelium niedergeschrieben habe, bleibe hier unerörtert; und wenn ich mich auch der Ansicht zuneige, dass wenigstens die Reden nicht vom Sohne des Zebedäus herrühren, so sei doch zugegeben, dass hier ein »Evangelium nach Johannes« vorliegt, in demselben Sinne wie das erste und zweite Evangelium als »nach Matthäus« und »nach Markus« gelten. Die geschichtlichen Grundlinien des vierten Evangeliums ist die Lebenskunde Jesu, wie sie in der Schule Johannes bekannt war. Es ist die Erzählung, die Ariston und Johannes Presbyter dem Papias gaben, ohne zu bemerken, dass sie niedergeschrieben sei, oder vielmehr ohne dem eine bemerkenswerte Bedeutung beizumessen. Auch glaube ich, dass diese Schule die Lebensumstände des Stifters besser kannte als jene aus deren Erinnerung die synoptischen Evangelien hervorzubringen. Sie hatte über den jeweiligen Aufenthalt Jesu zu Jerusalem Daten, die die letzteren nicht besaßen. Die Jünger dieser Schule sahen in Markus nur einen mittelmäßigen Biografen und hatten ein System geschaffen, um seine Lücken auszufüllen. Manche Stellen bei Lukas, die gewissermaßen ein Widerhall der Traditionen des Johannes sind, bekunden auch, dass diese Überlieferungen den übrigen Anhängern des Christentums nicht völlig unbekannt waren.
Diese Erklärungen dürften, meiner Ansicht nach, genügen, die Motive zu erkennen, die mich veranlassten diesem oder jenem der vier Führer den Vorzug einzuräumen. Im ganzen und großen halte ich die vier kanonischen Evangelien für authentisch. Alle stammen, meiner Meinung nach, aus dem ersten Jahrhundert und sind größtenteils von den Verfassern, denen sie zugesprochen werden. Doch ist ihr geschichtlicher Wert verschieden. In Bezug auf die Reden verdient wohl Matthäus unbeschränktes Vertrauen. Hier sind die Logia der lebendigen, klaren Erinnerung an die Lehre Jesu entnommen. Ein milder und zugleich schrecklicher Glanz, eine göttliche Kraft erhellt sozusagen diese Worte, hebt sie aus der Verbindung hervor und gibt sie dem Kritiker leicht zu erkennen. Wer da mit Hilfe der Evangeliengeschichte eine rechte und richtige Arbeit herstellen will, der hat in dieser Beziehung einen vorzüglichen Prüfstein. Die wahren Worte Jesu offenbaren sich gleichsam von selbst. Sobald man sie in diesem Gewirr von Traditionen ungleicher Authentizität berührt, fühlt man sie vibrieren; sie äußern sich freiwillig und nehmen von selbst ihre Stelle in der Erzählung ein, wo sie dann ihre große Bedeutung geltend zu machen wissen.
Weniger Autorität besitzt der erzählende Teil des ersten Evangeliums, der sich um den ursprünglichen Kern angesammelt hat. Es erscheinen da in undeutlichen Umrissen so manche Legenden, die in der Frömmigkeit der zweiten christlichen Generation ihren Ursprung fanden (s. I u. II; auch XXVII 3, 19, 60, im Vergleich mit Markus). Das Markusevangelium zeigt sich viel klarer, bestimmter und ist weniger mit nachträglich eingeschobenen Fabeln erfüllt. Es ist das älteste, ursprüngliche der drei synoptischen Werke und hat am wenigsten spätere Elemente in sich aufgenommen. Die sachlichen Einzelheiten zeigen bei Markus eine Klarheit, die man bei den anderen Evangelisten vergeblich suchen würde. Er liebt es manche Worte Jesu in syro-chaldäischer Sprache anzuführen (V 41; VII 34; XV 34). Er bekundet eine bis aufs kleinste sich erstreckende Beobachtung, wie sie sicherlich nur von einem Augenzeugen kommen mögen. Nichts spricht dagegen, dass, wie Papias meint, dieser Augenzeuge, der Jesu augenscheinlich gefolgt ist, der ihn geliebt hat und in nächster Nähe ein lebendiges Bild von ihm gewann, der Apostel Petrus gewesen sei.
