Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Eine historische Novelle über das traurige Schicksal eines geistig zurückgebliebenen Jugendlichen: Basierend auf den Memoiren Saint-Simons hat Conrad Ferdinand Meyer eine ergreifende Geschichte geschrieben, die tief in die menschliche Psyche eintaucht. Der königliche Leibarzt Fagon erzählt dem Sonnenkönig Louis XIV und dessen Frau von dem behinderten Jugendlichen Julian Boufflers, der an der Jesuitenschule von seinem Lehrer misshandelt wird. -
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 88
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Conrad Ferdinand Meyer
Saga
Das Leiden eines KnabenCoverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 1883, 2020 Conrad Ferdinand Meyer und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726642780
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk
– a part of Egmont www.egmont.com
Der König hatte das Zimmer der Frau von Maintenon betreten und, luftbedürftig und für die Witterung unempfindlich wie er war, ohne weiteres, in seiner souveränen Art ein Fenster geöffnet, durch welches die feuchte Herbstluft so fühlbar eindrang, daß die zarte Frau sich fröstelnd in ihre drei oder vier Röcke schmiegte.
Seit einiger Zeit hatte Ludwig der Vierzehnte seine täglichen Besuche bei dem Weibe seines Alters zu verlängern begonnen und erschien oft schon zu früher Abendstunde, um zu bleiben, bis seine Spättafel gedeckt war. Wenn er dann nicht mit seinen Ministern arbeitete, neben seiner diskreten Freundin, die sich aufmerksam und schweigend in ihren Fauteuil begrub; wenn das Wetter Jagd oder Spaziergang verbot; wenn die Konzerte, meist oder immer geistliche Musik, sich zu oft wiederholt hatten, dann war guter Rat teuer, welchergestalt der Monarch vier Glockenstunden lang unterhalten oder zerstreut werden konnte. Die dreiste Muse Molières, die Zärtlichkeiten und Ohnmachten der Lavallière, die kühne Haltung und die originellen Witzworte der Montespan und so manches andere hatte seine Zeit gehabt und war nun gründlich vorüber, welk wie eine verblaßte Tapete. Maßvoll und fast genügsam wie er geworden, arbeitssam wie er immer gewesen, war der König auch bei einer die Schranke und das Halbdunkel liebenden Frau angelangt.
Dienstfertig, einschmeichelnd, unentbehrlich, dabei voller Grazie trotz ihrer Jahre, hatte die Enkelin des Agrippa d’Aubigné einen lehrhaften Gouvernantenzug, eine Neigung, die Gewissen mit Autorität zu beraten, der sie in ihrem Saint-Cyr unter den Edelfräulein, die sie dort erzog, behaglich den Lauf ließ, die aber vor dem Gebieter zu einem bescheidenen Sichanschmiegen an seine höhere Weisheit wurde. Dergestalt hatte, wann Ludwig schwieg, auch sie ausgeredet, besonders wenn etwa, wie heute, die junge Enkelfrau des Königs, die Savoyardin, das ergötzlichste Geschöpf von der Welt, das überallhin Leben und Gelächter brachte, mit ihren Kindereien und ihren trippelnden Schmeichelworten aus irgendeinem Grunde wegblieb.
Frau von Maintenon, welche unter diesen Umständen die Schritte des Königs nicht ohne eine leichte Sorge vernommen hatte, beruhigte sich jetzt, da sie dem beschäftigten und unmerklich belustigten Ausdrucke der ihr gründlich bekannten königlichen Züge entnahm: Ludwig selbst habe etwas zu erzählen, und zwar etwas Ergötzliches.
Dieser hatte das Fenster geschlossen und sich in einem Lehnstuhl niedergelassen. «Madame», sagte er, «heute mittag hat mir Père Lachaise seinen Nachfolger, den Père Tellier gebracht.»
Père de Lachaise war der langjährige Beichtiger des Königs, welchen dieser, trotz der Taubheit und völligen Gebrechlichkeit des greisen Jesuiten, nicht fahren lassen wollte und sozusagen bis zur Fadenscheinigkeit aufbrauchte; denn er hatte sich an ihn gewöhnt, und da er – es ist unglaublich zu sagen – aus unbestimmten, aber doch vorhandenen Befürchtungen seinen Beichtiger in keinem andern Orden glaubte wählen zu dürfen, zog er diese Ruine eines immerhin ehrenwerten Mannes einem jüngern und strebsamem Mitgliede der Gesellschaft Jesu vor. Aber alles hat seine Grenzen. Père Lachaise wankte sichtlich dem Grabe zu und Ludwig wollte denn doch nicht an seinem geistlichen Vater zum Mörder werden.