Merklich geringer ist der historische Wert des Lukasevangeliums. Es ist ein Dokument aus zweiter Hand, dessen Darstellung reifer ist. Die Worte Jesu sind hier bedachter, gefesteter. Einige Aussprüche sind übertrieben und gefälscht (XIV 26; X). Da der Verfasser außerhalb Palästinas sein Werk schuf und sicherlich auch nach der Belagerung Jerusalems, so sind seine Ortsangaben minder genau als bei den anderen Synoptikern. Er hatte eine falsche Vorstellung von dem Tempel, den er für ein Bethaus hielt, wohin man ging, um seine Andacht zu verrichten. Er verändert Einzelheiten, um eine Übereinstimmung der verschiedenen Erzählungen zu versuchen (IV 16). Er mildert Stellen, die vom Standpunkt einer überspannten Annahme der Gottheit Jesu störend geworden (III 23. Er übergeht Matth. XXIV 36). Er übertreibt das Wunderbare (IV 14; XXII 43, 44). Er irrt sich in der Zeit; er kennt nicht hebräisch, zitiert nicht Jesu in dieser Sprache und gibt von allen Orten nur die griechischen Namen. Man erkennt den Kompilator, den Mann, der die Zeugen nicht unmittelbar gesehen hat, sondern nach Texten arbeitet, wobei er sich große Freiheiten erlaubt hat, um eine Übereinstimmung hervorzurufen. Wahrscheinlich hatte Lukas die biografischen Mitteilungen des Markus und die Logia des Matthäus vor sich, allein er hielt sich nicht genau daran. Hier vereinigte er zwei Anekdoten oder zwei Parabeln zu einer (XIX 12–27), dort wieder schuf er aus einer zwei. (So machte er aus dem Gastmahl von Bethanien zwei Erzählungen VII 36 bis 48 u. X 38–42.) Die Urkunden deutet er nach seiner besonderen Weise; er zeigt nicht die absolute Gleichmütigkeit des Matthäus und des Markus. Sein Geschmack, seine Eigenarten lassen sich recht genau feststellen: Er war streng religiös, hielt daran fest, dass Jesus alle jüdischen Bräuche beobachtet habe, war Demokrat und eifriger Ebionit, d. h. ein Feind des Besitztums und überzeugt, dass die Vergeltung der Armen kommen werde; er hatte eine Vorliebe für jene Erzählungen, wo sich die Bekehrung des Sünders, die Erhöhung des Niedrigen äußert, ja verändert sogar die alte Überlieferung, um sie derart zu formen. Auf den ersten Seiten seines Werkes gibt er weitschweifig und unter Anführung der Lobgesänge und der üblichen Bräuche, die ein Hauptmerkmal apokryphischer Evangelien bilden, Legenden über die Kindheit Jesu. Ferner äußert er in der Erzählung der letzten Lebenszeit Jesu einige zartsinnige Umstände und gewisse wundervoll schöne Worte Jesu, die in den authentischen Erzählungen nicht zu finden sind und deren legendären Charakter man erkennt. Wahrscheinlich entnahm er sie einer neueren Sammlung, deren Zweck hauptsächlich war, fromme Gefühle zu erwecken.
Eine derartige Urkunde erfordert natürlich große Vorsicht. Es wäre für die Kritik ebenso unrichtig, sie unbeachtet zu lassen, wie ohne weiteres zu verwenden. Lukas hat Schriften vor sich gehabt, die wir heute nicht mehr besitzen. Er ist minder ein Evangelist, als ein Biograf Jesu, ein »Harmonist«, ein Verbesserer gleich Marcio und Tatian. Aber er ist ein Biograf des ersten Jahrhunderts, ein gottbegnadeter Künstler, der uns, unabhängig von dem was er den ältesten Quellen entnahm, den Charakter des Stifters mit so trefflichen Zügen, mit solcher Begeisterung und Klarheit schilderte, wie wir es bei den anderen Synoptikern nicht finden. Sein Evangelium bietet in der Lektüre den meisten Reiz, denn zu der unvergleichlichen Schönheit des gemeinsamen Grundes, kommt noch die treffliche Darstellung, die die Wirkung des Bildes eigenartig erhöhen, ohne dabei der Wahrheit ernstlich nahe zu treten.
Es ließen sich also für die synoptische Redaktion drei Zustände annehmen: 1) der ursprüngliche γόγια des Matthäus, λεχδένταήπραχδέντα des Markus, die ersten Schriften, die nicht mehr vorhanden sind; 2) der Zustand einfacher Verschmelzung, wo die Urschriften ohne besondere Mühe und ohne besondere Absicht erkennen zu lassen, verbunden wurden (die Evangelien Matthäus und Markus in ihrer jetzigen Gestalt); 3) der Zustand absichtlicher und bedachter Verbindung und Redaktion, bei dem sich das Streben bemerkbar macht, die verschiedenen Personen zu vereinen (Evangelium Lukas). Das Johannesevangelium gehört, wie bereits bemerkt wurde, zu einer anderen Art und bildet ein besonderes Werk.
Wie zu ersehen ist, mache ich von den apokryphischen Evangelien keinen Gebrauch. Diese Schriften dürfen keineswegs den kanonischen Evangelien gleichgestellt werden. Sie sind flache, kindliche Arbeiten, die die kanonischen zur Grundlage haben, jedoch diesen nichts neues zufügen. Ich war jedoch bedacht, die uns durch die Kirchenväter erhaltenen Bruchstücke alter Evangelien, die früher den kanonischen gleichwertig galten, später jedoch verloren gegangen sind, zu sammeln; so das Evangelium nach den Hebräern, das Evangelium nach den Ägyptern und die nach Justin, Marcio und Tatian benannten Evangelien. Die beiden ersten sind darum besonders wichtig, weil sie, in aramäischer Mundart, gleich den Logia des Matthäus, eine Abart dieses Evangeliums gewesen sein mochte; weil es ferner das Evangelium der Ebionien war, der kleinen Christengemeinde zu Batanea, die das Syrisch-chaldäische beibehielten und wo sich auch die Familie Jesu fortgepflanzt haben dürfte. Es kann jedoch nicht geleugnet werden, dass dieses Evangelium in seinem uns überlieferten Zustande einen viel geringeren Wert als das von Matthäus für die Kritik der Redaktion des Evangeliums hat.