«Madame», fuhr der König fort, «mein neuer Beichtiger hat keine Schönheit und Gestalt: eine Art Wolfsgesicht und dann schielt er. Er ist eine geradezu abstoßende Erscheinung, aber er wird mir als ein gegen sich und andere strenger Mann empfohlen, welchem sich ein Gewissen übergeben läßt. Das ist doch wohl die Hauptsache.»
«Je schlechter die Rinne, desto köstlicher das darin fließende himmlische Wasser», bemerkte die Marquise erbaulich. Sie liebte die Jesuiten nicht, welche dem Ehebunde der Witwe Scarrons mit der Majestät entgegengearbeitet und kraft ihrer weiten Moral das Sakrament in diesem königlichen Falle für überflüssig erklärt hatten. So tat sie den frommen Vätern gelegentlich gern etwas zuleide, wenn sie dieselben im stillen krallen konnte. Jetzt schwieg sie und ihre dunkeln mandelförmigen, sanft schwermütigen Augen hingen an dem Munde des Gemahls mit einer bescheidenen Aufmerksamkeit.
Der König kreuzte die Füße und den Demantblitz einer seiner Schuhschnallen betrachtend, sagte er leichthin: «Dieser Fagon! Er wird unerträglich! Was er sich nicht alles herausnimmt!»
Fagon war der hochbetagte Leibarzt des Königs und der Schützling der Marquise. Beide lebten sie täglich in seiner Gesellschaft und hatten sich auf den Fall, daß er vor ihnen stürbe, Asyle gewählt, sie Saint-Cyr, er den botanischen Garten, um sich hier und dort nach dem Tode des Gebieters einzuschließen und zu begraben.
«Fagon ist Euch unendlich anhänglich», sagte die Marquise.
«Gewiß, doch entschieden, er erlaubt sich zuviel!» versetzte der, König mit einem leichten halb komischen Stirnrunzeln.
«Was gab es denn?»
Der König erzählte und hatte bald zu Ende erzählt. Er habe bei der heutigen Audienz seinen Beichtiger gefragt, ob die Tellier mit dem Le Tellier, der Familie des Kanzlers, verwandt wären? Doch der demütige Père habe dieses schnell verneint und sich frank als den Sohn eines Bauern in der untern Normandie bekannt. Fagon habe unweit in einer Fensterbrüstung gestanden, das Kinn auf sein Bambusrohr gestützt. Von dort, hinter dem gebückten Rücken des Jesuiten, habe er unter der Stimme, aber vernehmlich genug, hergeflüstert: «Du Nichtswürdiger!» – «Ich hob den Finger gegen Fagon», sagte der König, «und drohte ihm.»
Die Marquise wunderte sich. «Wegen dieser ehrlichen Verneinung hat Fagon den Pater nicht schelten können, er muß einen anderen Grund gehabt haben», sagte sie verständig.
«Immerhin, Madame, war es eine Unschicklichkeit, um nicht mehr zu sagen. Der gute Père Lachaise, taub wie er endlich geworden ist, hörte es freilich nicht, aber mein Ohr hat es deutlich vernommen, Silbe um Silbe. ,Niederträchtiger!‘ blies Fagon dem Pater zu, und der Mißhandelte zuckte zusammen.»
Die Marquise schloß lächelnd aus dieser Variante, daß Fagon einen derbem Ausdruck gebraucht habe. Auch in den Mundwinkeln des Königs zuckte es. Er hatte sich von jung an zum Gesetz gemacht, wozu er übrigens schon von Natur aus neigte, und was er dann bis an sein Lebensende hielt, niemals, auch nicht erzählungsweise, ein gemeines oder beschimpfendes, kurz ein unkönigliches Wort in den Mund zu nehmen.
Der hohe Raum war eingedämmert, und wie der Bediente die traulichen zwei Armleuchter auf den Tisch setzte und sich rücklings schreitend verzog, siehe da wurde ein leise eingetretener Lauscher sichtbar, eine wunderliche Erscheinung, eine ehrwürdige Mißgestalt: ein schiefer, verwachsener, seltsam verkrümmter kleiner Greis, die entfleischten Hände unter dem gestreckten Kinn auf ein langes Bambusrohr mit goldenem Knopfe stützend, das feine Haupt vorgeneigt, ein weißes Antlitz mit geisterhaften blauen Augen. Es war Fagon.