Man dürfte mich jetzt wohl verstehen, welchen historischen Wert ich den Evangelien zuspreche. Sie sind nicht Lebensbeschreibungen nach der Art des Sueton, nicht erdichtete Legenden nach der Art des Philostratus – sie sind legendenhafte Lebensbeschreibungen. Ich möchte sie mit den Heiligenlegenden von Plotin, Proclus, Isidorus und anderen derartigen Schriften vergleichen, wo historische Wahrheit und die Absicht, Tugendmuster darzustellen, verschieden verwoben sind. Die Ungenauigkeit, ein charakteristisches Zeichen aller Volksschriften, macht sich dabei besonders merkbar. Nehmen wir an, dass etwa in der Mitte unseres Jahrhunderts drei oder vier alte Soldaten des Kaiserreichs, jeder für sich, aus ihrer Erinnerung eine Lebensschilderung Napoleons geschrieben hätten. Sicherlich hätten ihre Darstellungen viele Irrtümer, bedeutende Widersprüche aufzuweisen. Der eine hätte vielleicht Wagram vor Marengo angesetzt, der andere hätte etwa ganz ruhig bemerkt, Napoleon habe die Regierung Robespierres aus den Tuilerien gejagt; der dritte könnte wichtige Expeditionen fortgelassen haben. Aber eines würde sicherlich doch in bedeutender Weise aus diesen schlichten Darstellungen sich ergeben: der Charakter des Helden, der Eindruck, den er auf seine Umgebung ausübte. Und in diesem Sinne hätten derartige volkstümliche Darstellungen einen höheren Wert als eine pompöse amtliche Schilderung. Dasselbe lässt sich auch von den Evangelien behaupten. Einzig nur bedacht, die Vorzüge des Meisters zu schildern, seine Wundertaten, seine Lehre deutlich darzustellen, bekundeten die Evangelisten eine Gleichgültigkeit gegen alles was nicht der Geist Jesu selbst war. Widersprüche von Zeit, Ort und Personen galten für unbedeutend. Denn so begeisternd auch das Wort Jesu wirkte – so mochte man doch nicht diese Wirkung auch bei den Textordnern annehmen. Diese galten nur als Schreiber, die nur eines nicht außer acht lassen durften: nichts von dem was sie wussten fortzulassen.
Sicherlich musste sich mit solchen Erinnerungen manche vorgefasste Meinung vermengen. Einiges wieder, besonders bei Lukas, scheint erfunden worden zu sein um gewisse Züge Jesu deutlicher hervortreten zu lassen. Denn seine Physiognomie wurde mit jedem Tage verändert. Jesus wäre eine in der Geschichte einzig dastehende Erscheinung, wenn er bei der von ihm gespielten Rolle nicht rasch umgestaltet worden wäre. Die Alexandersage begann noch bevor das Geschlecht seiner Waffengenossen dahingegangen war. Die Legende von Franz von Assisi begann bereits zu dessen Lebzeiten. In den ersten 20–30 Jahren nach Jesu Tod trat von selbst rasch eine Umwandlung ein, die seine Biografie völlig zur idealen Legende gestaltete. Der Tod machte den vollkommensten der Menschen ganz vollkommen, fehlerlos für die, die ihn geliebt hatten. Auch wollte man mit der Schilderung des Meisters diesen uns darstellen. Viele Anekdoten wurden erfunden um zu beweisen, dass in ihm die messianische Prophezeiung sich erfüllt habe. Doch dieses Verfahren, dessen Bedeutung nicht geleugnet werden kann, erklärt noch nicht alles. Kein jüdisches Werk jener Zeit bezeichnet genau die Prophezeiungen, die durch die Ankunft des Messias in Erfüllung gehen sollten. Manche der von den Evangelisten bemerkten messianischen Anspielungen sind so fein, so verborgen, dass man nicht annehmen kann, dies alles habe einer allgemein anerkannten Annahme entsprochen. Bald auch folgerte man: der Messias soll dies oder das vollbringen, folglich muss Jesus, der der Messias ist, dies oder das vollbracht haben; bald wieder: dies oder das ist Jesu geschehen, folglich muss, da Jesus der Messias ist, diesem dies oder das geschehen. Die ganz schlichten Erklärungen sind stets unrichtig, gilt es den Zusammenhang dieser tiefen Schöpfungen des Volksgefühles zu analysieren, die mit ihrer Fülle und Mannigfaltigkeit alle Systeme aufheben.