«,Du Lump, du Schuft!‘ habe ich kurzweg gesagt, Sire, und nur die Wahrheit gesprochen», ließ sich jetzt seine schwache, vor Erregung zitternde Stimme vernehmen. Fagon verneigte sich ehrfürchtig vor dem Könige, galant gegen die Marquise. «Habe ich einen Geistlichen in Eurer Gegenwart, Sire, dergestalt behandelt, so bin ich entweder der Niedertracht gegenüber ein aufbrausender Jüngling geblieben, oder ein würdiges Alter berechtigt die Wahrheit zu sagen. Brachte mich nur das Schauspiel auf, welches der Pater gab, da sich der vierschrötige und hartknochige Tölpel mit seiner Wolfsschnauze vor Euch, Sire, drehte und krümmte und auf Eure leutselige Frage nach seiner Verwandtschaft in dünkelhafter Selbsterniedrigung nicht Worte genug fand, sein Nichts zu beteuern? ,Was denkt die Majestät?‘ – ahmte Fagon den Pater nach – ,verwandt mit einem so vornehmen Herrn? Keineswegs! Ich bin der Sohn eines gemeinen Mannes! eines Bauern in der untern Normandie! eines ganz gemeinen Mannes! . . .‘ Schon dieses nichtswürdige Reden von dem eigenen Vater, diese kriechende, heuchlerische, durch und durch unwahre Demut, diese gründliche Falschheit verdiente vollauf schuftig genannt, zu werden. Aber die Frau Marquise hat recht: es war noch etwas anderes, etwas ganz Abscheuliches und Teuflisches, was ich gerächt habe, leider nur mit Worten: eine Missetat, ein Verbrechen, welches der unerwartete Anblick dieses tückischen Wolfes mir wieder so gegenwärtig vor das Auge stellte, daß die karge Neige meines Blutes zu kochen begann. Denn, Sire, dieser Bösewicht hat einen edeln Knaben gemordet!»
«Ich bitte dich, Fagon», sagte der König, «welch ein Märchen!»
«Sagen wir: er hat ihn unter den Boden gebracht», milderte der Leibarzt höhnisch seine Anklage.
«Welchen Knaben denn?» fragte Ludwig in seiner sachlichen Art, die kurze Wege liebte.
«Es war der junge Bouffleurs, der Sohn des Marschalls aus seiner ersten Ehe», antwortete Fagon traurig.
«Julian Bouffleurs? Dieser starb, wenn mir recht ist», erinnerte sich der König und sein Gedächtnis täuschte ihn selten, «17 .. im Jesuitenkollegium an einer Gehirnentzündung, welche das arme Kind durch Überarbeitung sich mochte zugezogen haben, und da Père Tellier in jenen Jahren dort Studienpräfekt sein konnte, hat er allerdings, sehr figürlich gesprochen», spottete der König, «den unbegabten, aber im Lernen hartnäckigen Knaben in das Grab gebracht. Der Knabe hat sich eben übernommen, wie mir sein Vater, der Marschall, selbst erzählt hat.» Ludwig zuckte die Achseln. Nichts weiter. Er hatte etwas Interessanteres erwartet.
«Den unbegabten Knaben . . .» wiederholte der Arzt nachdenklich.
«Ja, Fagon», versetzte der König, «auffallend unbegabt, und dabei schüchtern und kleinmütig wie ein Mädchen. Es war an einem Marly-Tage, daß der Marschall, welchem ich für dieses sein ältestes Kind die Anwartschaft auf sein Gouvernement gegeben hatte, mir ihn vorstellte. Ich sah, der schmucke und wohlgebildete Jüngling, über dessen Lippen schon der erste Flaum sproßte, war bewegt und wollte mir herzlich danken, aber er geriet in ein so klägliches Stottern und peinliches Erröten, daß ich, um ihn nur zu beruhigen oder wenigstens in Ruhe zu lassen, mit einem: ,Es ist gut‘, geschwinder, als mir um seines Vaters willen lieb war, mich wendete.»
«Auch mir ist jener Abend erinnerlich», ergänzte die Marquise. «Die verewigte Mutter des Knaben war meine Freundin und ich zog diesen nach seiner Niederlage zu mir, wo er sich still und traurig, aber dankbar und liebenswert erwies, ohne, wenigstens äußerlich, die erlittene Demütigung allzu tief zu empfinden. Er ermutigte sich sogar zu sprechen, das Alltägliche, das Gewöhnliche, mit einem herzgewinnenden Ton der Stimme, und meine Nähe schaffte ihm Neider. Es war ein schlimmer Tag für das Kind, jener Marly. Ein Beiname, wie denn am Hofe alles, was nicht Ludwig heißt, den seinigen tragen muß» (die feinfühlige Marquise wußte, daß ihr gerades Gegenteil, die brave und schreckliche Pfälzerin, die Herzogin-Mutter von Orléans, ihr den allergarstigsten gegeben hatte), «einer jener gefährlichen Beinamen, die ein Leben vergiften können und deren Gebrauch ich meinen Mädchen in Saint-Cyr aufs strengste untersagt habe, wurde für den bescheidenen Knaben gefunden, und da er von Mund zu Munde lief, ohne viel Arg selbst von unschuldigen und blühenden Lippen gewispert, welche sich wohl dem hübschen Jungen nach wenigen Jahren nicht versagt haben würden.»