Es braucht kaum noch bemerkt zu werden, dass man sich nur auf die allgemeinen Umrisse beschränken müsste, wollte man bei solchen Schriftstücken nur das unbestreitbare Wahre geben. Fast bei allen alten Historien, selbst bei jenen, die viel weniger legendenhaft sind als diese, geben Einzelheiten zu manchem Zweifel Anlass. Zwei Erzählungen über ein und dieselbe Tatsache stimmen selten völlig überein. Ist daher nicht ein Grund zu Zweifeln gegeben, wenn nur eine einzige vorhanden ist? Man kann sagen, dass von den von den Historikern verzeichneten Anekdoten, Reden und berühmten Worten streng genommen nicht ein einziges ganz authentisch ist. Waren Stenografen da, um die flüchtigen Worte zu fassen? War stets ein Annalenschreiber da, um Miene, Gang, Gefühlsausdruck der handelnden Person zu verzeichnen? Man versuche doch über die Art und Weise, wie dieses oder jenes Ereignis unserer Zeit geschehen ist, Genauigkeit zu erlangen und es wird vergeblich sein. Zwei Erzählungen ein und derselben Tatsache von zwei Augenzeugen dargestellt, werden erheblich voneinander abweichen. Soll man aber deshalb die ganze Darstellung verwerfen und nur die nackte Tatsache als gültig hinnehmen? Damit wäre die Geschichte vernichtet. Ich bin überzeugt, dass, manche kurze, gewissermaßen auswendig gelernte Aussprüche ausgenommen, keine einzige der von Matthäus wiedergegebenen Reden genau sind, denn wir haben hier keine stenografischen Protokolle vor uns. Ich will jedoch zugeben, dass die bewundernswerte Erzählung des Leidens eine Fülle Wahrscheinlichkeit enthält. Indes, würde man die Lebensgeschichte Jesu darstellen, wenn man diese Predigten, die uns die Physiognomie seiner Rede so lebhaft bieten, außer acht ließe und sich darauf beschränken wollte, mit Josephus und Tacitus zu sagen, er sei auf Pilatus’ Befehl zufolge Drängens der Priester getötet worden? Das wäre eine Ungenauigkeit, ärger als jene die entstände, wenn man die überlieferten Einzelheiten als vollgültig hinnähme. Diese sind nicht buchstäblich wahr, aber sie sind wahr im höheren Sinne, sie sind wahrer als die nackte Wahrheit, weil sie die ausdrucksvolle, deutliche, zur Höhe eines Gedankens erhobene Wahrheit sind. Jene, die da finden mögen, ich hätte diesen zumeist legendenhaften Erzählungen zu viel Bedeutung zugemessen, ersuche ich, diese meine Bemerkung in Betracht zu ziehen. Was bliebe uns von der Lebensschilderung Alexanders noch übrig, wenn man sich dabei nur auf das beschränken wollte, was unanfechtbar sichergestellt ist? Selbst die teilweise irrige Tradition enthält Wahrheit, die die Geschichte nicht unbeachtet lassen darf.
Was wieder jene betrifft, die da meinen, Aufgabe der Geschichtschreibung sei es, die überlieferten Urkunden ohne Deutung wiederzugeben, so ersuche ich sie, zu bedenken, dass solches hierbei nicht möglich ist. Die vier hauptsächlichsten Urkunden sind in deutlichem Widerspruch miteinander. Sie werden zuweilen von Josephus berichtigt. Hier gilt es zu wählen. Mit der Behauptung, dass ein Ereignis nicht gleichzeitig in zweierlei Arten geschehen könne, und dass es nicht in einer unmöglichen Weise geschehen könne, wird der Geschichte noch keine Philosophie a priori vorgeschrieben. Aus dem Umstande, dass verschiedene Versionen eines Ereignisses vorhanden sind, dass sie von der Leichtgläubigkeit mit fabelhaften näheren Umständen vermischt wurden, darf der Historiker noch nicht annehmen, dass das Ereignis selbst Fabel sei. Er muss aber in solchen Fällen sehr vorsichtig sein, die Texte prüfen und induktiv vorgehen. Besonders eine Art von Erzählungen macht die Anwendung dieses Prinzips nötig, die Erzählung von übernatürlichen Dingen nämlich. Diese Erzählungen erklären oder als Legenden hinstellen ist keine Verstümmelung von Tatsachen im Namen der Theorie, es ist vielmehr ein Ausgehen von der Beobachtung der Tatsachen. Von allen Wundern, deren die alte Geschichte voll ist, hat sich kein einziges unter wissenschaftlichen Bedingungen ereignet. Die unwiderlegte Beobachtung lehrt uns, dass Wunder nur dort und dann sich ereignet haben, wo an sie geglaubt wurde. Vor Männern, die fähig gewesen wären, die wunderhafte Art eines Ereignisses festzustellen, hat sich noch kein Wunder ereignet. Weder die große Menge noch die sogenannten »Weltleute« sind dafür kompetent, denn es bedarf bedeutender Vorsichtsmaßregeln und eine lange Übung in wissenschaftlicher Untersuchung. Geschieht es doch in unseren Tagen oft genug, dass sich die Weltleute durch plumpes Gaukelspiel oder kindische Täuschung verführen lassen. Wunderereignisse, die von ganzen Ortschaften bezeugt wurden, sind, dank einer strengen Untersuchung, Gegenstand gerichtlicher Anklage geworden. Und wenn nun erwiesen wird, dass kein Wunder der Gegenwart eine kritische Untersuchung aushält – ist es nicht auch wahrscheinlich, dass die vor dem Volke dargestellten Wunder der Vergangenheit ebenso als trügerisch sich erweisen würden, wenn es uns möglich wäre, sie näher zu prüfen?
Also nicht im Namen dieser oder jener Wissenschaft, sondern im Namen der ewigen Erfahrung verbannen wir die Wunder aus der Geschichte. Wir sagen nicht: »Wunder sind unmöglich,« sondern: »bis jetzt ist kein Wunder konstatiert worden.« Angenommen, es erschiene heutzutag ein Wundertäter, mit Garantien, die ernst genug wären, um eine nähere Prüfung zu veranlassen, und er würde sagen, er könne Tote erwecken – was würde man da tun? Man würde eine Kommission einsetzen, bestehend aus Physiologen, Physikern, Chemikern und Historikern. Diese Kommission würde den Leichnam auswühlen, feststellen ob der Tod wirklich eingetreten sei, würde den Ort angeben, wo das Experiment stattfinden sollte, würde alle nötigen Vorsichtsmaßregeln treffen, um jeden Zweifel zu beseitigen. Eine Belebung unter solchen Umständen hätte eine Wahrscheinlichkeit für sich, die der Gewissheit gleichkäme. Und da ein Experiment wiederholt werden können muss, da man noch einmal muss machen können, was einmal schon gemacht wurde, zumal bei einem Wunder von leicht oder schwer Hervorzubringen nicht die Rede sein kann, so würde der Wundertäter aufgefordert werden, seine Taten unter anderen Umständen, an einem anderen Ort und einem anderen Leichnam zu wiederholen. Gelänge auch dies, so wäre zweierlei bewiesen: erstens, dass übernatürliche Dinge in der Welt sich ereignen, zweitens, dass gewissen Personen die Macht gegeben ist, diese übernatürlichen Dinge hervorzurufen. Nun weiß aber jedermann, dass bisher unter solchen Umständen noch nie ein Wunder geschehen ist, dass die Wundertäter bisher ihr Experimentierobjekt, Ort und Publikum, selbst gewählt haben, dass ferner zumeist das Volk selbst es ist, das in seinem unüberwindlichen Bedürfnis, in großen Taten und großen Männern etwas Übernatürliches zu setzen, nachträglich die Wundermärchen sich schafft.
Hier möge also bis auf weiteres der Grundsatz historischer Kritik gelten: dass eine Erzählung von Übernatürlichem als solches nicht anerkannt werde, da sie stets auf Leichtgläubigkeit oder Betrug sich gründet, dass es Pflicht des Historikers ist, nachzuforschen, was an Wahrheit und was an Irrtum dabei zu finden sei.